Drive My Car

TRAUERN MIT TSCHECHOW

6,5/10


drive-my-car© 2021 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2021

BUCH / REGIE: RYŪSUKE HAMAGUCHI, NACH DEN KURZGESCHICHTEN VON HARUKI MURAKAMI

CAST: HIDETOSHI NISHIJIMA, TŌKO MIURA, MASAKI OKADA, REIKA KIRISHIMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 59 MIN


Seit Bekanntgabe der Nominierungen sowohl für den besten Film als auch für den besten fremdsprachigen Beitrag bei den diesjährigen Oscars war es kein leichtes Unterfangen, den Favorit erfolgreich auf die Liste der gesehenen Pflichtfilme zu setzen. Warum wohl? Erstens aufgrund der beachtlichen Länge. Sage und schreibe drei Stunden nimmt sich Drive My Car Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Gut – bei drei Stunden schreckt man zumindest im Blockbusterkino auch nicht mehr zurück. Der letzte Avengers war ja ebenfalls so lang, nur war man sich dort zumindest sicher: What you see is what you get. Bei Drive My Car wusste man nur so viel: Ein Witwer wird im eigenen Auto von A nach B gefahren, und das eigentlich täglich. Chauffeurin und Fahrgast finden im Laufe dieser Zweckgemeinschaft einige Gemeinsamkeiten, darüber hinaus ähnliche Gefühlswelten. Gut, das klingt nach ein bisschen wenig. Und auch beim Reinlesen in andere Reviews war nicht viel mehr herauszufinden als das. Eine Story die ins Kino lockt? Mitnichten. In Deutschland weckte Drive My Car laut filmstarts bei gerade mal 35.316 Kinobesuchern die Neugier. Darüber hinaus sind drei Stunden potenzielle Langeweile kein unwesentlicher Faktor zur Entschlussfindung.

Es wundert mich nicht. Drive My Car ist Liebling bei den Kritikern, Liebling in Cannes und Liebling der Oscar-Academy. Ryūsuke Hamaguchi ist zwar nicht ganz so extravagant wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul, der allein schon mit seiner Affinität fürs paranormale die Neugier weckt, aber immer noch in seiner Filmkunst auffällig genug, um ähnlich einer ausgesuchten Flasche Wein älteren Jahrgangs (Der Filmkürbis wird den Vergleich zu schätzen wissen) von Kennern und Liebhabern cineastischer Filmkunst entsprechend genossen zu werden. Das soll aber nicht heißen, dass man für Drive My Car ähnlich wie bei Umberto Ecos Foucault’schem Pendel einen erklärenden Appendix benötigt. Hamaguchis Interpretation einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami erzählt zwar kein vertracktes Drama, allerdings befindet sich das Narrative auf mehreren (Meta)ebenen, zu welcher auch jene der darstellenden Kunst zählt, insbesondere des Theaters. Und dort wäre es nicht schlecht, zumindest einmal im Leben Anton Tschechows Onkel Wanja gesehen oder gar gelesen zu haben. Denn der russische Literat und sein Werk sind das eigentliche Bindeglied zwischen Chauffeuse Misaki und Regisseur Yūsuke, allerdings auch die künstlich erschaffene Plattform für eine posthume Begegnung des trauernden Theatermachers mit seiner verstorbenen Frau.

Diese und Yūsuke verbindet der Verlust ihrer vierjährigen Tochter, beide versuchen, mit diesem niederschmetternden Schicksal umzugehen. Yūsukes Frau Oto erzählt nach dem Sex Geschichten von einsamen Menschen, die lernen müssen, zu ihren Gefühlen zu stehen. Des weiteren geht sie gerne fremd, was Yūsuke scheinbar akzeptiert. Oder vielmehr: Er wahrt die Harmonie – ein wichtiges gesellschaftliches Gut in Japan, wo Gefühle zu zeigen verpönt ist, wo Gleichmut alles ist, ein Lächeln noch mehr. Trauer, Eifersucht und Gram sind nur Last für andere. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau – es sind zwei Jahre später – nimmt Yūsuke die Einladung eines Festivals in Hiroshima an, Onkel Wanja zu inszenieren, und zwar multilingual. Will heißen: Es trifft taiwanesisch auf japanisch, japanisch auf koreanisch, koreanisch auf Gebärdensprache. Ein zugegeben spannendes Experiment. Noch spannender ist die Tatsache, einen Vertrauten seiner Frau im Ensemble zu wissen. Und noch irritierender der Umstand, einen Chauffeur zu bekommen, der Yūsuke im Auto herumkutschieren soll.

Die 23jährige Misaki zeigt sich dabei so ausdruckslos und phlegmatisch wie Yūsuke selbst. Beide verharren unter einem Schleier gesellschaftlicher Schicklichkeiten. Das Tabu von Schwäche wirkt wie ein Sedativ auf den inneren Schmerz der beiden Hauptfiguren. Langsam bricht und bröckelt die Fassade. Langsam, sehr langsam. Dazwischen das Making Of einer Theaterproduktion eines der wohl bekanntesten und wichtigsten Stücke der russischen Literatur. Dabei lässt sich die Figur des um sein Leben betrogenen Onkel Wanja, der am Ende des Stückes gar zur Waffe greift, ganz klar auf Yūsukes Gesamtsituation übertragen. Auf der Bühne sind Gefühle expressive Kraft des Dramatischen, im echten Leben fristen sie ein unterdrücktes Dasein, das keinen in seiner seelischen Entwicklung voranbringt.

Von daher ist Drive My Car ein ausgewogenes, in sich ruhendes Psycho- und Künstlerdrama um Verständigung, Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis. Doch in diese Ruhe liegt nicht nur Kraft, wenngleich Drive My Car tatsächlich und auch trotz des abstrakten, sozialphilosophischen Stoffes keine wirklichen Längen hat. In dieser Ruhe liegt auch Distanz und Berührungsangst. Hamaguchi inszeniert seinen Film kühl, nüchtern und unaufgeregt. Das Werk wirkt präzise konstruiert, geradezu mathematisch. Der japanischen Mentalität kommt dies sicher nahe. Vom Westen aus betrachtet ist diese Reduktion aber eine gewöhnungsbedürftige Art des Inszenierens eigentlich großer Gefühle, die am Ende nur verhalten, fast schon schamhaft, ans Tageslicht treten. Drive My Car trifft einen ganz eigenen, minimalistischen Ton, gibt seinen Onkel Wanja aber eine Spur zu spät frei, und lässt ihn dabei gar nicht mal ein bisschen durchdrehen.

Drive My Car

Der schlimmste Mensch der Welt

DAS LEBEN IM KONJUNKTIV

7/10


schlimmstemenschderwelt© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, FRANKREICH, SCHWEDEN, DÄNEMARK 2021

REGIE: JOACHIM TRIER

BUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, HERBERT NORDRUM, MARIA GRAZIA DIE MEO, HANS OLAV BRENNER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Kennt ihr den Begriff Hättiwari? Ist natürlich was typisch Österreichisches. Ein Wort, dass sich zusammensetzt aus „Hätte ich“ und „Wäre ich“. Ein Hättiwari ist jemand, der sichtlich Schwierigkeiten damit hat, sich für die eine oder andere Sache zu entscheiden und entweder gar nichts tut oder das, was er tut, ganz plötzlich abbricht. Auf diese Art kommt man im Leben kaum vorwärts, denn entschließt man sich mal für eines, bleibt das andere auf der Strecke. Was aber, wenn das andere besser gewesen wäre als das eine? So stehen diese Menschen vor geöffneten Türen, die alle recht einladend wirken, die sich jedoch, sobald eine Schwelle übertreten wird, für immer schließen. So ein Mensch ist auch das Fräulein Julie – eine gerade mal 30 Lenze zählende junge Frau, die verschiedene Dinge bereits ausprobiert hat – vom Medizinstudium über Psychologie bis hin zur Fotografie und dazwischen ein bisschen bloggen. Julie steht oft neben sich, crasht mitunter sogar Partys, zu denen sie gar nicht eingeladen wurde und liebt einen Comiczeichner, der es mit der Sprunghaftigkeit seiner Partnerin allerdings gut aushält. Der viel weiß und gerne erklärt. Der irgendwann aber auch nicht mehr tun kann, als zuzusehen, wie Julie den Entschluss fasst, auch in Sachen Beziehung die Schwelle zu wechseln. Kann ja sein, dass Frau etwas versäumt.

Wenn Cannes Preisträgerin Renate Reinsve (Beste Darstellerin 2021) als Julie nach dem Einwerfen von Magic Mushrooms den Boden unter den Füssen verliert, sagt das sehr viel über ihr Leben aus. Warum, fragt sich Joachim Trier, und nimmt seine charmant und gewinnend lächelnde Protagonistin unter die Lupe. Dabei hat seine Julie, anders als Thelma in seinem gleichnamigen, etwas anderen Coming of Age- Mysterydrama, keinerlei anomalen Fähigkeiten, stattdessen aber viele Eigenschaften, die sie fahrig und unentschlossen machen. Eine Figur, wie sie zum Beispiel Greta Gerwig gerne verkörpert hat – als herzensgut, freundlich, unaufdringlich intellektuell und ordentlich verpeilt. Und nicht nur Renate Reinsve erinnert an die US-amerikanische Schauspielerin, die nunmehr lieber Regie führt: Der schlimmste Mensch der Welt entscheidet sich für einen Stil, der sehr an Noah Baumbach erinnert. Es wird viel geredet und diskutiert; die soziale Inkompetenz, die sich aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Trends ergibt, entscheidet über Ende und Anfang von Beziehungen. Zwischen hippen Bobos, die sich im Mansplaining ergehen, und den Selbstverwirklichungen anderer hängt Julie als jemand, der nicht fähig ist, Selbstvertrauen zu entwickeln, in den Seilen. Für dieses Psychogramm nimmt sich Joachim Trier Zeit und entwickelt Geduld, ohne jene des Publikums zu strapazieren. Auch wenn sich in diesem Beziehungsdrama vieles im Kreis bewegt und nicht wirklich im Sinn hat, eine Geschichte vorwärtszubringen, die einen Wandel beschreibt, bleibt Julie als eine kleine Ikone nachstudentischer junger Erwachsener attraktiv und interessant genug, um tatsächlich und wirklich erfahren zu wollen, was genau sie zögern lässt.

Der schlimmste Mensch der Welt ist pointiert geschrieben, unaufgeregt und spontan. Mit kleinen inszenatorischen Spielereien und sanfter Symbolik illustriert er Julies Leben ein bisschen wie eine Graphic Novel. Mit mehr als einer Prise erotischer Freiheit, die wiederum mit dem französischen Erzählkino der Novel Vague kokettiert, beobachtet Triers Portrait eines Lebens im Konjunktiv einen Zustand, aus dem es mit eigener Kraft kein Entkommen gibt. Was bleibt, ist, wie am Ende des Films lakonisch illustriert, die Fähigkeit, sich vorzustellen zu können, was gewesen wäre.

Der schlimmste Mensch der Welt

The Eyes of Tammy Faye

GELDBERGPREDIGTEN IM SPENDEN-TV

7/10


tammyfaye© 2021 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: KANADA, USA 2021

REGIE: MICHAEL SHOWALTER

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANDREW GARFIELD, CHERRY JONES, SAM JAEGER, VINCENT D’ONOFRIO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Am Ende erkennt man sie nicht wieder. Das soll Jessica Chastain sein? Allerdings. Und dabei ist es gar nicht so, dass sich die rothaarige Schöne hinter Kilos an Make-up und Latex vergräbt wie manch anderer Star. Chastain ist noch immer sie selbst. Nur ist die Person, die sie verkörpert, so grundlegend anders angelegt als all ihre bisherigen Rollen, womit man mitunter glauben könnte: hier ist rein die sichtbare Verwandlung schuld an diesem Ausbruch aus festgelegten Stereotypen. Ist aber nicht so. Chastain probiert tatsächlich, gegen die Richtung zu schwimmen, der sie bislang souverän gefolgt war: als toughes, intellektuelles, mitunter auch recht kühles feministisches Kraftpaket, das zwar mit seinen inneren Dämonen hadert, nach außen hin aber die Wahrnehmung der Frau als dem Manne um einiges überlegen durchaus schärft. In The Eyes of Tammy Faye spiegelt sich diesmal aber etwas ganz anderes: der bemitleidenswert naive Glaube an die Dreifaltigkeit, das Gute auf der Welt und dem Götzenbild des Mammon irgendwo in der Schublade in einem Zimmer des pompösen Eigenheims mit dem Namen Bakker unter der Türklingel.

Sorry, noch nie von denen gehört. Aber das ist kein Wunder. Wir haben es, wie so oft in letzter Zeit, mit lokalen Größen aus der amerikanischen Mediengeschichte zu tun. Tammy Faye und Jim Bakker, das waren Fernsehprediger und Evangelisten, die „Silbereisens“ des christlich-manischen Fernsehens, in der Gott Liebe ist und Liebe Gott, und ganz sicher trägt Jesus uns alle wirklich im Herzen. Verbale Brotkrumen, die zum Ende jeder Sendung unter die Zielgruppe gestreut wurden. Die Bakkers hatten gar ihren eigenen Fernsehsender, die Zuschauerzahlen waren enorm, die beiden konnten sich alles leisten, was nur zu leisten war – schwimmend im Geld und sonstigem Konsum und gleichzeitig so spendengeil wie alle NGOs Amerikas zusammen. Ist ja alles für den guten Zweck, da lässt sich nichts dagegen sagen. Wenn der Zweck aber auch den eigenen gut gesicherten Lebensabend einschließt, wird’s problematisch. Und so war’s dann auch: Jim Bakker muss sich mit Vorwürfen herumschlagen, das Geld anderer Leute veruntreut zu haben. Geht moralisch und rechtlich natürlich gar nicht. Tammy Faye gibt die Ahnungslose, weiß ja mit dem Zaster und dergleichen nicht umzugehen; nimmt, was sie bekommt und tut, was Reiche eben so tun. Dafür hat sie ihr Herz am rechten Fleck, singt wie Helene Fischer und steht zur Integration Homosexueller. Würde man den ganzen Fernsehschnickschnack weglassen, gibt sie sich überraschend liberal und offenherzig. Nah am Wasser gebaut ist die aufgedonnerte Dame obendrein, und so verschwimmt oft das Make-up auf ihrem tränenreichen Gesicht.

Kein einfacher Charakter, den Chastain hier für das große Kino neu interpretiert. Allerdings hat das Biopic von Michael Showalter (Die Turteltauben, The Big Sick) zumindest hierzulande keinen Weg auf die Leinwand gefunden. Verdient hätte es das, und wie schon Steven Soderberghs schillernde Bühnenbeichte Liberace hält The Eyes of Tammy Faye nicht nur deren stark geschminkte Augen in die Kamera, sondern auch ganz viel Glamour, Mode und Zeitkolorit. Während Chastain über Jahrzehnte hinweg unter den gerade trendigsten Frisuren und Outfits in die unterschiedlichsten Existenzstadien ihres so erfolgreichen wie -losen Lebens schlüpft, bleibt Andrew Garfield als Jimi Bakker stets er selbst, mit immer grauer werdender Mähne und Latexbäckchen. Die Wandelbarkeit Chastains hätte er wohl gerne, doch zumindest im Spiel findet er als kapitalistischer Pharisäer, der dem Schauspieler durchaus ähnlich sieht, einen guten Zugang zum Publikum.

Showalter setzt auf Ausstattung und die gut sortierten Fakten eines Medienskandals, in dem Gott lediglich als Lippenbekenntnis die zweite Geige spielt und eigentlich wie so oft verschnupft darüber reagieren sollte, wenn die Geldwechsler wieder mal den Tempel füllen.

The Eyes of Tammy Faye

King Richard

SELBSTWERT PUSHEN AM TENNISPLATZ

6/10


kingrichard© 2022 Telepool


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: REINALDO MARCUS GREEN

CAST: WILL SMITH, SANIYYA SIDNEY, DEMI SINGLETON, AUNJANUE ELLIS, TONY HOLDWYN, JON BERNTHAL, DYLAN MCDERMOTT, NOAH BEAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 25 MIN


Ich sag’s ganz offen: Es gibt wohl kaum eine Fernsehsportart, die mich weniger begeistert als Tennis. Naja, vielleicht Baseball – ein Spiel, dessen Regeln ich wohl nie werde nachvollziehen können. Oder Golf. Da wird der Ball erst dann sichtbar, wenn das Fernsehgerät mehr als 50 Zoll hat. Darüber hinaus macht Mediensport aus ehrgeizigen Athleten Werbeträger ihrer Sponsormarken. Wie Influencer, nur am Sportplatz. Will man sowas werden, braucht es nicht nur Vitamin B, sondern bereits ein in die Wiege gelegtes Talent und die Begeisterung für die Sache. Ein Umstand, den Richard Williams seinen beiden Töchtern regelmäßig vorbetet: Habt Spaß! Und nicht: Siegt gefälligst! Ein Druck, dem Serena und Venus Williams allerdings nicht ausgesetzt sind. Auch Niederlagen sind da kein Thema, die gibt es. Mit Beharrlichkeit lassen sich diese locker wegstecken. Und schließlich gibt’s neben Sport noch Bildung und Schule. Diesen schmalen Grat zwischen Trainingspflicht und gelebter Kindheit zu gewährleisten, kostet Planung. In dieser Hinsicht, so vermittelt dieser gönnerhafte Sportfilm, hat King Richard alles richtig gemacht – im Sinne aller Beteiligten, die hier in würdiger Performance vertreten werden. Kein Wunder – Serena und Venus haben King Richard mitproduziert. Und beide scheinen mit dem sanften Tyrannen als Vaterfigur absolut im Reinen zu sein. Zu verdanken haben sie ihm schließlich alles. Den ganzen Ruhm, die ganzen Millionen, den Platz auf den Bestenlisten. Da stellt sich nicht mehr die Frage, ob Richard Williams jemand war, der im Grunde nur sein eigenes Ding durchgezogen hat. Das hat er. Und zwar aus gutem Grund: Um der Welt zu beweisen, dass man als Teil der schwarzen Minderheit auch im Sport Erfolg haben kann. Klar sieht sowas die Oscar-Academy gerne, muss diese doch die Quoten erfüllen. Dafür ist King Richard wie gemacht dafür. Ein Loblied auf gesellschaftliche Gleichheit.

Der Werdegang der Williams-Schwestern unter der Regie von Reinaldo Marcus Green (u. a. Joe Bell) ist wohl ein Film, den Coaches vielleicht gerne mal am Ende eines Persönlichkeits- oder Erfolgsseminars zeigen könnten. So fühlt sich King Richard manchmal an wie ein psychosozialer Werbefilm, der Geheimnisse zum großen Durchbruch preisgibt, die letzten Endes fast schon zu banal sind, um wahr zu sein. Sind sie aber. Müssen sie sein. Also sehen wir die beiden beherzt aufspielenden und aufschlagenden jungen Mädchen, wie sie, mit viel Verständnis und Folgsamkeit ihrem Daddy gegenüber, die Karriereleiter rauftänzeln, im weißen Faltenmini und mit Perlen in den Haaren. Der Daddy selbst, Will Smith, ist omnipräsent wie der Heilige Christophorus am Amaturenbrett eines Autos. Nervt unbändig, hat aber Charisma. Eine ambivalente Persönlichkeit, die mit Sturheit aneckt und mit Überheblichkeit vergrault. Die ihre Wahrheit als die einzig richtige empfindet, wie ein Missionar auf dem Dschungeltrip. Dabei gelingt Smith für einen wie ihn, dessen Gesicht man nur allzu gut kennt, das schier Unmögliche: nämlich, sich voll und ganz in der Rolle des patriarchalischen Sonderlings aufzulösen. Will Smith verschwindet, es bleibt dieser Adabei in kurzen Hosen. Ein Faktotum, über das man nachdenkt.

Das Problem bei King Richard ist aber nicht vorrangig diese weichgezeichnete Vater-Tochter-Erfolgsachse, sondern, für Tennisuninteressierte wie mich, der Entschluss, dem Centre-Court breite Bühne zu bieten. Da ist viel Aufschlag, Schwung und Abschlag dabei. Der Filzball fliegt übers Netz, einmal noch und noch einmal. Ein Sportfilm, ganz klar. Der den Fokus nicht im gesellschaftlichen Konflikt verortet wie im Geschlechterdrama The Battle of the Sexes mit Emma Stone und Steve Carrell und diesen auch nicht austrägt, sondern eine famos rekapitulierende Sportshow bietet, mit anfeuerndem Familyclub auf den Tribünen, die Kenner und Selberspieler womöglich packt, mich aber zwar nicht unaufgeschlossen, aber doch nach 145 viel zu langen Minuten mit den Gedanken bereits woanders aus dem Kino entlässt.

King Richard

Belfast

KINDHEIT HINTER BARRIKADEN

7/10


belfast© 2021 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: KENNETH BRANAGH

CAST: JUDE HILL, CAITRIONA BALFE, JAMIE DORNAN, JUDI DENCH, CIARÁN HINDS, COLIN MORGAN, LARA MCDONNELL, GERARD HORAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Harry Potter-Fans wird er als egomanischer Zauberer Gilderoy Lockhart ewig in Erinnerung bleiben – alle anderen schätzen womöglich sein Faible für Shakespeare und Agatha Christie. Die Rede ist von Kenneth Branagh, dem man wirklich nicht vorwerfen kann, arbeitsscheu zu sein. Im Gegenteil: der gebürtige Nordire hat den Lockdown des Jahres 2020 dafür genutzt, in seiner eigenen Vergangenheit zu kramen. Entstanden ist Belfast – eine sehr persönliche, ins Detail gehende Arbeit, die vom wohl prägnantesten Wendepunkt in Branaghs Leben erzählt. Sein Alter Ego ist der neunjährige Knabe Buddy, der im Sommer des Jahres 1969 mitten hinein in die katholisch-protestantischen Unruhen gerät. Für ihn ist der wütende Mob, der Fenster einschlägt, Leute verprügelt oder Autos ausbrennen lässt, etwas Unbegreifliches. Die Welt, in der Buddy sich bislang befunden hat, ist eine unbekümmerte, lausbübische. Da wird mit Holzschwert und Mülleimerdeckel Ritter und Drache gespielt. Da ist der Sommer in kurzen Hosen auch einer, der die erste Romanze bringt – jedoch keine so grundlose Gewalt wie diese. Als Folge dieser Unruhen wird die Wohnstraße Buddys verbarrikadiert – mit Bodenplatten, Autos und Stacheldraht. Ein besonderer Sommer. Ein besonderes, wenn auch nicht zwingend gutes Jahr – aber das letzte in Belfast, in vertrautem Zuhause, inmitten von Cousins, Cousinen, Freunden – und den geliebten Großeltern.

Diese sind mit Judi Dench und Ciarán Kinds als entspanntes, weises und in den heiligen vier Wänden omnipräsentes Paar ein Zufluchtsort für alle Unsicherheiten dieser Welt. Abrahams Schoß sozusagen, eine Konstante in einer Zeit voller Veränderungen. Mit viel Liebe werden diese skizziert, und man spürt Branaghs melancholisches Zurückerinnern an den wertvollsten, inneren Kern seiner Familie. Alles andere ist stets in Bewegung – und in diesem Abenteuer einer Kindheit hinter Barrikaden klappert der kleine Buddy (famos und freudvoll verkörpert von Newcomer Jude Hill) eine Vielzahl an Orten, Individuen und Persönlichkeiten ab, als würde er bereits ahnen, dass die Heimat Belfast bald Geschichte sein wird. Was Branagh wirklich gut gelingt, sind die kurzen, aber intensiven Blicke auf all diese Gesichter, Details und Szenen, in Schwarzweiß und im Stile kunstvoller Wochenblatt-Reportagen noch mehr Symbole des Vergangenen, aber nicht Verdrängten. Belfast begibt sich auf Augenhöhe zu seinem kleinen Helden, dadurch sind all diese Momente, die anderswo vielleicht nur oberflächlich abgehakt wären, von einer kindlichen Neugier beseelt, die manchmal in Furcht, Verwirrung oder Triumph umschlägt. Dazu gehören ebenso das Kino und Fernsehen der Sechziger – und ganz wichtig – die erhabene, aber schwer einschätzbare Figur von Buddys Mutter. Die irische Schauspielerin Caitriona Balfe ist dabei die absolute Sensation des Films. Branagh weiß, was er von ihr verlangen kann, und setzt auch ganz auf ihre Ausstrahlung. Zwischen Muttersorgen und Feierlaune ist Balfe ein faszinierendes Charakterbild gelungen.

Kindheitserinnerungen im Kino gibt es so manche. Hope and Glory von John Boorman zum Beispiel. Der Junge muss an die frische Luft über Hape Kerkelings frühem Sinn für Spaßmacherei im Schatten einer depressiven Mutter. Das ist Wehmut, sind ins Gedächtnis eingebrannte Momente, sind verklärte und subjektiv gefärbte Vergangenheiten. Filme dieser Art erzählen weniger komplexe Geschichten, sondern  fischen vielmehr in assoziativen Erinnerungen, die lose einer Entwicklung folgen. Und so ist auch Belfast keine epische, wuchtige Geschichte, sondern ein tragikomisches Abenteuer zwischen blutigem Ernst und dem elektrisierenden Gefühlschaos eines aufgeweckten Kindes.

Belfast

CODA

ZEICHEN SETZEN FÜR DIE ZUKUNFT

8/10


coda© 2021 Apple Studios


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SIÂN HEDER

CAST: EMILIA JONES, MARLEE MATLIN, TROY KOTSUR, DANIEL DURANT, FERDIA WALSH-PEELO, EUGENIO DERBEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Verstehen sie die Béliers? Nein, natürlich nicht. Gebärdensprache habe ich nie gelernt – bislang gabs auch noch keine Notwendigkeit dafür. Die Béliers verstehen mich aber  auch nur, wenn sie Lippen lesen können und ich meine gewählten Wörter deutlich ausformuliere. Die Béliers sind allesamt gehörlos – Vater, Mutter, Sohn. Nur die Tochter nicht. Solche Kinder nennt man CODA – was so viel heißt wie Children Of Deaf Adults. Der Prozentsatz tauber Eltern, die hörende Kinder in die Welt setzen, ist erstaunlich hoch. Dem Kinderschutz München zufolge sind dies bis zu 90%, die anderen 10& sind dann Deaf CODAS. So viel also zum Titel des Remakes einer französischen Tragikomödie aus dem Jahr 2014 mit Francois Damiens in der Rolle des gehörlosen Vaters. In diesem Film hier ist die Ausgangslage etwas anders – der folgende Plot allerdings der gleiche. Prinzipiell habe ich mit Remakes so meine Probleme, da ich jene, die auf einem bereits vorzüglich gelungenen Original basieren, nicht mehr für notwendig erachte. CODA hätte ich mir in nächster Zeit womöglich nicht angesehen, wäre der auf Apple+ erschienene Film von Siân Heder (Tallulah – zu sehen auf Netflix) nicht für den Oscar als bester Film nominiert worden. Ich will natürlich nicht, dass Preise oder die Aussicht auf selbige meine Watchlist beeinflussen, aber das tun sie. Sehr sogar. Muss ich mich dagegen wehren? Sollte ich nicht. Denn jene, die nominieren und auszeichnen, wissen auch ganz genau, warum. Das erkennt man dann an den Filmen. An diesen ist meist was dran. Etwas ganz Besonderes, Ungewöhnliches. Manchmal auch nicht, aber da Filme oft subjektiv zu werten sind – was soll‘s. Bei CODA allerdings hat die Jury schon absolut richtig gelegen. Trotz meiner Voreingenommenheit hat mich die US-Version der europäischen Komödie tatsächlich noch mehr überzeugt als das Original. CODA ist ein Film, der alles andere als Trübsal bläst. Der mitreißt und positiv bewegt. Womöglich das beste Feel Good Movie der letzten Zeit, was auch an der Musik liegt.

Statt eines Bauernhofs in Frankreich hat Siân Heder ihre Version des Stoffes autobiografisch gefärbt und die Szenerie ins ostamerikanische Gloucester verlegt. Die durch und durch natürlich agierende Schauspielerin Emilia Jones (u. a. Locke & Key) spielt Ruby Rossi, jüngster und hörender Spross einer Fischerfamilie, die jeden Morgen auf den Atlantik rausfährt, und das nur tun kann, weil Ruby mit von der Partie ist, denn irgendwer muss schließlich den Funk überwachen und auf akustische Signale der Küstenwache reagieren. Doch Ruby schwebt für ihr Leben was ganz anderes vor. Sie will singen. Zum Glück gibt’s an der Schule das Freifach Chor. Gesanglehrer Mr. V ist von Rubys Stimme angetan, schlägt ihr gar die Bewerbung an der Musikschule Berkelee in Boston vor. Die Eltern, vorrangig Mama Marlee Matlin (erster Oscar an eine gehörlose Schauspielerin für Gottes vergessene Kinder), halten nicht viel davon. Einfach, weil sie davon auch nicht viel mitnehmen können. Gesang, Musik – was ist das? Ruby ist jedoch nicht auf der Welt, um das Leben ihrer Eltern zu leben, sondern ihr eigenes. Mit Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Selbstbestimmung ist das Wort. Das muss auch ihre Familie hinbekommen, ohne dabei andere, die vielleicht etwas anderes wollen, zu vereinnahmen.

Ganz ehrlich – ob Béliers oder CODA – die entworfene Coming of Age-Story über Freiheit, Erwachsenwerden und jugendlicher Verantwortung ist ein großartiges Stück Familiensache. Womöglich lässt sich der Stoff gar ein drittes Mal verfilmen, so viel Potenzial hat der Konflikt zwischen familiärer Abhängigkeit und Flüggewerden. Die Frage nach der Schuldigkeit des Nachwuchses den Eltern gegenüber wird durch das Handicap der Gehörlosigkeit fast schon auf ein metaphorisches Gleichnis gehoben, während die Behinderung selbst gar nicht mal so den inhaltlichen Kern der Geschichte ausmacht. Ungewohnt für Außenstehende ist es aber allemal, einem Alltag wie diesen über die Schulter zu sehen. Wenn Ruby dann versucht, den Song für ihre Bewerbung auch in Zeichensprache zu untertiteln, dann ist das Beweis genug für eine nachhaltige Zuneigung für jene, die schweren Herzens, aber doch, ihren Sonnenschein von Tochter freigeben müssen. Wenn Papa Troy Kotzur (nominiert für den Oscar als bester Nebendarsteller) wiederum versucht, den Gesang seiner Tochter wahrzunehmen, indem er die Vibrationen an ihrem Hals erspürt, ist das die Liebe, die Eltern ihren Kindern – ungeachtet ihrer Wünsche – entgegenbringen sollten.

CODA