Silence

DAS SCHEITERN DES GLAUBENS

8/10

 

silence© 2017 Constantin Film

 

LAND: USA 2017

REGIE: MARTIN SCORSESE

MIT ANDREW GARFIELD, ADAM DRIVER, LIAM NEESON, CIARAN HINDS U. A.

 

Wir schreiben die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Martin Luther und die Kirchenspaltung hat längst die Welt verändert. Der katholische Orden der Jesuiten hat nach den Eroberungsfeldzügen der Conquistadores in der neuen Welt alle Hände voll zu tun, ein heidnisches Volk nach dem anderen zum einzig wahren, christlichen Glauben zu bekehren. Und das nicht nur in Süd- und Mittelamerika, nein. Die Jesuiten, des Papstes militanteste Friedens- und Heilsbringer, auch der einzige Orden, der wirklich auszog, um das Evangelium in jedem auch nur so entferntesten Winkel zu verkünden, haben sich auch nach 1600 in Gegenden vorgewagt, in denen bereits Weltreligionen wie der Buddhismus längst Wurzeln schlagen konnten. Was für eine Anmaßung! Da wagen intellektuelle Jünger Christi tatsächlich, mit bescheidenen Mitteln dem Vermächtnis des Buddha auf die Pelle zu rücken. Bei vielen mag die zwar gewaltfreie, aber immer noch ziemlich beharrliche Penetranz der Jesuiten, die einzige Wahrheit auch ganz weit weg von Rom manifestiert zu wissen, auf Ablehnung stoßen. Das Missionieren an sich war für mich immer etwas, dass dem Glauben an Jesus Christus zu keiner freiwilligen Entscheidung werden lässt. Der Lehrauftrag irgendwo zwischen Manipulation und – überspitzt formuliert – Gehirnwäsche stellt den ursprünglichen Glauben ja in Abrede. Und da beginnt das Gegeneinander. Dennoch – jemandem von der Heilsbotschaft zu überzeugen, einfach nur durch Worte und Beispiele, damit wollten die Jesuiten ziemlich rechtschaffen und voller Menschlichkeit punkten. Damit wollten sie ihr Ziel erreichen. Aus voller Überzeugung, weil das Christentum die einzig wahre Religion darstellt.

Spätestens bei dem Dogma über das Leiden mit Gott, für Gott und durch Gott, spätestens bei der ohnehin unendlich komplexen Bedeutung des Todes Christi am Kreuz – geraten die Botschaften des Neuen Testaments in ein verfremdend flackerndes Licht. Diese Missinterpretation Jesu, dieses Entfernen der Botschaft des Messias, ist Teilaussage des authentischen Berichtes anno 1638 aus Japan, der vom Scheitern des Glaubens, von Apostasie und die Unschärfe der religiösen Wahrheit erzählt. Martin Scorsese, vielseitiger Filmemacher und Ikone des amerikanischen Filmes, hat schon mit der einzigartigen Verfilmung von Theodorakis´ Roman Die letzte Versuchung Christi und der Dalai Lama-Biografie Kundun gezeigt, dass sein Interesse nicht nur der kriminellen Unterwelt Amerikas gilt, sondern auch religiösen Themen aus Buddhismus und Christentum. Beide ihn faszinierenden Quellen der Weisheit hat Scorsese nun vereint – in einem Epos, das den Wert des Glaubens und die eigene geistliche Identität in seinen Grundfesten erschüttert. Wer noch für religiöse Credo etwas über hat, sich selbst als Gläubigen sieht oder zum Agnostizismus neigt, findet in dem faszinierenden, hoch speziellen Religionsfilm einiges an brisanten und bis in die Wurzeln der Glaubensdidaktik reichenden Stoff zum Weiterphilosophieren und Ausdiskutieren.

Auf die unheilvolle Odyssee jenseits des Fassbaren schickt Scorsese niemand geringeren als „Kylo Ren“ Adam Driver und Andrew Garfield, der schon in Mel Gibsons Hacksaw Ridge mit der Kraft des Heiligen Geistes im Japan des zweiten Weltkriegs als pazifistischer Engel am Schlachtfeld diverse Leben retten konnte. Die beiden sind auf der Suche nach ihrem Lehrer, der als Jesuitenpater Ferrera (hat wieder mal gezeigt, dass er noch zu mehr taugt als nur zum Actionhero: Liam Neeson) angeblich vom Glauben abgefallen sei. Im christlichgläubigen Untergrund Japans angekommen, beginnt ein ganz eigener, erschütternder Kreuzweg in eine verbotene Zone für das Christentum, wo deren Anhänger vom Tokugawa-Shogunat, einer dynastischen Militärregierung, verfolgt, zwangskonvertiert oder ermordet werden. Die Methoden, die diese Inquisitoren erwählt haben, um den feindlichen Glauben auszumerzen, sind in seiner einfallsreichen Absurdität so unglaublich wie bestialisch. Wobei das Quälen der Christen meist nicht erste Wahl ist – das Konterfei der Jungfrau Maria oder Jesu Christi mit Füßen zu treten, ist für die Glaubensjäger meist Beweis genug, einen neuen Konvertiten gewonnen zu haben. Nur eine Frage der Zeit, wann die beiden ausgesandten Portugiesen das gleiche Schicksal erleiden müssen.

Scorsese findet neben der Schilderung dieser dunklen Episode des Christentums unter Aufwendung sehr viel Feingefühls genug Zeit, sich obendrein noch mit Sinn und Unsinn des Märtyrertums auseinanderzusetzen. Er verwickelt seine Figuren in Zwiegespräche mit Gott, lässt sie mit den Inquisitoren tiefschürfende Gespräche führen und lädt den interessierten Zuseher auf eine ganz persönliche Bibel- und Glaubensexegese ein, die vieles kritisch hinterfragt und das Verständnis des neuen Testaments auf mehrere, sich ad absurdum führende Ebenen hebt. Silence ist kein Film für das breite Publikum. Keine bequeme Geschichtsstunde, nicht frei von Gräuel, sehr speziell und fast schon ein seltener Beitrag zu einem verschwindenden Subgenre des Religionsfilms, zu welchem auch Roland Joffe´s Mission oder der preisgekrönte venezolanische Film Jericho zählt. Wobei Silence ebenso weit weg ist von christlicher Propaganda wie die beiden zuvor genannten Filme. Scorseses persönliche Meinung bleibt verborgen, sein Film ist eine unparteiische, aufwühlende Grauzone und Bildnis einer Irrfahrt voller Verfehlungen und lächerlicher Dogmen. Sie handelt von der Frage am Verrat des Glaubens und vom Verrat am persönlichen Jesus. Vom Seelenheil und vom Heil einer Weltreligion. Von Nächstenliebe und verbohrter Gottesliebe.

Silence ist ein starkes Stück cineastische Religionsgeschichte, so wuchtig bebildert wie nüchtern erzählt.

Silence

Zwischen zwei Leben

LIEBE VERSETZT BERGE

4/10

 

zwischenzweileben© 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

REGIE: HANY ABU-ASSAD

MIT KATE WINSLET, IDRIS ELBA, BEAU BRIDGES, DERMOT MULRONEY U. A.

 

Bist du in Eile, mache einen Umweg! – Dieser japanischen Weisheit kann man in Zeiten wie diesen nur bedingt bis gar nicht nachkommen. Aber besser wäre es – in manchen Fällen. So zum Beispiel im Falle von Kate Winslet und Idris Elba, die als Journalistin und Arzt ihrem Terminplan so ziemlich hinterherhinken und noch dazu in all dem Alltagsstress vor geschlossenen Flugzeugtüren stehen. Was tun in der Not? Am besten, gemeinsame Sache machen und eine Propellermaschine chartern. Für solche Extrawürste sind die beiden weltgewandten Professionisten immer noch flüssig genug, also nichts wie rein in die fliegende Zigarrenbox und ab zum nächsten Termin. Doch manchmal hat man ein Pech, und das Schicksal kommt von ganz oben, sprich es zahlt nicht mal die Versicherung, wenn das Ableben des Piloten während des Fluges ins Spiel kommt. Jeff Bridges´ Bruder Beau hat im cineastischen Zwangswandertag Zwischen zwei Leben einen fast schon auffällig kurzen Auftritt, dafür darf sein Filmhund länger mitspielen. Die zweimotorige Maschine pachtet also das Glück im Unglück und kommt auf relativ ebener Erde zu stehen – allerdings irgendwo im Nirgendwo, weit oben im Juchhe. Und von da an sind unsere ehemalige Titanic-Queen und der Revolvermann auf sich alleine gestellt.

Doch wie bringt man die beiden grundverschiedenen Typen überhaupt zusammen? Die Not schafft Freundschaft – bei Idris Elba und Kate Winslet hat die dargestellte Freundschaft ihre liebe Not, denn den sprichwörtlichen Draht zueinander lassen die beiden vermissen. Ob das so beabsichtigt war, kann ich nicht sagen. Jedenfalls raufen Sie sich nach der niederschmetternden Erkenntnis, nicht abgeholt zu werden, mehr schlecht als recht zusammen und zeigen Initiative, was ihr Überleben angeht. Mitsamt dem Köter, der trotz Nahrungsmangel nicht als Abendessen herhalten muss. Einen Hund zu killen kommt in Mainstreamfilmen ja nur schwer infrage – da hat der Film Überleben von Frank Marshall, der Tatsachenbericht eines Flugzeugabsturzes in den Anden, ganz andere Saiten aufgezogen. Statt Hund gab’s dort Mensch – was man zum Überleben alles tut, hat dieser Survival-Klassiker aus den frühen 90ern in einprägsamen Bildern und unter größtmöglichem Bemühen um Authentizität gezeigt. Letzteres lässt Zwischen zwei Leben schon von vornherein vermissen. Macht aber nichts, das paarweise ins Kino strömende Publikum konzentriert sich ohnehin lieber auf das Zwischenmenschliche.

Und da das Survivaldrama abgesehen von den genreüblichen Begebenheiten nicht sonderlich fesselt, könnte das ja das Knistern zwischen Winslet und Elba. Und spätestens dann, wenn das Feuer im Ofen brennt, rutscht das seifige Berg- und Bergungsdrama lawinengleich in die Trivialität ab. Wer die Liebesgeschichte zwischen den beiden nachzufühlen vermag, kann sich glücklich schätzen. Ich konnte das nicht. Da hätte ich mir viel lieber wieder Leo DiCaprio herbei gewünscht, der hätte Kate Winslet von früher gekannt. Aber DiCaprio hat seit The Revenant sicherlich genug von Schnee, Eis und Sturm. Wobei Revenant wieder einer jener Film gewesen ist, der das Überleben in einer Intensität geschidlert hat, als wäre man selbst dabei gewesen. Bei Zwischen zwei Leben kann man nur froh sein, wenn die Zivilisation die Turteltauben wiederhat, einfach nur, weil der ganze Climbing-Down-Zinnober endlich vorbei ist. Richtig versemmelt hat Regisseur Hany Abu-Assad sein Werk erst mit der unsagbar bemühten Allerweltsschnulze als vermeintliches Bonuszuckerl für Frisch- oder Wiederverliebte. Womit selbst so zwei Klasseschauspieler wie Winslet und Elba nichts mehr anzufangen wussten. Oder wissen wollten. Und dementsprechend halbherzig ist auch ihre Sehnsucht füreinander.

Zwischen zwei Leben ist für beide Darsteller die bislang wohl unglücklichste Rollenwahl geworden. Könnte sein, das die goldene Himbeere winkt. Aber wir wissen ja, dass die beiden das besser können. Vor allem Kate Winslet. Um ihr mache ich mir keine Sorgen. Hat man einmal den Untergang der Titanic überlebt, kann einen kein Absturz mehr wirklich niederschmettern.

Zwischen zwei Leben

Jumanji: Willkommen im Dschungel

PANIK IN DER BOTANIK

5/10

 

jumanji© 2017 Sony Pictures

 

LAND: USA 2017

REGIE: JAKE KASDAN

MIT DWAYNE JOHNSON, KEVIN HART, JACK BLACK, KAREN GILLAN U. A.

 

Wenn einmal die Würfel fallen, gibt es kein Entrinnen mehr. Das Spiel muss zu Ende gespielt werden, und zwar von allen Spielern. Keiner darf aussteigen. Und das schlimme daran: Es geht um Leben und Tod. So sehr die ertönenden Buschtrommeln auch ein exotisches Abenteuer verheißen – als großer Brettspielfreund würde ich um Jumanji einen großen Bogen machen. Zu riskant, das Ganze. Vor lauer Nägelbeißen und Angstschweiß absondern vergisst man ja glatt das Würfeln. Doch zum Glück hatten wir Robin Williams, damals in den 90ern. Der begnadete und leider viel zu früh von uns gegangene Komiker und Charakterdarsteller hat in Zeiten der boomenden Spielkonsolen das Brettspiel wieder salon- und haushaltsfähiger gemacht. Wenngleich die Haushaltsversicherung bei Jumanji die Versicherung des Vertrauens wohl in den Ruin treiben würde. Im Original von 1995 bleibt wahrlich kein Stein auf dem anderen, und das phantastische Rennen, retten und Flüchten kocht nur so über vor zündenden Ideen und spannenden Wendungen. Damals war Jumanji auch tricktechnisch State of the Art. Und das dynamische Zusammenspiel der wirklich verzweifelt wirkenden Alt- und Jungdarsteller ist von ansteckender Motivation.

2017 gibt es keinen Robin Williams mehr. Und das zum Kult gewordene Brettspiel fristet seit 22 Jahren sein ungeöffnetes Dasein einer Tretmine gleich unterm Sand an irgendeinem namenslosen Strand (sofern ihr euch noch an die letzte Szene von damals erinnern könnt, wisst ihr, was ich meine). Das unter der Regie von Jake Kasdan nachgereichte Sequel – und nein, es ist kein Remake – schließt genau mit dieser Szene wieder an. Und um zeitgemäß zu sein, spielt man heutzutage Jumanji lieber auf der Konsole als auf einem analogen, rund 30 x 30 cm großen Brett mit Würfelschutz. Schade eigentlich, denn damit entledigt sich der neue Jumanji-Film haufenweise origineller Ideen. Die Digitalisierung des Abenteuerspiels wäre nicht zwingend notwendig gewesen. Gut, aber damit steht und fällt das Konzept des vorliegenden Filmes. Denn diesmal wird nicht nur Robin Williams alias Alan Parrish in die gefährliche Dschungelwelt hineingesogen – diesmal sind es alle, die mitspielen. Was ganz witzig ist, denn die Schüler, die während des Nachsitzens das mysteriöse Spiel in die Finger kriegen, werden in der virtuellen Welt so ziemlich gegen ihren Typ besetzt. Die Tussi vom Dienst ist ein übergewichtiger Kartograph mit Kniestrümpfen und Tropenhelm, der Schüchti aus der letzten Bank ein zwei Meter großer, muskelbepackter Hüne, der so gut wie alles kann und keine Schwächen hat, und der sportaffine lange Lulatsch ein abgezwickter Zoologe, der dem frohgemuten Dwayne Johnson fast nur bis zur Brust geht.

Damit hätten wir aber schon den Reiz des neuen Abenteuers beschrieben. Jumanji: Willkommen im Dschungel ist komödiantisches Schauspielkino voller fehlbesetzter Avatare, die die neugewonnene Situationskomik aufgrund all ihrer Unbeholfenheit für sich entdecken. Das ist manchmal wirklich saukomisch, manchmal aber – und das im Laufe des Films des Öfteren – seufzt man wissend und maximal nur noch schmunzelnd. Das Szenario selbst, die Geschichte hinter dem Spiel, bleibt mit ihrem Einfallsreichtum weit hinter dem Jaguarberg zurück. Ob Elefanten, Raubkatzen oder schnappende Krokodile – der Kniff mit der Kohärenz von Dschungelwelt und Realität fehlt hier ganz. Und genau das war aber der Reiz des unberechenbaren Originals. Vollends digitalisiert, erreicht das Jumanji von heute mit Ausnahme einiger weniger kreativer Momente den Reiz eines öffentlich begehbaren Dschungelzoos – Jurassic World lässt grüßen, allerdings ohne Dinos. Das würde ich mir in natura fraglos gerne ansehen – im Kino erwarte ich mir dann schon noch etwas mehr als eine klamaukige Gruppenführung durch die Botanik.

Jumanji: Willkommen im Dschungel

Coco – Lebendiger als das Leben

MIT DEN AHNEN PLAUDERN

8/10

 

Coco©2017 Disney•Pixar. All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2017

REGIE: Lee Unkrich, Adrian Molina

MIT DEN STIMMEN VON Anthony Gonzalez, Benjamin Bratt, Gael García Bernal u. a.

 

 „Mach die Musik leiser!“ – Das wäre zumindest ein Imperativ gewesen, mit welchem der kleine mexikanische Junge Miguel zumindest irgendetwas hätte anfangen können. Aber gar keine Musik – das geht gar nicht. Miguel ist der einzige in seiner Familie, der Musik über alles liebt und seinem Idol, dem großen Ernesto de la Cruz nacheifern will. Aber Musik – Musik ist verpönt in Miguels Schusterfamilie, seit sein Ururgroßvater Karriere vor Familie gesetzt hat – und letzterer den Rücken kehrte. Also Schluss mit dem Geklimpere – Miguel hat gefälligst Schuster zu werden. Wie es aber bei zwölfjährigen Jungs so ist, darf mit Widerstand gerechnet werden. Der aufgeweckte, träumerische Bursche denkt gar nicht daran, sein Talent versauern zu lassen. Schon gar nicht am Tag der Toten, dem größten Fest Mexikos, an welchem es der Tradition nach wie alle Jahre einen Talentwettbewerb gibt. Nur blöd, dass seine Familie geschlossen dagegen ist. Widerstand überall. Nur seine Uroma Coco sagt nichts. Seine Uroma Coco kauert in ihrem Rollstuhl, dämmert vor sich hin und verliert allmählich all ihre Erinnerung. Vor allem die Erinnerung an ihren Papa, dem schwarzen Schaf der Familie. Und wie die alte Coco da so sitzt, nach vorne gebeugt und mit langen, weißen, geflochtenen Zöpfen – da sieht man wieder, dass die Pixar-Schmiede erneut wieder so etwas wie ein Wunder vollbracht hat. 

Denn die Filme von Pixar sind längst nicht mehr nur Kinderkram. In ihrer neuen Geschichte nach einem Originaldrehbuch beweisen die Kreativen hinter den Rechnern und Schreibtischen einmal mehr, dass ihr Mut zu Anspruch und weltbewegenden Themen keinesfalls familientaugliche Unterhaltung ausschließen muss. Denn Coco – lebendiger als das Leben ist ein zutiefst berührender Film über Familie für Familie. Interessant ist alleine schon die Tatsache, dass der titelgebende Charakter nicht der quirlige Miguel selber ist, sondern die steinalte Urgroßmutter, die mit so viel Liebe entworfen, modelliert und gezeichnet wurde wie selten eine Figur in einem animierten Film. Diese Oma schlägt alle, bis in jede Falte ihres Gesichts lässt sich das gelebte Leben nachfühlen, von welchem hier erzählt wird. Nämlich auch von denen, die nicht mehr sind. Man kann den Tag der Toten gleichsetzen mit dem Feiertag Allerheiligen hierzulande. Und wer den letzten James Bond: Spectre gesehen hat, kann ungefähr erahnen, was sich am Tag der Toten in Mexiko abspielt. Da kommen die Ahnen aus dem Jenseits in die Welt der Lebenden – aber nur, sofern man sich an sie erinnert und Gott behüte – nicht vergessen hat, ein Bild aufzustellen. Mit den Ahnen zu reden ist so eine Sache – das kann man mit Tischerücken probieren, oder mit einem Medium wie Lotte Ingrisch. Oder man erträumt sich die Verstorbenen einfach – allerdings ohne Echtheitsgarantie. Mal ehrlich, wer würde nicht gern seine Vorfahren kennenlernen, um sie aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen. Da gibt es aus meiner Familie einige. Und selbst meinem Großvater würde ich gerne noch so einiges mitteilen. 

Miguel bekommt diese Chance – und es gelingt ihm irgendwie, ins Jenseits abzugleiten, ohne tot zu sein. Die Welt der Ahnen ist eine knallbunte, surreale Dimension, in der die Toten Skeletten gleich vor sich hin klappern, ihr Totsein vor dem endgültigen zweiten Tod fristen und eben die Dinge tun, die sie schon zu Lebzeiten immer getan haben. Auch hier haben die Animationskünstler und Designer eine Welt erschaffen, die so noch nie im Kino zu sehen war. Ein Jenseits, in welchem sich Hades für seine eigene Unterwelt fremdschämen würde. Die Gesichter der Verstorbenen sind auf eine Art entworfen, die zweifelsfrei als Totenköpfe zu identifizieren sind, andererseits aber auch so gestaltet sind, dass sie eine gewisse Gesichtsmimik zulassen – andernfalls würden sich Emotionen bei all den Ahnen nur erahnen lassen. Und Emotionen spielen eine wichtige Rolle. Emotionen und vor allem Erinnerungen. Spätestens ab diesem Punkt dringt die Geschichte um Miguel und die Toten in eine tiefere Bedeutungsebene vor. Coco wird zu einer Parabel über das Vergessen und Vergessen werden, über das ewige Leben in der Erinnerung der Lebenden. Dass der Wert der Familie bei Disney sowieso immer eine Rolle spielt, braucht gar nicht erst erwähnt zu werden. Das ist fast die Basis eines jeden Disney-Films. Doch dieser unerwartet ernste Kern der Geschichte, die nebenbei einfach wunderbar erzählt ist, gerät nie in stockende Betroffenheit oder gleitet ab in falsche Rührseligkeiten. Mit aufrichtigem Wagemut und unverschämter Leichtigkeit setzt sich die Ode an die Ahnen mit einem für gewöhnlich betroffen machenden Tabuthema auseinander, das längst kein solches sein muss. Mir fallen gerade die Riten der Madagassen ein – ihre Begräbnisse enden in ausgelassenen, bunten Festen, weit jenseits schwarz gewandeter Trauer. Auch ein Ansatz, der den letzten Meilenstein des Lebens als solchen besser wahrnimmt. Und Coco tut dies – die Gratwanderung zwischen Leben und Tod wird in Pixar´s neuem Film zum phantastischen, prächtigen Abenteuer in atemberaubender, erlesener Tricktechnik. Und zum erfolgreichstem Film aller Zeiten in Mexiko. Da kann man nur sagen; Viva La Vida. Und La Familia sowieso.

Coco – Lebendiger als das Leben

Der Mann aus dem Eis

TATORT ALPEN

7/10

 

Iceman@ 2017 Adventure Pictures

 

LAND: DEUTSCHLAND, ITALIEN, ÖSTERREICH 2017

REGIE: FELIX RANDAU

MIT JÜRGEN VOGEL, SUSANNE WUEST, FRANCO NERO, ANDRÉ HENNICKE U. A.

 

Ich kann mich noch ziemlich genau an die Schlagzeilen erinnern –  im September des Jahres 1991 fanden Wanderer beim über 3000m hohen Tisenjoch in den Ötztaler Alpen eine Mumie im Eis. Die Bedeutung dieses Fundes lag anfangs im Dunkeln, unsachgemäße Bergung war die Folge. Erst nach eingehender Untersuchung wurde klar – der Mann vom Similaun ist niemand aus jüngerer Zeit, der sich vielleicht verstiegen hat oder unbedingt Jagd auf Steinböcke machen wollte. Die Leiche aus dem Eis ist nach heutigen Erkenntnissen mindestens 5200 Jahre alt – und hat somit in der späten Jungsteinzeit gelebt. Bedeutend für die Geschichte und für jede Menge Theorien, welche die Umstände des Todes oder überhaupt der letzten Lebenstage Ötzis, wie man ihn später nennen wird, glaubhaft definiert, war auch die Tatsache, dass erst rund zehn Jahre später in seinem Rücken mithilfe von Röntgenaufnahmen eine Pfeilspitze gefunden wurde. Sie stammte womöglich von seinem Verfolger. Ötzi könnte ermordet worden sein. Hoch oben im Nirgendwo. Ein einsamer, eisiger Tod.

Irgendeine Tragödie muss es also gegeben haben. Ein folgenreiches Drama, eine Verfolgungsjagd über den Gletscher. Das plausible Schicksal aus einer Zeit zu rekonstruieren, die noch vor dem Beginn der Epoche des alten Ägypten angesiedelt ist, lockt so manchen Wissenschaftler und Filmemacher hinter dem Schreibtisch hervor. Da man von Ötzi und der Jung- oder Kupfersteinzeit relativ viel weiß und auch Ötzis Habseligkeiten ziemlich gut erhalten geblieben sind, waren die Anforderungen für eine authentische erzählerische Rekonstruktion ohne besondere Schwierigkeiten zu erfüllen. Bücher über den Mann aus dem Eis gibt es ohnehin jede Menge. Und schon 1999 hatte der österreichische Dokumentarfilmer Kurt Mündl das Dokudrama Der Ötztalmann und seine Welt inszeniert. Jetzt, 18 Jahre später, war Felix Randau dran – sein Film ist weniger ein lehrreiches Stück Frühgeschichte, als vielmehr ein archaisches, düsteres, wenn auch spekulatives Rachedrama. Was aber nicht heißt, dass Der Mann aus dem Eis nicht genügend Einblicke in das Alltagsleben der Steinzeitmenschen beschert. Bis ins kleinste Details, und mit Sicherheit auch akribisch recherchiert, eröffnet sich dem Kinopublikum eine virtuelle Reise in eine fast greifbare Vergangenheit. Die Geburt eines Kindes, das Jagen wilder Tiere, der Wert eines Menschen, die Bereitschaft zur Gewalt – der fast wortlose Einblick in eine von Menschen spärlich bevölkerte Wildnis, in welcher der Mensch versucht, sesshaft zu werden, weiß zu faszinieren. Noch dazu, dass Felix Randau auf eine Verfälschung der Sprache verzichtet. Die paar Worte, die gesprochen, geschrien oder geflüstert werden, sind von einem rätischen Sprachdialekt. Übersetzt wird hier gar nichts. Umso leichter ist es, neben den wuchtigen, urtümlichen Bildern auch die Akustik des Damals aufzufangen. Ungefähr so hat es sich angehört. Mehr gab es damals nicht. Schon Jean Jaques Annaud hat in dem von mir sehr geschätzten Urzeitfilm Am Anfang war das Feuer komplett auf verbal ausgereifte Artikulation verzichtet. Er ging sogar so weit, seine Erzählung aus der Frühgeschichte des Menschen noch früher anzusiedeln. Ähnlich wie Randau´s Film ließ Annaud Mimiken, Gesten und Stimmungen sprechen.

Inmitten des urzeitlichen Europas wandert der bis zur Unkenntlichkeit verwandelte Jürgen Vogel als namenloser Rächer über Berg und Tal. Wie ein Django aus der Steinzeit, ein verbitterter, trauriger, aber irgendwie auch pragmatisch denkender Jäger, der sich der Gnadenlosigkeit all der Umstände, die dieses Hier und Jetzt vor 5000 Jahren mit sich bringen, voller Schmerz, aber auch mit dem Willen zum Überleben begegnet. Keine Zeit für Trauer, keine Zeit für Jammern. Ötzi zieht in den Krieg wie der namenlose Rückkehrer aus Andreas Prohaska´s Schneewestern Das finstere Tal. Im Grunde ist der Mann aus dem Eis ein geradliniger Alpenthriller, eine Tragödie zwischen Eis, Schnee, Fels und Firn. Eine einfache, aber ungemütliche Geschichte und eine mögliche Wahrheit von vielen, die Ötzi mit sich ins Grab genommen hat. Sein Grab, das findet er dann auch, und stürzt von einem Abhang genau in die Position, in welcher er 5000 Jahre später gefunden wird. Der Mann aus dem Eis ist durchaus packendes, erdiges Kino der Frühgeschichte: unwirtlich, blutig und gnadenlos.

Der Mann aus dem Eis

A United Kingdom

EIN HERZ UND EINE KRONE

6/10

 

unitedkingdom© 2017 Alamode Film

 

LAND: FRANKREICH, GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: AMMA ASANTE

MIT ROSAMUNDE PIKE, DAVID OYELOWO, TOM FELTON U. A.

 

Es wäre eine Frage für den Ö3-Mikromann: Was wissen Sie über Botswana? Neben einigen Uuhs und Ääähs wird womöglich nicht sehr viel Wissenswertes zutage treten. Maximal erwischt Tom Walek einen Briefmarkensammler, der zumindest von wunderschönen zweidimensionalen Sammlerstücken mit Zackenrand schwärmt, die die Fauna des eigentlich relativ still vor sich hin existierenden Landes zeigen. Und damit hätten wir auch schon so ziemlich die Charakteristika Botswanas beschrieben – das Land im Süden Afrikas beherbergt das wohl größte und artenreichste Feuchtgebiet des gleichnamigen Kontinents – das Okavango-Delta. Großwild inklusive. Die erstaunliche Biomasse ist in mehrere Nationalparks unterteilt – ich selbst kenne jemanden, der Feldstudien zu den Pavianen des Landes betrieben hat. Noch Mitte des 20ten Jahrhunderts war die große Wildnis als Betschuanaland bekannt – und damals wussten ihre Einwohner noch nichts von den enormen Bodenschätzten, die sich unter der staubigen Savanne verbergen. Jede Menge Diamanten, die dem Land zu Wohlstand verholfen haben werden – bis heute. Botswana ist sauteures Pflaster, fast schon wie die Schweiz. Öko-Reisen dorthin kosten so manchen Monatslohn. Sehenswert wäre es ja, keine Frage. Und vielleicht verschlägt es mich ja irgendwann dorthin, wenn sonst genug Kleingeld überbleibt. 

Das Kleingeld für einen Film über die Geburt des demokratischen Staates Botswana war allerdings vorhanden. Die aus Ghana stammende Britin Amma Asante, eine Jugendfreundin von Naomi Campbell, hat sich einer politisch-romantischen Geschichtsstunde angenommen, die fast schon zu sehr aufwühlender Liebesroman zu sein scheint als eine wahre Geschichte. Dennoch ist genau das passiert, und zwar nach Ende des Krieges, Ende der 40er Jahre, zu einer Zeit, in der die britischen Kolonien am schwarzen Kontinent Land und Leute immer noch fest im Griff und keine Skrupel davor hatten, den angeeigneten Grund und Boden auszubeuten. Botswana hatte Glück, denn das Diamantenfieber ist erst nach Eintritt der Selbstverwaltung ausgebrochen. Weniger Glück hatte der Kongo, aber das ist eine andere, noch viel traurigere Geschichte. Auslöser der Zeitenwende von Betschuanaland war die Liebe des Thronfolgers Seretse Khama zu einer weißen Britin, einer Büroangestellten aus der gesellschaftlichen Mittelklasse. Klingt wahnsinnig schnulzig, ja geradezu ideal für eine Seifenoper im Fernsehen. Aber was will man machen, wo die Liebe hinfällt, fällt sie hin. Da gibt es kein Rassendenken mehr, keine Vorurteile, bei Liebe hört sich alles auf. Und das zu einer Zeit, in der sich die menschenverachtende Ausgeburt der Apartheid in Südafrika gerade erst im Begriff befand zu erstarken. Südafrika unter der National Party, der Knute der weißen Minderheit, in einem hauptsächlich von Schwarzen bevölkerten Land – war an schamloser Arroganz kaum zu überbieten. Na gut, vielleicht noch von Großbritannien. Doch das Großbritannien unter Churchill will sich das Buckeln vor dem herrischen Dämon ganz im Süden nicht ersparen. Letztendlich führte diese nutznießerische Verbundenheit der Länder, allerdings aber auch die Macht der Medien zu einem Paradigmenwechsel – und einer gesellschaftlichen Konstellation, die ihrer Zeit weit voraus war.

Das Liebespaar Ruth Williams und Seretse Khama sind ein Musterbeispiel für Prinzipientreue gewesen, für Durchhaltevermögen und gesundem, freien Denken. Vorreiterrollen, in der man gegen den Strom schwimmen muss. Man könnte meinen, dass ohne gegen den Strom zu schwimmen in der Geschichte der Menschheit überhaupt nie etwas weitergegangen wäre. Dem Unbequemen, Schmerzhaften erhobenen Hauptes zu begegnen, bereit, Opfer zu bringen für ein Ideal, dass vom Einzelnen auf die ganze Gemeinde überspringt – das kennen wir bereits seit der Zeit des Alten Testaments. Und finden wir im Laufe der Geschichte immer wieder. Und siehe da – Beharrlichkeit führt zum Ziel. 

Alleine die Geschichte des Landes Botswana und die Liebesgeschichte dahinter, die vieles verändert hat, ist es wert, Amma Asante´s Film A United Kingdom anzusehen. Allerdings – eine Dokumentation hätte es auch getan. Wenn es wirklich nur die Fakten in einem Film für Faszination sorgen, ohne filmisch zu begeistern, wäre besagtes Kleingeld vielleicht woanders besser aufgehoben gewesen. Das hausbackene Erzählkino schafft weder schauspielerisch noch dramaturgisch denkwürdige Momente. Der ähnlich konzipierte Film Der Stern von Indien, der von der Geburt des Milliardenstaates erzählt, mengt seinem Tatsachenbericht die fiktive Geschichte einer Romanze in den Unruhen des Umbruchs bei – und zaubert eine Mischung aus Bollywood-Nostalgie und Dokudrama. A United Kingdom kann sich eines Bollywood-Stils nur schwer bedienen – und weist somit kein spezielles Kolorit auf. Auf dem zwar durchdachten, aber konventionellen Niveau eines Fernsehfilms wird man Zeuge tragisch-hoffnungsloser wie hoffnungsvoller Ereignisse – wofür es den Film aber so nicht gebraucht hätte.

A United Kingdom

Schloss aus Glas

DIE REGELN DER ERZIEHUNG

6/10

 

SCHLOSS AUS GLAS© 2017 Constantin Film

 

LAND: USA 2017

REGIE: DESTIN DANIEL CRETTON

MIT WOODY HARRELSON, BRIE LARSON, NAOMI WATTS U. A.

 

Elternführerschein für alle! Nach der längst überfälligen Ehe für selbige in Österreich wäre dies der nächste Schritt zu einer besseren Welt, oder sagen wir: einer besser erzogenen. Die Eckpfeiler einer guten Erziehung finden sich maximal in guten Ratgebern. Aber wie viele der Eltern lesen schon Ratgeber. Einfach nur mit der Tatsache, erwachsen zu sein und seine eigene Kindheit mehr oder weniger durchgestanden zu haben, lässt sich noch kein Nachwuchs zielsicher durchs unruhige Gewässer der menschlichen Entwicklung steuern. Da gehört Feingefühl dazu, Vernunft, Selbstlosigkeit. Ja, vor allem Selbstlosigkeit. Und ein gesundes, in sich ruhendes Ego, mit zeitlosen Werten geprägt. Oft aber haben familiäre Leitfiguren ein zerrüttetes, beschädigtes, zerstörtes Ich, das bereits mit dem nicht zu vergessenden Trauma einer schallenden Ohrfeige beginnen kann. Oder mit der unkontrollierten Machtausübung des Stärkeren, womöglich auch selbst aus einer gewissen Fehlprägung heraus. Denn Kinder galten Anfang des vorigen Jahrhunderts noch nicht mal als vollwertige Menschen. Das muss man sich mal vorstellen. Da wundert einem eine teils neurotische wie psychotische Welt nicht mehr. 

Die Regeln der Erziehung – gibt es welche? Und können Eltern sie sinnvoll anwenden, wenn sie ihre eigene Erziehung erst noch verarbeiten müssen? Wie dem Nachwuchs eine Existenz schaffen, wenn Papa oder Mama selbst damit hadern? Nun, so viel Trost sei gespendet: der Mensch ist ein Wunderwerk der Evolution, allerdings ein Wunderwerk in progress. Dank der selektiven Radiation ist der Mensch immer noch stets im Wandel begriffen. Kann sich enorm gut anpassen und kann existenztechnisch improvisieren, dank seines Verstandes. Entbehrt das Umfeld des Heranwachsens jeglicher Geborgen- und Sicherheit, absorbiert der juvenile Verstand den Mangel und kurbelt den eigenen Denkapparat an. Der erste Schritt zur frühen Selbstständigkeit. Ein Kind, das, kaum geboren, verhätschelt und übermäßig beschützt wird, braucht selbst seinen eigenen Ist-Zustand nicht zu hinterfragen. Da alles in den Schoß gelegt wird, bleibt die Herausbildung des eigenen starken Ichs vielleicht auf der Strecke. Überspitzt formuliert, und ja, Grauzonen und Mittelwerte außer Acht gelassen. Die italienische Ärztin und Philantrophin Maria Montessori hat ihre Methodik der Pädagogik mit den Worten versehen: Hilf mir, es selbst zu tun. Aber auch dieser befreiende Leitsatz hängt sehr vom genetischen Erbe ab. Und von der Gesundheit eines jungen Menschen. Alles keine leichte Interpretation, alles nur mal angerissen. Aber es sind Gedanken, die sich mir aufdrängen, nachdem ich die Verfilmung der Biografie von Schriftstellerin Jeanette Walls gesehen habe. 

Darin spielt der unvergleichliche Woody Harrelson den asozialen Alltags-Abenteurer Rex Walls, der mit Künstlergattin und seinen vier Kindern dem seines Erachtens nach alles ruinierenden Systems der Gesellschaft zu entkommen versucht und mit vollbeladener Rostlaube von hier nach dort zieht. Dass der idealistisch denkende Über-Vater seinen Nachwuchs nicht in die Schule schickt, allerdings aber nicht mal selbst unterrichtet und das eigene Wissen in losen Anekdoten von sich gibt, ist für diesen Weg der Erziehung nur eine logische Folge. Obwohl – Erziehung ist es keine. Die drei Töchter und der eine Sohne bleiben sich selbst überlassen, müssen oftmals hungern, haben keine Freunde, der soziale Kontakt ist auf die Familie beschränkt. Der Vater selber lebt im Wunderland – sein Lebensstil ist Freiheit, sich niemanden unterwerfen zu müssen. Das Ziel: ein Schloss aus Glas. Für dieses zu bewohnende Kunstwerk werden Pläne gewälzt bis zum Gehtnichtmehr. Und die Begeisterung der Kinder an der Wurzel gepackt. Dumm nur, dass die Ideen des Vaters nur im Kopf passieren. Jeanette Walls und ihre Geschwister schauen durch die dürren Finger – die Tatsache, dass alles nur leere Versprechungen sind, zwingt die dem Ego-Trip der Eltern Unterworfenen zum Handeln. 

Der hawaiianische Regisseur Destin Daniel Cretton lässt Oscarpreisträgerin Brie Larson an ein entbehrliches Damals erinnern und zeichnet ein durchaus vielschichtiges, psychologisch komplexes Familiendrama, indem schwer zu fassende Themen wie Erziehung, Verantwortung und Selbstachtung im Mittelpunkt stehen. Dass sich der Lebensstil von Familie Walls so derart radikal manifestiert hat, erklärt sich nicht ohne schmerzliche Ursache. Auch das versucht der Film mithilfe seines souveränen Ensembles zu verstehen. Ein schwerer Brocken von Film, noch dazu in zwei Zeitebenen. Und um Einiges zu lang. Klar, um das alles unterzubringen, muss es auch ein Drama werden, das Sitzfleisch fordert. Das ähnlich gelagerte Aussteigerdrama Captain Fantastic von Matt Ross, mit Viggo Mortensen als Systemverweigerer mit Anhang, findet klarere Strukturen in der Geschichte. Konzentriert sich zeitgerecht auf einen Erzählfokus, bindet seine Fragen und Antworten besser an den roten Faden. Schloss aus Glas kann den Anspruch gar nicht ganz erfüllen, ohne sich mit einer konservativen Art des Erzählens auszuhelfen. Das wird dann irgendwann zu seifig, und aus dem spannenden Bild einer gestörten Familie wird ein Vater-Tochter-Melodrama, das letzten Endes allzu versöhnlich lächelt.

Schloss aus Glas

The Lego Ninjago Movie

ANOTHER BRICKS IN THE WALL

6,5/10

 

Ninjago© 2017 Warner Bros. Entertainment Inc.

 

LAND: USA 2017

REGIE: CHARLIE BEAN

MIT DEN STIMMEN VON Dave Franco, Zach Woods, Jackie Chan

 

Eine Kindheit ohne LEGO geht fast gar nicht. Und ich kann diese Review auch nicht wirklich schreiben, ohne zwangsläufig Werbung für LEGO zu machen. LEGO ist allgegenwärtig. Keine Ahnung, ob ich hier die Wortmarke LEGO überhaupt ohne ® oder TM-Vermerk hier mit einbeziehen darf. Allerdings denke ich – LEGO ist in seiner Art und Weise so konkurrenzlos, dass ich mit der im Folgenden dauerhaften Produktbenennung ohnehin offene Türen einrenne. Da kann Cobi oder wie sie alle heißen seit dem Ablauf der Lizenz für das Patent des Legosteins sowieso nicht mithalten – geschweige denn all die chinesischen Plagiate, die gern so qualitativ sein wollen wie das Original. LEGO – das ist unverwüstlich. Und motiviert auch den weltweiten Ideenreichtum im Kinderzimmer. Am besten sind ohnehin die puren Steine, Achter oder Vierer oder wie sie alle heißen. Von den Spezialsteinen rede ich gar nicht, die lizenztypischen Steine bremsen wiederum die Kreativität. Wie auch immer – es war ja nur eine Frage der Zeit, bis das Spielzeug seinen Weg auf die Leinwand findet. Mit LEGO können Filmemacher einiges anstellen – oder alles auf einmal, wie in The LEGO Movie. Eine wüste Bausteinorgie, schwindelerregend überdreht, hysterisch und knallbunt. Nach zwanzig Minuten kollabierender Reizverarbeitung kam dann bei mir das errettende selbstinitiierte Time-Out. Über The LEGO Batman Movie habe ich mir nur sagen lassen, dass dieser in seiner wüsten Chaosmanier sogar noch eines draufgelegt hat. Gut, das will ich lieber nicht so genau wissen. Viel lieber kauere ich mich im Schneidersitz ins Kinderzimmer und schlichte Steinchen für Steinchen und schaffe so eine gewisse Ordnung. Aber: Projekt incompleted. Das kann ich wohl erst machen, wenn ich in Pension oder arbeitslos bin. Es kann sich ja keiner vorstellen, wie zeit- und platzaufwändig das ist, das Projekt „Ordnung ist das halbe Lego“ durchzuziehen. Dann vielleicht doch lieber den nächsten LEGO-Film. Und wenn, dann gleich im Kino, volle Dröhnung. The Lego Ninjago Movie bietet sich an, weil LEGO Ninjago etwas ist, womit mein Sohn so einiges anfangen kann.

Also erwühlen wir uns einen der Ninjago-Helden aus der Steinchenschütte, denn die müssen neben uns auf der gepolsterten Sessellehne im Kinosaal sitzen, und ziehen los. Damit sich das Ganze gleich interaktiv anfühlen kann. Und siehe da – womit mich der dritte Lego-Film gleich zu Beginn abgeholt hat, das war die Illusion des Stop-Motion. Spielsteine täuschend echt zu animieren ist im Grunde keine Kunst, jedenfalls nicht für Professionisten. Es aber so aussehen zu lassen, als hätte Nick Park anstatt seiner Plastilin-Figuren Wallace & Gromit diesmal die knapp 4cm hohen Legofiguren in menschenverachtender, mühsamer Kleinarbeit Bild für Bild animiert, ist entweder eine feine Art des Hinters-Licht-Führens oder die große Kunst bildlastiger Fake-News. Wobei – die Katze, die Ninjago City heimsucht, muss aber ein Live-Act-Element gewesen sein! Oder doch nicht? Tatsächlich wandern meine Gedanken während des Betrachtens dieses launigen LEGO-Films in Richtung Quantenphilosophie. Ist die Katze echt, oder ist sie es nicht? Diese absichtlich kindlich-plumpe Art des Animierens und das Placebo von Schrödingers Katze, die sich anstatt in einer Kiste im zweidimensionalen Rechteck einer Leinwand befindet und mit der 3D-Brille sogar noch mit der dritten Dimension liebäugelt, ist aber allerdings nur ein Bonus, der den Spaß am Aufbauen und Umhauen von LEGO-Konstruktionen noch versüßt.

Denn die quirlige Brick-Action mit zahlreichen USP-Momenten ist längst nicht so ein Zudröhner wie erwartet. Ganz im Gegenteil – die augenzwinkernde Vater-Sohn-Geschichte zwischen dem grünen Ninjago Lloyd (das L ist bitte zweimal zu betonen) und dem vierarmigen, schwarzen Mutantenpapa Garmadon bietet schlagfertigen Witz, liebevoll überzeichnete Emotionen und pfiffige Action, die an Abenteuer wie Indiana Jones oder Tomb Raider erinnert. Dazwischen geizt man nicht mit allerlei ironischen Zitaten auf das Kaju-Filmgenre des Fernen Ostens. Aus The LEGO Ninjago Movie ist so etwas wie ein Merchandise-Eastern geworden, der unerwartet unterhält, Spaß macht und, daheim angekommen, die Ninjago-Sets wieder aus der Schublade holen lässt.

The Lego Ninjago Movie

Licht

DEN EIGENEN AUGEN NICHT TRAUEN

8/10

 

licht05© Christian Schulz/Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

 

LAND: ÖSTERREICH 2017

REGIE: BARBARA ALBERT

MIT MARIA DRAGUS, DEVID STRIESOW, LUKAS MIKO, STEFANIE REINSPERGER U. A.

 

Was waren das nur für Zeiten! Rund ein Jahrzehnt vor der französischen Revolution, Maria Theresia, am Ende ihrer Reformen, aber immer noch am Kaiserstuhl und Wunderknabe Wolfgang Amadeus Mozart rührte die adelige Zuhörerschaft zu Tränen. Es war die Hochzeit des französischen Rokokos, hervorgegangen aus dem engelsgleichen Barock. Mit dieser Kunst- und Moderichtung schwappte auch das Pariser Lebensgefühl mit all seinem Sprachkolorit ins Herz Europas – in die blattgoldene Wienerstadt. Frankreich – das war damals en vogue. Wer frankophil war, war up to date, würde man heute sagen. Das Zeitalter der Perücken erreichte groteske Ausmaße. Je höher, desto besser. Je mehr Blumen und Zierrat im silbergrauen Haar – umso lieber war man gesehen, auf den nicht enden wollenden Banketten, Kammermusikkonzerten und bizarren Stelldicheins aus Körperpuder, Schminke und golden verzierten Samtgewändern. Der Rokoko – den kann man sich heutzutage ja gar nicht mehr wirklich vorstellen. Was damals zu viel war, ist heute wahrscheinlich zu wenig. Die auf Äußerlichkeiten und Etikette fixierte absolutistische Gesellschaft, eigentlich der Albtraum einer Seitenblicke-Revue auf sündteurem und klassendenkendem Niveau, frönte gefälliger Oberflächlichkeit und maßloser Zerstreuung. Am liebsten mit Musik, tönend aus dem Cembalo oder Hammerklavier, virtuos umgesetzt von talentiertem Nachwuchs, deren verdächtiges Talent womöglich mit dem eines Wolfgang Amadeus gleichzusetzen war. Dumm nur, wenn so ein Wunderkind zwar leistungstechnisch für Applaus in getäfelten Sälen sorgt, vom Aussehen her aber allerdings noch ausbaufähig wäre.

Und wie es der Zufall so will, gab es zur damaligen Zeit in Wien einen umstrittenen Wunderheiler mit dem Namen Franz Anton Mesmer, der sich des animalischen Magnetismus bedient hat. Alle, die noch nicht Roger Spottiswoode´s Biografie Mesmer mit Alan Rickman gesehen haben, werden sich jetzt fragen: Animalischer Magnetismus – was ist das für ein esoterischer Humbug? Laut dem Exzentriker vom Bodensee eine Energie, die sowohl alle Organismen als auch tote Materie durchdringt. Die überall vorkommt – und die sich leiten lässt. Man kann sie weder riechen, noch schmecken, noch sehen. Ganz so wie die menschliche Seele. Oder noch weniger, denn das Gewicht der menschlichen Seele lässt sich ja bekanntlich auf 23 g definieren. Die Magnetlinien, die durch Berühren und Streicheln umgeleitet werden, sollen die unterschiedlichsten menschlichen Beschwerden lindern. So auch Blindheit. Eines dieser Wunder, die tatsächlich stattgefunden haben sollen, erzählt von einem musisch hochbegabten Mädchen namens Maria Theresia von Paradis, eine blinde Pianistin, die im Jahr 1777 unter Mesmers Therapie tatsächlich wieder sehen konnte. Doch stimmt das? Konnte sie das wirklich? Oder war es nur der Wunsch, zu sehen? Ein Mysterium, dessen Verfilmung sich Regisseurin Barbara Albert auf höchst sehenswerte Weise angenommen hat.

Die Wirkung ihres penibel recherchierten Zeitbilds verdankt sie neben ihrem Gespür für Atmosphäre und Timing in erster Linie ihrer Hauptdarstellerin Maria Dragus. Zu Beginn des Filmes sieht man die junge Dame unter opulentem Kopfschmuck vor einem Hammerklavier sitzend und wild mit den Augen rollend. Keine Frage, diese Schauspielerin muss tatsächlich blind sein. Kennt man Maria Dragus aber bereits aus anderen Filmen, weiß man, dass das womöglich nicht stimmt. Allerdings – wenn bei einer Rolle wie dieser das Gespielte vom tatsächlichen Umstand nicht mehr zu unterscheiden ist, dann muss man beeindruckt die Perücke zücken. Licht lebt von Dragus´ Performance wie die Farben der bunten Herrenröcke von selbigem. Ihr zur Seite ein fulminant aufspielender Lukas Miko als patriarchalische Vaterfigur mit Geltungsdrang, verletztem Stolz und falscher Fürsorge. Wie kaum eine andere Figur im Film transportiert er die Geisteshaltung der damaligen Zeit nahtlos ins Hier und Heute.

Barbara Albert´s handwerklich ausgefeiltes Sittengemälde beeindruckt aber auch durch die Sprache. Das 18. Jahrhundert ist auch die Zeit gewesen, in der all die frankophone Wortgewalt über unsere geliebte deutsche Sprache hereingebrochen war. Entstanden sind Gallizismen, die wir teilweise heute noch verwenden. Gekonnt vollführt Kathrin Resetarits in ihrer Drehbuchfassung des Romans Alissa Walsers einen Gesellschaftstanz historischer Linguistik zwischen antiquiertem Sprachschatz und phonetischer Exotik. Ein Genuss, dem teils absichtlich gestelzten, höfischem Gerede und gleichzeitig lokalem Sprachkolorit zuzuhören. Ländlicher Dialekt ist hier ebenso zu hören wie deutsche Färbung bei Devid Striesows gemischtem Klang aus Theaterdeutsch und bemühtem Altwiener Slang.

Neben Die beste aller Welten von Adrian Goiginger zählt Alberts opulentes, berauschendes Kostümdrama Licht womöglich zu den faszinierendsten und stärksten österreichischen Filmen der letzten Zeit. Auf alle Fälle zu den besten dieses Jahres.

Licht

Die beste aller Welten

DER DÄMON DER KINDHEIT

8/10

 

Die_beste_aller_Welten_Pressefoto_15@ Filmperlen

 

LAND: ÖSTERREICH 2017

REGIE: ADRIAN GOIGINGER

MIT JEREMY MILIKER, VERENA ALTENBERGER, LUKAS MIKO, MICHAEL FUITH U. A. 

 

„Ich werd´ dich nie vergessen, Kindheit“ – so lautet der Refrain eines Songs des österreichischen Musikers Peter Cornelius. Wie wahr, unser Erwachsenwerden bleibt unvergessen. Die ersten Dekaden eines Lebens sind die schwierigsten. All das, was sich in den ersten zehn Lebensjahren ereignet, prägt die Persönlichkeit, die Sicht auf die Welt, den Geist und den Verstand. Das Erwachsenwerden im Grundschulalter ist schon schwierig, undankbar und angsterfüllt genug. Magisches Denken kommt dazu. Und ein Selbstbewusstsein, das erst wachsen muss. Eine unwirtliche Gesetzmäßigkeit. Auch dann, wenn der Haussegen gerade hängt, das Elternhaus intakt und das Dach über dem Kopf ein dichtes ist. Ist die Zuflucht namens Familie, das Umfeld des Aufwachsens. instabil, schleichen sich Dämonen ins junge Leben. Und eine irreale, bessere Welt tut sich auf. Nur sichtbar für das Kind, das in dieser Welt kein Kind mehr ist, sondern ein Held. Ein Krieger, ein Siegfried. Mit stahlharten Muskeln, bis an die Zähne bewaffnet. Ausgestattet mit Bogen und einem magischen Pfeil, der die Bedrohung in Schach hält und das Böse stets bezwingt. In dieser besseren, anderen Welt ist die destruktive Finsternis der Realität ein Monster in Ketten, das stetig versucht, sich loszureißen.

Dieses Monster – das ist die Drogensucht der eigenen Mutter. Der junge Filmemacher Adrian Goiginger hat mit dem autobiografischen Drama Die beste aller Welten seine eigene schmerzliche, entbehrungsreiche Kindheit verfilmt – und einen der stärksten österreichischen Filme seit Indien auf die Leinwand gebracht.

Das Fenster in die Vergangenheit ist auf eine Episode aus Adrians Volksschulzeit gerichtet – und damit auf einen einschneidenden Wendepunkt in seinem und dem Leben seiner Mutter Helga. Das mit Mama irgendetwas nicht stimmt, ist dem kleinen Jungen klar. Was es genau ist, kann er nicht sagen. Es ist ein Gefühl des Verlassenseins, des willkürlich Bedrohlichen und Unberechenbaren. Ein Dämon, der das Zeug dazu hat, größer zu werden. Wie ein Feuer, das den Phönix zur Asche verwandeln kann. Keine Ahnung, ob aus dieser Asche wieder neues Leben entsteht. Das weiß Adrian nicht. Und er weiß auch nicht, was all die Freunde Mamas jeden Abend in der eigenen Wohnung zu suchen haben. Sie sind einfach da, genauso wie die Sucht. Sie trinken, machen Musik, schreien herum, schlafen viel. Dunst und Rauch hängen im Wohnzimmer der frühen Neunzigerjahre. Die Männer sind vertraut, das schon. Aber gleichermaßen unbequem. Adrian muss sich anpassen. Ein Kind, das sich dem Leben an sich anpassen muss, hat auch noch die widrigen Umstände seines Zuhauses zu akzeptieren. Oder ist das Umfeld für Adrian nicht anders als für jemand, der ohne suchtkranke Vorbilder aufwächst? Helga tut was sie kann, um ihren über allem geliebten Sohn die Beste aller Welten zu schenken. Doch die Beschaffenheit von Heroin und der damit einhergehende soziale wie körperliche Abstieg machen diesem Ideal in einer kaputten Welt einen Strich durch die Rechnung. Es ist wie die Quadratur des Kreises, wie das Ei des Columbus, ohne deren Schale zu beschädigen. Eine Unmöglichkeit.

Unmöglich scheint auch, wie der Regisseur aus seiner zutiefst persönlichen Lebenserfahrung einen zutiefst ehrlichen, wuchtigen Film gezaubert hat. Ganz großes Kino, vor allem Schauspielkino, denn die Leistung des kleinen Jeremy Miliker ist von einer überzeugenden Wahrhaftigkeit, dessen einzige Erklärung die eines Naturtalents sein muss. Dabei stellt sich mir die Frage: Wie schaffen es Filmemacher überhaupt, Kinderdarstellern die Anforderungen einer derart schwierigen Rolle zu vermitteln? Der authentischen Verkörperung eines sich völlig nachvollziehbar verhaltenden Jungen inmitten von Drogen- und Alkoholkonsum, Gewalt und Tod muss ein empathisches Verständnis der Rolle zugrunde liegen. Dass ein Kind von gerade mal 8 Jahren das Ausmaß seine für ihn fremde Realität im Film dennoch dermaßen begreifen kann, ist einerseits schwer beeindruckend. Andererseits: können es die Eltern verantworten, ihr Kind – und sei es auch nur an einem Filmset – Extremsituationen auszusetzen wie in Die Beste aller Welten dargestellt wird?

Überhaupt sind Kinderdarsteller ein Phänomen. Vielleicht, weil sie sich in fiktive Welten viel besser integrieren können als Erwachsene, wirken sie oftmals so, als wären sie das, was sie darstellen, auch in ihrem realen Leben. Da ist Wunderkind Jeremy Miliker ganz vorne mit dabei. Ebenso Verena Altenberger ist nicht weniger ein Erlebnis wie ihr Filmsohn. Zwischen beiden gibt es eine Harmonie, welche dem Film eine Intensität verleiht, für welche die Arbeiten von Susanne Bier charakteristisch sind. Die dänische Künstlerin ist bekannt für schwere, komplexe Stoffe. Goigingers Film ist ähnlich gewichtig, erschütternd und herzzerreißend. Aber irgendwie auch viel leichter und von einer Natürlichkeit, die den Film niemals prätentiös oder getragen wirken lässt.

Mit Die Beste aller Welten hätte das Filmland Österreich tatsächlich wieder mal Chancen auf einen Auslandsoscar – so virtuos und nahbar ist dieses Stück erlebte Kindheit geworden.

Die beste aller Welten