Das tiefste Blau (2025)

AUGENTROPFEN FÜR ALTERSWEITSICHT

5/10


© 2025 Alamode Film


ORIGINALTITEL: O ÚLTIMO AZUL

LAND / JAHR: BRASILIEN, MEXIKO, CHILE, NIEDERLANDE 2025

REGIE: GABRIEL MASCARO

DREHBUCH: TIBÉRIO AZUL, GABRIEL MASCARO

KAMERA: GUILLERMO GARZA

CAST: DENISE WEINBERG, RODRIGO SANTORO, MIRIAM SOCARRÁS, ADANILO U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Jair Bolsonaro sitzt in dieser nahen Zukunft Gott sei es gedankt nicht mehr am Ruder. Der rassistische Umweltsünder hätte, wäre der Film die Realität, entweder eine nahe Zukunft wie diese verantwortet oder er säße, wenn nicht im Gefängnis, dann längst in einer dieser als euphemistisch bezeichneten Kolonien der über 75jährigen, die von der jüngeren Gesellschaft einfach nicht mehr er- und mitgetragen werden sollen. Es hemmt die Wirtschaft, heisst es in diesem Brasilien, denn die muss florieren. Da hat wohl niemand etwas davon, wenn die Alten von den Jungen ausgehalten und gepflegt werden müssen und dadurch das Bruttosozialprodukt nicht gesteigert werden kann. Natürlich fällt mir dabei Geier Sturzflug ein mit ihrem Klassiker der Neuen Deutschen Welle. „Wenn Opa sich am Sontag aufs Fahrrad schwingt und heimlich in die Fabrik eindringt“ – schon damals wusste man, das die ältere Generation irgendwann um ihre Pension kämpfen muss, würde diese es nicht möglich machen, bis zum Abnippeln an der Kurbel von wasweißich auch immer zu drehen, nur um, gezwängt zwischen Zahnrädern wie einst Charlie Chaplin, den prosperierenden Staat am Laufen zu halten.

Für die Alten das Abstellgleis

Was im Ganzen so aussieht, als wäre das eine menschenverachtende, ungerechtfertigte Erniedrigung jener, die Zeit ihres Lebens ihr Soll erfüllt haben, ist im Detail noch viel erniedrigender und bitterer. In den Städten des Amazonas kurven Pickups mit Käfigen hinten drauf durch die Straßen, um abgängige Alte, die nicht ins Lager geschickt werden wollen, einzusammeln. Tereza meint, auf die Archivierung ihrer selbst noch fünf Jahre warten zu dürfen, ist sie doch erst 75. Doch die Regeln haben sich geändert – die rüstige und keinesfalls inaktive Dame wird demnächst abgeholt, eine Woche Zeit bleibt ihr noch – um ihr selbst noch einen einzigen Wunsch zu erfüllen, bevor gar nichts mehr geht, nämlich zu fliegen, womit auch immer. Dafür begibt sie sich gegen den Willen ihres töchterlichen Vormunds an den Amazonas, fliegen und Bahnfahren darf die Entmündigte schließlich nicht ohne Genehmigung. Auf ihrer kleinen Odyssee trifft sie auf einen entrückten Bootsmann, völlig verpeilten Flugpiloten, rangelnden Süßwasserfischen (wie seltsam!) und einer längst pensionsfähigen, aber autarken Bibelverkäuferin, mit der sie Freundschaft schließt – und die es irgendwie geschafft hat, ihrem aufgehalsten Schicksal zu entkommen.

Die Tropen machen müde

Eine bittere, seltsam entschleunigte Zukunft ist das hier am südamerikanischen Megastrom, der mitunter eine Schnecke zu seiner Fauna zählt, die ein blaues Sekret absondert, welches das Bewusstsein erweitert und die Zukunft erahnen lässt – daher auch der Titel des Films. Als hätte Werner Herzog in der schwülen Tropenluft Brasiliens zwischen mehreren Nickerchen im Zustand des trägen Erwachens einen Film gedreht, tuckert Das tiefste Blau in entspannter Unentspanntheit und leicht erratisch durch einen Lokalaugenschein gar nicht vorhandenen Wirtschaftsenthusiasmus. Ist es nicht das Glücksspiel, bleiben die Jüngeren letztlich untätiger als die Alten. Eine gewisse Apathie macht sich hier breit, in der die ungestüme Tereza Spielraum genug findet, um sich aus dem Kreislauf einer deterministischen Zukunft durch einen ideenreichen Abschneider in die Wagemut herauszukatapultieren.

Mag sein, dass Das tiefste Blau die Welt nach der Arbeit zu einem einzigen Altersheim werden lässt und damit warnende Signale setzen will, nicht so unachtsam mit denen umzugehen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und dennoch engagiert sich Gabriel Mascaro in seiner Coming of Overage-Fantasterei zu wenig, sondern lässt seine auseinanderklaffenden Szenen, die viel Nichterzähltes voraussetzen, wie Wachepisoden einer viel dichteren Geschichte erscheinen. Das macht das Ganze bruchstückhaft, den Blick in eine Richtung setzend, die das Publikum nicht trifft.

Das tiefste Blau (2025)

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Oslo Stories: Träume (2024)

WIE MAN DIE GEFÜHLE DER ANDEREN SIEHT

7,5/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: DRØMMER

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: ELLA ØVERBYE, SELOME EMNETU, ANE DAHL TORP, ANNE MARIT JACOBSEN, INGRID GIÆVER, ANDRINE SÆTHER, LARS JACOB HOLM U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Was hätten wohl andere Filmemacher mit diesem Stoff gemacht hätten? Eine Schülerin verliebt sich in eine Lehrkraft. Großes Drama, großer Skandal. Tragödie, wenn wir so wollen. Das Melodrama wäre andernorts, mit anderem erzählerischem Temperament und anderen Prämissen gerne entfesselt worden – bei Dag Johan Haugerud haben diese Banalitäten keinen Spielraum. Der wird schließlich durch starke Charaktere eingenommen, die es eher weniger zulassen, dass sie selbst das Symptom ihres eigenen Schicksals sind. Von diesem ist Oslo Stories: Träume ebenfalls weit entfernt. Es genügt, wenn das geheime Begehren stark genug ist, da braucht es nicht das große Drama, das präzise Dialoge einem plakativem Szenario opfert. Die Liebe einer Schülerin zu ihrer Lehrerin – die bleibt. Was Haugerud aber daraus macht, ist etwas ganz anderes. Etwas viel Tiefergehendes, Komplexeres, Übereinanderlappendes.

Als Teil eines scharfsinnigen Triptychons unter dem Überbegriff Oslo Stories würden sich noch die Episoden Liebe und Sehnsucht dazugesellen – untereinander sind es völlig autarke Geschichten und erinnern in ihrer grundlegenden Konzeption sehr wohl auch an den Großmeister des polnischen Kinos, Krysztof Kieslowski, der mit seiner ganz eigenen, aber weitaus metaphysischeren und wuchtigeren Trilogie Drei Farben: Blau, Weiß und Rot die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die französische Tricolore – als sinnbildliche Gleichnisse in die europäische Filmgeschichte einzementiert hat. Etwas Ähnliches dürfte Haugerud gelungen sein. Seine Begriffe sind weniger gesellschaftliche Werte als innere Gesamtzustände, relevante Emotionen, die ein ganzes Dasein bestimmen, die vorwärtsbringen, anleiten, vernichten. Die Seite an Seite mit Hoffnung und Verzweiflung funktionieren. Was tun diese Empfindungen mit uns? Und wie werden diese von einem bestimmten Gegenüber reflektiert? Woran erkennt man, dass der andere sie auch wahrgenommen hat? Lassen sich Sehnsüchte und Begehren spüren, wenn man das alles geheim hält? Gibt es da etwas, eine Aura, welche die richtigen Signale birgt?

Dabei ist Oslo Stories: Träume kein beobachtendes Kino, kein Experiment, sondern ein filmgewordenes Gespräch ohne Scheu vor Fragen, Rückfragen und mehreren Antworten gleichzeitig. Wie die siebzehnjährige Johanne damit umgeht, dass sie für Johanna Gefühle empfindet? Niemand leitet uns jemals dabei an, dieses Empfinden auch den Umständen entsprechend zu managen. Die Regeln der Gesellschaft gelten hier, die junge Johanne gibt sich bedeckt, schafft es aber, bei der weitaus älteren, faszinierenden Künstlerin anzuknüpfen, indem sie bei ihr die Fertigkeit des Strickens erlernt. Es scheint, als würde auch Johanna Gefühle hegen – ein Verdacht, den das Mädchen auf Papier bringt und am Ende dieser Erfahrung eine ganze Geschichte geschrieben hat, die Novelle einer Verliebtheit, die Impressionen eines Zustandes und die Beobachtung der Geliebten. Dieser Text fällt später in die Hände von Mutter und Oma, noch dazu ist er sagenhaft gut geschrieben – und bald ist das Werk nicht nur ein zu Papier gebrachter Lebensabschnitt, der niemanden etwas angeht, sondern ein kleines Verlagswunder, dass seine Leser findet.

Liebe, Träume, Sehnsucht – diese drei Adjektive bedingen einander oder sind gleichermaßen Teil des jeweils anderen Begriffs. Ohne Sehnsucht keine Träume, ohne Träume keine Liebe, ohne Liebe keine Sehnsucht. Dieses Dreieck des Begehrens analysiert gerade in dieser Episode den Umgang mit den eigenen Gefühlen und das erfüllende Beherrschen selbiger. Haugerud legt viel Gespür in das Schauspiel seines Ensembles, bemüht aber gleichzeitig einen gewissen Rationalismus, der zeigt, wie ein verliebter Mensch im zarten Alter eines Teenagers die Wirrungen seines Lebens durch Verschriftlichung bändigt.

In diesem sozialen Geflecht, das Haugerud mit reduzierter Farbpalette webt und nur in wenigen Szenen das sinnliche Kino entdeckt, finden sich Generationen, Positionen, Blickwinkel. Über allem steht der pragmatische Blick auf alternative Chancen und die Akzeptanz des Unmöglichen. Mit besonnener Klarheit und geschliffenen Gesprächen nimmt Haugerud eine Grundsituation wie diese, die für plakative Romanzen taugt, endlich mal ernst. Dieser Zugang ist wahnsinnig erwachsen, inspirierend und auf erfrischende Weise hinterfragend. Kino für Zuhörer und psychosoziale Hobbyforscher.

Oslo Stories: Träume (2024)

Köln 75 (2025)

DER PIANIST UND DAS MÄDCHEN

7/10


© 2025 Alamode Film / Wolfgang Ennebach

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, POLEN, BELGIEN 2025

REGIE / DREHBUCH: IDO FLUK

CAST: MALA EMDE, JOHN MAGARO, MICHAEL CHERNUS, ALEXANDER SCHEER, ULRICH TUKUR, JÖRDIS TRIEBEL, LEO MEIER, SHIRIN LILLY EISSA, ENNO TREBS, LEON BLOHM, DANIEL BETTS, SUSANNE WOLFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Sei ruhig, Fließbandbaby – diesen im Sprechgesang vorgetragenen Song aus den späten Sechzigern legt Regisseur Ido Fluk gleich einer ganzen Gruppe junger Wilder buchstäblich in den Mund. Die Politrock-Band Floh de Cologne durfte damals ihrer Zeit weit voraus gewesen sein, denn die Neue Deutsche Welle etablierte sich erst mit Mitte der Siebziger. Diesen musikalischen Sonderling greife ich deshalb auf, weil er die eigentliche Prämisse dieses Films treffend intoniert, schließlich handelt das musikalische Werk von weiblicher Unterwürfigkeit, dem Patriarchat und der gesellschaftlichen, starren Ordnung, wonach die Frau hinter den Herd oder wenn nicht, dann zumindest etwas Gescheites lernen soll. Auch wenn es die Jungen nicht wollen: Als Fließbandbaby muss man still sein. Und tun, was sich gehört. Wäre das passiert, hätte sich Vera Brandes den starren Dogmen ihres Vaters unterworfen, wäre das Ereignis, welches unter Kennern gemeinhin als The Köln Concert bekannt ist, nie in die Musikgeschichte eingegangen.

Wer ist denn nun diese Dame, die von Mala Emde so emsig und mit Hummeln im Hintern verkörpert und in den späteren Jahren von Susanne Wolff gespielt wird, die ihrem Vater nichts mehr zu sagen hat, außer dass dieser ein Arsch gewesen sein mag? Vera Brandes dürfte wohl weniger ein Begriff sein als Frank Farian – letzterer war immerhin Musikproduzent und verantwortlich für das Milli Vanilli-Desaster. Brandes wiederum, mit blutjungen 18 Jahren, hat damals, Anfang der Siebziger, im Konzertmanagement Blut geleckt. Begonnen hat das Ganze mit dem Organisieren kleinerer Gigs irgendwelcher Jazzmusiker, die man heute kaum mehr kennt. Brandes durfte schnell gelernt haben, wie man andere Leute davon überzeugt, ihren Künstlern die Bühnen zu überlassen. Im Jänner 1975 dann die große Nummer: Der Jazzpianist Keith Jarrett hat vor, in Köln eines seiner ungewöhnlichen, einzigartigen Improvisationskonzerte zu geben. Was das heisst? Keiner weiß, nicht mal Jarrett selbst, was an diesen Abenden wirklich passieren wird. Der verschrobene Musiker, der sich vor dem ersten Tastenschlag mal minutenlang einkrampft, um die kreative Mitte zu finden, führt den Free Jazz bis zum Exzess, und zwar im Alleingang. So einen Typ muss man erst mal zufriedenstellen, und das beginnt bei dem richtigen Konzertflügel.

Köln 75 beweist wie Girl You Know It’s True, dass nicht allzu gegenwartsferne Entertainment-History ein Subgenre darstellt, welches das deutsche Kino etwas überspitzt gesagt gnadenlos gut beherrscht. Beide Filme sind auf ihre Weise mitreißend, bei Köln 75, welcher auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, ist der Charakter der Vera Brandes allerdings jemand, der sich eher austauschen ließe als ein Egomane wie Frank Farian. Brandes ebnet zwar den Weg für Jarretts großen Auftritt – dennoch ist es letzterer, der, dargestellt von John Magaro (zuletzt gesehen in September 5), das tiefgreifende Kernstück eines Musikfilms ausfüllt, der mehr sein darf als das. In dieser mittleren Sequenz, in der Mala Emde gar keinen Auftritt hat und die sich ausschließlich auf die Anreise Jarretts im klapprigen Automobil vom Lausanne nach Köln konzentriert, erfährt der Zuseher die mit starken Akzenten skizzierte Charakterstudie eines genialen Exzentrikers – oder exzentrischen Genies. Im Grunde hätte Köln 75 ein szenisches Biopic wie Like A Complete Unknown werden können, nur noch eng gefasster, fokussierter. Drumherum aber haben wir Mala Emdes immerhin hinreißende Performance, deren Figur aber oberflächlicher bleibt als womöglich vorgesehen. Doch ohne Brandes kein Köln-Konzert, und ohne Köln-Konzert kein Film. Am Ende wird der aufgeweckt erfrischende Streifen mit biografischer Tiefe zum hechelnden Thriller rund um egomanische Überheblichkeit, Flexibilität und Improvisation. Vor allem letzteres erfährt eine mehrheitliche Deutung und beweist wieder einmal, dass nur das Unvorhergesehene wirklich großes bringt. Und das Große niemals kalkulierbar sein kann.

Köln 75 (2025)

Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024)

DAS SYSTEM ENTWAFFNEN

7/10


saatdesheiligenfeigenbaums© 2024 Films Boutique / Alamode Film


LAND / JAHR: IRAN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: MOHAMMAD RASOULOF

CAST: MISSAGH ZAREH, SOHEILA GOLESTANI, MAHSA ROSTAMI, SETAREH MALEKI, NIOUSHA AKHSHI, REZA AKHLAGHI, SHIVA ORDOOEI U. A.

LÄNGE: 2 STD 48 MIN


Wenn Filmemachen weitaus mehr bedeutet, als nur zu unterhalten und den großen Reibach zu lukrieren, hat das meistens etwas mit einer politischen Agenda zu tun – einem stark motivierten Ansinnen, einen Missstand in die Welt hinaus zu posaunen, der nur darauf wartet, behoben zu werden. Das Medium Kino hat dabei ordentlich Stimme, lauter noch als es Bücher vermögen. Lauter noch, als es in nüchterner und objektiver Sicht die Korrespondenz eines Nachrichtensenders zuwege bringt. Denn dort, wo die allgemeinen Fakten enden, beginnt das Einzelschicksal. Und womit nur lassen sich Verbrechen greifbarer schildern als anhand eines Anschauungsbeispiels, einer Probe aufs Exempel innerhalb des Systems Familie. Sie wird in Die Saat des heiligen Feigenbaums zum Versuchsobjekt und zur Metapher eines akuten gesellschaftspolitischen Dilemmas, das entsteht, wenn eine Nation es verabsäumt, agile Politik von statischer Religion zu trennen. Ersteres braucht Bewegung und Anpassung, um mit der Zeit und dem Willen des Volkes zu gehen. Zweiteres darf sich rühmen, auf ewig dieselben Gesetze zu verkünden, weil, so meint man, Gottheiten es so wollen. Oder noch besser: Weil Gottheiten es befehlen.

Beides, Politik und Religion, bringt man nicht zusammen. Was beide aber gemeinsam haben, ist, als Werkzeug für Macht und Kontrolle zu fungieren. Die Theokratie im Iran wird es niemals dulden, Frauen jene Freiheit einzuräumen, die es ihnen ermöglicht, in der Öffentlichkeit sie selbst zu sein. Grotesk ist es da schon längst, wenn der Hijab nicht sitzt und es Strafen regnet. Als staatliches Verbrechen muss man sehen, wenn die freie Meinung Tod und Verderben nach sich ziehen. Der Mensch ist auf die Dauer nicht dafür gemacht, derartige Ungerechtigkeiten zu erdulden. Was folgt, sind Demonstrationen, die immer mehr auf Widerstand stoßen. Und während der Widerstand wächst, wächst auch die Revolution – mit Worten, Gesten und unmissverständlichen Statements. Als die 22jährige Iranerin Jina Mahsa Amini von der islamischen Sittenpolizei verhaftet wird, weil ihr Kopftuch nicht richtig sitzt, und dabei ums Leben kommt, scheinen die Proteste kein Halten mehr zu kennen. In dieser Zeit, und das beschreibt nun Mohammad Rasoulofs Film, der im Geheimen gedreht und gerade noch fertiggestellt wurde, bevor der Filmemacher blitzartig das Land verlassen musste, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, wird Filmvater Iman (Missagh Zareh) zum Ermittlungsrichter befördert. Es winken ein größeres Heim, mehr Geld, mehr Ansehen und eine Dienstwaffe. Denn man weiß ja nie, was einem Richter widerfährt, der Demonstranten zum Tode verurteilen muss. Womit Iman nicht gerechnet hat, ist das Mehr an Verhaftungen, die es nun abzuarbeiten gilt. Und dabei sind nicht selten die Interessen anderen wichtiger als das humanitäre Recht des Angeklagten. Während dieses beruflichen Umbruchs muss Mutter Naijmeh (Soheila Golestani) ihren Töchtern einbläuen, sich von jedweder Demo fernzuhalten. Das wäre nämlich gar nicht gut für Papa, und sowieso ist die ganze Familie im Fokus des Regimes – kein Fehler darf erlaubt sein. Als wären diese Umstände nicht schon prekär genug, gewährt Tochter Rezvan (Mahsa Rostami) einer verletzten Demonstrantin Zuflucht, während Iman von heute auf morgen seine Pistole nicht mehr findet. Spätestens jetzt ist Gefahr im Verzug, denn der Verlust der Dienstwaffe würde zu Repressalien führen. Vielleicht auch zu Gefängnis.

Mohammad Rasoulofs Film ist alleine schon deswegen bemerkenswert, weil er andere Beweggründe nennt, um gemacht worden zu sein. Aufklärungsarbeit könnte man die Sache nennen, politisches Manifest und schmerzliches Gleichnis eines Überwachungsstaats, der seine Saat ausbringt, die an jene eines Feigenbaums erinnert. Und auch da wird klar: Ein Feigenbaum schafft es, seinem Wirt, um den er wächst, all seine Energie zu entziehen. Diese Form von Politkino rezitiert nicht nur Geschichte als betroffen machendes Abbild einer vielleicht vergangenen Notlage. Dieses Form von Politkino wird zum Instrument eines Aufstands, indem es deutlich macht, wie sehr die toxische Herrschaft des Ali Chamenei seine Paranoia schürenden Methoden bis in die letzten Winkel einer funktionalen Familie streut. Das System wuchert wie Schimmelpilz über den einzelnen und macht sich langsam und schleichend über den Patriarchen her, der, in die Ecke gedrängt, den politischen Horror übernimmt, um ihn gegen seine Liebsten einzusetzen.

Langsam, ganz langsam dreht Rasoulof den Schraubstock zu. Alltägliches wird zur Schandtat, deren Verursacher zur Rechenschaft gezogen werden muss. Immer tiefer dringt der Film in den Mikrokosmos von Vertrauen, Liebe und Gemeinschaft und korrumpiert so gut wie alle Werte, die dem freiheits- und friedliebenden Menschen so eigen sind. Anfangs wähnt man sich noch in einem gediegenen Familiendrama vor dem Hintergrund politischer Unruhen – wortgewandt, präzise und nüchtern wie ein Film von Michael Haneke. Später aber kippt das Werk in den Verfolgungswahn und wird zum Psychothriller, der längst verlässliche Normen aushebelt. Rasoulof führt eine scharfe Klinge, fast schon stoisch und distanziert. Dann aber kann er nicht anders, all die Emotionen brechen sich Bahn. Das Gleichnis wird vollzogen bis zur bitteren Konsequenz. Mag sein, dass Rasoulof dabei seinem Stil zwar treu bleibt, den Rhythmus und die Tonalität aber verändert, um die zersetzenden Symptome klarer erkennbar zu machen. Man wünscht, er hätte es bereits etwas früher getan, und hätte nicht so viel Zeit damit zugebracht, den Stein ins Rollen zu bringen. Verzetteln wäre ein Wort dafür, doch wenn es ganz plötzlich – und irgendwie hat man es auch kommen sehen – darum geht, das System zu entwaffnen, um einen Ausgleich zu schaffen, wird die entwendete Dienstwaffe zum Auge eines Tornados, in dessen tosender Energie eine Familie ins Chaos stürzt.

Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024)

The Dead Don’t Hurt (2023)

ALLEIN MIT DEN MÄNNERN DES WESTENS

5,5/10


thedeaddonthurt© 2023 Marcel Zyskind_Alamode Film


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, MEXIKO, DÄNEMARK 2023

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION / MUSIK: VIGGO MORTENSEN

CAST: VIGGO MORTENSEN, VICKY KRIEPS, GARRET DILLAHUNT, SOLLY MCLEOD, DANNY HUSTON, NADIA LITZ, W. EARL BROWN, JOHN GETZ U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Seit Der seidene Faden von Paul Thomas Anderson, wo sie an der Seite des großen und längst in Schauspielrente gegangenen Daniel Day Lewis gestanden hat, ist die Luxemburgerin Vicky Krieps eine begehrte, weil extravagante Schauspielerin, die sich schwer in irgendein Schema einordnen lassen will und einen ganz eigenen Charme versprüht, ohne dabei irgendwelchen Vorbildern, sofern es welche gäbe, nacheifern zu müssen. Diese Besonderheit wollte „Aragorn“ Viggo Mortensen in seiner zweiten Regiearbeit gewährleistet wissen, völlig beeindruckt von dieser unkonventionellen Ausstrahlung und diesem extra für diesen Film einstudierten französischen Akzent. Ein feministischer Western sollte es werden, rund um Hoffnung, Grauen, Schicksal und Tod. Legenden der Leidenschaft im Format einer rustikalen Farmhouse Story, einer Lebensgeschichte ohne kitschiges Pathos. Fackeln im Sturm im Spin Off, ein Hauch von Eastwoods Erbarmungslos und sonst auf autorenfilmischen, weil emanzipierten Künstlerpfaden unterwegs. Mortensen sollte niemand vorschreiben, wie er seine Vision umzusetzen hat. Keine großen Studios, kein Über-die-Schulter-blicken, sondern die freie Idee eines romantischen Klageliedes im Staub natürlicher Landschaften, die Mortensen in atemberaubenden Kalenderbildern einfängt. Zwischendurch jedoch sind die toxischen Stereotypen von Männlichkeiten aller Art jene Bürden, die Vicky Krieps als selbstbestimmte, smarte Frankokanadierin Vivienne auferlegt werden. Sie werden ihr nacheinander den Traum eines guten Lebens nehmen. Und sie so weit herausfordern, bis gar nichts mehr geht.

Mortensen selbst, der Regie, Skript und auch die Produktion übernommen hat, sieht sich selbst sehr oft und gerne in der Rolle eines eigenbrötlerischen Außenseiters, eher ungepflegt, von der Sonne gegerbt, doch männlich, charmant, auf ruppige Art liebevoll. Ein Gesamtpaket, das Vivienne, die eines Tages zufällig an diesem Mann vorbeispaziert, sofort überzeugt. Es folgt ein Szenenwechsel, und das zerzauste Landei hat bereits die Gunst der selbstbewussten Dame gewonnen, wacht er doch nächsten Morgen gleich in ihrer Bettstatt auf. Die Figur des Holger Olsen ist die erste Ausgestaltung eines Männlichkeitsbildes, das zwischen Progressivität und konservativem Pflichtbewusstsein versucht, eine Balance zu finden. Letztlich obsiegt der Drang, als Mann tun zu müssen, was man als Mann eben tun muss: Während der Sezessionskriege sieht Olsen schließlich keinen anderen Weg, als einzurücken – und lässt Vivienne, die sich längst damit abgefunden hat, gemeinsam mit ihrer großen Liebe im Nirgendwo auf einer verstaubten Farm ihr Dasein zu bestreiten, allein zurück. Man weiß: In diesen Zeiten ist weibliche Selbstbestimmtheit nichts, was Frau ausleben können. Vivienne tut aber ihr Bestes, will ihr eigenes Geld verdienen, will ihre Meinung sagen und sich nichts gefallen lassen. Vicky Krieps ist die Avantgarde einer späteren, resoluten Weiblichkeit. Auch wenn Olsen die Sache eher skeptisch sieht.

Die andere Seite der Männlichkeit ist die verheerende. Da gibt es diesen Weston Jeffries, psychopathischer und gewaltaffiner Sohn eines reichen Landbesitzers, der gerne Leute krankenhausreif prügelt und Kinder über den Haufen schießt. Das Recht, alles haben zu dürfen, wonach ihm der Sinn steht, schließt die aparte Vivienne mit ein. Und so kommt es zu einer verheerenden Tragödie, die das Leben der Zurückgelassenen um hundertachtzig Grad in eine Richtung dreht, welche den Anfang vom Ende einläuten wird. Vom Ende einer Idee, was es heisst, ein glückliches Leben als Frau zu führen.

Viggo Mortensen will um seine Chronik des Scheiterns einer Frau im Wilden Westen keinen klassischen Erzählbogen spannen. Er beginnt mit dem Dahinscheiden seiner Protagonistin, um dann die Geschichte weiterzuerzählen, während sich in längeren Intervallen zwischendurch eine Lovestory zu verankern versucht, die in ihren eigentlich kurzatmigen Szenen nicht jene Gestalt annehmen kann, für welche sich Vicky Krieps offensichtlich vorbereitet hat. Mortensen weiß nicht so recht, in welchem Rhythmus und nach welcher narrativen Logik er seine Zeitebenen durchmischt, die Struktur des Films erscheint daher beliebig. Was The Dead Don’t Hurt fehlt, ist sein Fokus auf das Wesentliche. Die Garnitur klassischer Westernszenen und -charaktere umrahmt den ambitionierten Kern des Films in klischeehafter Dicke, irgendwann hat man das Gefühl, Mortensen will zu viel und alles gleichzeitig. Viel Drama, viel Schicksal, viel Gut und Böse auf simple Weise. Was bleibt, ist Vicky Krieps gehemmtes Spiel und viel Landschaft.

The Dead Don’t Hurt (2023)

20.000 Arten von Bienen (2023)

WEIL ICH (K)EIN MÄDCHEN BIN

7,5/10


20000bienen© 2023 Alamode Film


ORIGINALTITEL: 20.000 ESPECIES DE ABEJAS

LAND / JAHR: SPANIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: ESTIBALIZ URRESOLA SOLAGUREN

CAST: SOFÍA OTERO, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, ANE GABARAIN, ITZIAR LAZKANO, SARA CÓZAR, MARTXELO RUBIO, UNAX HAYDEN, MIGUEL GARCÉS U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Manchmal ist es zum Verzweifeln. Denn manchmal, da lässt sich nicht sein, wer man gerne wäre. Was tun, wenn man dem künstlerischen Talent eines Elternteils nacheifern will und einfach nicht die Klasse erreicht, die es zu erreichen gilt, um genauso groß rauszukommen wie zum Beispiel der Vater? Wenn man, wie Florence Foster Jenkins, unbedingt singen will, und es trotz aller Bemühungen einfach nicht kann? Ein Dilemma, dass sich nicht lösen lässt. Auf zu neuen Ufern. Wäre mein Rat. Was aber, wenn die Tatsache, irgendwann mal so zu werden wie der eigene Vater, und egal, was man dagegen unternimmt, genau das ist, was nicht sein soll? Wenn die eigene sexuelle Bestimmung nicht dem entspricht, was die Natur vorgesehen hat?

Das aufklärerische einundzwanzigste Jahrhundert schafft vor allem in Sachen eigener Identität das Unmögliche: Wenn man will, kann man sein, was man (rein biologisch) nicht ist. Das große Tabu ist zumindest in einigen Teilen der Welt aufgebrochen, auf Formularen lässt sich längst nicht mehr nur männlich oder weiblich ankreuzen. Mit dem Gefühl, in der falschen Haut zu stecken, müssen Frauen, Männer oder non-binäre Personen längst nicht mehr alleine sein. Bei Kindern ist das aber wieder ein Tick anders. Denn bei Kindern lässt sich nicht ganz klar herausfinden, ob das Dilemma der sexuellen Desorientierung nicht nur ein Spleen ist, eine Spielerei – oder ganz und gar ernstgemeint. Wie soll man als Elternteil wissen, was Sache ist? Wie darauf reagieren?

Egal, wohin es das Kind – in diesem Fall den achtjährige Aitor – in der Entdeckung seines Selbst wohl treibt: Kleinreden ist niemals eine Option. Das Gespräch auf Augenhöhe allerdings immer. Doch die Theorie ist anders als die Praxis. In der Praxis schleppen Eltern auch noch ihr eigenes ungehörtes Sorgenpaket aus der Kindheit mit herum. Mutter Ane zum Beispiel, die steht im künstlerischen Schatten ihres verstorbenen Vaters, will aber aus ihm hervortreten. Dafür kreiert sie Kunst, gießt Skulpturen, will den Job als Dozentin an einer französischen Uni unbedingt bekommen. Dies macht sie im Elternhaus am Land, im Schlepptau ihre drei Kinder, davon ist das jüngste eben Aitor, der längst weiß, dass er im falschen Körper steckt – und ein Mädchen sein will. Doch das geht nicht, da ist so manches im Weg, nicht nur das Physische, auch das Gesellschaftliche. Verständnis findet sie bei Omas Schwester Lourdes, einer Person, die in der Wahrnehmung der Dinge ihrer Zeit voraus zu sein scheint, sich intensiv mit Bienen beschäftigt und Cocó, wie sich das „Mädchen“ nennt, unter ihre Obhut nimmt, während Mutter sich selbst sucht.

In diesem spanischen Sommer wird vieles anders – und neu definiert werden. Vor allen Dingen aber ist es ein Sommer der Erkenntnisse. Den Weg dorthin, der durch die familiäre Vergangenheit führt und starre Sichtweisen aufbricht, beschreibt Spielfilmdebütantin Estibaliz Urresola Solaguren in kleinen, zarten Szenen, naturverbundenen Alltagsminiaturen, die anfangs nur in leichten Andeutungen über die Probleme Cocos (später Lucia) Aufschluss geben. Es lässt sich nur erahnen, ganz so wie für die Restfamilie selbst, insbesondere des älteren Bruders, was genau hier in anderen Bahnen verläuft. Das Indirekte ist wichtiges Gestaltungselement, der Fokus liegt gleichsam auf Mutter und Kind, denn beide müssen sich selbst finden – und ebenso einander. Da kommt es in 20.000 Arten von Bienen eben darauf an, wie diskret man sich diesen Umständen nähern darf – und muss. Bevor der Film aber zu vage wird, formt sich das große Ganze aus einer Vielzahl so poetischer wie fast schon dokumentarischer Szenen. Die Annäherung an einen Menschen, der plötzlich entdeckt, anders sein zu dürfen, als ihm vorgeschrieben wird, gelingt. Und zwar um einiges besser, als Florian David Fitz‘ Versuch, mit dem thematisch sehr verwandten Regiewerk Oskars Kleid Transsexualität in Form einer turbulenten Komödie darzustellen. Auch eine Herangehensweise – doch das Feingefühl ist dahin.

Sofía Otero gewann in diesem Jahr für ihr einnehmendes Spiel den Silbernen Bären der Berlinale: Der Anforderung, als Mädchen einen Buben darzustellen, der eben genau das sein will – ein Mädchen, ist in so jungen Jahren vielleicht leichter zu entsprechen als im Erwachsenenalter, aber dennoch eine beachtliche Leistung. Wieder zeigt sich, wie intensiv Kinderdarsteller aufspielen können. Wieder ist es ein Mysterium, woher die jungen Künstler all ihre Emotionen beziehen: mit Sicherheit ist es die Fähigkeit, zu imaginieren, ist es die kindliche Eigenart, sich einer fiktiven Vorstellung hinzugeben. Manchmal führt diese dazu, ein noch junges Leben von Grund auf ändern zu wollen.

20.000 Arten von Bienen (2023)

Das Lehrerzimmer (2023)

ALGORITHMEN DER KONFLIKTLÖSUNG

6/10


daslehrerzimmer© 2023 Alamode Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: ÌLKER ÇATAK

BUCH: ÌLKER ÇATAK, JOHANNES DUNCKER

CAST: LEONIE BENESCH, MICHAEL KLAMMER, RAFAEL STACHOWIAK, ANNE-KATHRIN GUMMICH, EVA LÖBAU, KATHRIN WEHLISCH, LEONARD STETTNISCH U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Letzten Mittwoch war für den mit der goldenen Lola ausgezeichneten Spielfilm Das Lehrerzimmer Österreich-Premiere im Wiener Traditionskino Filmcasino. Leider war ich an dem Tag dort nicht zugegen, sonst hätte ich Akteurin Leonie Benesch persönlich die Hand schütteln können. Na gut, dann eben zwei Tage später. Denn ein Thema wie dieses kann ich schließlich nicht anbrennen lassen – Kino mit Gesprächsstoff, erhellend für den Alltag und das Miteinander. Das war schon bei Thomas Vinterbergs Die Jagd faszinierend genug – eine Chronik der Eigendynamik gesellschaftlicher Entrüstung. Auch der rumänische und zugegeben nicht ganz leicht zu verkostende Avantgarde-Knüller Bad Luck Banging or Loony Porn handelt von einer bigotten, heuchlerischen Elternschaft, die Wasser predigt und Wein trinkt. Alles Filme, die durchaus tief ins Fleisch des Wohlstands schneiden. Und ja, sie tun weh. Und noch besser: Sie bringen die Problematik auf den Punkt. Wer da nicht selbst reflektiert, dem ist nicht mehr zu helfen.

Ähnlich, aber nicht ganz so sarkastisch, sondern recht nüchtern und wertfrei, geht der Schulthriller Das Lehrerzimmer mit einer Problematik um, die nur allzu leicht allzu neugierige Schüler und Lehrer hinter ihrem Pult hervorlockt, ohne sie alle dazu aufzufordern, ihr Tun sofort zu überdenken. Vieles passiert da im Affekt, vieles lässt sich rein von den Emotionen treiben. Da könnte man meinen, gar nicht mal auf einer Schule zu sein, dem Ort des Wissens und der Bildung und vielleicht auch einer gewissen sozialen Intelligenz. Kann aber auch sein, dass sich in diesem Wald moralischer Zeigefinger der eine oder andere Fisch hinein verirrt hat, der gegen den Strom schwimmt. So jemand ist Leonie Benesch als Klassenvorstand Carla Nowak – jung und idealistisch und Methoden praktizierend, die bei den schon alteingesessenen Lehrkräften vielleicht für Verwunderung sorgen, allerdings aber frischen Wind durch die Klassenräume wehen lassen. Fast schon ein bisschen wie Robin Williams im Club der toten Dichter, nur für jüngere Semester. Carlas Schülerinnen und Schüler sind gerade mal 12 Jahre alt – und ja, es ist ein Alter, in welchem man Recht und Unrecht sowie unlautere Methoden von vernünftigen Vorgehensweisen unterscheiden kann, um einer gewissen Wahrheit ans Licht zu verhelfen.

Denn ein Dieb geht um, und natürlich kann dieser nur einer der Jungen sein. Lehrer würden sowas nie tun. Ein Verdacht fällt anfangs sehr schnell auf einen türkischstämmigen Schüler namens Ali – der hat aber mit der ganzen Sache nichts zu tun, die Eltern sind brüskiert. Da fällt der übermotivierten Carla eine detektivische Methode ein, um der Sache auf den Grund zu gehen – und zwar im Lehrerzimmer. Mit Geld als Köder, dass sie an ihrem Arbeitsplatz zurücklässt. Sie schafft es, den Langfinger auf Video zu bannen – die mit Sternen bemusterte Bluse trägt an diesem Tag nur eine: Frau Kuhn aus dem Sekretariat. Die denkt natürlich nicht daran, ihre Tat zuzugeben. Ganz im Gegenteil, sie wählt lieber den Angriff, um sich besser zu verteidigen. All das setzt eine Maschinerie aus Zufällen und Verkettungen in Gang, aus der sich selbst Ìlker Çatak gemeinsam mit Drehbuchautor Johannes Duncker nicht mehr herauswinden kann. Dieser Karren aus Begehrlichkeiten, Bedürfnissen und Rechthaberei steckt letzten Endes so tief im Dreck, dass ihn keiner mehr herausziehen kann. Da hilft vielleicht nur noch: loslassen. Das hat zur Folge, dass Das Lehrerzimmer zu keinem Konsens kommt, keine Lösung hat und keine Lösung will. Er setzt sich auch nicht bis zur letzten Konsequenz mit seinem geschaffenen Chaos auseinander. Muss er das denn? Ein bisschen ist man enttäuscht, als das ganze abrupt endet. Andererseits bleibt die Frage, um wen es in diesem Film eigentlich wirklich geht. Und wo der richtige Ansatz für eine Lösung begraben liegen könnte.

Und tatsächlich fragt man sich auch all die 98 Minuten des Films hindurch, wo die Quelle der Vernunft zu finden wäre. Was man wohl selbst hätte anders gemacht oder was man genauso gemacht hätte. Dass die Eigeninitiative von Leonie Beneschs Figur gleich zu Beginn aufgrund naiver Vorstellungen, was die Bereitschaft des Menschen betrifft, Schuld einzugestehen, wenn doch die Scham so sehr im Weg ist, natürlich nicht hinhauen wird, verwundert nicht. Da wären Alternativen noch möglich gewesen – später nicht mehr. Später verdichtet sich die Unordnung zu einem schwarzen Loch und verlangt einen Algorithmus, den man so noch nicht kennt. Çatak schafft hier die Analogie mit Rubiks Zauberwürfel – eine schöne Idee. Doch nicht mal Klassenvorstand Carla Nowak kann das Rätsel knacken.

Leonie Benesch hat hier offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht, denn fast scheint es unmöglich, glaubhaft eine Lehrkraft zu verkörpern, ohne sich mit der Materie vertraut gemacht zu haben. Die Rolle stemmt sie mit Bravour. Pädagogisch und zwischenmenschlich extrem geschult, braucht es viel mehr als das, um ihre Figur wirklich aus dem Konzept zu bringen. Trotz der Erschwernis der Sachlage steht sie zu ihrem Tun – da sieht man, was unerschütterlicher Idealismus alles bringen kann.

Das Lehrerzimmer (2023)

Holy Spider (2022)

DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL

6/10


holyspider© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN, FRANKREICH 2022

REGIE: ALI ABBASI

BUCH: ALI ABBASI, AFSHIN KAMRAN BAHRAMI

CAST: ZAR AMIR EBRAHIMI, MEHDI BAJESTANI, ARASH ASHTIANI, FOROUZAN JAMSHIDNEJAD, ALICE RAHIMI, SARA FAZILAT, SINA PARVANEH, NIMA AKBARPOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Das älteste Gewerbe der Welt gibt es immer noch, und zwar überall. Das wird es so lange geben, solange es Männer gibt. Denn Männer haben einen Sexualtrieb, dem sie nachgehen müssen. Da lässt sich noch so beschämt in die Runde blicken – die Natur gibt, was sie eben gibt, um die Art des Homo sapiens zu erhalten. Wohin also mit den Trieben? Genau deshalb gibt es die Prostitution, es ist ein Knochenjob, es ist weder erquickend für die, die es anbieten, noch sinnlich oder befriedigend. Es ist körperliche Arbeit, es ist Erduldung und Erniedrigung, für die letztendlich etwas Geld rausspringt, damit der entbehrliche Alltag noch finanziert werden kann. Prostitution entsteht aus sozialer Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Männer wie Saeed Hanaei, beseelt durch den heiligen Imam Reza, hätte diesen Frauen in der heiligen Stadt Maschhad durchaus einfach nur das Geld geben brauchen, damit sie nicht anschaffen müssen. Er hätte sie vielleicht auffangen, woanders hin vermitteln können. Saeed ist schließlich niemand ohne Kontakte. Doch der Humanismus ist solchen Leuten suspekt. Sie sehen nur die Symptome, die da sind: sich für Geld zum Sex anzubieten.

Das macht Männer wie Saeed Hanaei wütend, vielleicht auch aus verstecktem Selbsthass und der Ohnmacht, ein Mann zu sein, dessen Geschlechtsgenossen dieses Gewerbe überhaupt am Laufen halten. Also wählt der verheiratete Zimmermann und Vater zweier Kinder die so grausame wie plumpe Methode, um seine Heimatstadt vor dem Verfall der Sitten zu bewahren: er bringt die Frauen eine nach der anderen um. Lädt sie zuerst zu sich nachhause ein, um sie dann zu strangulieren und die Leichen wegzuschaffen, an irgendeinen anderen Ort, um nicht in Verbindung damit gebracht zu werden.

Dieser als Spinnenmörder Anfang der 2000er Jahre berüchtigte Verbrecher hat tatsächlich so gewütet – und war sich bis zuletzt keinerlei Schuld bewusst. Um den Fall zu untersuchen, reist die (fiktive) junge Journalistin Arezu Rahimi an den Ort des Verbrechens, um dem Mörder auf die Spur zu kommen. Sie interviewt die Polizei, sie folgt den Aussagen von Zeugen und geht sogar, in Ermangelung investigativer Erfolge, sogar so weit, sich selbst als Prostituierte auszugeben, um Saeed inflagranti zu erwischen. Letzten Endes wird ihr das auch gelingen, trotz subversiven Widerstandes und den Einschüchterungen der örtlichen Polizei. Es wäre womöglich kein muslimisches Land, würde der Sinn für Recht und Unrecht klar unterschieden, Saeed verurteilt und seiner Strafe zugeführt werden. Hier, in einem Land, in welchem das lockere Tragen eines Kopftuches für Frauen gefährlich werden kann, wo Frauen nicht alleine reisen oder überhaupt frei agieren können, ohne die so strafenden wie lüsternen Blicke der Männer auf sich zu ziehen, herrscht eine verkehrte moralische Welt, die mit zweierlei Maß misst und die Tötung von Menschenleben umjubelten Vororte-Jihads gleichsetzt, die das nötige Prestige einbringen.

Ali Abbasi, ein nach Dänemark ausgewanderter iranischer Filmemacher, der zuletzt mit dem skandinavischen Fantasy- und Mythendrama Border für Aufsehen sorgte, begibt sich nun wieder zurück an den Ursprung – und zwar in den zumindest im Film dargestellten Iran (gedreht wurde tatsächlich in Jordanien), um anhand dieses True Crime-Szenarios die viel zu hemmungslos nutzbaren Mechanismen der Ermordung anderer zu erörtern, die den heiligen Lehren zuwiderlaufen. Wie bei Hanekes Das weiße Band, wo die Ursprünge des Faschismus einer Wurzelbehandlung unterzogen wurden, wühlt Abbasi mit Leichtigkeit im vertrockneten Sumpf der Moralvorstellungen Strenggläubiger herum und sieht bereits in deren Nachwuchs das nächste Problem. Da ist es fast schon egal, ob es gegen die Sitte oder den Unglauben geht. Die Bereitschaft, den Islam reinzuhalten, duldet radikale Mittel. Und so staunt man als Zuseher nicht schlecht, und es wird einem seltsam anders zumute, wenn der sechzehnfache Mörder als Held gefeiert wird. Holy Spider zeichnet eine kranke, vor allem frauenfeindliche Welt, die schon in den ersten Szenen des Films ihre Ablehnung auf alles Weibliche offenbart. Klar gibt es Ausnahmen, wenn Bildung und Aufklärung greifen. Doch wer hat die schon, können diese Faktoren autoritären Regimes schließlich gefährlich werden. Holy Spider, brisanter denn je, macht aus seinem Stoff aber keine Parabel, sondern bedient sich des Genres eines klassischen Thrillers im kalten Schein der Halogenlampen, billigen Reklamelichter und unter wummernden Klängen. Er wirft Sahra Amir Ebrahimi, Gewinnerin der goldenen Palme als beste Schauspielerin, dem Patriarchat fast schon zum Fraß vor.

Die Zeitschrift cinema meint, Holy Spider hätte nichts mit einer gewissen Religion zu tun oder gar mit einer Kritik an den Staat selbst. Letzteres mag stimmen, bei ersterem bin ich anderer Meinung: Gerade dieses Verständnis für Sitte und Anstand wurzelt im Moralkodex eines religiösen Extremismus, und selbst die Ehefrau Saeeds kann, als sie von den Straftaten ihres Mannes erfährt diese nicht verurteilen. Das ist es, was zutiefst irritiert, doch Ali Abbasi nutzt das Medium Kino, in dem alles möglich sein kann, nicht dafür, die True Story insofern zu verzerren, um eine noch bizarrere Zukunftsvision zu errichten, vor welcher selbst der muslimische Mann zusammengezuckt wäre. Abbasi zeigt zwar drastische Bilder und lässt auch so manche Sexszene nicht unbeobachtet, besinnt sich aber dennoch einer kühlen, recht nüchternen Erzählweise, wie Asghar Farhadi sie in seinen Filmen gerne nutzt, dabei aber erzählerisch dichter wird. Vielleicht hätte ich mir gerne mehr persönliches Statement erwartet, vielleicht auch eben diese Radikaldystopie, die aus den Opfern letztendlich belangbare Täter macht und umgekehrt. Hier begnügt sich der Filmemacher damit, die Volksmoral von der Moral der staatlichen Institution zu trennen. Und das fiel mir letztendlich zu verhalten aus, vielleicht gar zu versöhnlich.

Holy Spider (2022)

Der Fuchs (2022)

DIE SCHWACHEN BESCHÜTZEN

7/10


derfuchs© 2023 Alamode Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2022

BUCH / REGIE: ADRIAN GOIGINGER

CAST: SIMON MORZÉ, KARL MARKOVICS, PIT BUKOWSKI, ALEXANDER BEYER, ADRIANE GRADZIEL, STAN STEINBICHLER, CORNELIUS OBONYA, KAROLA MARIA NIEDERHUBER U. A.

LÄNGE: 2 STD


Wenn die eigene Familie genug Stoff für gleich mehrere Filme hergibt, dann kann es sich hierbei nur um den Österreicher Adrian Goiginger handeln, der mit seinem Regiedebüt Die beste aller Welten völlig zu Recht sämtliches Kritikerlob für sich beanspruchen durfte. Und nicht nur Journalisten vom Fach fanden da Gefallen: Auch das Publikum hat sich vom dicht erzählten Mutter-Sohn-Drama, in welchem es um Drogen, Abhängigkeit und Verantwortung ging, so ziemlich vereinnahmen lassen. Diesem grandios aufgespielten Sog in einen sozialen Mikrokosmos hinein konnte sich keiner so recht entziehen.

Die Urheimat seines familiären Ursprungs, nämlich das westliche Salzburgerland, wurde letztes Jahr erstmals zum Schauplatz einer Literaturverfilmung, die niemand geringerer als Felix Mitterer schrieb: Märzengrund, die Geschichte eines Aussteigers, der sich in die Isolation der Alpen zurückzieht, auch aufgrund einer unglücklichen Liebe und der Lust am Ausbruch aus einem starren Konformismus. Dabei blieb Terrence Malick als inszenatorisches Vorbild schon mal nicht ganz unbemerkt. Satte Bilder vom Landleben, meist in Weitwinkel und ganz nah am Geschehen – Naturalismus pur, inmitten dieser schmerzlich-schönen Idylle Johannes Krisch. Das Jahr darauf hält gleich den nächsten Film Goigingers parat: Der Fuchs. Und diesmal ist es kein Literat, der die Vorlage liefert, sondern der eigene Urgroßvater Franz Streitberger. Welch ein Glück, dass Goiginger Zeit seines Lebens die Möglichkeit gehabt hat, Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg aus erster Hand zu erfahren. Die meisten, die das Ende der Welt am Kriegsschauplatz Europa erlebt hatten – und da schließe ich meine eigenen Großeltern mit ein – konnten und wollten nicht viel darüber berichten, was Ihnen widerfahren war. Womöglich würde es einem selbst nicht anders gehen. Doch in manchen Fällen saß die Zunge lockerer als das versteinerte Trauma in den Köpfen – und so hat dieser Franz Streitberger vieles preisgegeben. Vielleicht war dieser Umstand einem ganz besonderen Wesen geschuldet, eben dem titelgebenden Waldtier, das, als hilfloser Welpe mit gebrochener Pfote, in Motorradkurier Franz seine Bestimmung fand.

Wie es dazu kam? In der Antwort auf diese Frage setzt Goiginger bereits in den Zwanzigerjahren an, an einem Hof irgendwo im Pinzgau, bewohnt von einer bitterarmen Großfamilie, die längst nicht mehr alle Mäuler stopfen kann, die da im Herrgottswinkel um den Tisch sitzen. So wird Franz im Volksschulalter an einen Großbauern verkauft – ein prägendes Erlebnis für ein Kind, dass seine Zukunft als Erwachsener immer danach richten wird müssen. Zehn Jahre später ist aus diesem Buben, für den eine ganze Welt zusammenbrach, ein wortkarger und introvertierter junger Mann geworden, der in der Wehrmacht sein Glück zu finden hofft. Und dann, als der Krieg losbricht, sitzt im Beiwagen des Motorradkuriers ein Tier, das ungefähr so viel Schutz benötigt wie Franz in jungen Jahren wohl auch verdient hätte. Diesmal aber will dieser  jene Verantwortung zeigen, die seine eigenen Eltern nicht wahrnehmen konnten.

Die Bewältigung einer enormen Kränkung ist Thema eines modernen, aber doch retrospektiven Heimatfilms, der die Elemente aus dem Genre eines schonenden Kriegsfilms mit nostalgischem Pathos verknüpft. Simon Morzé (u. a. Der Trafikant) gibt den in sich gekehrten jungen Mann in keinem Moment so, als hätte er diese Schmach aus seiner Kindheit nie erlebt. Sein psychosozialer Steckbrief, sein ungelenkes Verhalten lässt sich in aller Klarheit auf das Erlebte zurückführen – das Psychogramm des Urgroßvaters ist Goiginger wunderbar gelungen. Die Sache mit dem verwaisten Jungtier ist natürlich ein besonderes Erlebnis, doch nur ein Symptom für eben diese ganz andere Geschichte am Hof der Eltern. Der Fuchs gerät zur inneren Wiedergutmachung oder zur Probe aufs Exempel, ob es überhaupt möglich sein kann, angesichts quälender und entbehrungsreicher Umstände die Obhut schutzbedürftigen Lebens gewährleisten zu können. An dieser Prüfung wird sich Franz abmühen und immer wieder knapp scheitern. Wie schwer es ist, Sorge zu tragen, bringt das sehr persönliche Historiendrama auf den Punkt, natürlich wieder in filmtechnischer Perfektion wie schon in Märzengrund. Die Kamera unter Yoshi Heimrath und Paul Sprinz findet formschönen Zugang zur pittoresken Landschaft Österreichs und der niemals prätentiösen Darstellung historischen ländlichen Lebens. Die Szene, in der die Familie des Abends ums Herdfeuer sitzt, und Karl Markovics (wieder mal genial als vom harten Bauernleben Gezeichneter) ein altes Volkslied anstimmt, gehört zu den besten des Films. Selten war Heimatfilm so intensiv.

Unter dem Aspekt des Kriegsfilms verliert Goiginger dann etwas seine Stärken. Obwohl mit reichlich Aufwand ausgestattet und professionell inszeniert, genießt Goigingers Stil hier eine Art nüchterne Auszeit vom Naturalismus. Die Szenen wirken routiniert, die Romanze in Frankreich etwas bemüht, wenn nicht gar arg oberflächlich. Doch sie ist nun mal Teil der Erlebnisse – und da hier vieles, was Urgroßvater Streitberger erzählt hat, zusammenkommt, ist auch Der Fuchs nicht mehr so aus einem Guss. Das Kernstück aber – das unausgesprochene Leid zwischen Vater und Sohn, symbolisiert durch eine Fabel vom Fuchs und dem Soldaten – findet trotz manchmal etwas überhöhtem Tränendrüsen-Score, der aber seine Wirkung nicht verfehlt, zu einer rührenden, kleinen Vollkommenheit.

Der Fuchs (2022)