Red Rocket

LIEBER DURCHSTARTEN ALS FRÜHSTARTEN

8/10


redrocket© 2021 Universal Pictures International Germany


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SEAN BAKER

CAST: SIMON REX, SUZANNA SON, BREE ELROD, ETHAN DARBONE, JUDY HILL U. A. 

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Eigentlich hätte ich mir denken können, dass es dergleichen geben muss: den „Oscar“ fürs Adult Entertainment. Diese Preisverleihung ist natürlich eine, die abseits des Mainstream maximal die Themen-Presse an den dortigen roten Teppich lotst. Doch wie gesagt: es gibt ihn – den AVN oder Adult Video News Award. So eine Live-Übertragung kann da eine Spur länger dauern als bei der Academy, waren da zuletzt sage und schreibe 99 Kategorien am Start. Aber bitte – das alles weiß ich auch erst seit gestern, seit Sean Bakers neuem Wurf, der einen geschassten Pornostar zurück an den Start schickt, um neu Anlauf zu nehmen. Und eben dieser berufliche Stecher kann sich rühmen, besagten AVN bereits mehrmals gewonnen zu haben. Auf Pornhub hat dieser sogar einen eigenen Kanal. Also was will Mann in diesem Business eigentlich mehr? Da wir seit Pleasure wissen, wie schnell Porno-Starlets wieder in der Versenkung verschwinden, wird mit Red Rocket wiederum klar, wie es maskulinen Helden der Horizontalen eben auch gehen kann. Baker erfindet dafür eine vergnüglich-ironische Bestandserhebung übrig gebliebener Ressourcen, um im Business nochmal durchzustarten.

Gespielt wird dieser dreiste Lebenskünstler, der sich und seine Zukunft neu erfinden will, von einem tatsächlichen ehemaligen Pornoschauspieler, nämlich Simon Rex. Er weiß also zumindest ein bisschen, wie dieses Gewerbe funktioniert, hat aber seitdem bereits auch in anderen, jugendfreieren Filmen mitmischen dürfen, mit denen man aber nicht unbedingt hausieren gehen will. Darunter findet sich die gefühlt hundertteilige Scary Movie-Reihe und sonstiger parodistischer Klamauk. Gut, für Komödien hat Rex also ein gewisses Faible. Und ja: dieses naiv-beschwingte Mähen alltagsproblematischer Wiesen beherrscht der stattliche Schönling durchaus gut. Das fängt schon damit an, wie dieser  als Mickey bei seiner im Stich gelassenen Noch-Ehefrau in Süd-Texas nahe Galveston einfällt – mit nichts außer ein paar Dollars in der Tasche und dem wehleidigen Blick eines von der Bordkante getretenen Streuners. Nur ein paar Nächte Unterschlupf, bettelt er – bis er was Neues gefunden hat, wieder ausholen und durchstarten kann. So ein Mann mit Hundeblick erzeugt natürlich Mitleid, also hat er bald ein geliehenes Dach über den Kopf – sonst aber nichts. Er verdingt sich als Hasch-Dealer und lernt alsbald in einem Donut-Laden (klingt wie ein Adult Movie: Donut Hole) die gerade noch minderjährige Strawberry kennen, ein kokettes Mädel mit Sommersprossen und roten Haaren, offen für Neues und vor allem für den großen Traum von Hollywood. Mit der eigentlichen Ehefrau Lexi läuft es allerdings ebenfalls besser, doch Mickey sieht im Gegensatz zu dieser nur in Strawberry den Schlüssel für sein perfekt arrangiertes Comeback. Klar, dass es dabei zu Missverständnissen kommen kann, vielleicht auch zu kleinen Lügen, doch wenn es sich einer wie Mickey richten will, sind kleine Opfer das Mindeste auf dem Weg zu neuerlichem Ruhm.

Wie dieser Simon Rex auf einem klapprigen Fahrrad die kleinstädtischen Alltagsparameter durcheinanderwirbelt, ist kurios und auf sympathische Weise unfreiwillig selbstironisch. Nichts liegt diesem Mickey wohl ferner, als nicht ernstgenommen zu werden. Doch gerade diese Eulenspiegel‘sche Art eines professionelles Sex-Gottes, der wie ein gestrandeter Superheld auf der Suche nach seinem flirrenden Stretch-Overall Gönner, Neider und Skeptiker kompromittiert oder für seine eigenen Zwecke einspannt, schenkt dieser kauzigen, koitusaffinen Sozialkomödie den richtigen Dreh. Mit Bakers The Florida Project konnte ich beileibe weniger anfangen als hiermit.

Was aber da wie dort den pastelligen Traum eines glücklichen Lebens als abkratzbare Fassade vorzüglich illustriert, sind die dem amerikanischen Realismus verwandten blassbunten Bilder, die mit Sunny Side Up am Frühstückstisch beginnen und in der zuckerlrosa Pin-Up-Version eines Eigenheims enden. Mit diesem stilistischen Wunderland gibt sich Sean Baker als zutiefst amerikanischer, dieses Land und dessen Improvisationstalent über alles liebender Künstler, der mit Edward Hopper genauso auf einen schäumenden Milkshake gehen würde wie mit Chloë Zhao, deren Nomadland grundsätzlich betrachtet eine ähnliche, aber viel ernstere Klaviatur spielt.

Red Rocket

Rotzbub

MIT PINSEL UND BUSEN GEGEN RECHTS

5,5/10


rotzbub© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: MARCUS H. ROSENMÜLLER, SANTIAGO LÓPEZ JOVER

SCRIPT: MARTIN AMBROSCH

MIT DEN STIMMEN VON: MARKUS FREISTÄTTER, MARIO CANEDO, GERTI DRASSL, MAURICE ERNST, ROLAND DÜRINGER, ERWIN STEINHAUER, SUSI STACH, GREGOR SEBERG, KATHARINA STRASSER, ADELE NEUHAUSER, WOLFGANG BÖCK, THOMAS STIPSITS, BRANKO SAMAROVSKI U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


„Was war er doch für ein wilder Hund“, konnte man damals in den Neunzigern so manche Lehrkraft auf der Graphischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt erzählen hören, die Manfred Deix als Schüler hatte. Ein Nonkonformist und durchaus gerne vulgär – Dinge, die sich einer wie Deix eben leisten hat können. Denn nicht nur wer Geld hat, schafft an. Auch, wer das Talent besitzt, mir nichts dir nichts den Bleistift zückt und das Wesen der Karikatur auf den Punkt bringt, indem bekannte und weniger bekannte Gesichter bekannter und weniger bekannter Zeitgenossen in ihrem Wesen authentisch bleiben, darüber hinaus aber eine groteske Verzerrung erfahren, die ins Tabulose kippt. Die Karikaturen von Manfred Deix sind wunderbar hässlich, böse und gemein. Gerne auch schweinisch und ungustiös. Unterm Strich aber sind die mit Aquarell angefertigten Arbeiten schlichtweg als genial zu bezeichnen, weil sie die dunklen Ecken der österreichischen Seele, des Volkes Bigotterie und seine Selbstgerechtigkeit in einer laut hinausposaunten Verhöhnung punktgenau vorführen. Dazwischen gabs’s auch weniger Zynisches. Zum Beispiel, wenn der Künstler Katzen oder Hunderassen portraitierte, den mit den Nasenlöchern rauchenden Zigaretten-Mummin für Casablanca entwarf oder vollbusige Damen im Dirndl und mit Doppelkinn zähnefletschend feixen ließ. Schön sind diese Visagen alle nicht, aber stilsicher und unverkennbar Deix.

Nach zehnjähriger Produktionszeit gibt`s nun endlich den Film zu all den bildhaften Eskapaden. Rotzbub heißt er, und könnte unter Umständen neben der Farbe Braun auch autobiographisch gefärbt sein. Denn einen Bleistift, den hält der verträumte Hauptschüler bereits am Kinoplakat herausfordernd in Händen. Noch dazu erwacht im Sommer der Sechzigerjahre irgendwo in Niederösterreich das Interesse an der Weiblichkeit. In Siegheilkirchen – Nomen est Omen – ist für derlei Entwicklungen aber kein Platz. Dominiert wird das Dorfleben von vorgestrigen Restnazis, die inklusive Hitlergruß offen ihre Gesinnung zur Schau tragen, frauenfeindlichen Möchtegern-Patriarchen und Opportunisten, die sich dem Machtgefälle speichelleckend anpassen. Über allem kreist natürlich die katholische Kirche – eine Institution, die Manfred Deix stets am Kieker hatte. Denn es gibt kaum etwas, worüber man mit mehr Genugtuung herziehen kann. Die Dorfjugend sieht die Dinge zunehmend anders, der Traum von gigantischen Oberweiten wird ausgelebt und in der einzigen Bar des Ortes werden ganz neue Rhythmen angeschlagen – allerdings keine einzige Nummer der von Deix so hochverehrten Beach Boys. Zu guter letzt bringt Roma-Mädchen Mariolina den jugendlichen Ungehorsam gegen die Herr Karls dieser kleinen Welt erst so richtig auf Spur.

Wer Bösterreich sehen will, in all seinen verstörenden Abgründen, sollte sich lieber Ulrich Seidl oder Michael Haneke zu Gemüte führen. Rotzbub ist weit davon entfernt, sich auch nur ernsthaft aus dem Fenster einer launigen Provinzkomödie zu lehnen, was aber angesichts der Werkschau des gebürtigen St. Pöltners vielleicht zu vermuten gewesen wäre. Übrig bleiben vor allem kleine, garstige Ferkeleien wie die braunen Bremsspuren des Bürgermeisters, Flatulenzen oder aufplatzende Eiterwimmerl. Trudes dralle Brüste sieht man auch nur auf dem Blatt Papier, dafür aber gibt’s ein „Zumpferl“ statt des Mannes Nase. Elemente, die sich im Kosmos von Deix immer wieder finden lassen. Als besonders liebevoll gestaltet sich das mit des Künstlers Werken gepflasterte Innen- sowie Außensetting der Szenen – wer genau aufpasst, erkennt so einige Klassiker wieder. Ob das reicht, nebst der stets latenten NS-Nostalgie und einer Anspielung auf das Attentat von Oberwart, die österreichische Volksseele seziert zu sehen? Mitnichten. Das liegt auch daran, dass der Rotzbub als Zentrum des Geschehens eine zwar neugierige und unerfahrene, aber moralisch integre Figur darstellt, die einen konstanten, alles durchdringenden Optimismus erkennen lässt, der wiederum nichts Österreichisches an sich hat. Durch diese Sichtweise gerät der Animationsfilm in eine harm- und zahnlose, recht generisch erzählte Seitenlage. Für Deix selig,  der das Projekt am Anfang noch begleitet hat, mag das viel zu geschmackvoll sein. 

Der professionell animierte, manchmal aber vielleicht in den Beinpartien recht ungelenk in Bewegung gesetzte Film ist als liebevolle Verbeugung vor einem großen österreichischen Künstler zu sehen, der weit mehr war als nur bizarres Gewissen auf Papier. Als gallige Satire, wie sie ein Helmut Qualtinger oder Carl Merz angesichts des spießbürgerlichen Perchtenlaufs wohl geschrieben hätte, hat Rotzbub jedoch keine Chance.

Rotzbub

Der Schein trügt

GESEGNET SIND DIE SÜNDER

7/10


DerScheintruegt© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: SERBIEN, MAZEDONIEN, KROATIEN, SLOWENIEN, BOSNIEN-HERZEGOWINA, MONTENEGRO, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: SRDJAN DRAGOJEVIC 

CAST: GORAN NAVOJEC, KSENIJA MARINKOVIC, NATASA MARKOVIC, BOJAN NAVOJEC, MILOS SAMOLOV U. A.

LÄNGE: 2 STD


Zumindest wir hier in Österreich kennen den kultigen Dialektsong Rostige Flügel vielleicht sogar auswendig. Darin singt der Ex-Cordoba-Maestro Hans Krankl leicht heiser von einem egozentrischen Krösus, der auf Erden keine Versuchung ausgelassen hat, im Himmel aber maximal die Holzklasse bekommt. Rostige Flügel, aus zweiter Hand. Und auch keinen Heiligenschein. Der serbische Flüchtling Stojan hätte wohl eher Verwendung dafür, denn der ist ein herzensguter Familienvater irgendwo in einem vergammelten Viertel am Rande der Stadt, der eines Tages, beim Einschrauben einer Glühbirne, mit dem Strom auf Tuchfühlung geht. Normalerweise erholt man sich davon. Auch Stojan. Nur der trägt jetzt eine Art Halogen-Heiligenschein über dem Kopf, was in der Nachbarschaft für Befremdung sorgt – und ganz besonders bei Göttergattin Nada, die ihren Ruf gefährdet sieht und den unbescholtenen Ehemann dazu anstiftet, doch alle sieben Sünden zu begehen, denn dann wäre ihm die Gunst Gottes wohl nicht mehr sicher.

Klingt lustig. Klingt nach Situationskomik, als wäre Louis De Funes unterwegs, wie seinerzeit in Der Querkopf. Ist es aber nicht. Und auch der Trailer führt in die Irre. Will heißen: Der Schein trügt in jeder Hinsicht. Und wer sich gerne vergnügen möchte ob so skurriler Begebenheiten zwischen Himmel und Erde, der wird letztlich schwer schlucken müssen. Was man vielleicht auch nicht weiß: Regisseur Srdjan Dragojevic (u. a. Parada) hat einen Episodenfilm inszeniert, dessen Kapitel sehr eng miteinander verknüpft sind und stets die Perspektive wechselt, aber summa summarum eine einzige epische Geschichte über mehrere Jahrzehnte erzählt, die genauso gut Emir Kusturica hätte inszenieren können. Angesichts der surrealen Begebenheiten passt das dann auch ziemlich gut in dessen Konzept, nur die leichte Verschrobenheit von Kusturicas zumindest letzten Filmen fehlt bei Dragojevic allerdings gänzlich. Hier ist der Fingerzeig Gottes das unangenehme Kitzeln unter der Achsel, der Kieselstein im Schuh, das Trietzen des Menschen mit augenscheinlichen Wundern, die so plötzlich vom Himmel fallen, dass kein Erdenbürger damit klarkommen kann. Am wenigsten die Kirche.

Egal, ob das Geschenk der Heiligkeit, eine zweite Chance oder das Lösen des größten Problems auf Erden auf dem Plan stehen: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Kennen wir doch – also zumindest kennen es jene, die ab und zu mal in den Gottesdienst gegangen sind. Sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund. Alles schön und gut, doch der Heiland stammelt hier in Rätseln. Orientierungslos pflügt der Mensch in dieser bitterbösen Groteske sodann durch den Sündenpfuhl, um seine Erleuchtung loszuwerden. Lieber im Dunkeln, statt im Licht. Entsprechend düster sind diese Episoden auch geworden, entsprechend heftig fallen da auch einige Szenen aus, die bigotter Bequemlichkeit ans Bein pinkeln wollen. Manchmal rutscht Dragojevic zu sehr ins Grobe, auf zu hemdsärmelige Weise bemüht er die eine oder andere Metapher, als würde er den Motor eines Autos reparieren. Da fehlt dann der Feinschliff, der zumindest später noch – und vor allem in der meisterlichen letzten Episode – die Chance hat, mit etwas mehr Geistesblitz auf pointierte Satire zu machen. Wer Also Filme wie The Square oder Bad Luck Banking or Loony Porn – die neue Art der gesellschaftskritischen Avantgarde – zu schätzen weiß, wird sich auch hier, in seiner polemischen Kritik über die Welt, verstanden wissen.

Der Schein trügt

Nebenan

EGO-FALLE STAMMBEISL

7,5/10


nebenan© 2021 Warner Bros. Entertainment GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

REGIE: DANIEL BRÜHL

DREHBUCH: DANIEL KEHLMANN

CAST: DANIEL BRÜHL, PETER KURTH, RIKE ECKERMANN, AENNE SCHWARZ, GODE BENEDIX, MEX SCHLÜPFER, VICKY KRIEPS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Dem geschätzten Niki Lauda an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön: Durch Daniel Brühls Darstellung des österreichischen Kult-Rennfahrers in Ron Howards Rush ist dieser in den Olymp großer Eventfilme aufgestiegen, und zwar ins Marvel-Universum. Dabei ist Brühls Rolle in diesem dicht bevölkerten Kosmos an metaphysisch begabten Egozentrikern und Altruisten eine gar nicht mal so Unbedeutende: Baron Zemo, der Mann mit der violetten Cord-Maske und Schürer des Unbehagens auf Seiten Wakandas, hat dieser doch in The First Avenger: Civil War gleich Teile der Wiener UNO-City gesprengt. Unter den Opfern: T’Challas Altvorderer. In The Falcon and the Winter Soldier darf jener, der Lenin damals verabschiedet hat, auch nochmal – und diesmal wirklich mit Maske – Disney+ veredeln. Was für eine Karriere. Und Brühl geht souverän damit um. Keine Gossips, keine Allüren (wie es scheint) – einfach nur Professional Work auf allen Kirtagen.

An so einem Erfolgszenit bedarf es gerne mal eines Moments innerer Einkehr. Um mal nachzusehen, was für ein Mensch man dadurch eigentlich geworden ist. Brühl fällt dabei kein Zacken aus der Krone – er weiß, was er zu tun hat. Nämlich: sich selbst und das Umfeld an Leuten, mit und zwischen denen er arbeitet, mal auf Augenhöhe mit den Normalsterblichen von nebenan zu bringen. Brühls autobiographische Idee hatte dann einer wie Daniel Kehlmann umzusetzen, inszenieren kann Zemo dann wieder selbst. Ein Kammerspiel ist hierbei entstanden, oder besser gesagt: ein Kneipenspiel beim Bierwirt ums Eck. Eine Schrulle aus Eitelkeiten und obsessiven Observationen. Denn kaum ein Unbekannter, mit dem man als Filmstar ein Gespräch anfängt, ist, was er vorgibt zu sein. Aber – ist das umgekehrt nicht auch so?

Es muss also Filmstar Daniel (eigentlich als er selbst) ganz dringend und unbedingt nach London zu einem Casting für einen neuen Superheldenfilm. Vorher bleibt ihm noch Zeit, um bei einem Kaffee im Stammlokal nochmal den Text durchzugehen. Eine Seite Drehbuch, hinten und vorne keine Ahnung, worum es eigentlich geht, und die Anforderung, der Beste zu sein, scheint recht schwierig zu werden. Für Ablenkung sorgt ein Mann namens Bruno, der den jungen Künstler permanent anstarrt. Die beiden kommen bald in ein Gespräch – über Daniels Filme und wie unglaubhaft diese nicht sind. Bald gibt es Ego-Kränkungen und Beschwichtigungen, und bald gibt Bruno sich als Nachbar zu erkennen, der mehr über Daniel weiß, als diesem wohl lieb sein wird.

Daniel Brühls Regiedebüt ist eine kleine Entdeckung. Eine mitunter beklemmende, aber schwarzhumorige Besonderheit, die sich umgestülpten Motiven des Suspense-Kinos bedient. Kehlmann leiht dem zur Selbstironie und auch -kritik bestens aufgelegten Brühl und seinem Gegenüber Peter Kurth (Babylon Berlin) jede Menge scharfschneidiger Dialogzeilen, die sich bestens ergänzen und sich in einem geschmeidigen Gesprächsrhythmus verzahnen. Vor allem Kurth, der schon in Babylon Berlin oder In den Gängen beeindruckende Leistungen absolviert hat, darf auch hier so viel schmeichelhaft-höfliche Bedrohung ausstrahlen, dass man als Zuseher gerne versucht ist, diesen Brummbären zu unterschätzen, dabei aber Gefahr läuft, durch die Hintertür von ihm erledigt zu werden. Doppelbödige Wortduelle lassen die vom Bier- und Kaffeedunst patinierte Kiezkneipe am Prenzlauer Berg zu einer Arena der Befindlichkeiten mutieren, die dem jeweils anderen in seiner Ego-Verwirklichung im Wege stehen. Doch wer ist im Recht, und wer muss sein Dasein überdenken? Wir haben den Star, den alle lieben und der sich gnadenlos selbst überschätzt – und den Zaungast des Ruhms, der nichts davon hat, außer die unüberhörbaren Eitelkeiten der Elite. Da trifft Missgunst auf Arroganz, da denkt der Promi darüber nach, was das Wissen um seine Person wert ist. Und der Unbekannte, was dieses Wissen ihm wohl bringt.

Nebenan ist eine leidenschaftlich vorgetragene inszenatorische Fingerübung über das Bocken zweier Klassen und das Prosten mit Bier auf gleicher Höhe. Dazu noch die Sulz des Hauses, und der Tag kann bei weitem anders beginnen als geplant.

Nebenan

Don’t Look Up

DER BLICK AUF’S WESENTLICHE

6/10


dontlookup© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ADAM MCKAY

CAST: LEONARDO DICAPRIO, JENNIFER LAWRENCE, MERYL STREEP, CATE BLANCHETT, ROB MORGAN, JONAH HILL, MARK RYLANCE, TIMOTHÉE CHALAMET, RON PERLMAN, ARIANA GRANDE, HIMESH PATEL, MELANIE LYNSKEY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Heute, am letzten Tag des Jahres 2021, ist der Titel des auf Netflix veröffentlichten Star-Vehikels wohl der falsche Imperativ. Heute gilt wohl eher die Devise, rund um den Jahreswechsel gen Himmel zu blicken, um das eine oder andere illegal von der Leine gelassene Stadtfeuerwerk aus sicherem Abstand mitzuerleben. Dann, ja dann kann man gerne wieder die Häupter senken, zum Tagesgeschäft übergehen und sich mit Eitelkeiten aufhalten. Der Blick fürs Wesentliche läuft dann zumindest nicht Gefahr, überanstrengt zu werden.

In Don’t Look Up, Adam McKays neuem Film, wäre es allerdings an der Zeit, die eigene Existenz in gesundem Maße zu hinterfragen und herauszufinden, worauf es im Leben wirklich ankommt. Denn in einer alternativen Realität, in welcher ein weiblicher Donald Trump in den USA die Fäden zieht, scheint der Menschheit das zu widerfahren, was den Dinos vor 65 Millionen Jahren passiert ist: die Vernichtung durch einen Kometen. Der ist nach Schätzungen von Astronom Dr. Randall Mindy sogar noch größer als das Exemplar von Yukatan. Was jetzt gilt, ist schnelles Handeln. Das setzt wiederum voraus, diese wirklich schlechte Nachricht an die richtige Frau oder den richtigen Mann zu bringen, damit geschieht, was geschehen muss. Doch das ist gar nicht leicht. Die Menschheit ist mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mit Geld und Gier und sozialen Medien. Mit Ruhm und Trends und Gossips. 

So bequemt sich zumindest das amerikanische Volk (ein anderes bekommen wir nicht zu Gesicht) mit den Verführungen des Technologiezeitalters und der NLP-Message Control einer dekadenten Politik, während die Kacke am Dampfen ist und die Katastrophe alles, nur das nicht ist, was gerade in zu sein scheint. Für Mindy und seiner wissenschaftlichen Kollegin Kate Dibiasky ist das zum Haareraufen. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, hätte es da nicht diesen wirren Charaktermix aus Steve Jobs, Bill Gates und dem Computerguru aus Ready Player One gegeben, der weiß, dass, geht es der Wirtschaft gut, wohl allen gut gehen wird. Falsche Prämissen, die offene Türen einrennen.

Michael Bay hat damals, in der Actiongurke Armageddon, auf High-Tech und coole Sprüche gesetzt. So einer wie Bruce Willis fehlt in diesem galligen Szenario, dafür aber haben wir den Haudegen Ron Perlman, der gerne so sein will wie Chuck Norris, und den der Komet garantiert nicht lebend bekommen wird. Gabs bei McKays Politzynismus Vice – Der zweite Mann noch fein gesponnene realsatirische Spitzen, knotzt sich der Autorenfilmer lieber zu Greta Thunberg an die Hausmauer, um als Aktivist an vordester Front für mehr Selbstverantwortung angesichts unserer Planetenlage zu plädieren. Mit nichts anderem lässt sich das besser veranschaulichen als mit einem heranrasenden Trümmerstück aus der Oortschen Wolke. Der Klimawandel gibt zu wenig her, die kausalen Zusammenhänge mit Unwetter und menschengemachter Sauwirtschaft sind auch nicht eindeutig genug, um nicht auch hier Verschwörungstheoretiker auf den Plan zu rufen. Wäre Corona ein Komet, gäbe es diese aber immer noch. Und das so lange, bis der Mensch endlich sieht, was er glauben muss. Der Mensch, so Adam McKay, ist ein Wesen voller Widersprüche und Meister egozentrischen Handelns. In einem Film wie diesem wird klar, in welchem selbstgemachtem Korsett unser Verstand steckt. Mehr als notwendig, um unsere Art zu erhalten, können wir auch nicht tun. Zumindest noch nicht.

Dabei ereifern sich allerlei namhafte Star, von Leonardo DiCaprio über Jennifer Lawrence bis zu Timothée Chalamet (in einer entbehrlichen Rolle), um sich in das Gewissen der zusehenden Massen zu spielen. Mit einmal mehr, einmal weniger cholerischen Ausrastern. Dabei ist DiCaprio wieder ganz vorne mit dabei – sein Mut zum teigig-konservativen „Christian Drosten“ für die Apokalypse sei ihm hoch angerechnet, und auch Jennifer Lawrence erdet ihren Charakter mit dem Nonkonformismus einer Anti-Ikone. Dazwischen brilliert Cate Blanchett im Lifting-Look. Sie alle tragen ihr Scherflein dazu bei, im übertragenen Sinne die Weltlage zu erklären. Doch beileibe hat das nichts mit der ganzen Welt zu tun. Adam McKay tut so, als hätte sich die USA den Erdball vollständig unter den Nagel gerissen, und als wäre sein Land nun endlich die Supermacht Nummer eins, angesichts derer eine Institution wie die UNO zum beliebten Kartenspiel reduziert wird. Ist das Absicht, oder vergisst McKay auf den Rest der Welt, weil er der Leidenschaft für die ambivalente Politik der Vereinigten Staaten unterliegt? Das globale Problem ist ein Amerikanisches, was mitunter etwas arrogant erscheint. Auch pfeift sich die Geschichte rund nach der Hälfte selbst auf die Ersatzbank, und bis das bereits arg Vorhersehbare eintritt, geht dem Katastrophenfilm die Luft aus.  

Doch immerhin: Desastermovie geht auch anders, könnte anders gehen, aber kaum subtiler als es einer wie Roland Emmerich selbst zu Wege bringen kann.

Don’t Look Up

Bad Luck Banging or Loony Porn

DIE KRUX DES EGOZENTRISCHEN WELTBILDES

7,5/10


badluckbanging© 2021 Panda Lichtspiele

LAND / JAHR: RUMÄNIEN, LUXEMBURG, TSCHECHIEN, KROATIEN 2021

BUCH / REGIE: RADU JUDE

CAST: KATIA PASCARIU, CLAUDIA IEREMIA, OLIMPIA MALAI, NICODIM UNGUREANU, ALEXANDRU POTOCEAN, DANA VOICU, GABRIEL SPAHIU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Es kann gut sein, dass mein Beitrag nach dem Teilen auf diversen Social Media-Plattformen von der Zensur geblockt wird. Das Wort „Porn“ kommt darin vor. Kann gut sein, dass die Zugriffe auf diesen Artikel dadurch in die Höhe schnellen. Kann alles sein. Kann sogar sein, dass ein Film wie dieser trotz oder gerade wegen seinen expliziten Darstellungen den Goldenen Bären der Berlinale gewinnen kann. Und auch, obwohl sich Banging und Porn in den Titel schummeln. Eine Vorverurteilung hat aber nicht stattgefunden, denn Radu Jude hat für seine virtuose Satire tatsächlich die höchste Auszeichnung erhalten. Gibt es also rund 50 Jahre nach Deep Throat ein Porno-Revival in klassischen Kinosälen? Nein, nicht wirklich. Bad Luck Banging or Loony Porn will das gar nicht. Dieser Film – wie soll ich sagen – ist zwar ein obszönes, aber gutgemeint groteskes Stück Kino, das sicherlich nicht zum besten Freund wird – auf den zweiten Blick jedoch kann man das, was da abgeht, so gut nachvollziehen, als wäre man mit diesem polemischen Stück publiker Selbstreflexion schon lange auf Du und Du.

Man kann gut erkennen, was entsteht, wenn nichts und niemand einem Filmemacher ins Handwerk pfuscht. Radu Jude befindet sich inmitten der Pandemie, wir schreiben das Jahr 2020, und man merkt auch, dass für seine Ideen die Weltlage gar nicht besser hätte sein können. In dieser Pandemie, die Jude auf die aufreibendsten Arten des Maskentragens, Händedesinfizierens und nicht eingehaltene Sicherheitsabstände reduziert, ist der gesellschaftliche Sodbrand kurz davor, bis in den Rachenraum aufzusteigen. Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte lässt sich die Doppelmoral des Menschen in der Dynamik einer Gesellschaft so sehr ans Tageslicht zerren wie in dieser. Dabei passiert nicht viel, und seit Thomas Vinterbergs grandiosem Rufmord-Drama Die Jagd wissen wir auch, wie Massenmedien im Computer- und Handyzeitalter zusätzlich Zunder geben. Zum Leidwesen der Kinder und derer, die des Berufs wegen für diese verantwortlich sind. Immerhin ist passiert, was nun mal so passiert: Die Lehrerin Emi hat Sex mit ihrem Ehemann – sie filmen sich dabei, und wir sehen das auch. Blöderweise stellt der nicht wirklich vorausdenkende Göttergatte das sogenannte Sex Tape auf Pornhub – wo dieses alsbald von den Schülern aus Emis Klasse gesehen wird. Empörter kann die Elternschaft nicht sein. Wie kann man nur! Sie fordern eine Konferenz, um die gute Frau zur Rede zu stellen. Oder ganz einfach fertigzumachen.

Bad Luck Banging or Loony Porn hat drei Kapitel, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach dem gar nicht jugendfreien Vorspiel folgen wir Emi quer durch Bukarest. Es ist die Bestandsaufnahme einer verdorbenen Welt aus billigen Obszönitäten, Aggressionen und kompensierten Psychosen. Ein Panoptikum zwischen Zerfall und Übersättigung, dabei ruht die Kamera weniger auf Emis Spaziergang durch die Welt als vielmehr auf einen Alltag, der sich selbst zuwider zu sein scheint. Kapitel zwei ist ebenfalls ein Sammelsurium – eine alphabetische Abfolge diverser Begriffe, die, größenteils mit Archivaufnahmen bebildert, eine Collage dessen ergeben, was Rumänien bewegt. Kapitel drei dann der Elternabend des Grauens. Eine Geisterbahnfahrt des Fingerzeigens und des Besserwissens. Ich will nicht sagen: des Querdenkens.

Wer mir dazu einfällt: Der Schwede Ruben Östlund beschäftigt sich nicht erst seit The Square mit ähnlichen Themen und seziert dabei menschliches Gruppenverhalten, über welches die Vernunft allzu leicht stolpert. Sei es nun, Eigenverantwortung zu übernehmen – oder die Verantwortung über den eigenen Nachwuchs. Jude spricht diese Fähigkeit der „Elterngeneration What?“ Ein für alle Mal ab. Seine Erzieherinnen und Erzieher verorten aus reiner Bequemlichkeit und nach erhörten Predigten über ein egozentrisches Weltbild die moralische Verantwortung jenseits der eigenen Familie. Dabei ist nicht das Problem, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Wahl der immer bequemeren Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Was bleibt, ist ein Aneinanderrennen starrer Weltsichten und liberaler Koketterie. In Judes Groteske erkennt man letzten Endes mit Schrecken, selbst zu einer dieser Gruppen zu gehören. Was dagegen tun? Im Avantgarde-Kino von heute bleibt da nur noch die verzweifelte Möglichkeit, mit ätzendem Zynismus die Nimmerbelehrbaren in die Selbstreflexion zu nötigen.

Bad Luck Banging or Loony Porn

Promising Young Woman

OBJEKT DER BEGIERDE

6/10


promisingyoungwoman© 2021 Focus Features


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: EMERALD FENNELL

CAST: CAREY MULLIGAN, BO BURNHAM, JENNIFER COOLIDGE, LAVERNE COX, CLANCY BROWN, CHRISTOPHER MINTZ-PLASSE, ALISON BRIE, ADAM BRODY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Der Mann von heute hat immer schlechtere Karten. Vielleicht, weil der alte, weiße Mann von gestern noch viel zu präsent ist. Der Mann von heute pflegt Anstand, Moral und Vernunft in Jeans und Sakko. Ist nicht nur der Sexualtrieb, sondern auch Alkohol im Spiel, fallen die mühsam errichteten Kartenhäuser selbsternannter Edelmänner zusammen. Ab dann wird´s eklig, und der Mann so selbstvergessen instinktgetrieben wie ein Elefant während der Mast. Selbsterkenntnis gibt´s danach keine. Stattdessen sind wir Menschen ohnehin Meister der Verdrängung, es sei denn, etwas traumatisiert uns. Mit einem „Wir waren ja noch jung“ kommt die Absolution so schnell wie ein Burger beim Drive In. Jedoch ist ein Nein kein Ja, und sei es auch noch so gelallt.

Diese Floskel, doch nur jung gewesen zu sein, noch unerfahren – die kann Emerald Fennell genauso nicht mehr hören wie ich selbst nach diesem Film. Es sind Ausreden, die sie ihren Männerrollen ganz bewusst in den Mund legt. Und sie lässt sie allesamt – so wie sie saufen und hecheln – plump, feige und entbehrlich erscheinen. Der Mann von heute, der hat wirklich schlechte Karten. Und noch schlechtere, wenn er nebst erhöhtem Promillespiegel auf Carey Mulligan alias Cassandra Thomas trifft, die selbst einen solchen mit sich führt. Oder zumindest nur so tut, als ob. Ihr Ziel ist es, das Mannsbild zur Einsicht zu bewegen. Ihn inflagranti zu erwischen, wenn er dabei ist, Ehre, Anstand und Selbstachtung zu verlieen. Dabei führt sie Buch, und das aus gutem Grund. Wenig später trifft Cassandra auf einen ehemaligen Studienkollegen, der bestens dafür geeignet scheint, endlich mal die Jagdszenen aus dem nächtlichen Nachtclub hinter sich zu lassen und eine aufrichtige, anständige Beziehung zu führen. Doch die Vergangenheit holt sie ein. und es bietet sich die Gelegenheit für einen Plan, der mehr sein soll als nur ein Spiegel für andere. Dieser Plan hat mit Rache zu tun.

Ich muss zugeben – Carey Mulligan, sonst eher die unterschätzte, liebenswerte Nachbarin – macht ihre Sache ganz großartig. Vor allem, weil sie atypisch besetzt worden ist. Und jeder vermuten würde, dass von diesem Engelsgesicht keinerlei Gefahr ausgehen kann. Ihre Rolle ist aber die einer Aktivistin, die ihren Glauben an männliche Ritterlichkeit längst aufgegeben hat. Die Proben aufs Exempel bestätigen das. Die Einsicht derer zu erlangen, die Frauen auf Objekte der Begierde reduzieren, ist ein steiniger Weg, der Opfer fordert. Durch Mulligans rebellischer Güte entsteht aber aus dem anfangs vermuteten Rape & Revenge-Thriller so etwas wie ein satirisches #Mee Too-Drama, dessen scheinbar scharfe Klinge aber stumpfer ist als erwartet.

Vielleicht war Mulligan doch nicht die beste Wahl für diese erschütterte und den Mann erschütternde Figur. Zumindest passt sich Emerald Fennell inszenatorisch zu sehr an ihren Star an. Vielleicht tut sich Promising Young Woman mit der dazwischenliegenden Romanze keinen Gefallen, da der Film damit etwas den Fokus aus den Augen verliert und auch sonst zu recht konventionellen narrativen Mitteln greift. Das mit dem Oscar geadelte Drehbuch mag ja vor allem im letzten Drittel tatsächlich so einige Erwartungen untergraben, doch abgesehen davon, dass Mulligans Rechnung auch da nicht aufgeht, hinterlässt es mich am Ende mit einem recht unschlüssigen „War’s das?“. Fennells eher zahme Führung des Ensembles und der brave Stil der Inszenierung möchten den Eindruck vermitteln, in offenen Wunden nicht genug herumgestochert zu haben, um wirklich wehzutun. Wäre mehr genugtuende Gewalt die bessere Lösung gewesen? Für uns, die als Zuseher in Sachen Einsicht um einiges weiter sind, vielleicht schon. Für die Männer im Film allerdings nicht. Perlen vor die Säue also? Letzten Endes ist die Quote der Erreichten eine viel zu geringe.

Promising Young Woman

The Art of Self-Defense

ICH KANN KARATE!

7/10


the-art-of-self-defence© 2019 Bleeker Street

LAND / JAHR: USA 2019

BUCH / REGIE: RILEY STEARNS

CAST: JESSE EISENBERG, ALESSANDRO NIVOLA, IMOGEN POOTS, STEVE TERADA, PHILLIP ANDRE BOTELLO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Unter der Rubrik „Filmschaffende, von denen womöglich noch nie jemand etwas gehört hat, deren Werke aber allemal einen Blick wert sind“ fällt auch ein gewisser Riley Stearns, seines Zeichens Drehbuchautor und Regisseur. Zu diesem Schluss komme ich nach Sichtung einer ganz und gar nicht beworbenen und im Sortiment von amazon prime bescheiden vor sich existierenden Thrillerkomödie mit dem Titel The Art of Self-Defense. Der Titel allein birgt womöglich Interessantes. Selbstverteidigung, so so. Vielleicht so etwas wie Karate Kid für Erwachsene? Nur mit anders gesetztem Spin. Stearns Streifen ist längst nicht nur die Genese eines Duckmäusers, der plötzlich mit beiden Beinen fest im Leben steht und sich von anderen nichts mehr sagen lassen will. The Art of Self-Defense kann weitaus mehr. Darunter eben, eine Geschichte zu erzählen, die vom Weg abkommt und in dunkle Gassen biegt. Die jedenfalls nicht will, dass man in Jesse Eisenbergs Rolle jemanden entdeckt, dem man nacheifern will. Denn Eisenberg ist ein Antipathieträger. Eine seltsam vor sich hin tickende Zeitbombe. Ein kleiner, blasser, unscheinbarer Mann, dem keiner zuhört, der keine Freunde hat und der stets, bei Auseinandersetzungen mit anderen, den Kürzeren zieht. Ein Loser, mit einem Wort.

Doch das ändert sich. Eines Nachts wird der gute Mann von einer Motorradgang überfallen und übel zugerichtet. So kann das nicht weitergehen, denkt sich der nach seiner Genesung und läuft rein zufällig an einem Karate-Studio vorbei. Es braucht nicht lang und schon steht er auf der Matte, in weißer Montur und mit weißem Gürtel. Und ist schlichtweg begeistert vom Meister seines Fachs, dem geheimnisvollen Sensei (undurchschaubar: Alessandro Nivola). Irgendwie hat dieser einen Narren an seinem Neuling gefressen, hofiert und bevorzugt ihn und stellt ihn später sogar als Buchhalter an. Es lässt sich vermuten, dass dieser schöne Schein trügt. Denn neben all den regulären Trainingseinheiten gibt es auch welche, die in der Nacht stattfinden.

An alle, die asiatischen Kampfsport faszinierend finden oder selbst einen solchen ausüben – in The Art of Self-Defense könnte das rechtschaffene Image der nur als letzte Instanz für Widerstand angewandten Kunst relativ rasch verärgern. Nicht alle folgen hier dem Credo einer alten, noblen Geisteshaltung, und nicht alle liegen mit der Wahl ihrer Mittel, sich unliebsames Gesocks vom Leib zu halten, auf einer Wellenlänge. Riley Stearns schickt in seiner Groteske über Sozialdynamik und toxischer Männlichkeit einen garstigen Jesse Eisenberg ins Feld, der in seiner unterkühlten Sozialkompetenz und seiner anfänglichen Hörigkeit Könnern gegenüber irgendwann scheitern muss. Es ist, als hätte Ralph Macchio es satt, sich selbst oder irgendwem sonst etwas beweisen zu müssen. Warum auch? Diese Frage sät Zweifel für den Ehrgeiz. Stearns verhöhnt diese Eigenschaft, und macht sich auch nicht die Mühe, Gefälligkeit zu signalisieren. Während des perfiden Auslotens der Nützlichkeit erlernter Skills kippt die schwarze Komödie ins Irreale, erlangt die Gewalt immer größere Akzeptanz, und der Besitz einer Waffe gerät ans Ende einer standfesten Selbstbehauptung. The Art of Self-Defense kommt unerwartet und erzählt Unerwartetes. Ein schöner Film ist das nicht. Aber irgendwie, auf seine zynische und lästernde Art, bemerkenswert.

The Art of Self-Defense

Super – Shut up, Crime!

ZWISCHEN DEN PANELS

7/10


supershutupcrime© 2010 That is That


LAND / JAHR: USA 2010

BUCH / REGIE: JAMES GUNN

CAST: RAINN WILSON, ELLIOT PAGE, LIV TYLER, KEVIN BACON, MICHAEL ROOKER, GREGG HENRY, ANDRE ROYO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Natürlich gibt es Superhelden, die keinerlei Superkraft haben. Batman zum Beispiel, Hawkeye oder The Falcon. Diese Weltenretter und -verbesserer kompensieren aber den Mangel ihrer physischen und metaphysischen Kräfte entweder mit Know-How oder mit Geld. Stellt sich die Frage: wie ist es denn mit Superhelden, die weder spezielle Fähigkeiten haben, noch Geld, noch in irgendeinem ihrer Skills Weltmeister sind? Nun, die gibt es auch. Aber sind das dann Superhelden? Kommt drauf an. In Super – Shut up, Crime! bringt es Loser Frank auf den Punkt: Superhelden sind sie bereits dann, wenn sie bereit sind, gegen das Böse zu kämpfen. Das allein genügt. Die Erfolgschancen, hier heil durch die Heldenkarriere zu kommen, dabei allerdings äußerst gering. Außer man hat genug Wut im Bauch wie Michael Douglas in Falling Down.

Na gut, die hat Frank. Denn seine Frau (Liv Tyler) hat ihn verlassen – für einen windigen und herablassenden, zwielichtigen Schnösel (Kevin Bacon, für sowas bestens geeignet). Das geht zu weit, vor allem deshalb, weil dieser Schnösel Franks Geliebte für Drogengeschäfte missbraucht. Also hat Frank alsbald eine seiner göttlichen, recht krass visualisierten Eingebungen – diese rät ihm, es doch so zu machen wie der Heilige Rächer (in köstlicher Parodie: Ex-Firefly-Captain Nathan Filion), nämlich als Superheld da rauszugehen und dem Verbrechen den Mund zu verbieten. Das macht er dann auch – und ist bald nicht mehr allein da, denn Comicshop-Lady Elliot Page lässt sich von diesem Hype ebenfalls anstecken.

Hätte sich Michael Douglas als D-Fens ein Cape übergezogen, wäre er noch lange kein Superheld. Denn dem Antihelden aus Schumachers Meisterwerk kam die Gerechtigkeit ihm selbst gegenüber zu kurz – in größeren Dimensionen gedacht hat er nicht. Frank wiederum beginnt seinen Feldzug ebenfalls aus einer gewissen persönlichen Kränkung heraus, wird aber durch religiösen Erweckungs-Schmarrn und Selbstüberschätzung zu einem (selbst)gerechten Wutbürger namens Blutroter Blitz, der zuwiderhandelnden Personen gut und gerne mit einer Rohrzange den Schädel spaltet. Das soll ein Superheld sein? James Gunn, bereits legendär für seine filmische Umsetzung der Guardians of the Galaxy, will nicht so recht glauben, dass die Rechnung als Superheld jemals wirklich aufgehen kann. Was der Blutrote Blitz mit Sidekick Blitzie alles so anstellt, sind klagbare Verbrechen zweier Moralapostel, die mit Gewalt den Anstand erzwingen. Doch das ist nicht alles, und der Film begnügt sich auch nicht, der Zunft der Superhelden einen Kick-Ass zu verpassen. Er führt seine explizit groteske und durchaus manchmal jenseits des guten Geschmacks befindliche Satire Super – Shut up, Crime! nicht ins Nirgendwo, sondern zu einem Wendepunkt hin, der einen ganz bestimmten Umstand einfordert, um die Idee hinter Cape und Pseudonym tatsächlich auch zu verstehen. Letzten Endes vermutet man aufgrund dieser Prämisse hinter diesem hingerotzten Grunge-Movie zu Recht ein helles Köpfchen.

Super – Shut up, Crime!

Borat Anschluss Moviefilm

TOCHTER ZU VERSCHENKEN

6/10


borat-subsequent-moviefilm© 2020 Amazon Studios

LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: JASON WOLINER

CAST: SACHA BARON COHEN, MARIJA BAKALOWA, JEANISE JONES, RITA WILSON, RUDY GIULIANI, TOM HANKS, MIKE PENCE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Da ist sie wieder, Sasha Baron Cohens Kunstfigur. Der kasachische Reporter, der peinliche Nationalist und der völlig ahnungslose Sexist, dessen Weltbild immer noch das einer Scheibe ist. Borat Sagdiyev ist kein Intellektueller, kein Horizonterweiterer und schon gar kein Humanist. Ein Unterdrücker, der es gut meint. Gibt es sowas? Klar gibt’s das. Man braucht hier nur mit dem Finger über die Weltkarte wandern und auf einzelne Nationen tippen, die genau so sind wie Borat. Die genauso wie dieser Mann keine Ahnung haben von liberalen Ideen, sexueller Gleichberechtigung und Bildung. Ihr Vorteil: eine Bevölkerung, die in diese Art Schlamassel hineingeboren wurde – und es gar nicht anders kennt. Wie Borat eben. Einer, der es nicht besser weiß. Der aber trotz seines verqueren Gedankenguts zumindest jemand ist, der, sobald sein Weltverständnis auf Widerstand stößt, den dazugehörigen Absolutismus hinterfragen könnte. 

Der Mann mit buschiger Rotzbremse und grauem Anzug gebärdet sich wie ein reaktionärer Mr. Bean, der im Ausland seine Haut retten muss, um nicht hingerichtet zu werden, falls er seine zweite Mission vermasselt: der lokale Geheimdienst schickt ihn abermals in die US+A, mit einem Geschenk für den Vizepräsidenten Michael Pence, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufleben zu lassen. Das Geschenk sollte ein Affe sein – doch der lebt nicht mehr, als die ominöse Holzkiste in Amerika ankommt. Stattdessen hat sich Borats Tochter reingeschmuggelt – verdreckt, verlaust und aufmüpfig (erfrischend extrovertiert und oscarnominiert: Marija Bakalowa). Na gut, wenn schon nicht den Affen, muss Borat wohl seine Tochter verschenken. Vorher allerdings muss die Gute noch „formschön“ verpackt werden, um sie präsentieren zu können. Während dieses Unternehmens allerdings wird Tochter Tutar langsam klar, in welchem gestörten Umfeld sie wohl bisher aufgewachsen war. Da sind die US + A ja Gold dagegen. Bis auf ein einige Ausnahmen – die zumeist im politischen Establishment zu finden sind.

Satire darf zwar nicht alles, aber vieles. Was Jason Woliner seinem Duo aus dem Osten dürfen lässt, ist trotz der üblichen Geschmacklosigkeiten, die aber alle unter einen Nenner zu bringen sind, weil sie alle dasselbe Ziel verfolgen, durchaus akzeptabel. Borat Anschluss Moviefilm (der Originaltitel würde sich über drei Zeilen ziehen) ist eine überraschend unzynische, direkt versöhnliche Satire im klassischen Sinn, die zum Ziel hat, einen überall vor sich hintümpelnden, latenten oder gar militanten Sexismus aufzubrezeln. Das geht von den Grundrechten der Frau bis hin zum Zwang, sich die Brüste vergrößern lassen zu müssen. Das lässt auch kein gutes (Scham)haar an der Tabuisierung der Menstruation oder dem Mythos, Frauen könnten nicht autofahren. In erschreckender Deutlichkeit darf sich die republikanische Witzfigur Rudy Giuliani selbst an den Pranger stellen – wohl das frappanteste Armutszeugnis einer Person in diesem Film, während Tom Hanks (zum Glück) nur Autogramme zu geben braucht und der Rest der amerikanischen Bürger, denen Borat begegnet, sich überraschend wenig über dessen seltsames Verhalten wundern, weil sie mitunter selbst so ein reaktionäres Weltbild wie Borat haben. 

Den guten Ton findet Borat Anschluss Moviefilm natürlich absichtlich nicht – da mag man mit den Augen rollen. Allerdings hat der Streifen eine Mission, die er sich zu Herzen nimmt. Diese auf Schiene zivilisierter Norm gebrachten Erkenntnisse mögen dem obszönen Sarkasmus wohl den Wind aus den Segeln nehmen, unter welchem der Erstling aus dem Jahre 2006 noch Fahrt aufnehmen konnte. Dieses Sequel hier ist fast schon zu befriedend für manche, die den bösen, unbelehrbaren Witz des schlaksigen Hampelmanns so nice gefunden hätten. Borats Wanderjahre sind in diesem kaum noch als Mockumentary zu bezeichnendem Roadmovie jedoch längst vorbei.

Borat Anschluss Moviefilm