Vivarium – Das Haus ihrer (Alp)Träume (2019)

ELTERNSCHAFT ALS ZWANGSARBEIT

7/10


© 2019 Leonine Pictures

LAND / JAHR: BELGIEN, IRLAND, DÄNEMARK, USA 2019

REGIE: LORCAN FINNEGAN

DREHBUCH: GARRET SHANLEY

CAST: IMOGEN POOTS, JESSE EISENBERG, JONATHAN ARIS, SENAN JENNINGS, EANNA HARDWICKE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Auf IMDB schrammt Lorcan Finnegans kosmischer Horror gerade mal an der 6 Punkte-Hürde vorbei. Ein passabler Schnitt bei 81.565 Bewertungen, allerdings nur eben das: passabel. Da wäre noch Luft nach oben, und diese Luft aber will keiner, der Vivarium gesehen hat, so richtig gerne verknappen, denn Filme, die das Bedürfnis des Publikums nach einer geordneten und rational zu begreifenden Welt nicht erfüllen, stoßen durchaus auf Ablehnung. Vivarium ist daher eines im Vorfeld ganz und gar nicht: Ein Wohlfühlfilm.

Es scheint, als hätten Edgar Allan Poe oder H. P. Lovecraft an dieser akkuraten Hölle ihre Ideen beigesteuert, oder besser gesagt: ihre Ängste, die sich in literarischen Visionen längst manifestiert haben. Vermengt mit den Elementen aus den Büchern und Filmen, die uns extraterrestrische Invasionen mit Schmackes veranschaulicht haben, greift das bizarre Szenario nur so um sich. Diesem ausweglosen Alptraum müssen sich, und so viel haben wir, woran wir uns festhalten können, zwei bekannte Gesichter unterordnen. Es sind dies Imogen Poots und Jesse Eisenberg, der zuletzt mit seiner Regiearbeit A Real Pain, ein tragikomischer Herzwärmer, reüssierte. Eisenberg aber ist hier – fast so wie in A Real Pain und auch in der Martial-Arts-Groteske The Art of Self-Defense oder aber in der Männlichkeits-Metapher Manodrome – ein anfangs stinknormaler und fast farbloser bis unsichtbarer Durchschnittsbürger, der im Grunde nichts anders mit sich anzufangen weiß als den Durchschnitt zu leben, den Normalo bar excellence, in dessen Innerem aber der eitle Wahnsinn brodelt. An seiner Seite Filmfreundin Imogen Poots (u. a. 28 Weeks Later), beide möchten als Gemma und Tom ein trautes Heim bald ihr eigen nennen. Immobilienmakler gibt es viele, doch leider müssen die beiden zu ihrem Unglück in jene Filiale reinschneien, die der seltsame Martin betreut. Ein gespenstischer Typ, der psychopathische Witz eines biederen Ladenhüters mit falschem Grinsen und womöglich feuchtem Händedruck. Ihm folgen sie per Automobil in eine abseits gelegene Reihenhaussiedlung, die den Begriff des Reihenhauses auch auf die Spitze treibt. Soweit das Auge reicht ein und dieselben vier Wände, nur ihre tragen die Nummer 9. Während Gemma und Tom sich umsehen, macht sich Martin aus dem Staub. Und wer nun glaubt, das Liebespaar findet den Weg ganz von allein retour, der irrt gewaltig. Sie müssen bleiben, und zwar eine ganze lange Zeit. Es gibt kein Entkommen, solange das seltsame Baby, das plötzlich in einem Pappkarton am Straßenrand liegt, nicht in deren Obhut aufwachsen kann.

What the Fuck? Sehnsüchtig wartet man auf eine Erklärung. Letztlich bleibt man so rat- und hilflos wie Gemma und Tom, die in absoluter Isolation und unter einem seltsam weltfremden Himmel, der aussieht, als wäre er von schlechter KI generiert, dahinfunktionieren. Finnegans Film hält sein Publikum insofern bei der Stange, da er Hoffnung sät. Jede weitere Szene könnte es soweit sein, und die beiden kommen dem Geheimnis auf die Spur.

Vielleicht gelingt es ihnen, vielleicht auch nicht: Verantwortlich für einen der bizarrsten Independentfilme der ausgehenden letzten Dekade zeichnet Garret Shanley – kennt man bereits sein Skript zum Rache-Horror Nocebo mit Eva Green, lässt sich erahnen, wie weit der Autor auch hier gehen wird können. Vivarium ist beklemmend und grotesk, strotzt vor verstörenden Ideen und genießt die Freiheit des fantastischen Kunstfilms, ohne auf das Einspiel Rücksicht nehmen zu müssen. Unter solchen Voraussetzungen erweitert das Kino seine kreative Palette und lukriert dabei ordentlich Courage, den Erwartungshaltungen des Mainstreams entgegenzutreten. Das gefällt nicht jedem, wenn die erzählerische Finsternis mit der Sehnsucht nach rationaler Ordnung Schlitten fährt.

Vivarium – Das Haus ihrer (Alp)Träume (2019)

Niki de Saint Phalle (2024)

KÜNSTLER:NNEN SIND (AUCH) NUR MENSCHEN
7/10


© 2024 Neue Visionen


ORIGINALTITEL: NIKI

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE: CÉLINE SALLETTE

DREHBUCH: CÉLINE SALLETTE, SAMUEL DOUX

CAST: CHARLOTTE LE BON, JOHN ROBINSON, DAMIEN BONNARD, JUDITH CHEMLA, ALAIN FROMAGER, QUENTIN DOLMAIRE, JOHN FOU, NORA ARNEZEDER U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung war, all die Kunstwerke von Niki de Saint Phalle, vormals Matthews, nicht zu zeigen. Den Beweggrund dahinter kann man dennoch gut verstehen: Es soll der Mensch sein, den Céline Sallette in den Fokus rückt, und zwar in den ausschließlichen und unverrückbaren Fokus, und sie will nicht ablenken von den Formen und Farben, mit denen die Künstlerin schon vor ihrem großen Durchbruch experimentiert hat. Niki de Saint Phalle, und diesmal meine ich den Film, will als psychologisch durchdachtes Portrait jene Mechanismen erörtern, die dazu führen, das eigene Leiden und die eigene Katharsis auf kreativ-schaffende Weise therapiert zu wissen. Dabei geht es nur um das menschliche Verhalten, nicht um das Schaffen. Vielleicht mitunter um den kreativen Prozess, doch wir als Publikum haben nur einen Blickwinkel auf die Sache: Jenen des Werkes selbst. Man könnte sagen: Wir selbst reflektieren Niki de Saint Phalles Belange, denn nicht nur einmal blickt sie selbst und alle anderen, die ihr Werk bestaunen, aus dem Film hinaus ins dunkle Auditorium, dabei sprengen sie nicht die vierte Wand, sondern bleiben ihrer Zeit verhaftet. So viel Experiment wagt Sallette dann doch nicht.

Während in vielen anderen Künstlerbiografien das Schaffen und das Geschaffene sehr stark im Vordergrund stehen, um die innere Welt der Beschriebenen zu widerspiegeln, muss Schauspielerin Charlotte Le Bon sich selbst und uns in der Imagination verweilen lassen. Die abstrakte Psyche kann sich nicht manifestieren, und glücklich jene, die kunstgeschichtlich betrachtet längst wissen, was Niki de Saint Phalle Zeit ihres Lebens geschaffen hat. Jene, die es nicht wissen, bleiben im Hintertreffen. Es fehlt ihnen der starke, expressive Ausdruck. Während ich diese Review verfasse, tendiere ich dazu, den Verzicht auf die Darstellung von Saint Phalles inneren Welten einerseits als mutigen Kniff, aber andererseits als Defizit zu betrachten. Was letztlich bleibt, ist das Psychodrama eines missbrauchten Menschen, der unter posttraumatischen Belastungsstörungen leidet und dabei längst nicht als eine Person dargestellt werden will, die sich über alle anderen erhebt, die ähnliches erlitten haben – ganz ohne kreative Exposition. Saint Phalle wird andererseits greifbarer, ihre Kunst kann nicht bewertet werden, nur ihr Zugang, ihr Wille, ihre Bereitschaft, sich selbst aus dem Dunkel des Traumas zu befreien.

Das tut sie auch, und wir sehen ihr einen Spielfilm lang, der sich stark und leidenschaftlich auf seinen einzigen bekannt-unbekannten Charakter konzentriert, aufmerksam zu. Das kann, wäre die Akteurin dahinter nicht aufopfernd genug bei der Sache, zur langweilig-konventionellen Chronik werden. Ein Film wie dieser muss sich glücklich schätzen, mit purer Performance zu fesseln – da ihm alles andere weitestgehend entzogen wird. Charlotte Le Bon, die mit ihrem Regiedebüt Falcon Lake zumindest mich schwer beeindruckt hat, läuft auch hier zur Höchstform auf. Abgesehen davon, dass sie ihrem historischen Vorbild verblüffend ähnlich sieht, ist ihr ambivalentes, impulsives und scheinbar improvisiertes Spiel mitreißend genug, um in den Momenten, wo sie gerade nicht die Leinwand beherrscht, sehnsüchtig darauf zu warten, dass sie wiederkehrt. Le Bon dominiert den Film, sie zittert, sie schreit, sie tobt, sie sprüht vor Enthusiasmus, gibt sich dem Drang hin, auszubrechen. Sallette beschreibt den Weg zur inneren Erlösung, der im Kick Off zu Niki de Saint Phalle, zur großen Künstlerin, gipfelt, in nachvollziehbaren, balancierten Schritten.

Auch wenn man gerne hinter die Leinwand schlüpfen würde, um mit den Augen Le Bons diese ganze farbenfrohe Kunst zu betrachten – vielleicht ist es gut, diesen Impuls zu unterdrücken. Denn so lenkt nichts ab von dieser inneren Katharsis, die zum Triumph führt. Die Kunst bleibt subjektive Imagination, und ist interpretierbar durch jeden, der in der Kreativität sein Seelenheil findet.

Niki de Saint Phalle (2024)

Flow (2024)

WENN TIERE DEN HUMANISMUS PROBEN

7/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: STRAUME

LAND / JAHR: LETTLAND, BELGIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: GINTS ZILBALODIS

DREHBUCH: GINTS ZILBALODIS, MATĪSS KAŽA

MUSIK: RIHARDS ZAĻUPE

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Das Ganze ist wie ein Traum. Niemand weiß, wo genau sich dieses Szenario abspielt, niemand weiß, ob es jemals Menschen waren, die diesen seltsamen Planeten, der unserer Erde so sehr ähnelt und dann wieder doch nicht, besiedelt hatten. Klar ist: Eine Zivilisation, gleich der unseren, ist der großen Katastrophe erlegen. Es scheint, als wäre die biblische Sintflut über alles und jeden gekommen, der sich selbst keine Arche gefunden hat. Und selbst an den höchsten Punkten dieser Welt glänzt das menschenähnliche Individuum durch Abwesenheit. Was passiert war, lässt sich nicht herausfinden. Was vorher war, auch nicht. Was ist, das sehr wohl: Eine Welt ohne uns, ohne Dualität, ohne Niederträchtigkeit, Gier, Krieg und Elend. Eine Art Eden kehrt zurück, nachdem das Wasser den Unrat einer schweren Zeit fortgespült hat. Was bleibt, ist die Fauna. Eine schwarze Katze zum Beispiel, namen- und wortlos, schnurrend, miauend, fauchend maximal. Das kleine Wesen versucht zu überleben, stößt dabei auf einen Hund, verliert diesen wieder aus den Augen, trifft dann, nachdem alles in den Fluten versinkt, auf ein kleines Segelboot, in dem ein gemütliches Capybara hockt und den Neuankömmling anfangs noch kritisch beäugt, dann aber akzeptiert. Die trockene Nussschale dient bald noch anderen Individuen als Schutz vor den Unwirtlichkeiten der Natur, unter anderem einem Katta und einem storchenartigen Vogel, der sehr an einen Sekretär erinnert, nur ohne dessen Färbung.

Bizarre Felsnadeln ragen in den Himmel, versunkene Städte erinnern an Venedig, zerstörte Boote an den vergeblichen Versuch einer Zivilisation, zu überleben. Und dann wagt Regisseur Gints Zilbalodis (Away – Vom Finden des Glücks) seine große gesellschaftsphilosophische Betrachtung, indem er seine zusammengewürfelte Gruppe unterschiedlichster Lebensformen einer intuitiven probe unterzieht. Allen voran stellt er die Frage: Was bewegt eine diverse Gesellschaft, aus ihrer Existenzblase zu treten, um miteinander zu kooperieren? Ist es das Chaos? Ist es die Heimatlosigkeit? Der Motor einer kognitiven Evolution tritt in Kraft. Im Grunde ist es doch so, das, würde die Welt in ihrer Ordnung verharren, keines dieser Tiere aufeinander zugehen würde. Tiere sind Spezialisten, sie entwickeln keine Toleranz und interagieren unterstützend innerhalb ihrer eigenen Art. Dann aber die Katastrophe, das Übergreifen aus dem eigenen Radius hinaus in jenen der anderen. Was entsteht, ist Altruismus, Faktoren des menschlichen Zusammenlebens und der Akzeptanz. Einheit trotz oder gerade durch Vielfalt – Flow macht dabei nicht den Fehler, Katze, Hund und Co zu vermenschlichen, sondern lässt sie in ihrem tierischen Verhalten fest verankert, während der humanistische Faktor lediglich hinzukommt. Man könnte natürlich Entertainment-Werke wie Madagaskar als weiteres Beispiel nennen, auch hier muss eine tierische Gruppe aus Löwe, Giraffe, Zebra, Nilpferd und Pinguin eine Zweckgemeinschaft eingehen, doch hier ist es vorrangig der Kalauer und die vermenschlichte Darstellung der Tiere mitsamt zeitgemäßer Phrasendrescherei. Madagaskar führt da auch nichts anderes im Schilde als Spaß haben zu wollen, während Flow auffallend mehr erzählt, es kehrt Orwells Farm der Tiere um, schafft Zuversichtlichkeit und Vertrauen in einer unberechenbaren Welt, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Auch Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger ließe sich vergleichen, nur ohne menschlichem Faktor als Person – dieser offenbart sich lediglich als Idee.

Darüber hinaus begeistert Flow nicht nur dank seiner diversitätsbejahenden Botschaft, sondern ist dank seiner farbsatten, dynamischen Bildwelten, die dank der entschleunigten Kamera in sich ruhende Momente der Betrachtung zulässt,  für die große Leinwand gemacht. Das Wasser gluckert, sprudelt, fließt, der Wind bläst, der Hund bellt, das Capybara grunzt, der Vogel kreischt. Sie alle haben ihre Art zu kommunizieren, und auch wenn sie sich untereinander kaum verstehen, so ist es die Geste des Respekts, der sie alle weiterbringt. In dieser universellen filmischen Botschaft kann man sich verlieren und treiben lassen. Denn niemand geht in dieser und in anderen Welten jemals verloren.

Flow (2024)

Mandy (2018)

WAHNSINN, ICH GEH FÜR DICH DURCH DIE HÖLLE

6/10


mandy© 2018 Plaion Pictures

LAND / JAHR: USA, BELGIEN 2018

REGIE: PANOS COSMATOS

DREHBUCH: PANOS COSMATOS, AARON STEWART-AHN

CAST: NICOLAS CAGE, ANDREA RISEBOROUGH, LINUS ROACHE, NED DENNEHY, OLWEN FOUÉRÉ, LINE PILLET, BILL DUKE, RICHARD BRAKE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Wer hätte damals gedacht, dass Nicolas Cage im Herbst des Jahres 2018 dem Slash Filmfestival tatsächlich die Ehre erweisen würde. Laut Slash-Mastermind Markus Keuschnigg kam er, sah sich um und ging wieder. Doch immerhin: Er hostete damit seine Rache-Phantasmagorie Mandy, die Autorenfilmer Panos Cosmatos als Reminiszenz an den Hippie-Drogenrausch der ausklingenden Sechziger und beginnenden Siebziger anlegt, als nostalgische Konservierung einer längst vergangenen New Hollywood-Revolution im Kino, an das Haare schwingende Aquarius und dem Lebensgefühl aus Woodstock. Das klingt natürlich nach beschwingten Vibes, doch Mandy ist alles andere als das. Panos Cosmatos bricht mit den Dogmen und korrumpiert eine verklärte Ära so sehr, dass er diese als Albtraum manifestiert. Als der Realität entfremdetes Konstrukt, aufgeblasen wie die Opfer eines exaltierten Avantgardisten, getaucht in die Lieblingsfarbe Rot, konturiert durch sattes Schwarz. Grobkörnig, in der Bewegung verzerrt und tragödienhaft manieriert wie der düsterste Shakespeare, der je geschrieben wurde.

Dass hier Sehgewohnheiten strapaziert werden und es Cosmatos vor allem darum geht, sein Publikum aus jener Bequemlichkeit zu holen, welche die Sichtung von Bewährtem auf die Dauer mit sich bringt, mag den Genre-Kunstfilm bereichern. Bild und Ton verschmelzen zu einer Bilderorgie, die immer wieder in ihrer eigenen Ambition ertrinkt und auch zu viel in sich hineinstopft, um sich dann, ebenfalls in Rot, im übertragenen Sinn zu übergeben, um dann weiterzuvöllern im theatralischen Gebaren der beiden Hauptdarsteller – eben Nicolas Cage und der fulminante Linus Roache, den Vikings-Fans als den angelsächsischen König Egbert mit Sicherheit in Erinnerung behalten haben. Seine Dialoge mit Travis Fimmel als Ragnar Lodbrok sind legendär. In Cosmatos‘ Actionhorror probiert er sich als manische, gottgleich angesehene Leitfigur eines obskuren Sektenkults, der, unterwegs mit seiner sinistren Entourage, der faszinierenden und titelgebenden Mandy (entrückt: Andrea Riseborough) begegnet, die ahnungslos die Straße entlangwandert. Sie ist schließlich die bessere Hälfte von Cage, der im Grunde ein zufriedenes Leben führt, wäre da nicht die Besitzgier des teuflischen, gern mit nacktem Oberkörper agierenden Antagonisten, der das engelsgleiche Opferlamm für sich haben will – und diese in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem sicheren Zuhause entführt. Cage ist verzweifelt, will die Liebe seines Lebens wieder zurückholen, scheitert anfangs aber und muss dabei zusehen, wie Mandy der Tod ereilt. Danach gibt‘s kein Halten mehr: Cages gemarterte Figur erlangt jene Manie wie sein Widersacher sie besitzt. Wut, Obsession und Aggression brechen sich Bahn und hinterlassen eine Blutspur im grobkörnigen Stil. Eine Kettensäge ist dabei nur eine der Utensilien, die Cage in die Finger bekommt, um alles und jeden zu meucheln, der die Unterwelt bevölkert. Dazwischen dämonische Biker, fratzenhaft und mit verzerrten Stimmen, wohlweislich im Gegenlicht und als kämen sie vom Set eines George Miller, der sich am Mad Max-Franchise abarbeitet. 

Ja, Cage geht grinsend durch die artifizielle Hölle. Dramaturgisch hat Cosmatos dafür aber keinerlei Ideen – was er wiederum versucht, durch seine unverkennbare Optik wieder auszugleichen. Nur: Optik allein reicht nicht immer. Vorallem nicht, wenn diese nur minimal variiert wird. Schwülstig, dampfend, wabernd, als Drogenrausch überstilisiert, laufen die filmischen Methoden im Kreis, treten auf der Stelle – abwechslungsreich ist Mandy daher nicht. Sondern ein einziger, fetter Brocken; sättigend, nicht leicht verdaulich und noch dazu nährstoffarm.

Mandy (2018)

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

ABENTEUER DSCHIHAD

6,5/10


Rebel© 2022 Busch Media Group

LAND / JAHR: BELGIEN, LUXEMBURG, FRANKREICH 2022

REGIE: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH

DREHBUCH: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH, KEVIN MEUL, JAN VAN DYCK

CAST: ABOUBAKR BENSAIHI, LUBNA AZABAL, AMIR EL ARBI, TARA ABBOUD, YOUNES BOUAB, KAMAL MOUMMAD, FOUAD HAJJI, NASSIM RACHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Im Zuge gewaltiger Umbrüche und kriegerischer Aktivitäten im Nahen Osten ist nun auch das passiert: Syrien ist frei, frei von der Folterdiktatur eines Assad, der nun in Russland bei Busenfreund Putin Zuflucht sucht. Die Rebellen müssen nun zu einer gewissen Ordnung übergehen, die ein Staat benötigt, um zu funktionieren. Das Vorhaben wäre nicht möglich, hätten die bösen Buben des Islamischen Staats noch Gebietsansprüche zu vermelden.

Die Situation war in Syrien mal anders, und bildet auch den politischen Hintergrund eines engagierten Actionthrillers, der aber nicht nur Wüstensand aufstauben und bärtige Finsterlinge herumballern lassen will, sondern versucht, einen mehr oder weniger glaubwürdigen Einblick in den Alltag von Dschihadisten zu gewähren, die keinen Widerspruch darin sehen, westliche Errungenschaften dafür zu nutzen, dem verhassten Westen, und nicht nur dem, die Hölle heiß zu machen. Rebel – In den Fängen des Terrors beschreibt den IS als ein hierarchisch geprägtes, militantes Gebilde, in dem nicht wenige dazu gezwungen werden, dieses Spiel des Terrors mitzuspielen. Einer davon ist der in Belgien lebende Rapper und Social Media-Star Kamal (Aboubakr Bensaihi), der sich gezwungen sieht, zum Wohle der Allgemeinheit den Kriegsopfern in Syrien Beistand zu leisten. Also reist er, bewundert vom jüngeren Bruder Nassim, an den Ort des Geschehens – und wird, ehe er sich versieht, vom Islamischen Staat zwangsrekrutiert. Durch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Medium Film findet sich Kamal als begleitender Reporter bei terroristischen Einsätzen wieder. Was er nicht weiß: Sein Bruder bewundert ihn und hat ebenso vor, sich der Terrormiliz anzuschließen, wird er doch von sogenannten „Bekannten“ Kamals, die mit den Warlords in Syrien in Verbindung stehen, entsprechend manipuliert. Letztlich obliegt es der Mutter selbst, ihre beiden Söhne aus der Vorhölle herauszuholen. Doch die Lage spitzt sich zu, und für Kamal gibt es bald kein Zurück mehr.

Die erschütternde Chronik einer Familie, die in die Brüche geht, bleibt ein Hintergrundrauschen. Das Drama mag an die Nieren gehen, hätten die Belgier Adil El Arbi und Bilall Fallah darauf verzichtet, Kriegsreportern gleich vorzugsweise am Schlachtfeld mitzumischen, um die spektakulären Spitzen eines Heiligen Krieges einzufangen. Bei den beiden weiß man schließlich, woher der Wind weht. Auf ihre Kappe gehen die letzten beiden Sequels des Bad Boys-Franchise: Launige Actionkomödien im aalglatten Hollywood-Stil und auf befriedigende und unterhaltsame Weise schwarzweißgemalt. Dieser Wind aus dem Actionfilm-Genre weht auch zu Rebel hinüber, einem gekonnt plakativen Spektakel voller Thrill, Kriegsgeheul und militärisch-hierarchischer Problemagenda. Als überraschende Intermezzi, die das Geschehen von der harten Realität abstrahieren sollen, dienen Show- und Tanzeinlagen, die vielleicht auf den ersten Blick irritieren, im Nachhinein aber durchaus ins Gesamtbild passen.

Alles fühlt sich an, als wäre Jack Ryan nicht weit weg, denn vorrangig dient das Abenteuer, und hat es eine auch noch so grimmige Prämisse, zur spannungsreichen Unterhaltung. Filme wie diese haben, sofern sie sich in ihrem Werteverständnis klar positionieren, durchaus ihre Berechtigung. Rebel – In den Fängen des Terrors ist ein perfekt komponierter Kriegsfilm und leidenschaftliches Popcornkino mit effekthartem Blick auf die Weltpolitik und ihre fatalen Wucherungen. Dabei stürzt es sich tief in die deutlich zur Schau getragenen Empfindungen seiner Protagonisten.

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

Else (2024)

MATERIE IM WANDEL

7,5/10


Else© 2024 WTFilms


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE: THIBAULT EMIN

DREHBUCH: THIBAULT EMIN, ALICE BUTARD & EMMA SANDONA

CAST: MATTHIEU SAMPEUR, ÉDITH PROUST, LIKA MINAMOTO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN 


Filme wie dieser sind der Grund, warum ich Events wie das Slash Filmfestival oder das deutsche Fantasy Filmfest (an welchem ich selbst noch nie war, dessen Programm sich aber mit dem Wiener Pendant überschneidet) so liebe. Um es mit den Worten des oft zitierten Forrest Gump zu sagen: Mehr noch als anderswo hat man es hier mit einer gut gefüllten Schachtel unterschiedlichster Pralinen zu tun, deren Geschmack sich erst offenbart, wenn man reingebissen hat. Denn im Genre des Phantastischen muss man den Schritt ins Unbekannte wagen. Jenseits dieser Schwelle gibt es Welten, die es real nicht gibt, die unserer Welt zukünftig ähneln könnten und in einen narrativen Kontext bringen, was wir uns in unserem präfrontalen Kortex alles ausdenken. Dabei gelingt es immer wieder, scheinbar festgefahrene Themenkreise wie das Ende der Welt, Vampire oder Zombie-Pandemien aus ihrem klischeebehafteten Dämmerschlaf zu holen. Neue Vibes braucht diese Art Kunst schließlich immer wieder.

Hier, im Filmcasino in Wien, können Pioniere, Debütanten und völlig autarke kreative Köpfe ihre Erstlingswerke präsentieren oder – ungeachtet des Zaumzeuges eines durch Marketingzwecke eingeschränkten Studios – Nischiges und höchst Sonderbares, Groteskes und Fürchterliches auf das interessierte Fanpublikum loslassen. Eines dieser Highlights auf der Reise in unmögliche und inspirierende Welten ist Else, ein Endzeitdrama der so gut wie gar nicht herkömmlichen Art, wobei sehr wohl erwähnt werden muss, dass der Umstand eines unkontrollierbaren Virus zumindest etwas ist, was der Film vielleicht mit anderen dieser Art gemeinsam haben könnte. Diese Seuche oder was immer das ist scheint zumindest höchst ansteckend, und aus diesem Grund lässt ein Lockdown ein junges Liebespaar in ihren vier Wänden verweilen – genauer gesagt sucht die quirlige Cassandra ihre Partybekanntschaft Anx auf, ein eher introvertierter Einzelgänger, der sich in der Wohnung seiner an Krebs verstorbenen Mutter verbarrikadiert hat. Beide biegen die Tage mehr recht als schlecht hin, doch dass sich bei dieser Katastrophe die Gefahr im Draußen bannen lässt, ist eine Illusion. Und das ist das Ungewöhnliche und regelrecht Absurde und kaum Vorstellbare in Else: irgendetwas auf diesem unserem Planeten bringt Materie dazu, miteinander zu verschmelzen. Dazu zählt der menschliche Körper, und je länger dieser mit den Gegenständen um ihn herum in Berührung verharrt, umso mehr gehen diese in den atmenden Organismus über. Der Mensch wird zur Wand, zum Lacken oder zum Tisch. Alles, was greifbar ist, greift ineinander, in mehreren Phasen – diesem Dilemma lässt sich nur entgehen, wenn man stets die Position wechselt. Eine Challenge, die keiner auf Dauer bestehen kann. Und so kommt, wie es kommen muss: Leblose Materie wird zum lebenden Organismus und umgekehrt. Wie Filmemacher und Virtuose Thibault Emin dieses Szenario auf die Leinwand bringt, ist ein immersives, eigenwilliges, doch letztlich atemberaubendes Erlebnis.

Kein anderer Film hat im Rahmen des Festivals meine Neugier so geweckt wie dieser – wie lässt sich ein solcher metamorpher Wahnsinn ohne Millionenbudget und großem Studio im Rücken umsetzen? Zu welchen Mitteln greift Regisseur Emin? Letztes Jahr hatte eine ähnlich gelagerte Endzeitvision seine Premiere – und zwar Animalia. Hier war es nicht tote Materie, sondern die Tierwelt, die ihre Gene mit jenen der Menschen vermischt hat. Herausgekommen sind diverse Hybride, formschön, elegant und mit hohem computertechnischem Aufwand umgesetzt. Effekte, die Wētā oder ILM wohl nicht besser hinbekommen hätten. In Else sind ganz andere Innovationen am Start. Vor allem Bodypainting und Make-up sind eine Sache, die andere findet ihre Umsetzung sehr wohl auch in animierten Bildern. Beides gemeinsam macht die Katastrophe immens greifbar. Doch das ist nicht alles: Während vor der ersten Phase der Verschmelzung die Welt noch in Farbe erscheint, ändert sich dies in Phase Zwei und Drei, Emin filmt nun in Schwarzweiß und lässt dadurch die Begrifflichkeit einer Welt, wie wir sie kennen, noch mehr verschwinden und verschwimmen. Bei Betrachtung der ersten halben Stunde des Films lässt sich niemals ausmalen, was letztlich folgen oder welches Ausmaß dieser Paradigmenwechsel erreichen wird. Den Wandel der Materie in dieses irgendetwas – eben Else – in einen einzigen, großen Organismus aus allem, was sich greifen lässt, beschreibt das surreal-abstrakte Drama wie eine Symphonie – das Bemerkenswerteste ist das dabei Zurückdrängen des kognitiven Bewusstseins, um instinktivem Empfinden Platz zu machen. Letztlich könnte die Wandlung einen Planeten neu gebären, der dem aus Stanislaw Lems Solaris gleicht. Einem komplexen himmelskörpergroßen, kollektiven Bewusstsein.

Diese Was wäre wenn-Idee auch wirklich umgesetzt zu haben, und zwar so, dass sie nicht lächerlich oder bemüht wirkt, sondern aus einem souveränen Selbstbewusstsein und einer Vision heraus entstanden ist, dafür gebührt Thibault Emin größer Respekt. Mit diesem Debüt hat der Franzose etwas Verblüffendes geschaffen, andererseits aber auch etwas, worauf man sich einlassen muss. Ein inspirierendes Werk, neuartig und pioniergeistig.

Else (2024)

Disco Boy (2023)

TANZEN IM RHYTHMUS DES GEGNERS

5,5/10


discoboy© 2023 FILMS GRAND HUIT – DUGONG FILMS – PANACHE PRODUCTIONS ET LA COMPAGNIE


LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN, BELGIEN, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: GIACOMO ABBRUZZESE

CAST: FRANZ ROGOWSKI, MORR N’DIAYE, LAETITIA KY, LEON LUČEV, MATTEO OLIVETTI, ROBERT WIECKIEWICZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Bevor die Vorstellung beginnt, folgender Verweis: Epileptiker seien gewarnt vor starkem Stroboskoplicht während der Ausstrahlung des Films. Tatsächlich sind die Szenen, die dem titelgebenden Disco Boy in Aktion zeigen, äußerst dünn gesät – und die blinkenden Lichter, die das Auge malträtieren, glänzen durch schonende Abwesenheit. Denn Franz Rogowski hat als Weißrusse Aleksej mit Ausdruckstanz vor rhythmisch kreisendem Gefolge herzlich wenig am Hut. Diesen Traum träumt jemand ganz anderer. Beide werden im Laufe der Geschichte aufeinandertreffen, diese Begegnung wird Lebenswelten über den Haufen werfen. Am Ende werden sich die Fremden geborgen fühlen und die Geborgenen fremd, es ist ein assoziatives Spiel mit Träumen, Erscheinungen und Astralreisen. Wenn man es auf US-banalen Fantasyklamauk herunterbrechen würde, wäre der vergleich mit Freaky Friday als Arthouse-Kinoversion für vermeintlich Intellektuelle gar nicht mal so verkehrt.

Mit dem Wechselspiel zwischen den Identitäten haben sich schon wunderbare Filmwerke machen lassen. Disco Boy gehört nicht zwingend dazu. Er nimmt seine Geschichte, obwohl humorbefreit, nicht ganz so ernst, wie er uns, seinem Publikum, weismachen will. Hinter dem Metaphysischen der Existenz liegt die banale Welt eines Zauberspiels, das mit im wahrsten Sinne des Wortes überaus augenscheinlicher Symbolik spielt.

Dieser Aleksej also schafft es über Polen bis nach Frankreich, dort treibt es ihn zuallererst ins Rekrutenbüro der Fremdenlegion. Dort, so sagt der Film, können selbst illegal Eingewanderte ihren Dienst in die gute Sache von Frankreichs Militärmacht stellen. Nach fünf Jahren des Überlebens winkt die französische Staatsbürgerschaft und ein wohlklingend frankophoner Name. Nur bis dahin heisst es ins saftige Gras des Dschungels beißen, wenn es zum Beispiel nach Nigeria geht, um französische Geschäftsmänner aus den Klauen der Rebellengruppe MEND (Movement of the Emancipation of Niger Delta) zu befreien. Aleksej macht seine Sache gut, alles sieht danach aus, als hätten wir es mit feuchtheißer Dschungelaction zu tun, doch der Schein trügt. Auf der anderen Seite steht schließlich Jomo (Korr N’Diae), Anführer der Gruppe und dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky), die schon längst von hier fortwill. Beiden ist eigen, dass sie unterschiedlich gefärbte Augen haben, eines hell, das andere dunkel. Als Aleksej dann im Dickicht des nächtlichen Dschungels auf Jomo trifft, gibt’s für einen von beiden kein Morgen mehr. Was dann passiert, entzieht sich jeglicher Realität, wie so oft in diesem vom Geisterglauben und dem Transzendentem durchdrungenen Afrika, dass, auch schon wie in Omen, die Tore zu diversen Zwischenwelten offenhält.

Fremde in der Fremde, die in die Fremde gehen. Giaccomo Abbruzzese erzählt in seinem Spielfilmdebüt eine entrückte Fabel mit schönen, aber uninspirierten Bildern. Afrikanischer Kitsch trifft auf Expendables, ein selbstbewusster Stil will sich nicht so recht durcharbeiten durch all das fantastisch-reale Flirren. Es ist ein Effekt, den man ab und an in den Filmen von Werner Herzog entdeckt – sperrige Sequenzen mühen den Zuseher ab, obwohl der Plot per se gar keine Anstrengung erfordert. Prätentiös wäre das richtige Wort, Bescheidenheit in diesem astralen Konflikt entspricht nicht den Sehnsüchten der beiden Männer, um die es hier geht. Die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensentwurf und die Möglichkeit, diesen auch zu praktizieren, treibt die Fremden alle um. Viel mehr weiß Abbruzzese dann nicht mehr zu berichten. Weit vor Mitte des Films wird klar, welche Richtung das metamorphe Schicksal einschlagen wird. Viel Mühe macht sich Disco Boy nicht, im Streben nach einer schmucken Fassade für sein Existenzdrama scheut der Film aber nie zurück. Die Möglichkeit, etwas tiefer in diesen Kosmos einzudringen, wird verweht, als hätte Disco Boy zwei eigene Türsteher, die unsereins nicht einlassen. Gerne hätte ich mehr von Udoka erfahren. Schöner wäre es gewesen, Rogowski und eben jene aparte Gestalt im Gewissenkonflikt aufeinandertreffen zu lassen. Das Simple jedoch obsiegt. Der Look, obgleich unnahbar, sitzt. Erfüllte Sehnsüchte fühlen sich anders an.

Disco Boy (2023)

Omen (2023)

AFRIKA ALS NÄCHSTE DIMENSION

8/10


omen© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, NIEDERLANDE, SÜDAFRIKA, DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO 2023

REGIE / DREHBUCH: BALOJI

CAST: MARC ZINGA, YVES-MARINA GNAHOUA, MARCEL OTETE KABEYA, ELIANE UMUHIRE, LUCIE DEBAY, DENIS MPUNGA U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Erschreckend und wunderschön, verstörend und faszinierend: Der Afrikanische Kontinent, näher an unserem Ursprung dran wie kein anderer Ort, ist das Unterbewusstsein dieser Welt. Ein Ort, an dem nicht nur die Knochen unserer evolutionären Ahnen ausgegraben wurden, sondern auch ein gutes Stück der archaischen Seele des Menschen. Mit freigelegt werden Pforten in metaphysische Reiche, von denen man nicht behaupten kann, dass sie nicht existieren. Trance und Geister, die Wucht der Natur und deren Dunkelheit: Auch der Mensch gehört da dazu, und kaum aus einer Laune heraus hat Joseph Conrad seine Reise in die Finsternis ins Herz Afrikas verlegt, in den Kongo. Als rätselhaftes, wütendes, wildes und kriegerisches Land präsentiert es sich. Vieles ist dort im Argen, vieles lässt sich dort aber bewundern, was es anderswo nicht gibt. Es sind Dinge, die tiefe Erkenntnisse bringen, die einen auf sich selbst zurückwerfen. In diese Raum-Zeit taucht der Film Omen – Im Original Augure – ein, und zwar ganz ohne touristentaugliche Folklore, schmeichelndem Afrika! Afrika!-Kitsch oder beschönigend romantischer Gefälligkeit. Was Omen präsentiert, ist eine Welt nach eigenen, aber strengen Regeln, die den unseren – europäischen – zuwiderlaufen. Diese Diskprepanz erfährt Koffi (Marc Zinga), ehemals aufgewachsen genau dort, wo er nun nach Jahren zurückkehrt, an eigenem Leib. Womöglich alles schon verdrängt, steigen tief verwurzelte Dogmen hoch, die die eigen Sippe betreffen. Da kommt natürlich nicht gut an, wenn Koffi, längst wohnhaft in Belgien, mit seiner weissen Ehefrau aufschlägt, die noch dazu demnächst – man sieht es schon – Zwillinge erwartet. Die Gastfreundschaft lässt zu wünschen übrig, herablassende Verhaltensweisen prägen die erste Begegnung. Bis etwas Unaussprechliches passiert und Koffi ein Sakrileg begeht, das anderswo wirklich nicht der Rede wert gewesen wäre. Koffi ist ohnehin das schwarze Schaf der Familie, dann auch noch das. Einzig Schwester Tshala (Eliane Umuhire) hält zu ihm, während Koffi versucht, seinen verschwundenen Vater zu finden.

Letztes Jahr auf der Viennale präsentiert, ist Omen, geschrieben und inszeniert vom kongolesischen Rapper Baloji, nun endlich auch in den Wiener Kinos zu sehen. Und ist ein Muss für alle, die den Mythen, Riten, den Menschen und der Bedeutung Afrikas seit jeher schon einiges abgewinnen können. Die Afrika so sehen wollen, wie es ist, und, weil sie vielleicht selbst schon dort gewesen sind, nachspüren können, zu welchen Vibes man sich dort bewegt. Baloji teilt seinen Film in mehrere Kapitel, immer wieder stehen andere Personen und deren Schicksale im Mittelpunkt, zusammen ergeben sie aber eine wechselwirkende kleine Gemeinschaft, die im Todesfall zueinanderfindet und ihre Beweggründe offenbart. Diese Schicksale taucht Baloji in hypnotische Bilder voller Zauber und bizarrer Bandenwelten, pink qualmendem Rauch und schwarzer Erde. Archaische Masken und irre Kostüme legen die Planken ins Transzendente, über die man wandeln muss, will man sich diesem ambivalenten Drama hingeben.

Es ist berauschend, da einzutauchen. Es ist ernüchternd, zu sehen, wie dominant das Patriarchat, wie gnadenlos die Familie fordert. Der Kongo scheint verloren wie ein Trabant, der ums eigene Weltgeschehen kreist. Doch diese Sphäre ist Teil des ganzen, Omen weiss diese Botschaft zu transportieren. Wer von Oberflächlichkeiten genug hat und bereit ist für einen Trip, der dank seiner Entrücktheit gottlob nicht imstande ist, als bleischweres Drama das Gemüt in die Tiefe zu ziehen, sollte sich auf Omen einlassen. Der Film ist sperrig, fordernd, unnahbar und durchwegs seltsam, aber genau das ist Afrika, genau das erlebt man bei einem Culture Clash wie diesen, in welchem Lebenswelten hinterfragt und wenig Gemeinsames gefunden werden kann. Dieses Bisschen zu entdecken, erweitert aber den Horizont.

Omen (2023)

Personal Shopper (2016)

BRUDER IM GEISTE

7,5/10


personal-shopper© 2017 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN, BELGIEN 2016

REGIE / DREHBUCH: OLIVIER ASSAYAS

CAST: KRISTEN STEWART, LARS EIDINGER, NORA WALDSTÄTTEN, ANDERS DANIELSEN LIE, SIGRID BOUAZIZ, TY OLWIN, HAMMOU GRAÏA, BENJAMIN BIOLAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Dass sie auf ewig, wie manche ihrer Schauspielkolleginnen und -kollegen, auf ihre Glamourrolle der Bella Swann aus den Twilight-Verfilmungen reduziert wird – darüber braucht sich Kristen Stewart keine Sorgen mehr machen. Dank eines wohl vorausschauenden Managements rund um ihre Person und der Bereitschaft, vor allem auch in kleineren, aber äußerst festivaltauglichen Produktionen eine Position einzunehmen, die aufgrund einer intrinsischen Motivation geschieht und nicht, um der erfolgsgefährdenden Imagefalle zu entgehen, ist Stewart längst jemand, der nicht belächelt, sondern künstlerisch ernstgenommen wird. Ihr Höhepunkt – Spencer – hat ihr gar eine Oscarnominierung eingebracht. Und ja – Pablo Larrains freie Interpretation der Gefühlswelt von Lady Di hat nicht zuletzt wegen Stewarts intuitiver und verletzlicher Performance so bahnbrechend gut funktioniert. Der französische Autorenfilmer Olivier Assayas hat längst erkannt, dass Stewart auf eine ganz eigene Art seine Filme veredelt. In Die Wolken von Sils Maria stand sie an der Seite von Grand Dame Juliette Binoche. In Personal Shopper ist sie eine, die für andere shoppen geht, vorzugsweise sündteure Klamotten, und in diesem Fall für die Mode-Ikone Kyra, dargestellt von Nora Waldstätten, die in ihrer eigenen Krimireihe Die Toten vom Bodensee dem Jenseits rund um die Dreiländerlacke auf den Zahn fühlt.

Diese sündteuren Klamotten will Kristen Stewart als Maureen am liebsten für sich selbst einkaufen, das Verlangen, die Identität ihrer allseits bekannten Auftraggeberin zu übernehmen, wird nur noch überlagert von dem Willen, Kontakt mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder aufzunehmen. Doch statt inszenierten Séancen braucht Maureen eigentlich nichts sonst außer die Muße und das richtige schaurige Gemäuer, um mit denen aus dem Jenseits auf Tuchfühlung zu gehen. Maureen ist ein Medium, das weiß auch ihr Bekanntenkreis, und so findet sie sich nächteweise im längst verlassenen Anwesen ihres Bruders wieder, um ihre Fähigkeiten einzusetzen und den Geistern nachzuspüren, die nicht erlöst werden können, da irgendetwas sie im Diesseits behält. Ein quälender Umstand, der Geistern, wie wir wissen, erlaubt, sichtbar zu werden oder deren Präsenz man spürt, obwohl sich anfangs nichts dergleichen, was Angst einjagt, in Assayas Film manifestiert.

Aus der Verlockung, mit dem Unbekannten zu kommunizieren, erwächst bald eine indirekte Bedrohung. Maureen fühlt sich bald verfolgt, sie stellt auch fest, dass nicht ihr Bruder, sondern andere Geister Geschichten zu erzählen haben. Irgendetwas ist hinter ihr her, während sie hinter der völlig abgehobenen Kaya nachräumt und dabei auf deren eifersüchtigen Liebhaber (Lars Eidinger) trifft, der mit Abweisungen gar nicht umgehen kann. Wohin das führt, welche Rolle Maureen in diesem Perpetuum Mobile an Existenzen und Nicht-Existenzen zu spielen hat – um diese Fragen zu beantworten, begibt sich Assayas auf eine Projektionsfläche des existenzialistischen Erzählkinos, das stellenweise gar den Betrachtungsweisen eines Jean-Paul Sartre bedient, der sich in seinen Bühnendramen an der Ausweglosigkeit menschlichen Daseins abgearbeitet hat. Personal Shopper lässt sich inhaltlich schwer festmachen, die Figuren des Films tragen eine unheilvolle Bestimmung, und Kristen Stewart war, abgesehen von Spencer, selten besser.

Dass Geisterfilme oder Werke, die sich mit dem Paranormalen beschäftigen, nicht immer das Horror-Genre bedienen müssen, um das Adrenalin beim Publikum auszuschütten, haben Künstler wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul oder David Lowery mit A Ghost Story, seiner Elegie an den Tod, meisterlich bewiesen. Assayas nimmt der Parapsychologie ebenfalls den Schrecken, nicht aber das Unheimliche. Das Gespenstische wird zur unterschwelligen Manifestation unerfüllbarer Sehnsüchte, in diesem Kontext gefällt das Spiel mit den Identitäten und dem Verlangen umso besser. Stringent ist aber gar nichts an diesem Film, die Lust an der kontemplativen Psychostudie müsste man teilen wollen, sonst könnte Personal Shopper manchesmal etwas substanzlos erscheinen. Doch genauso wenig, wie Assayas Wolken von Sils Maria Dinge erklären und Umstände direkt ansprechen will, genauso wenig ist dieser dem Phantastischen zuordenbare Film einer, der vorhat, Fragen zu beantworten. Im Gegenteil, das 2016 mit dem Regiepreis in Cannes ausgezeichnete Stück Kunstkino setzt am Ende gar noch eine Metaebene drauf. Das ist Mystery vom Feinsten.

Personal Shopper (2016)

Acid (2023)

AM TAG, ALS DER REGEN KAM

6/10


acid© 2023 Plaion Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: JUST PHILIPPOT

DREHBUCH: JUST PHILIPPOT, YACINE BADDAY

CAST: GUILLAUME CANET, LAETITIA DOSCH, PATIENCE MUNCHENBACH, MARIE JUNG, MARTIN VERSET, VALENTIJN DHAENENS, NICOLAS DELYS U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme brauchen wirklich eine kleine Ewigkeit, um nach ihrer Festivalpremiere irgendwo einsehbar zu sein, findet das nun On Demand, auf DVD oder im Programm eines anderen Festivals statt. Der französische Wetterhorror Acid hat sich seit den Filmfestspielen in Cannes letzten Jahres knapp einen Sonnenumlauf lang durch die Untiefen filmischer Verwertungswelten gequält, um letztlich noch einmal einen Termin auf großer Leinwand zu ergattern, in diesem Fall im Rahmen der frühsommerlichen Slash ½ Festspieltage, die schon ordentlich Gusto machen sollten auf das große Rambazamba im kommenden September, wo für zehn Tage wieder mal alles Phantastische, Schräge und Bizarre fröhliche Urstände feiern darf. Acid wird, so ein Verdacht, ohne rechte Auswertung vom Kultursender Arte stiefmütterlich aufgenommen werden und im Nachtprogramm verschwinden – dabei bohrt das Werk in den offenen Wunden eines Klimawahnsinns, der uns Stürme, Dürren, Überschwemmungen und Gletscherschmelzen beschert. Gerade eben versinken Teile Brasiliens und Afghanistans im Regen, in Sumatra brechen Schlammlawinen sämtliche Türen ein. Wie es scheint, steht uns wieder ein bahnbrechend heißer Sommer bevor, in dem man nur schwer atmen kann, wenn man vor die Tür geht. Von so einer Affenhitze ist auch in Acid die Rede, und das Erschreckende dabei: Diese Temperaturen versengen bereits den knackfrischen Frühlingsmonat März. Das ganze Szenario wäre ohnehin schrecklich genug, wäre der im wahrsten Sinne des Wortes heiß ersehnte kühlende Niederschlag nicht einer, der alles vernichtet.

Wir erinnern uns gerne noch an Ridley Scotts Weltraumhorror Alien und den auf dem Raumfrachter Nostromo befindlichen Wüterich, dessen Blut sich als Säure durch die Ebenen des Schiffes frisst. Nimmt man diese toxische Anomalie und potenziert sie auf die Größe eines kontinentalen Wetterphänomens, wird das hierzulande gern verwendete geflügelte Wort „I bin ja nicht aus Zucker“, welches eigentlich den Mut des Kleinbürgers veranschaulichen sollte, völlig schirmlos in den Regen hinauszugehen, nochmal gründlich hinterfragt. Denn in Acid läuft alles Organische und Anorganische plötzlich Gefahr, auf Nullkommanichts zersetzt zu werden, so sauer scheint der bedrohlich dunkelgraue Himmel auf all das zu sein, was darunter um sein Leben rennt. Als wäre das alles ein gebündelter Zorn der Götter, eine letzte biblische Plage, so lässt der Niederschlag nichts und niemanden unberührt. Inmitten dieser landesweiten Katastrophe suchen Guillaume Canet und seine Familie Schutz vor den gefräßigen Zombietropfen, die Mauerwerk zerbröckeln und Karosserien blitzartig erodieren lassen. Es zischt und dampft und zersetzt sich der Boden, die nachvollziehbare Wirksamkeit der tödlichen Säure für all jene, die im geschützten Auditorium im Trockenen sitzen, garantiert Regisseur und Drehbuchautor Just Philippot mit dezent eingesetzter CGI.

Von einem Desastermovie, wie sie Roland Emmerich zum Beispiel mit seinem winterharten The Day After Tomorrow gerne auf die breite Leinwand wuchtet, ist Acid aber weit entfernt. Während Emmerich den unkaputtbaren Glauben an familiären Zusammenhalt und das Überleben der idealisierten Familie hochhält, liegt Philippot nichts daran, seinen Survivalhorror einer geschmeidigen Zuversicht unterzuordnen. Acid gerät zum ernüchternden und weitestgehend recht resignierenden Niederschlags-Nihilismus. Opfer werden gebracht, die, legt man Wert auf unantastbare Gesetzmäßigkeiten, gar nicht passieren dürften. Zumindest nicht so, wie sie Philippot in recht explizierter Schrecklichkeit den verheerenden Unwirtlichkeiten aussetzt. Vielleicht liegt in dieser wenig zimperlichen Radikalität, in welcher Mama, Papa und Tochter ins Trockene hechten, gar so etwas wie die Lust an der bleischweren Überzeichnung. Ob Niederschlag jemals einen derartigen Säuregrad erreichen könnte, um einen ganzen Kontinent wegzuätzen, mag diskussionswürdig sein. Doch wie bei Emmerich, der sich um zeitlich akkurate Abfolgen von Wetterumschwüngen auch nicht recht geschert hat, mag Philippot lieber den völlig unplausiblen Worst Case als gegeben hinnehmen wollen. Denn nur mit überspitzten Darstellungen einer hoffnungslos ruinierten Welt lässt sich die kinoaffine Menschheit vielleicht wachrütteln. Andererseits: Auf diese Weise muss sich Acid die Kritik gefallen lassen, in einer gewissen Monotonie zu schwelgen. Das allein schon das Kolorit des Films stets in ermüdendem regennassen Grau für kraftlose Längen sorgt, wird nur noch bestärkt durch einen wie bei Katastrophenfilmen eben so üblichen dünnen Plot, der nichts anderes im Sinn hat, als seine Protagonisten von Pontius zu Pilatus zu schicken. Wirklich raffiniert wird Acid nie, der Film zeigt lediglich und völlig aus der Luft gegriffen, wie schlimm es werden kann. Lustig ist das nicht, spektakulär eigentlich auch nicht, und nicht mal das Bröckeln ganzer Betonbrücken feiert das Genre eines europäischen Blockbusterkino. Der Kampf ums Überleben geht im deprimierenden Prasseln eines kataklystischen Regens unter, Schlechtwetter sorgt für schlechte Stimmung, der erfrischende Wind, der den Film in eine andere Richtung geblasen hätte, bleibt aus.

Acid ist schwarzseherischer Ökohorror, radikal und ungefällig, was man dem Film zugutehalten kann. Andererseits tritt der Trübsinn auf der Stelle, das Drama bläht sich auf, und zieht der Regen mal weiter, freut sich niemand auf den Sonnenschein, der stets danach folgt.

Acid (2023)