Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

JAMMERN NACH BLUT

6/10


nosferatu© 1979 20th Century Fox


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 1979

REGIE / DREHBUCH: WERNER HERZOG

CAST: KLAUS KINSKI, ISABELLE ADJANI, BRUNO GANZ, ROLAND TOPOR, WALTER LADENGAST, DAN VAN HUSEN, JAN GROTH, CARSTEN BODINUS, MARTJE GROHMANN, RIJK DE GOOYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Er war Werner Herzogs liebster Feind, er war cholerisch, polemisch und unberechenbar: Das Enfant Terrible Klaus Kinski, Gesamtkunstwerk und menschlicher Aktionismus, Fitzcarraldo oder der Zorn Gottes, und letztlich auch die kultigste Grusel-Ikone schlechthin: Nosferatu. Ob er den Untoten mit dem Wahnsinnigen besetzt, ich denke, dafür hat Werner Herzog nicht lange überlegen brauchen. Seine unverwechselbare Gesichtsphysiognomie mit den hervortretenden Augen, diese immer am Rande des Überschnappens befindliche Fistelstimme, mit welcher sehr gerne andere beleidigt wurden – da brauchte es gar nicht mal so viel Zeit in der Maske. Ein kahler Kopf, dunkle Augenringe und die spitzen Schneidezähne, die natürlich an Max Schreck erinnern sollen, an jenen aus Friedrich Wilhelm Murnaus Original aus der Stummfilmzeit, von dem man gerne behauptet, er sei tatsächlich ein Vampir gewesen. Dieses gespenstische Gerücht fand gar seine Manifestation in der Making Of- Mystery Shadow of the Vampire mit John Malkovich und Willem Dafoe als undurchsichtigen Akteur mit dem Hang zu Verhaltensmustern, die nur den blutliebenden Untoten zuzuschreiben gewesen wären.

Vielleicht war Klaus Kinski gar nicht mal wirklich so. Vielleicht fand er einfach nur Gefallen daran, sich selbst als Set-, Party- und Bühnenschreck zu verkaufen, weil ihm diese Allüren so wahnsinnig gut von der Hand gingen. Lange lässt sich so ein abnormes Verhalten gar nicht aufrechterhalten, was das alles für Energie und Mühe kostet, wegen jeder Kleinigkeit so dermaßen in den Saft zu gehen. Als Nosferatu musste er all diese Eskapaden zurückschrauben, denn da war er der immer müde, jammernde, chronisch unglückliche Herr der Finsternis, der aus dem Schatten tritt und dem Seufzen der ewig Lebenden zu neuer Ausdauer verhalf. Als kraftlos Sehnsüchtigen setzt Herzog dem transsilvanischen Fürsten ein farbenfrohes Siebzigerjahre-Denkmal, ohne aber die Ikone neu zu definieren. Das machen sehr viel später andere, darunter Claes Bang als klassisch-diabolischer Dracula, die durch einen dramaturgisch freigeistigen Kniff ins Informationszeitalter katapultiert wird. Bei Herzog war das noch nicht der Fall. Sein Remake orientiert sich doch recht stark an Murnaus ewigen Klassiker, das Expressionistische kommt dabei aber abhanden. Was nun dominiert, ist viel mehr postmoderner Gothic-Grusel, in dem die Gondeln Trauer tragen und die Nächte seltsam erleuchtet sind, als gäbe es keine lichtstarken Kameras. Dieser Retro-Charme hat etwas für sich, auch die herbstkalte Schauerromantik weiß zu überzeugen. Was man aber letztlich kaum für möglich gehalten hätte, ist, dass Klaus Kinski, so sehr in seiner Rolle als bissfester Jammerlappen verfangen, fast schon zur unfreiwilligen Karikatur einer Schreckensgestalt gerät, während die blutjunge Isabelle Adjani wirklich allen in diesem Reigen aus Verlangen, Furcht und Psychose die Show stiehlt – sieht man von Roland Topors geistig völlig zerrütteter Renfield-Interpretation ab, die mit ihrem gespenstisch grotesken Lachen in die Abgründe kosmischen Horrors à la Poe schielt. Doch Adjanis völlig entrückte Wahrnehmung der Welt, ihre den gesellschaftlichen Dogmen des neunzehnten Jahrhunderts unterworfenen Manierismen, ihr langsamer Verfall in die Umnachtung, ausgestattet mit weit aufgerissenen Augen und einem verschreckten Antlitz, das den Stummfilmgrößen ihrer Zeit um nichts nachsteht, sondern ganz im Gegenteil, diese fast vorgestrig erscheinen lässt , verkörpert im Grunde genommen den eigentlichen Schrecken einer dem Metaphysischen ausgelieferten Seele, die wie die weiße Frau in der Megaklaue des King Kong nur noch hilflos wimmern kann und auf die Gunst des Monsters angewiesen ist.

Das Monster, in diesem Fall Kinski, lässt sich von seiner Sehnsucht und dem Selbstmitleid, als untote Kreatur ewig zu leben, so sehr übermannen, dass das Ächzen und Stöhnen letztlich alles ist, was bleibt. Die Optik stimmt, Kinski ist ein Hingucker, und so, wie er die Rolle anlegt, das Zerrbild einer gequälten Seele, die niemals Befriedigung findet. Wäre der Schauspieler nicht so sehr dem in Melancholie ertrinkendem Dandy nachempfunden, hätte sich Nosferatu etwas mehr von seiner geheimnisvollen, unberechenbaren Aura bewahrt, hätte Nosferatu – Phantom der Nacht ein Gothic-Meisterwerk werden können. Herzogs Regie, und den Stil kennt man aus all seinen Dschungel-Abenteuern, verkopft sich gerne in gedankenverlorener Kontemplation, die in der Wiederholung ähnlicher Szenen ihren Ausdruck findet. So ist die Ikonografie des Vampirs und seinem Objekt der Begierde wie ein atmosphärisches Bilderbuch mit verpeilten Längen, ein Seufzen quer über den europäischen Kontinent.

Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

Personal Shopper (2016)

BRUDER IM GEISTE

7,5/10


personal-shopper© 2017 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN, BELGIEN 2016

REGIE / DREHBUCH: OLIVIER ASSAYAS

CAST: KRISTEN STEWART, LARS EIDINGER, NORA WALDSTÄTTEN, ANDERS DANIELSEN LIE, SIGRID BOUAZIZ, TY OLWIN, HAMMOU GRAÏA, BENJAMIN BIOLAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Dass sie auf ewig, wie manche ihrer Schauspielkolleginnen und -kollegen, auf ihre Glamourrolle der Bella Swann aus den Twilight-Verfilmungen reduziert wird – darüber braucht sich Kristen Stewart keine Sorgen mehr machen. Dank eines wohl vorausschauenden Managements rund um ihre Person und der Bereitschaft, vor allem auch in kleineren, aber äußerst festivaltauglichen Produktionen eine Position einzunehmen, die aufgrund einer intrinsischen Motivation geschieht und nicht, um der erfolgsgefährdenden Imagefalle zu entgehen, ist Stewart längst jemand, der nicht belächelt, sondern künstlerisch ernstgenommen wird. Ihr Höhepunkt – Spencer – hat ihr gar eine Oscarnominierung eingebracht. Und ja – Pablo Larrains freie Interpretation der Gefühlswelt von Lady Di hat nicht zuletzt wegen Stewarts intuitiver und verletzlicher Performance so bahnbrechend gut funktioniert. Der französische Autorenfilmer Olivier Assayas hat längst erkannt, dass Stewart auf eine ganz eigene Art seine Filme veredelt. In Die Wolken von Sils Maria stand sie an der Seite von Grand Dame Juliette Binoche. In Personal Shopper ist sie eine, die für andere shoppen geht, vorzugsweise sündteure Klamotten, und in diesem Fall für die Mode-Ikone Kyra, dargestellt von Nora Waldstätten, die in ihrer eigenen Krimireihe Die Toten vom Bodensee dem Jenseits rund um die Dreiländerlacke auf den Zahn fühlt.

Diese sündteuren Klamotten will Kristen Stewart als Maureen am liebsten für sich selbst einkaufen, das Verlangen, die Identität ihrer allseits bekannten Auftraggeberin zu übernehmen, wird nur noch überlagert von dem Willen, Kontakt mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder aufzunehmen. Doch statt inszenierten Séancen braucht Maureen eigentlich nichts sonst außer die Muße und das richtige schaurige Gemäuer, um mit denen aus dem Jenseits auf Tuchfühlung zu gehen. Maureen ist ein Medium, das weiß auch ihr Bekanntenkreis, und so findet sie sich nächteweise im längst verlassenen Anwesen ihres Bruders wieder, um ihre Fähigkeiten einzusetzen und den Geistern nachzuspüren, die nicht erlöst werden können, da irgendetwas sie im Diesseits behält. Ein quälender Umstand, der Geistern, wie wir wissen, erlaubt, sichtbar zu werden oder deren Präsenz man spürt, obwohl sich anfangs nichts dergleichen, was Angst einjagt, in Assayas Film manifestiert.

Aus der Verlockung, mit dem Unbekannten zu kommunizieren, erwächst bald eine indirekte Bedrohung. Maureen fühlt sich bald verfolgt, sie stellt auch fest, dass nicht ihr Bruder, sondern andere Geister Geschichten zu erzählen haben. Irgendetwas ist hinter ihr her, während sie hinter der völlig abgehobenen Kaya nachräumt und dabei auf deren eifersüchtigen Liebhaber (Lars Eidinger) trifft, der mit Abweisungen gar nicht umgehen kann. Wohin das führt, welche Rolle Maureen in diesem Perpetuum Mobile an Existenzen und Nicht-Existenzen zu spielen hat – um diese Fragen zu beantworten, begibt sich Assayas auf eine Projektionsfläche des existenzialistischen Erzählkinos, das stellenweise gar den Betrachtungsweisen eines Jean-Paul Sartre bedient, der sich in seinen Bühnendramen an der Ausweglosigkeit menschlichen Daseins abgearbeitet hat. Personal Shopper lässt sich inhaltlich schwer festmachen, die Figuren des Films tragen eine unheilvolle Bestimmung, und Kristen Stewart war, abgesehen von Spencer, selten besser.

Dass Geisterfilme oder Werke, die sich mit dem Paranormalen beschäftigen, nicht immer das Horror-Genre bedienen müssen, um das Adrenalin beim Publikum auszuschütten, haben Künstler wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul oder David Lowery mit A Ghost Story, seiner Elegie an den Tod, meisterlich bewiesen. Assayas nimmt der Parapsychologie ebenfalls den Schrecken, nicht aber das Unheimliche. Das Gespenstische wird zur unterschwelligen Manifestation unerfüllbarer Sehnsüchte, in diesem Kontext gefällt das Spiel mit den Identitäten und dem Verlangen umso besser. Stringent ist aber gar nichts an diesem Film, die Lust an der kontemplativen Psychostudie müsste man teilen wollen, sonst könnte Personal Shopper manchesmal etwas substanzlos erscheinen. Doch genauso wenig, wie Assayas Wolken von Sils Maria Dinge erklären und Umstände direkt ansprechen will, genauso wenig ist dieser dem Phantastischen zuordenbare Film einer, der vorhat, Fragen zu beantworten. Im Gegenteil, das 2016 mit dem Regiepreis in Cannes ausgezeichnete Stück Kunstkino setzt am Ende gar noch eine Metaebene drauf. Das ist Mystery vom Feinsten.

Personal Shopper (2016)

Stars at Noon (2022)

NACKT IN NICARAGUA

5/10


starsatnoon© 2022 Ad Vitam Distribution


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: CLAIRE DENIS

DREHBUCH: CLAIRE DENIS, ANDREW LITVACK, LÉA MYSIUS

CAST: MARGARET QUALLEY, JOE ALWYN, DANNY RAMIREZ, BENNY SAFDIE, JOHN C. REILLY, NICK ROMANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Reden wir nicht über Politik. Reden wir über die Liebe. Oder die Leidenschaft. Die Sexuelle Begierde, die in zerknüllten feuchten Laken und dampfenden Körpern – mein Gott, ist das schwülstig formuliert – ihren Ausdruck findet. Doch ob schwülstig hin oder her: in letzter Zeit ist mir kein anderer Film untergekommen, der die Definition von romantischem Abenteuer so sehr in eine Groschenroman-Ästhetik verpackt wie Stars at Noon. Die französische, sich quer durch alle Genres durchkostende Vielfilmerin Claire Denis hat sich eines Romans aus den Achtzigern angenommen, der in den Wirren des Nicaragua-Krieges spielt und sehr viel mit CIA, waghalsigem Journalismus und zwielichtigen Nutznießern aus der Wirtschaft zu tun hat. Alles Faktoren, die großes internationales Kino versprechen, so episch, als wären Catherine Hepburn und Spencer Tracy oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart traumwandelnde Gestalten inmitten politischer Umbrüche und derlei gesellschaftlicher Spannungen, die damit einhergehen.

Traumwandlerisch ist wohl das Adjektiv, das am besten zu Stars at Noon passt. Ins Zentrum setzt Claire Denis Margaret Qualley, die Tochter Andie McDowells und seit Tarantinos Once Upon a Time… in Hollywood einem breiteren Publikum wohlbekannt. Sie gibt eine amerikanische Journalistin, die unangenehme Fragen gestellt und einen Artikel veröffentlicht hat, den allerlei mächtige Leute als bedenklich einstufen. Das hat zur Folge, dass die junge, durchaus promiskuitive Dame ohne Geld und ohne Pass in Nicaragua festsitzt und darauf hofft, durch Sex in die Gunst mancher Männer zu gelangen, die Beziehungen haben. Nicht selten lässt sie sich dafür auszahlen, darunter auch von Geschäftsmann Daniel (Joe Alwyn), der den Reizen der zugegeben hocherotischen Trish naturgemäß erliegt. Dieser Geschäftsmann aber hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, und zwar mit jenen der costa-ricanischen Polizei und natürlich auch mit der CIA, und allesamt sind sie hinter ihm her, während Trish, immer noch darauf aus, ihre Papiere zurückzuerlangen, Daniel zur romantischen Zweisamkeit nötigt, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Letztendlich beschließen sie, sich gemeinsam Richtung Costa Rica abzusetzen. Auch ohne Pass und Geld.

Was an Stars at Noon am meisten fasziniert, ist das Gesicht von Margaret Qualley. Claire Denis kann sich daran nicht sattsehen. Wenn das liebreizende Konterfei nicht reicht, gibt’s Qualley auch im Evakostüm vor dem Fenster, vor dem Spiegel, auf dem Bett oder im Badezimmer. Es ist, als hätte Richard Hamilton lediglich seinen Weichzeichner vergessen, doch die eingefangene, schweißtreibende Schwüle tut ihr Übriges, um Konturen aufzuweichen. Stars at Noon ist schön anzusehen, keine Frage. Diese stellt sich aber umso mehr, betrachtet man den offensichtlichen Anachronismus des Films. Denis liegt weder daran, eine komplexe politische Geschichte zu erzählen noch daran, all die Umstände, die Trish und Daniel dorthin gebracht haben, wo sie sind, näher zu erläutern. Nicht mal die Zeit scheint von Bedeutung, Referenzstücke, um ein bestimmtes Jahrzehnt zu eruieren, fehlen gänzlich. Also vermischt sie Versatzstücke der modernen Gegenwart wie Smartphones und Chipkarten mit den politischen Unruhen der Reagan-Ära. Indizien, die nicht zusammenpassen.

Überhaupt nutzt Stars at Noon seinen fadenscheinigen Plot lediglich als abstrahiertes Konstrukt, als simplifizierte Verzerrung eines relevanten Politikums. Wie ein hohles Gefäß, in das Claire Denis ihre Zeit totschlagende Romanze bettet, eine Art Kulisse ohne Tiefe, eine austauschbare Variable für Thrillerdramen aller Art. In diesem kafkaesken Mysterium stört Margaret Qualley rein gar nichts, ihr breites Lächeln entschädigt für vieles, jedoch nicht für das langweilige Spiel von Joe Alwyn, zwischen beiden sprüht kein Funke. All die übrigen Figuren sind Staffage rund um Qualleys einnehmender Entrücktheit, der man die Rolle der investigativen Journalistin keine Sekunde abnimmt. Wer sind sie dann, diese beiden? Kolportierte Antihelden einer Stil-Hommage an den amerikanischen Film Noir, deren Plots manchmal so undurchschaubar waren, dass man sich am liebsten gar nicht damit auseinandersetzen, sondern nur mit den schmachtenden Momenten der Liebenden Vorlieb nehmen wollte. Diese Diffusion gelingt Claire Denis dann doch. Ob schwülstige Tropennächte das Soll erfüllen? Wie bei so vielen anderen Filmen bleiben bei diesem hier ohnehin nur Fragmente in Erinnerung. Es sollen die richtigen sein.

Stars at Noon (2022)

Acid (2023)

AM TAG, ALS DER REGEN KAM

6/10


acid© 2023 Plaion Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: JUST PHILIPPOT

DREHBUCH: JUST PHILIPPOT, YACINE BADDAY

CAST: GUILLAUME CANET, LAETITIA DOSCH, PATIENCE MUNCHENBACH, MARIE JUNG, MARTIN VERSET, VALENTIJN DHAENENS, NICOLAS DELYS U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme brauchen wirklich eine kleine Ewigkeit, um nach ihrer Festivalpremiere irgendwo einsehbar zu sein, findet das nun On Demand, auf DVD oder im Programm eines anderen Festivals statt. Der französische Wetterhorror Acid hat sich seit den Filmfestspielen in Cannes letzten Jahres knapp einen Sonnenumlauf lang durch die Untiefen filmischer Verwertungswelten gequält, um letztlich noch einmal einen Termin auf großer Leinwand zu ergattern, in diesem Fall im Rahmen der frühsommerlichen Slash ½ Festspieltage, die schon ordentlich Gusto machen sollten auf das große Rambazamba im kommenden September, wo für zehn Tage wieder mal alles Phantastische, Schräge und Bizarre fröhliche Urstände feiern darf. Acid wird, so ein Verdacht, ohne rechte Auswertung vom Kultursender Arte stiefmütterlich aufgenommen werden und im Nachtprogramm verschwinden – dabei bohrt das Werk in den offenen Wunden eines Klimawahnsinns, der uns Stürme, Dürren, Überschwemmungen und Gletscherschmelzen beschert. Gerade eben versinken Teile Brasiliens und Afghanistans im Regen, in Sumatra brechen Schlammlawinen sämtliche Türen ein. Wie es scheint, steht uns wieder ein bahnbrechend heißer Sommer bevor, in dem man nur schwer atmen kann, wenn man vor die Tür geht. Von so einer Affenhitze ist auch in Acid die Rede, und das Erschreckende dabei: Diese Temperaturen versengen bereits den knackfrischen Frühlingsmonat März. Das ganze Szenario wäre ohnehin schrecklich genug, wäre der im wahrsten Sinne des Wortes heiß ersehnte kühlende Niederschlag nicht einer, der alles vernichtet.

Wir erinnern uns gerne noch an Ridley Scotts Weltraumhorror Alien und den auf dem Raumfrachter Nostromo befindlichen Wüterich, dessen Blut sich als Säure durch die Ebenen des Schiffes frisst. Nimmt man diese toxische Anomalie und potenziert sie auf die Größe eines kontinentalen Wetterphänomens, wird das hierzulande gern verwendete geflügelte Wort „I bin ja nicht aus Zucker“, welches eigentlich den Mut des Kleinbürgers veranschaulichen sollte, völlig schirmlos in den Regen hinauszugehen, nochmal gründlich hinterfragt. Denn in Acid läuft alles Organische und Anorganische plötzlich Gefahr, auf Nullkommanichts zersetzt zu werden, so sauer scheint der bedrohlich dunkelgraue Himmel auf all das zu sein, was darunter um sein Leben rennt. Als wäre das alles ein gebündelter Zorn der Götter, eine letzte biblische Plage, so lässt der Niederschlag nichts und niemanden unberührt. Inmitten dieser landesweiten Katastrophe suchen Guillaume Canet und seine Familie Schutz vor den gefräßigen Zombietropfen, die Mauerwerk zerbröckeln und Karosserien blitzartig erodieren lassen. Es zischt und dampft und zersetzt sich der Boden, die nachvollziehbare Wirksamkeit der tödlichen Säure für all jene, die im geschützten Auditorium im Trockenen sitzen, garantiert Regisseur und Drehbuchautor Just Philippot mit dezent eingesetzter CGI.

Von einem Desastermovie, wie sie Roland Emmerich zum Beispiel mit seinem winterharten The Day After Tomorrow gerne auf die breite Leinwand wuchtet, ist Acid aber weit entfernt. Während Emmerich den unkaputtbaren Glauben an familiären Zusammenhalt und das Überleben der idealisierten Familie hochhält, liegt Philippot nichts daran, seinen Survivalhorror einer geschmeidigen Zuversicht unterzuordnen. Acid gerät zum ernüchternden und weitestgehend recht resignierenden Niederschlags-Nihilismus. Opfer werden gebracht, die, legt man Wert auf unantastbare Gesetzmäßigkeiten, gar nicht passieren dürften. Zumindest nicht so, wie sie Philippot in recht explizierter Schrecklichkeit den verheerenden Unwirtlichkeiten aussetzt. Vielleicht liegt in dieser wenig zimperlichen Radikalität, in welcher Mama, Papa und Tochter ins Trockene hechten, gar so etwas wie die Lust an der bleischweren Überzeichnung. Ob Niederschlag jemals einen derartigen Säuregrad erreichen könnte, um einen ganzen Kontinent wegzuätzen, mag diskussionswürdig sein. Doch wie bei Emmerich, der sich um zeitlich akkurate Abfolgen von Wetterumschwüngen auch nicht recht geschert hat, mag Philippot lieber den völlig unplausiblen Worst Case als gegeben hinnehmen wollen. Denn nur mit überspitzten Darstellungen einer hoffnungslos ruinierten Welt lässt sich die kinoaffine Menschheit vielleicht wachrütteln. Andererseits: Auf diese Weise muss sich Acid die Kritik gefallen lassen, in einer gewissen Monotonie zu schwelgen. Das allein schon das Kolorit des Films stets in ermüdendem regennassen Grau für kraftlose Längen sorgt, wird nur noch bestärkt durch einen wie bei Katastrophenfilmen eben so üblichen dünnen Plot, der nichts anderes im Sinn hat, als seine Protagonisten von Pontius zu Pilatus zu schicken. Wirklich raffiniert wird Acid nie, der Film zeigt lediglich und völlig aus der Luft gegriffen, wie schlimm es werden kann. Lustig ist das nicht, spektakulär eigentlich auch nicht, und nicht mal das Bröckeln ganzer Betonbrücken feiert das Genre eines europäischen Blockbusterkino. Der Kampf ums Überleben geht im deprimierenden Prasseln eines kataklystischen Regens unter, Schlechtwetter sorgt für schlechte Stimmung, der erfrischende Wind, der den Film in eine andere Richtung geblasen hätte, bleibt aus.

Acid ist schwarzseherischer Ökohorror, radikal und ungefällig, was man dem Film zugutehalten kann. Andererseits tritt der Trübsinn auf der Stelle, das Drama bläht sich auf, und zieht der Regen mal weiter, freut sich niemand auf den Sonnenschein, der stets danach folgt.

Acid (2023)

Yannick (2023)

KUNSTGENUSS ALS GEISEL-WORKSHOP

6,5/10


Yannick© 2023 MUBI


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: QUENTIN DUPIEUX

CAST: RAPHAËL QUENARD, PIO MARMAÏ, BLANCHE GARDIN, SÉBASTIEN CHASSAGNE, FÉLIX BOSSUET U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Es kann der Frömmste nicht in Frieden den Theaterabend genießen, wenn’s dem Nörgler aus der zehnten Reihe nicht gefällt. Was also tun, wenn sich so mancher Soziopath, der sich unters Publikum gemischt hat, dazu erdreistet, allen anderen im Saal die eigene Auffassung von gutem Geschmack aufzuzwingen? Oder, anders – und etwas kulturphilosophischer formuliert: Befindet sich das zahlende Publikum eines Bühnenabends denn eigentlich in Geiselhaft des Stücks und seiner darstellenden Künstler? Sieht sich dieses vielleicht nicht doch dazu gezwungen, einen ganzen Abend, der schlimmstenfalls nicht mal gefällt, einfach abzusitzen, denn sonst verlöre es ja den Wert dessen, was gegen Bezahlung aufgewogen wurde? Es braucht schon ein gewisses autorevolutionäres Durchsetzungsvermögen, dem eigenen inneren Schweinehund, der andauernd der Meinung ist, dass nichts umsonst sein darf, Paroli zu bieten und während der Vorstellung das Auditorium um die eigene Wenigkeit zu erleichtern. Richtig radikal wird’s dann, wenn das nicht heimlich passiert. Und zu absurdem Theater wird’s dann, wenn Surrealist Quentin Dupieux, die dem großen Salvador Dali verwandte Seele, einen völlig verpeilten Klugscheißer namens Yannick aus seinem Sitz erheben lässt, um allen durch die Parade zu fahren. Denn an diesem gerade mal etwas über eine Stunde laufenden Abend gibt man in einem kleinen Pariser Stadttheater den klassisch-frivol-witzigen Content einer Boulevardkomödie, die sich natürlich um Liebeleien, Liebschaften und Beziehungen dreht. Es ist ein verbales Hickhack, vollgepackt mit leidlich treffsicherem Humor, doch im Wesentlichen Routine. Diese an der Laune Yannicks nagende Langeweile findet sein Ventil darin, den Fortgang eines womöglich lauen Bühnenevents gründlich zu stören. Und da steht er nun, mitten am Parkett und schwadroniert über seine Sicht der Dinge, über seine Meinung, die plötzlich die gewichtigste der ganzen Welt ist, während ihn das Schauspieltrio nur verdutzt anblickt. Als es dann zumindest gelingt, den Störenfried aus dem Saal zu treiben, ist das erst der Anfang. Yannick wird zurückkehren, doch diesmal bewaffnet.

Als Abschlussfilm der letztjährigen Viennale ist Dupieux‘ geradezu harmlose Fingerübung der ideale Digestiv nach allerlei anspruchsvollen Happen. Nicht hochprozentig, die Verdauung anregend, doch im Vergleich zu anderen Filmen, die Dupieux im Alleingang vom Stapel lässt, so einlullend wie ein flauschiges Kissen. Yannick macht keinerlei Anstalten, die erschaffene Realität seiner Geschichte zu stören, wie einst in seinem surrealen Polizeifilm Die Wache. Ernüchternd konstant bleibt die boulevardeske Geiselkomödie dramaturgischen Konventionen treu, und einzig die bizarre Situation, die allerlei Fragen zu Kunst- und Kulturakzeptanz aufwirft, nähert sich eher zaghaft der wilden Experimentierfreudigkeit des Franzosen, der bereits killende Autoreifen und Lederjacken auf die Menschheit losgelassen hat. Yannick ist da trotz Herumfuchtelns mit einer Waffe keine Nemesis, allerdings aber eine im Kosmos des Theaters mächtige Instanz, die die Freiheit der Kunst der eigenen Gefälligkeit opfert. Übertragen lässt sich dieses Spiel mit Zensur, Gehorsam und willkürlichem Regelterror auch auf eine gesellschaftspolitische Ebene. Die Freiheit der Kunst kann nur mittragen, wer ganz gut damit leben kann, dass diese auch nicht gefällt. Sie deshalb abzuschaffen oder gar umzuändern, wird zur Diktatur des Volkes. Doch was heisst des Volkes: Des einzelnen, denn nur ein einzelner, nämlich Yannick, hat einen Abend lang die Macht, alles zu verändern. Da ist es egal, wie intellektuell, dumm oder sonst wie er auch sein mag. Es ist die Überschätzung der eigenen Wichtigkeit.

Am Wortwitz, der Liebe zum Absurden Theater eines Eugene Ionesco und an den straff gesetzten Dialogen lässt Quentin Dupieux nichts zu wünschen übrig. Seine Freude daran, Chaos zu stiften und aus der überschwappenden Anarchie auf viel zu selten hinterfragte Theaterdogmen erwächst ein ganz eigenes Bühnenexperiment, dem man mit einer ähnlich verstört-belustigten Vorsicht folgt, als wäre man selbst einer der Zuschauer, und wüsste nicht, ob, das, was da abgeht, nicht Teil des Stückes selbst ist. Mit diesen Dimensionen legt sich Dupieux aber nicht an. Vielleicht hat er das schon zu oft getan, um nochmal darauf zurückzugreifen. Viel lieber ist ihm diesmal die Extremsituation eines verheerenden Ex temporae, hervorgerufen durch den Ungehorsam eines Einzelnen.

Ist es also unerhört, die eigene Meinung zu sagen? Ganz richtig – vor allem dann, wenn sie keiner hören will. Yannick dient dabei als kurze, knappe, fix auf einer Metaebene befindliche Aufforderung, die wahre Not der eigenen Befindlichkeit zu reflektieren. Wo gelingt das besser als dort, wo subjektive Wahrnehmung alles ist.

Yannick (2023)

Maria Montessori (2023)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

6/10


montessori© 2024 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: LA NOUVELLE FEMME

LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: LÉA TODOROV

CAST: JASMINE TRINCA, LEÏLA BEKHTI, RAFFAELLE SONNEVILLE-CABY, RAFFAELE ESPOSITO, LAURA BORELLI, NANCY HUSTON, AGATHE BONITZER, SÉBASTIEN POUDEROUX U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Die Frau von morgen, angelehnt an den Originaltitel, wäre wohl treffender gewesen für einen Film, der die Mutter der modernen Pädagogik in den Mittelpunkt stellt. Stattdessen nennt der deutschsprachige Verleih das Kind gleich beim Namen: Maria Montessori. Ihren Leitsatz kennen gefühlt wohl alle Elternteile dieser Welt: Hilf mir, es selbst zu tun. In diesem Zitat steckt schon der ganze Mechanismus, das ganze Herzstück einer Methode des ehrgeizigen Selbsterlernens. Sie wird zum Abenteuer Entwicklung, bestehend aus kleinen Erfolgserlebnissen, die sehr viel mit kognitiver Wahrnehmung und sensorischer Integrationsfähigkeit zu tun haben. Mit Maria Montessori gehen aber auch jene Assoziationen einher, die mit einer gewissen militanten Missionspädagogik zu tun haben – mit einer Richtung, die alles Profane oder gar Kommerzielle vehement ausschließt und deren Verfechter wie Jesusjünger ein Dogma vertreten, das in seinem Purismus einer spaßbefreiten Konfession dient, die sich für besser hält als all die anderen, die ihren Kindern Barbie, Lego oder Transformers-Figuren schenken.

In Wahrheit aber ist dieser pädagogische Extremismus, der eine ganze Ideenwelt in Mitleidenschaft zieht, nur eine am Rande auftretende Unannehmlichkeit. Maria Montessori hat mit ihrer Sicht auf das formbare und entwicklungsdurstige Kind ganze Arbeit geleistet. In Léa Todorovs Film steht aber nicht ihr Werdegang vom Kindbett bis zur Beisetzung im Mittelpunkt, sondern, und das ist bei Filmbiographien immer ein willkommenes System, um Langeweile und der ausufernden Monotonie eines wahrheitsgetreuen Nachrufs zu entgehen, jener Wendepunkt in Maria Montessoris Leben, der wohl entscheidend dafür gewesen sein mag, dass sich der Name der italienischen Ärztin in aller Welt als beliebte erzieherische Richtung etablieren wird.

Zu tun hat dieser Entschluss, sich endgültig dem System Familie zu entsagen und ins lehrkundige Gefecht zu stürzen, mit Montessoris eigenem Filius, einem kleinen Jungen namens Mario. Der hat das Pech, nicht die Frucht einer beschlossenen Ehe zu sein, was damals, um die Jahrhundertwende, wohl bedeutet hat, zum „Baby non grata“ zu werden. Weder kann Montessori (Jasmine Trinca, Das Zimmer meines Sohnes) ihr Kind zu sich nehmen, weil die Eltern es verbieten, noch kann sich der leibliche Vater Guiseppe Montesano mit dem Knaben in der Gesellschaft blicken lassen. Eine Last, die Montessori mit sich herumschleppen muss. Doch es ist nicht sie allein, die mit dem Nachwuchs so ihre auferlegten Probleme hat. Zur selben Zeit lagert Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), eine französische Varietekünstlerin, ihre eigene bislang verschmähte, weil geistig beeinträchtigte Tochter Tina in Montessoris Bildungseinrichtung aus, mit der Hoffnung, sie endgültig loszuwerden. So stehen sich zwei Frauen gegenüber – die eine, die ihr Kind gerne bei sich haben möchte, es aber nicht kann. Die andere, die ihr Kind bei sich haben könnte, es aber nicht will. Im Laufe der Handlung kommen sich beide näher, ihre Schicksale verbinden sich, Prioritäten und Prinzipien werden hinterfragt und über Bord geworfen. Die Stellung der Frau im sozialen Gefüge ist dabei nicht nur ein gern miteinbezogenes Attribut, sondern verdrängt gar die vom Publikum erwarteten Auseinandersetzungen mit der pädagogischen Materie.

Léa Todorov schafft hier ein durchaus kompaktes, auf wahren Begebenheiten beruhendes, geschmackvolles Melodram mit vor allem beeindruckenden Leistungen der hier gecasteten und offensichtlich tatsächlich gehandicapten jungen Menschen, die mit einem Selbstverständnis und einer Natürlichkeit einen Film bereichern, der sehr dazu neigt, sich einer erzählerischen Historienromantik hinzugeben. Diese dem Medium des Volkskinos geschuldete Vereinfachung von Moral und Integrität und dem ethischen Willen, das richtige zu tun, mag die tatsächlichen Ereignisse idealisieren. Wir wissen längst: Wissenschaft und Privatleben mögen sich gerne ausschließen, denn was tun Koryphäen nicht alles dafür, ihr geistiges Gut zu hegen und zu pflegen. Opfer werden auch in Maria Montessori gebracht, doch der Beweggrund schmeichelt.

Aufschlussreich und kompakt inszeniert ist das französisch-italienische Geschichtsdrama aber auf alle Fälle. Und auch wenn hier die gewisse Zündung fehlt, diese Lust an der kritischen Betrachtung, bleibt doch eine gewisse Atmosphäre zurück, die auf gefälligem und oft konventionellem Wege ein Gefühl dafür vermittelt, wie es gewesen sein könnte, als sich die Pädagogik und mit ihr einhergehend die Stellung der Frau neu definiert hat. Montessori war so gesehen Avantgarde. Der Film selbst ist es nicht.

Maria Montessori (2023)

Lohn der Angst (2024)

LASTERHAFTE WÜSTENSAFARI

1,5/10


lohnderangst2© 2024 Netflix Inc.


ORIGINALTITEL: LE SALAIRE DE LA PEUR

LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: JULIEN LECLERCQ

DREHBUCH: HAMID HLIOUA, NACH DEN SKRIPT VON GEORGES ANAUD

CAST: FRANCK GASTAMBIDE, ALBAN LENOIR, ANA GIRARDOT, SOFIANE ZERMANI, BAKARY DIOMBERA, ASTRID WHETTNALL, ALKA MATEWA, SARAH AFCHAIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Lohn der Angst könnte man angesichts dieser filmischen Arbeit auch ganz anders interpretieren: Lohnt es sich denn, trotz Furcht vor einer bereits in den ersten Filmminuten auf Verdacht prognostizierten Niete weiter dranzubleiben? Ähnliches denke ich mir, als Julien Leclercqs Verwurstung eines fast schon selbstfahrenden Action-Plots, weil so absurd und radikal, über den Flachbildschirm flimmert. Zu sehen sind knochenharte Französinnen und Franzosen, die Nerven wie Stahlseile besitzen und, verfolgt von hasserfüllten Abziehbild-Terroristen, wie man sie in Wüstengegenden Nordafrikas oder dem Nahen Osten eben anzutreffen glaubt, um ihr Leben brettern, das ihnen selbst wohl wenig wert zu sein scheint, da sie so tun, als wären sie Dolph Lundgren, Jean-Claude van Damme oder Arnold Schwarzenegger. Als wären sie Sly Stallone mit seiner Entourage an Söldnern aus der Expendables-Reihe, die nichts zu fürchten brauchen, außer, dass ihnen vielleicht der Himmel auf den Kopf fallen könnte, wären sie denn gläubig.

Wie mit Charakteren mitfiebern, die selbst nicht fiebern, und dass trotz eines ihnen auferlegten Himmelfahrtskommandos? Mal sehen, was aus ihnen wird, im Laufe der Handlung. B-Film-Schauspieler Franck Gastambide gibt einen Möchtegern-Jason Statham, dem, so wird behauptet, viel daran liegt, die Familie seines Bruders und auch den Bruder selbst in Sicherheit zu bringen. Letzterer, Sprengstoffexperte außer Dienst, sitzt wegen der Geldgier des anderen im Knast. Für einen Spezialauftrag winkt dem zum Handkuss gekommenen Bruder völlige Straffreiheit plus das nötige Kleingeld, um woanders neu anzufangen. Natürlich, als stoische harte Socken, wie sie alle sind, und die nichts und niemand mehr erschüttern kann, machen alle mit. Auch Ana Girardot (nicht verwandt mit Annie Girardot) als die Verkörperung weiblicher Härte mit Lust auf Entspannungssex ohne Bedeutung, die gleich zu Beginn des Films mal zeigt, wie der Hase rammelt, ist mit von der Partie. Sie müssen – das wissen wir aus Henri Clouzots Klassiker und William Friedkins Remake aus den Siebzigern – kiloweise Nitroglyzerin über unwegsames Gelände rund 800 Kilometer an ihren Zielort bringen, um eine brennende Ölquelle zum Versiegen zu bringen, die, würde sie weiter lodern, ein ganzes von Flüchtlingen besiedeltes Areal in den Untergang reißen wird. Sie haben dafür zwanzig Stunden Zeit, und die bösen Terroristen sitzen ihnen im Nacken, die gleichzeitig auch die Exekutive eines x-beliebigen Klischee-Militärstaates verkörpern.

Als ob die Eindämmung der Katastrophe nicht auch im Interesse der Schurken wäre, doch solcherlei zu hinterfragen, davor hütet sich Leclercq genauso wie vor dem menschlichen Drama, welches der eigentliche Katalysator, der feurige Antrieb für einen Actionthriller wie diesen sein sollte. Lohn der Angst führt sich selbst ad absurdum, weil es all die Laufzeit lang darauf verzichtet, seine Helden Angst empfinden zu lassen. Abgesehen davon, dass das schauspielerische Engagement gerade mal für einen soliden B-Movie-Reißer reicht, dessen Macher nur wollen, dass innerhalb des prognostizierten Zeitfensters alles im Kasten ist, was im Kasten sein muss, um keine Unkosten zu haben, ist das Trio viel zu abgebrüht und hartgesotten, um auch nur eine Sekunde lang nicht imstande zu sein, diese hochexplosiven Flüssigkeiten auch im Knight Rider-Boost völlig problemlos an ihren Zielort zu bringen. Die Steine, die Leclercq ihnen in den Weg streut, sind lediglich Kieselsteine, die vielleicht im Schuh drücken – mehr nicht. Wie wenig man die Spannungsschraube anziehen, wie lustlos die Fahrt über holpriges Gelände gestaltet werden kann, auf welchem es nicht mal eine Hängebrücke gibt, die in Friedkins Version ein szenisches Highlight darstellt, zeigt dieser Fehlversuch einer Neuinterpretierung, deren Gefahrenguttransport sich so packend gestaltet, als wäre man auf einer frisch asphaltierten Autobahn unterwegs, und nur die statistische Wahrscheinlichkeit eines Auffahrunfalls verursacht die notwendigen Schweißperlen auf der Stirn.

Lohn der Angst (2024)

Die Gewerkschafterin (2022)

AUS MANGEL AN BEWEISEN

4,5/10


gewerkschafterin© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: JEAN-PAUL SALOMÉ

DREHBUCH: FADETTE DROUARD, JEAN-PAUL SALOMÉ

CAST: ISABELLE HUPPERT, GRÉGORY GADEBOIS, YVAN ATTAL, FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON, PIERRE DELADONCHAMPS, ALEXANDRA MARIA LARA, GILLES COHEN, MARINA FOÏS U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Arbeitnehmer auf der ganzen Welt, vereinigt euch! Im Schulterschluss antretend, könnten jene, die schon längst nicht mehr glauben, sich Arbeitgebern als bezahlte Sklaven unterwerfen zu müssen, als wären ihre Verdienste lediglich Almosen, die aus der ach so gütigen Chefetage herabregnen, ganze Konzerne zu Fall bringen. Denn was sind diese schon, bleibt das Werkel nicht am Laufen? Gar nichts. Wo nicht gearbeitet wird, wird auch nichts produziert. Wer nichts produziert, schaut bald durch die Finger. Um zumindest pro Betrieb die Interessen und die Würde der Arbeitnehmer zu gewährleisten, gibt es Gewerkschaften. Und dort wiederum gewissenhafte Vorreiterinnen und Vorreiter, die die Fahne hissen und als Vertretung der anschaffenden Entourage recht unverblümt das Wilde runterräumen.

Die in Frankreich lebende Maureen Kearney, dargestellt von einer erblondeten und irritierend jugendlichen Isabelle Huppert, ist so jemand. Sie zeigt keinerlei Furcht vor der Obrigkeit, crasht schon mal gerne manches Meeting und steckt ihre Nase dort hinein, wo diese eigentlich nichts zu suchen hat. So zumindest sieht das der Atomenergie-Konzern Areva, der im Geheimen Absprachen mit den Chinesen hält, die drauf und dran sind, zumindest zur Hälfte erstmal Frankreichs und dann Europas Nukleartechnik zu kapern. Was das für die Belegschaft bedeutet? Gar nichts Gutes. Um die 50.000 Jobs sind in Gefahr, und so will Maureen den skandalösen Deal an die große Glocke hängen. Was denen ganz oben überhaupt nicht gefällt. Und diese dann zu mafiösen Mitteln greifen, um die Gewerkschafterin einzuschüchtern und zu diskreditieren.

Wie machtlos man einem Giganten wie Areva gegenüberstehen kann, lässt sich anhand dieses im Grunde erschütternden Tatsachendramas eigentlich nur erahnen. Ähnliches hat schon Whistleblower Russel Crowe in Michael Manns The Insider, in dem das Tschick-Imperium zurückschlägt und unrechtmäßige Faxen macht, an eigenem Leib erfahren müssen. In Jean-Pierre Salomés Streifen ist man geradezu versucht, wieder etwas mehr an Weltverschwörungen zu glauben. Doch trotzdem Die Gewerkschafterin ordentlich Stoff bereithält, der mehrere Ebenen abdeckt und tief in die Privatsphäre der von Isabelle Huppert dargestellten Kämpfernatur eindringt – so richtig zu überzeugen oder gar zu fesseln weiß der Film nicht. Das hat unterschiedliche Gründe.

Zum einen Isabelle Huppert. Ihr schauspielerischer Pragmatismus oder anders formuliert: ihr sich selbst genügendes Statusbewusstsein als Grande Dame ist kaum zu überbieten. Was zur Folge hat, dass sie zwar an ihrem Engagement teilnimmt, doch zeitweise so teilnahmslos agiert, als gäbe sie Schauspielunterricht. Weder zeigt sie den Umständen entsprechende emotionale Regungen, noch packt sie der Eifer in der Darstellung einer hochkomplexen, schwierig zu interpretierenden Figur, die noch dazu ein reales Vorbild hat. Eine gewisse Kühle geht von ihr aus, eine Unnahbarkeit, die man so nicht erwartet hätte, und an der sich auch Filmgatte Grégory Gadebois die Zähne ausbeißt, so wie überhaupt alle in diesem Film, die nicht an die Rekonstruktion der Tatsachen, die Hupperts Filmfigur zu Protokoll gibt, glauben möchten. Dabei tut sich die zweite Ursache auf, die die ganze Zeit über deutlich auf der Hand liegt und die nur aufgrund wenig engagierter Ermittlungen als Beweisargument durch den Rost der Plausibilität fallen konnte.

Zwischen Jodie Fosters Darstellung in Angeklagt – wobei die Klaviatur der Regungen, die Foster damals von sich gab, bei Huppert kaum zu finden ist – und Paul Verhoevens ambivalentem Rape-Thriller Elle schleppt sich ein recht zähes Kriminaldrama durch einen ungeordneten, leicht devastierten Wulst an schlampig formulierten Ermittlungsakten und unschlüssiger Verdächtigungen. Wie wenig Jean-Paul Salomé, der schon in Eine Frau mit berauschenden Talenten Huppert nur in mäßiger Brillanz auf distinguierte Breaking Bad-Spuren schickte, den ganzen brandheissen Stoff in den Griff bekommt, merkt man an etlichen dramaturgischen Hängern, die in scheinbar redundanten Dialogen die Geduld strapazieren. Ob nun Wirtschaftsdrama, Home Invasion-Thriller oder Justizfilm: Die Gewerkschafterin hat von allem etwas, doch nichts davon ist richtig überzeugend.

Die Gewerkschafterin (2022)

Colonos (2023)

LEICHEN PFLASTERN IHREN WEG

6,5/10


colonos© 2023 MUBI


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, CHILE, DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, SCHWEDEN, TAIWAN, GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE: FELIPE GÁLVEZ HABERLE

DREHBUCH: FELIPE GÁLVEZ HABERLE, ANTONIA GIRARDI

CAST: CAMILO ARANCIBIA, MARK STANLEY, BENJAMIN WESTFALL, SAM SPRUELL, MISHELL GUAÑA, ALFREDO CASTRO, MARCELO ALONSO, LUIS MACHIN, MARIANO LLINÁS, AUGUSTÍN RITTANO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Selbst in den entlegensten Winkeln am Ende der Welt, oder eben gerade dort, wo sonst keiner hinkommt, regiert gut und gerne das, was Homo sapiens zu einem fürchterlichen Monster werden lässt. An diesen entlegensten Winkeln regiert in selbem Zug genau das nicht, was den Menschen menschlich bleiben lässt: Kontrolle. Am südlichsten Zipfel Südamerikas, in einer unwirtlichen, windumtosten, braungrünen Wildnis aus Nässe, Düsternis und büscheligem Gras, ist der Indigene Mensch genauso viel wert wie auch überall sonst wo auf der Welt: nämlich gar nichts. Eine gewisse Arbeitstauglichkeit lässt Gnade vor Unrecht ergehen. Nutzen sie nicht mal dazu, oder stören gar den Frieden der Schafherden, die der Großgrundbesitzer José Menéndez (ja, den gab es wirklich) in gewisser Weise über ganz Feuerland weiden lässt, geht‘s ans große ethnische Reinemachen. Um das Gebiet bis an die Atlantikküste zu sichern, beauftragt der König von Patagonien, wie er genannt wird, einen ausrangierten Leutnant der britischen Armee, verstört durch den Krieg, gewalttätig, grausam, böse. Allein reitet das „rote Schwein“, wie man ihn später nennen wird, allerdings nicht los – im Schlepptau hat er einen Texas-Ranger, der die Eingeborenen mehrere Kilometer gegen den Wind riechen kann. Und das Halbblut Segundo, der das Glück hat, dem Großgrundbesitzer als tauglich zu erscheinen und darüber hinaus ganz gut schießen kann. Ihr Ritt zieht eine Schneise der Verwüstung durchs Land, Unschuldige müssen dran glauben. Kinder werden getötet, Frauen vergewaltigt. Misstrauen befällt das Trio, Segundo muss die Gräuel an seinen Landsleuten mitansehen, wehrt sich gegen dieses Übermaß an Verbrechen, sinnt nach Rache, bleibt jedoch ohnmächtig angesichts dieser Aggression, die von den Weißen ausgeht. Dem Wahnsinn nicht genug, soll es noch schlimmer kommen.

Und als Zuseher fragt man sich natürlich das eine oder andere Mal: Warum in aller Welt suche ich Zerstreuung nicht lieber in einem weniger belastenden Film, in einer Komödie oder abgehobener Fantasy? Andererseits: Filme wie diese bedienen mehrere Genres. Sie sind lebendige Geschichte, sie tragen den Mythos des knochentrockenen, beinharten Italowesterns mit sich herum, sie erzählen ein Abenteuer, dass seinen Reiz dadurch ausspielt, den unberechenbaren Schrecken einer Terra incognita zu entfesseln – und den Menschen darzustellen als einer, der destruktive Weltbilder erschafft. Colonos, zu deutsch Die Siedler, wäre Stoff für Werner Herzog gewesen. Würde Klaus Kinski noch leben, er wäre prädestiniert dafür.

Ähnlich wortkarg und grimmig trottet der raue Thriller durch die abweisende Landschaft. Über den Hügeln finstere Wolken, kalte Luft, karges Feuer. Gehässiger und finsterer als all die Weisen blicken nur noch die Indigenen, die nichts haben, womit sie sich wehren können, außer ihren Stolz und ihre Zähigkeit, das Schlimmste zu überleben. Colonos von Felipe Gálvez Haberle ist harter Stoff, gibt sich in einer Art Agonie einem eiskalten Kolonial-Nihilismus hin, dem man so zuletzt in Lars Kraumes Vermessenen Mensch gesehen hat. Wo dort aber der Genozid an die Herero und Nama als pittoreskes Bilderbuch ein vertrautes Vokabular bedient, wird die grausame Behandlung der Ona zu einem erbarmungslosen Albtraum, der an die finsteren Illustrationen Goyas erinnert, angereichert mit dampfendem Naturalismus und defätistischer Hoffnungslosigkeit. Colonos besticht zwar durch seine visuelle Pracht, durch seine unmittelbare Wahrnehmung der Gegend, behält aber durch seine verschlossenen, abweisenden Figuren die nötige Distanz und schafft zu keiner Zeit irgendeine Identifikation. Neben dieser Ablehnung, dieser Furcht vor der Begegnung, dieser immerwährende Bedrohung lässt sich obendrein noch ein stampfender, theatralischer Score erlauschen, der, komponiert von Harry Allouche, so klingt, als wäre er von Morricone, was dem Szenario noch einmal mehr die Aura eines lebens- und weltverneinenden Grunge-Westerns verleiht. Schließlich muss man eine Reise wie jene, die in Colonos angetreten wird, erfahren – und aushalten wollen. Die rare Thematik wäre ein Grund dafür, den Blick zu riskieren. Für jene, die nicht wegsehen wollen, was die Geschichte alles angerichtet hat, bietet Haberles Regiedebüt einen zynischen Rückblick im Stile unheilbringender Abenteuergeschichten.

Colonos (2023)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)