The Good Nurse

TOD VOM TROPF

7,5/10


thegoodnurse© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: TOBIAS LINDHOLM

CAST: JESSICA CHASTAIN, EDDIE REDMAYNE, NOAH EMMERICH, NNAMDI ASOMUGHA, KIM DICKENS, MALIK YOBA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Bis heute weiß niemand, warum er das getan hat: Charles Cullen, der gefährlichste Serienmörder New Jerseys, so sagt man. Derzeit sitzt dieser mehrere Haftstrafen ab und wird wohl erst so gegen 2400 vielleicht auf Bewährung freikommen, vorausgesetzt, er würde da noch leben. Am Ende von Tobias Lindholms Verfilmung der Tatsachen erfahren wir, dass Cullen 29 Morde zugegeben hat, die Dunkelziffer aber womöglich bei 400 (!) liegen muss. Wenn man random mordet wie dieser Mann, dann haben die Opfer keinerlei Bedeutung. Beim Töten legt Cullen nicht mal selbst Hand an, eine gute Vorbereitung scheint alles. Und sonst? Sonst ist der zuvorkommende und hilfsbereite Pfleger nicht nur ein hervorragender Arbeitskollege im Nachtdienst von Schwester Amy Loughran (Jessica Chastain), sondern mittlerweile auch ein guter Freund geworden. Einer, der Amy dabei unterstützt, die letzten Monate ihrer Arbeit so hinzubiegen, dass sie nicht unbedingt einem Herzinfarkt erliegt, denn Krankenstand kann sich die Mutter zweier Kinder mangels Versicherung keinen leisten. Und so ist Amy überglücklich, Charlie an ihrer Seite zu haben – bis sich seltsame Todesfälle einstellen, die nicht hätten sein sollen. Charlie betrachtet diese Umstände pragmatisch, ein Profi eben, wie es scheint. Bald aber klopft die örtliche Polizei an und beginnt zu ermitteln. In den Weg stellt sich allerdings die Interessensvertretung des Krankenhauses. Dieses will schließlich nicht seinen guten Ruf verlieren. Amy aber riskiert ihren Job, als sie beginnt, selbst der Sache auf den Grund zu gehen.

Krankenhäuser von innen sehen: etwas, dass es aus meiner Sicht zu vermeiden gilt. Niemand ist dort freiwillig stationiert. Dort zu arbeiten: kein Ding für mich. Umso bewundernswerter finde ich Menschen, die instande sind, sich diesem sozialen, psychischen wie physischen Druck auszusetzen. Und dann noch so etwas: Morde auf der Intensivstation. Der Däne Tobias Lindholm (A War, Drehbuch für Der Rausch) wirft mit The Good Nurse, basierend auf dem Sachbuch von Charles Graeber, einen nüchternen, ins Kunstlicht der Spitalsflure getauchten Blick auf die Mechanismen der Spitalslobby und den unbegreiflichen Umstand einer über mehrere Bundesstaaten überschwappenden Vertuschungswelle. Erschreckend ist dabei natürlich auch Charles Cullen als Täter ohne Motiv, aber fast so erschreckend ist ebenso das Schweigen der Krankenanstalten, die in ihrem Drang, sich selbst reinzuwaschen, einem Mörder Tür und Tor in jedes Haus gewährten. The Good Nurse ist weniger Emergency Room oder Greys Anatomy – diese abenteuerliche Romantisierung einer Challenge aus Hektik und kurioser Unfälle bleibt hier gottseidank aus. Lindholm richtet seinen Fokus auf die Dynamik zwischen Chastain und Eddie Redmayne, die zwischen Misstrauen und Vertrauen eine elektrisierende Ambivalenz erzeugen. Redmayne aber macht aus einem düsteren, fast schon klinischen Kriminaldrama, das sich vom Feelgood-Movie mit großen Schritten wegbewegt, eine schauspielerische Sternstunde seines Schaffens. Hier helfen ihm keine unverwechselbaren, persönlichen Merkmale wie Stephen Hawking oder Einar Wegener in The Danish Girl welche hatten. Hier probiert sich der Zoologe aus dem Potterverse an einer Figur, die wenig Anknüpfungspunkte aufweist und zu wenig beredt wirkt, um notwendigenEcken und Kanten zu entdecken, damit sie greifbar wird. Redmayne gelingt es aber trotzdem, hier anzusetzen. In langen, wortlosen Blicken oder aggressiver Panik modelliert der Oscarpreisträger das authentische Psychogramm eines stillen Totmachers, der gerade durch sein rätselhaftes und verstocktes Verhalten die Graubereiche eines gestörten Menschen gerade so auslotet, um ihn nicht als etwas plakativ Böses über den Kamm zu scheren.

Durch Redmaynes Performance und Chastains souveränem Spiel erweckt The Good Nurse die nötige Faszination für einen Film, der in pietätvoller Sachlichkeit und in einem ausgewogenen Mix aus Unruhe und Resignation mit einem Skandal wie diesen das Gesundheitssystem hinterfragt.

The Good Nurse

Decision to Leave

DAS HERZ, EINE MÖRDERGRUBE

7,5/10


decisiontoleave© 2022 Bac Films


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

REGIE: PARK CHAN-WOOK

BUCH: PARK CHAN-WOOK, JEONG SEO-KYEONG

CAST: PARK HAE-IL, TANG WEI, LEE JUNG-HYUN, GO KYUNG-PYO, PARK YONG-WOO, JUNG YI-SEO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Die Rache-Trilogie des südkoreanischen Regie-Visionärs Park Chan-Wook möchte ich allen Filmfreundinnen und Freunden ans Herz legen – wenn diese sowieso nicht schon als selbstverständliches Must-See auf der Watchlist stehen oder gestanden haben. Lady Vengeance, Sympathy for Mr. Vengeance und natürlich Oldboy: Großes Kino ohne Mainstream-Kompromisse, selbstbewusst bis in den letzten Spot und nicht darauf angewiesen, um jeden Preis gefallen zu müssen. Park Chan-Wooks Filme halten eben dadurch, dass sie ihrem Konzept so sehr treu bleiben, Ablehnung jedweder Art sehr gut aus. Man muss manch verstörenden Stilbruch, manch Gewalteruption oder groteskes Intermezzo nicht unbedingt verstehen, man wird aber nicht umhinkommen, die virtuose Regieführung des Meisters zu bemerken. Seine Filme sind gehaltvoll und komplex, das ist nichts für zwischendurch. Und manchmal auch ein Schlag in die Magengrube. Wer aber dennoch mit Park Chan-Wook vertraut werden und das koreanische Kino abseits kommerzieller Berechenbarkeit erfahren will, sollte mit Decision to Leave beginnen, seinem neuesten Werk, das eben bei den Filmfestspielen der Viennale läuft. Hier lässt sich ein moderater Einstieg in die vertrackte Gedankenwelt eines Künstlers finden, der mit mächtigen menschlichen Gefühlswelten hart ins Gericht geht, ist es nun Rache oder Liebe.

Die Liebe hält bei Decision to Leave auf Umwegen Einzug, dabei fällt das heikle Wort so gut wie kaum, und auch das leidenschaftliche Empfinden einer Zuneigung findet nur im Ermitteln eines Mordfalls seine Legitimität. Denn Detektiv Hae-joon muss Song Seo, die Witwe eines beim Klettern verunglückten älteren Koreaners einvernehmen, die ob des Verlustes ihres Ehemannes nicht so wirklich Tränen vergießt, gerne mal im Verhörraum die edelsten Sushis des Viertels verdrückt und Hae-joon sowieso schöne Augen macht. Unter Mordverdacht steht die Dame nicht wirklich, doch ihre Rolle in diesem mysteriösen Fall bleibt lange im Dunkeln. Während dieser Zeit des Investigierens kommen sich die beiden näher, auf romantische Weise, doch kommt es nie zu Intimitäten. Als der Fall geklärt scheint, endet diese Art der Zweisamkeit abrupt. Doch nicht für lange.

Der Plot klingt jetzt nicht nach einem umwerfend komplexen Filmdrama. Eine Kriminalromanze eben. Oder doch mehr? Natürlich. Es wäre nicht Park Chan-Wook, würde er das Konzept des Film Noir nicht auf eine Weise wiederbeleben und in erweiterter Form neu interpretieren. Ich denke da an die frühen Dashiell Hammett– oder Raymond Chandler-Krimis mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. Ausgetüftelte Werke, die mit voller Konzentration gesichtet werden sollten, denn wenn auch nur einer der vielen ins Spiel gebrachten Namen nicht im Gedächtnis bleiben, stürzt das ganze filigrane Krimi-Konstrukt in sich zusammen. Aufpassen und mitdenken muss man auch bei Decision to Leave. Und hier gestaltet sich die Erarbeitung des Films noch schwieriger, denn asiatische Gesichter scheinen uns ohnehin ähnlicher als die unsrigen, und bei koreanischen Namen klingt der eine wie der andere. Hat man diese Hürde überwunden und all die Namen und Personen erscheinen vertraut, eröffnet sich ein neues Fenster mit Ausblick auf ein sehnsuchtsvolles Kriminaldrama, auf Landschaften und Meeresküsten Südkoreas, wo die Brandung tost oder der Schnee leise zwischen den Föhren fällt. Park Chan-Wooks Film widmet sich stark wie selten zuvor seinem Land und seinen Leuten, blickt in die Ferne und in eine stets offene Mördergrube namens Herz. Dort folgt eine radikale Entscheidung der anderen, und wir wissen, dass Chan-Wooks Filme keine Kompromisse eingehen. Auch hier nicht – auch in Decision to Leave ist die letzte Konsequenz eine radikale und entsteht aus dem verrückten Entschluss, sich lebenslang an die große Liebe zu binden. Die letzte Entscheidung wird zu einem künstlerischen Akt, einer Art Manifest. Bis dahin weiß das manchmal gar urkomische, locker dahinerzählte und dann wieder getragene Filmpuzzle all seine vielen Details so zu ordnen, dass sich am Ende ein schillerndes, großes Ganzes ergibt. Einen eingefleischten, satten Film Noir, der die volle Aufmerksamkeit verdient.

Decision to Leave

Was geschah mit Bus 670?

PAKT MIT DEM TEUFEL

7,5/10


bus670© 2020 Bodega Films


LAND / JAHR: MEXIKO, SPANIEN 2020

BUCH / REGIE: FERNANDA VALADEZ

CAST: MERCEDES HERNÁNDEZ, JUAN JESÚS VARELA, DAVID ILLESCAS, ANA LAURA RODRIGUEZ, ARMANDO GARCÍA, LAURA ELENA IBARRA, XICOTÉNCATL ULLOA U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Das Kino Lateinamerikas ist immer wieder bemerkenswert. Neben den verrückten Ideen und Konzepten aus Südkorea findet sich auch von Chile bis Mexiko allerhand Ungewöhnliches, wie zum Beispiel die Festivalfilme Tragic Jungle, Nobody Knows I’m Here oder der Sozialthriller 7 Gefangene (alle drei im Sortiment von Netflix). Ebenfalls nachhaltig in Erinnerung ob seiner ungewöhnlichen Erzählweise und der Konvertierung eines zutiefst tragischen Themas in eine fast schon poetisch anmutende Ballade bleibt das Kriminaldrama Was geschah mit Bus 607?. Das Filmplakat dazu mag irritieren, vielleicht gar etwas ganz anderes versprechen als es letztendlich der Fall ist: Zu sehen ist vom Rückspiegel eines Autos und so unscharf wie das Found Footage Foto einer paranormalen Beobachtung der Teufel, der sich über seine Opfer hermacht, im Hintergrund lodert das Feuer. Ist der Film von Fernanda Valadez also ein okkulter Horrorfilm? Okkult vielleicht nicht, aber Horror würde ich nicht ganz ausschließen. Denn was mag Horror eigentlich bedeuten? Kann der Horror nicht auch in der inhumanen Anarchie eines Krieges zu finden sein? Oder in der Gesetzlosigkeit mancher Weltgegenden, wo Banden das Sagen haben und jeder noch so brave Bürger, der sich so unauffällig wie nur möglich verhält, um jeden Tag seines Lebens bangen muss? So zu leben ist Horror genug, und es ist weder eine Erfindung noch braucht man hierfür ein dystopisches Szenario vom Stapel zu lassen wie in The Road oder Mad Max. Diese Gegenden gibt’s wirklich, und die liegen nah an der US-amerikanischen Grenze, im Norden Mexikos. Gesetzloses Niemandsland, regiert von schwer bewaffneten Banden und unmöglich zu verwalten. Durch diese Todeszone müssen aber all jene, die ihren Mut aufgebracht haben, um über die Grenze in die USA zu gelangen, um eben dort der Willkür finsterer Kartelle zu entgehen, die mit Drogen und Menschenhandel Geld scheffeln.

Wie der deutsche Titel bereits verrät (im Original nennt sich Valadez‘ Streifen Sin señas particulares, was so viel bedeutet wie „keine besonderen Anzeichen“), wird Bus 670 auf der Fahrt an die Grenze sehr bald vermisst. In diesem Bus saß Jesús, gemeinsam mit seinem Freund Rigo – beide gerade mal Teenager im ersten Drittel, das ganze Leben noch vor sich. Zu Beginn des Films verabschiedet sich ersterer von seiner Mutter, die Hoffnung auf ein besseres Leben stirbt zuletzt. Und da fällt sie auch schon in Agonie, die Zuversicht, doch Mutter Magdalena sucht weiter, man findet lediglich die Leiche des Freundes Rigo, von Jesús fehlt jede Spur. Auf ihrer gefährlichen Suche trifft die verzweifelte Frau auf andere Schicksale – auf einen abgeschobenen jungen Mann, der jahrelang schon in den USA gelebt hat. Und eine Mutter, die den bestätigten Tod ihres Sohnes nach Jahren ohne Lebenszeichen nicht wahrhaben will.

Was geschah mit Bus 670? ist ein metaphysisches, zwischen Wachen und Träumen, Erinnerungen und gerade Erlebtem wechselndes Stück Endzeitkino in einer längst nicht zu Ende gehenden Welt. Es ist bevölkert mit Geistern und verdammten Seelen, Klageliedern und ausweglosen Schicksalen. Mercedes Hernández als beharrlich nachforschende Mutter ist selbst wie ein Geist; wie ein verletzbares, barfüßiges Kind in einer Wildnis, bevölkert von Dämonen. Valadez findet mit ihrer Kamerafrau Claudia Becerril Bulos erstaunlich unorthodoxe Bilder – einerseits ruhend, fast statisch, sich in den Erinnerungen wiederholend. Ein bisschen wie Sergio Leone. Und dann der virtuose Kniff, die überlieferte Tragödie der Busfahrt als eine im Bokeh-Stil gefilmte, dem Übernatürlichen zugeordnete Mär zu illustrieren, die den Beelzebub wüten lässt. Unschärfen werden hier zum Schleier des Selbstschutzes, der die Gräuel nicht von dieser Welt sein lassen will.

Der am Sundance Festival 2020 erstmals gezeigte Film mag nicht die erste Wahl für unterhaltsame Stunden sein – doch sollte er auf der Watchlist ganz oben stehen, wenn es heißt, mit neuen Sichtweisen und innovativen Ideen das Kino – und vor allem das Weltkino – aus seiner Routine zu holen. Mit einem in sich stimmigen Twist sorgt Was geschah mit Bus 670? am Ende noch für ein Durcheinander an Empfindungen, wechselnd zwischen Verblüffung und untröstlicher Melancholie.

Was geschah mit Bus 670?

Die Stockholm Story – Geliebte Geisel

AUCH GEISELNEHMER HABEN WAS NETTES

4,5/10


stockholmstory© 2019 Koch Films


LAND / JAHR: USA, KANADA 2018

BUCH / REGIE: ROBERT BUDREAU

CAST: NOOMI RAPACE, ETHAN HAWKE, MARK STRONG, CHRISTOPHER HEYERDAHL, BEA SANTOS, THORBJØRN HARR U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Woher kommt eigentlich der Begriff Stockholm-Syndrom? Was er ausdrücken soll, scheint allseits bekannt: Geiseln solidarisieren sich mit den Geiselnehmern, verstehen plötzlich deren Beweggründe und bieten sich sogar an, zu helfen. Mitunter entsteht sogar so etwas wie eine richtige emotionale Bindung. Ganz klar, was da abgeht, und warum das menschliche Verhalten da verrückt spielt, trotz und gerade wegen dieser enormen Stresssituation, welche die Angst über Leib und Leben in einen Zustand transformiert, der die Bedrohung so erträglich wie möglich macht. Mit anderen Worten: Ich mache meinen Feind zum Freund.

Dieses Phänomen wurde – wie kann es anders sein – erstmals in Stockholm bemerkt, und zwar im Sommer des Jahres 1973 während einer Geiselnahme in der Schwedischen Kreditbank am Norrmalmstorg. Der Verbrecher Jan Erik Olsson wollte dabei die Freilassung eines im Gefängnis sitzenden Komplizen erzwingen – inklusive allem, was zu einer damit einhergehenden Flucht sonst noch dazugehören darf. In seiner Gewalt: vier Geiseln, und zwar über hundertdreißig Stunden lang. Ein Medienereignis sondergleichen muss das gewesen sein, zumindest stellt Regisseur Robert Budreau die damaligen Ereignisse entsprechend dar.

Zum Cast seines Films zählt die in besagter Branche momentan nicht gerade auf der faulen Haut liegende Noomi Rapace – neu frisiert, auffallend bebrillt und gleichsam widerspenstig wie devot. Aber wen wundert das schon, wenn man in die Mündung einer Waffe blickt. Die gehört Ethan Hawke mit Schnauzer und wirrer Mähne unterm Cowboyhut. Überhaupt glaubt Ethan Hawkes Figur des Jan Erik Ollson, das ihm die Welt gehört und nichts und niemand ihn aufhalten kann. Aus den Augenwinkeln könnte man fast meinen, Frank Zappa dabei zu beobachten, wie er auf die schiefe Bahn gerät. Dabei lässt sich Ethan Hawke in der Auffassung seiner Figur zu unfreiwillig komischen Einlagen hinreissen. Mit Absicht? Keine Ahnung, doch wenn ja, nimmt der Filmstar mit seinem überzogenen Spiel all die Ereignisse von damals zu sehr auf die leichte Schulter. Rapace versucht die Schräglage erst gar nicht auszugleichen – auch sie probiert’s routiniert, mit bewährten Manierismen: entsetzten Blicken, denen sympathisierender Kooperationswille folgt.

Der verhaltenspsychologische Faktor bleibt außen vor. Der Wandel von Furcht zur Solidarisierung geht recht seifig vonstatten, da findet sich keine Szene, die bereit dazu wäre, den Richtungswechsel im Täter-Opfer-Konstrukt glaubhaft zu navigieren. In Erinnerung bleibt ein aufbrausender Hampelmann Hawke in einem wenig ehrgeizigen Geiseldrama, das es nicht schafft, die beiden Stars hinter ihren Rollen zu verbergen. Somit weicht die Authentizität, die das ganze Setting rundherum und das Siebzigerkolorit unterstützend bringen sollten, einer achselzuckenden Gleichgültigkeit, die dem Phänomen innerhalb radikaler Machtverhältnisse weder ernsthaftes Interesse zollt noch die Möglichkeit einräumt, den Zuschauer damit aus psychologischer Sicht zu verblüffen.

Die Stockholm Story – Geliebte Geisel

Das Fenster zum Hof

DIE WIEGE DER SUSPENSE

9/10


fensterzumhof© 1954 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 1954

REGIE: ALFRED HITCHCOCK

BUCH: JOHN MICHAEL HAYES

CAST: JAMES STEWART, GRACE KELLY, THELMA RITTER, WENDELL COREY, RAYMOND BURR, JUDITH EVELYN U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Alfred Hitchcock wäre stockbesoffen, würde er jedes Mal, wenn ein Film wieder mal Anleihen an seinen Klassiker nimmt, ein Schnapsglas leeren. Wie würde die Welt des Kinos aussehen, hätte es Das Fenster zum Hof, oder, im Original: Rear Window, nie gegeben? Deutlich ärmer, würde ich meinen. Zumindest ein Genre müsste sich mühsam dazu aufraffen, das Spannungsrad neu zu erfinden, während in diesem Universum der feiste Onkel mit dem Doppelkinn und dem Hang zum Cameo-Auftritt seinen Regie-Erben bereits jede Menge Perlen vor die Füße geworfen hat. Die Filmwelt dankt und ereifert sich dabei bis heute, psychisch labile oder viel zu neugierige Normalbürgerinnen und -bürger aus regennassen Fenstern blicken und Dinge beobachten zu lassen, die sie nicht sehen dürften. Denn zu viel Neugier verträgt sich nicht mit der Gesundheit, und wer überdies zu lange in den Abgrund stiert…. alles klar.

Dabei ist dieser James Stewart, der am Fenster sitzt und den ihm zu Füßen liegenden Hof als seine dauerlaufende Flimmerkiste betrachten mag, in keiner Weise psychisch labil. Der Hollywood-Gutmensch ist sogar ziemlich aufgeräumt und selbstbewusst, obwohl er im Rollstuhl sitzt und den ganzen Tag lang nicht viel anderes tun kann als durch das Objektiv seiner Kamera zu blicken und auf den Besuch seiner Geliebten Grace Kelly zu warten. Jawoll – Grace Kelly wirkt hier mit, die leider viel zu früh verstorbene und auch viel zu früh von den Leinwänden verschwundene Schönheit, von der Hitchcock sowieso allnächtlich geträumt haben muss. Das war so ein Faible mit diesen seinen „Blondinen“, über die der König der Suspense nur allzu gerne seinen Zepter erhoben hat.

Auf diese „Blondinen“ war aber Verlass. Egal ob Die Vögel, Vertigo oder Bei Anruf Mord: stets waren sie das ringende Zentrum oder ergiebiger Nebenpart, der den mitunter bedrohlichen Geschichten ausreichend Glamour verliehen hat. In Das Fenster zum Hof sind aber weder Grace Kelly noch James Stewart die Motivatoren einer beängstigenden Story, sondern die vielen kleinen Kniffe eines Professionisten, der weiß, auf welche Art und Weise sich das Kino im Kopf des Zusehers fortsetzen kann.

Die Präsentation des Offensichtlichen ist zumindest gegenwärtig und bei Produktionen, die im Box Office brillieren müssen, gang und gäbe. Das Publikum bekommt kredenzt, ohne sich weiter anstrengen zu müssen. Bei Suspense ist das anders: da gibt es kleine Pusher, visuelle Spitzen, raffinierte Reduktion. Der Zuseher ist voll dabei – weiß nur so viel wie James Stewart, rätselt herum – und fühlt ein dem kalten Schauer verwandtes Unbehagen, wenn in der dunklen Wohnung gegenüber ganz plötzlich ein knisternder, feuerroter Punkt erglüht. Das Anzünden einer Zigarette in der absoluten Finsternis, von welcher man ausgegangen ist, niemanden darin zu vermuten, feiert einen ganzen Film und seine Perfektion. Der einzige Blick nach draußen ist natürlich jener in den Hof und auf das Treiben der Parteien gegenüber, deren Leben bis ins kleinste Detail arrangiert sind – aber auch ein schmaler Streifen belebte Avenue, auf welcher sich abspielt, was Hitchcock will, das gesehen wird, in sekundenlangen Fluktuationen nur, aber maßgeblich für die Handlung. Wenn dann, gegen Ende, bedrohliche Schritte durchs Stiegenhaus schlurfen, würde James Stewart – und wir mit ihm – viel lieber aus dem Fenster springen, als sich einer diffusen Bedrohung auszusetzen, die sich sekündlich zuspitzt, und nur allein aufgrund eines akkuraten Sound-Designs stärker wirkt als all die CGI-Effekte eines ganzen Blockbusters.

Wer Das Fenster zum Hof noch nicht gesehen hat – unbedingt nachholen! In diesem Meisterwerk liegen all die lehrreichen Essenzen für einen vollkommenen Film.

Das Fenster zum Hof

Der Anruf

AGENTEN BEIM WEIN

6/10


deranruf© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JANUS METZ

SCRIPT: OLEN STEINHAUER, NACH SEINEM ROMAN

CAST: CHRIS PINE, THANDIWE NEWTON, LAURENCE FISHBURNE, JONATHAN PRYCE, ORLI SHUKA, COREY JOHNSON, DAVID DAWSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Wenn Chris Pine als Agent Henry Pelham aus dem Fenster seiner Wohnung blickt, dann sieht man die klassizistischen Kuppeln der Wiener Hauptmuseen – wenn man ganz genau schaut, sogar die Minoritenkirche. Da haben die Macher dieses Streifens in Städtekunde aufgepasst, was aber nun auch keinen Eintrag ins Klassenbuch lukriert, denn sonst bleibt die Kapitale Österreichs hinter generischen Gassen und Fassaden gut verborgen. Die Gloriette ist übrigens auch nicht mehr das, was sie mal war. Aber das schert die wenigsten. Mir als Wiener fällt sowas natürlich auf, wie damals schon, bei James Bond: Der Hauch des Todes, als Timothy Dalton im Cellokasten die slowakischen Alpen runterbrettert und sich vor den Toren Wiens einbremst. Das Marchfeld liegt anderswo.

Aber genug der fremdenführerischen Spitzfindigkeiten. Es geht schließlich um Superstar Chris Pine – vormals Captain Kirk und die große Liebe von Wonder Woman – und um Thandiwe Newton, Mission Impossible- und Star Wars-geeicht. Die beiden sind also auf alles vorbereitet und haben vieles gemeinsam durchgemacht – also zumindest in diesem Film, der den prickelnden deutschen Namen Der Anruf trägt, wobei: den Originaltitel All the Old Knives zu verstecken, erscheint fast schon ignorant. Weiß Olen Steinhauer (nicht verwandt mit Erwin) davon? Aber andererseits: er wird froh sein, seinen gerade mal sieben Jahre alten Roman verfilmt zu sehen, noch dazu mit solcher Spitzenbesetzung, da lässt sich ein Anruf schon ignorieren. Steinhauer wird ja praktisch als jemand angesehen, der die Kalte-Krieg-Ära eines John le Carré (der ja tatsächlich im Geheimdienst tätig war) bis in die Gegenwart und darüber hinaus weiterspinnen will. Mit Russland hat vorliegendes Werk also nur peripher zu tun, was sich in Zukunft vielleicht ändern könnte, denn der Kalte Krieg hat sich, wie es scheint, erneut aus dem Grab erhoben. Hier, in Der Anruf, wärmt Steinhauer die globale Angst vor dem islamischen Terror nochmal ordentlich auf, indem er gleich zu Beginn ein Flugzeug der (natürlich fiktiven)Turkish Alliance entführen und auf dem Flughafen von Wien-Schwechat landen lässt. Darin fordern eine Handvoll lebensunlustige Radikale die Freilassung diverser Gefangener. Glück im Unglück: die CIA hat einen ihrer Männer im Flieger, vorzugsweise inkognito – doch dieses Ass im Ärmel fällt für alle sichtbar auf den Boden. Irgendwo gibt es einen Maulwurf – die Rettung der Passagiere misslingt, der Vorfall kommt zu den Akten und Thandiwe Newton als Agentin Celia wirft das Handtuch. Acht Jahre später soll die Sache mit Flug 127 neu aufgerollt werden, Agent Harry soll der Sache nachgehen und alle damals Beteiligten nochmals unter die Lupe nehmen. Darunter auch Celia, ehemals große Liebe und vielleicht verdächtig. Beide treffen sich in Kalifornien in einem noblen Weinlokal, um die alten Zeiten – oder die alten Messer – neu zu wetzen.

Der Anruf unter der Regie von Janus Metz (Borg vs. McEnroe) trägt als Grundgerüst alle Parameter eines dialogreichen, vielleicht gar psychologisch gefinkelten Kammerspiels, in welchem aber jede Menge Rückblenden eingebettet sind, die das Ganze ausweiten zu einem tragischen Spionagedrama quer durch den Osten Europas. Da ist Tschetschenien mit im Spiel und Moskau, vor allem Wien und immer wieder mal fällt der Name Angela Merkels. Die Spurensuche nach dem Sicherheitsleck quer durch die österreichische, deutsche und amerikanische Geheimdienstpolitik gestaltet sich gemächlich, trifft sich in Kaffeehäusern oder schlägt sich den Mantelkragen im regnerisch-kalten London hoch. Dabei gehen Steinhauers Ermittlungen ähnlich wie bei John le Carré, so sehr ins Detail und greifen nach so vielen losen Fäden, dass die Übersicht langsam bröckelt. Wer nun was wo tut und getan hat und warum, mag dem Stoff schon etwas die frische Färbung nehmen. Zusehends wird alles recht grau, und der Modus Operandi muss immer wieder mal in sich gehen, was den Zuseher warten lässt.

Und doch ist Der Anruf ein Film, der die zwischenmenschlichen Emotionen, die im Angesicht globaler Katastrophen außen vorgelassen werden müssten, so sehr ins Spiel bringt wie so manches frühe Nachkriegswerk des schwarzen Spionagefilms. Die individuelle Tragödie stellt die Weltpolitik aufs Abstellgleis, das Zerbrechen des eigenen Lebenstraums läutet die nächtliche Sperrstunde ein. Und Chris Pine, der, graumeliert und mit Dreitagebart, nach George Clooney die männliche Spätromantik neu einläuten könnte, schenkt uns da bei so viel Konflikt überzeugend wehmütige Blicke.

Der Anruf

Windfall

ALL WE CAN DO IS SIT AND WAIT

4/10


windfall© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: CHARLIE MCDOWELL

SCRIPT: CHARLIE MCDOWELL, JASON SEGEL, JUSTIN LADER

CAST: JASON SEGEL, LILY COLLINS, JESSE PLEMONS, OMAR LEYVA

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Ein Bungalow wie auf Ibiza. Fehlt nur noch die Nichte des Oligarchen. Und ein paar Blaue. Aber heute gibt’s die nicht. Heute scheint es ein heißer Tag an irgendeinem Wochenende irgendwo in Kalifornien zu sein. Ich muss zugeben: ein adrettes Setting für das, was sich hier gleich abspielen wird. Nämlich Suspense der alten Schule. Das zumindest vermittelt mir das bewusst im Stile der 50er Jahre gehaltene Intro, begleitet durch einen pompösen Score, der scheinbar einen Film Noir verspricht. Vielleicht so etwas, wie es vor kurzem Guillermo del Toro fabriziert hat. Ganz klar scheint sich Windfall (was so viel bedeutet wie Glücksfall oder Fallobst – ich denke, man darf sich das aussuchen) der Versatzstücke eines mysteriösen Kammerspiels zu bedienen, das von Leidenschaften, Intrigen und verschütteten Geheimnissen handelt. Mit dabei: ein illustrer Cast. Ex-HIMYM-Knallcharge Jason Segel als Tagedieb im wahrsten Sinne des Wortes, die zarte Lily Collins und der in welchen Rollen auch immer stets souveräne und undurchschaubare Jesse Plemons. Er und Lily Collins geben ein steinreiches Ehepaar, da Plemons sowas wie den im Geld schwimmenden CEO einer einflussreichen Firma darstellt, die sich mit dem einen oder anderen Patent womöglich gesundgestoßen hat. Aus Lust und Laune und gegen ihre Agenda beschließen beide, eingangs erwähnte Villa aufzusuchen, um mal auszuspannen von dem ganzen Dasein als Kapitalsieger. Die Rosen für die Gattin hat die Dienerschaft allerdings vergessen, was den CEO bereits sauer aufstößt. Noch unangenehmer wird’s, als Collins einen Einbrecher inflagranti erwischt. Der wollte gerade gehen, doch plötzlich haben wir eine waschechte Home-Invasion mit zwei Geiseln, die nichts lieber sehen würden, als dass der lange Lulatsch von dannen zieht, von mir aus auch mit dem Geld aus der Kaffeekassa, was immerhin mehrere tausend Dollar ausmacht. Als Jason Segels Gelegenheitsbandit bereits wieder ins Auto steigt, wird ihm klar, dass er und sein fahrbarer Untersatz die ganze Zeit überwacht wurden. Also wieder zurück durch den Orangenhain, um die reichen Herrschaften dazu zu bringen, die Aufnahmen zu löschen.

Und dann sitzen sie alle drei herum. Der Täter und die Opfer, an einem glutheißen Nachmittag auf der Veranda. Und warten. Auf noch mehr Geld, damit Segel untertauchen kann. Es vergeht der Tag, es wird Nacht, dann wird es wieder Tag. Das Ensemble sitzt, steht und liegt immer noch herum, und was sie von sich geben, hat weder immens viel zu bedeuten noch bringt es die Handlung voran. Regisseur Charlie McDowell lässt den Boliden im Leerlauf tuckern – ein gurgelnder Klang, aber nichts, womit sich demnächst von A nach B kommen lässt. Sehr bald frönt das ironische Krimidrama einem Müßiggang, der, durch das Warten und Harren auf jenen Moment, in der die angespannten Sommertage zu einem Ende kommen, alles andere als erquickend ist. Wir kennen dieses Gefühl – wenn der Flieger sich verspätet oder das Computerprogramm gerade nicht hochfährt. Währenddessen lassen sich auch andere Dinge tun, nämlich Konversation betreiben oder ein Buch lesen. Doch das ist nur zu Überbrückung, weil man ja schließlich etwas ganz anderes machen möchte und alle Ambitionen auf dieses eine Ziel gerichtet sind. Insofern steckt Windfall so lange in einer enervierenden Zwischendimension, bis am Ende die Freiheit wie ein ersehnter Tropfen Wasser auf die trockenen Lippen perlt. Aus diesem Blickwinkel lässt sich der müde Krimi als Gleichnis für eine Potenzierung für etwas sehnlichst Erwünschtes betrachten, das man am Ende doppelt oder dreifach erfüllt haben will. Aber seht selbst. Oder besser: wartet bis zum Schluss.

Windfall

Galveston

VOM INSTINKT DES BESCHÜTZERS

6,5/10


galveston© RLJE Films


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: MÉLANIE LAURENT

CAST: BEN FOSTER, ELLE FANNING, LILI REINHART, ADEPERO ODUYE, ROBERT ARAMAYO, MARÍA VALVERDE, BEAU BRIDGES U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Wir kennen Mélanie Laurent doch spätestens nach ihrem Auftritt in Quentin Tarantinos virtuosem Fake-History-Thriller Inglourious Basterds, in welchem Hitler und seine Schergen den Flammentod im Kino sterben. Zuletzt gab sie sich recht beengt im Science-Fiction-Kammerspiel Oxygen von Alejandro Aja, welches auf Netflix zu sehen ist. Dass die charismatische Französin allerdings auch Regie führt – und das nicht nur aus einer Laune heraus, weil Schauspieler einfach mal alles gemacht haben müssen, sondern weil ihr das vermutlich genauso liegt wie Clint Eastwood – war mir allerdings nicht bewusst. Bis letztes Jahr, als ihr neuestes Werk Die Tanzenden erschienen war – ihre sechste Regie. Die vorletzte Arbeit gibt’s nun hier bei mir in meiner Review: Galveston – Die Hölle ist ein Paradies. Wobei der deutsche Untertitel so gut wie gar nichts über das existenzialistische Roadmovie aussagt. Hölle und Paradies – das kann alles sein. Zu generisch, um wirklich Sinn zu machen. Und Galveston? Das ist eine Stadt in Texas.

Dorthin muss Ben Foster alias Roy, ein Handlanger und Killer für einen abgeschleckten Mafiaboss im Zwirn (ölig: Beau Bridges), der in eine Falle tappt, da man ihn loswerden will. Irgendwie bekommt der abgehalfterte Säufer gerade noch die Kurve und rettet dann auch noch so ganz nebenbei eine Prostituierte namens Rocky, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht. Die beiden sind also on the road, vermutlich sind längst böse Buben hinter ihnen her. Roy will nach Galveston, um dort Zuflucht zu suchen. Auf dem Weg durchs amerikanische Hinterland, gesäumt von Motels und früheren Erinnerungen, werden beide mit ihrem ganz persönlichen Trauma konfrontiert. Und da ist noch Rockys junge Schwester, die plötzlich mit von der Partie ist – und alles verändern wird.

Galveston sieht anfangs so aus, als wäre er von der Sorte wie zum Beispiel Thelma & Louise, Wisdom – Kühles Blut und Dynamit oder Nicht mein Tag: Zwei, die sich zusammenraufen, fliehen im Auto vor einer Übermacht. Ob Polizei oder das organisierte Verbrechen, ist ganz egal. Nur: Die Verfilmung des Romans von Jim Hammett (lieferte den Content für True Detective) schlägt immer mal wieder die subtileren Töne eines Psychodramas an, in welchem es um sehr viel mehr geht als nur darum, mit brummenden Motoren auf die Ideale der eigenen Existenz zuzusteuern. Ben Foster und Elle Fanning halten viel öfter inne als zu vermuten wäre, ihre Figuren entwickeln sich in überraschender Deutlichkeit. Beide folgen ihrem Beschützerinstinkt und steuern auf das Ideal eines familiären Konstrukts hin, das als einziges dafür taugt, wechselwirkend Halt zu geben in einer trostlosen Gesamtsituation. Laurent gelingt es, diese Dynamik, die hinter einem augenscheinlich routinierten Thrillerdrama liegt, freizulegen. Somit ist Galveston vor allem in seiner peripheren Ausstattung keine tadellose Kreativleistung, im Kern der Geschichte erklingen aber einige Takte eines zutiefst melancholischen Blues-Songs.

Galveston

Tod auf dem Nil (2022)

DER DETEKTIV UND DIE LIEBE

6,5/10


todaufdemnil© 2022 Twentieth Century Studios


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: KENNETH BRANAGH

CAST: KENNETH BRANAGH, GAL GADOT, ARMIE HAMMER, EMMA MACKEY, ANNETTE BENING, TOM BATEMAN, LETITA WRIGHT, SOPHIE OKONEDO, ROSE LESLIE, RUSSEL BRAND U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Wie wär‘s heuer mal mit Ägypten? Wenn die Covid-Regeln überschaubar bleiben und keiner dort akut den Dschihad probt, dann hätte ich durchaus Lust darauf, Tutanchamuns Grab oder Ramses höchstpersönlich einen Besuch abzustatten. Natürlich einschließlich Pyramiden, Karnak und vielleicht sogar Abu Simbel ganz im Süden. Dorthin fährt nämlich Agatha Christies Vorzeigebelgier Hercule Poirot an Bord eines Luxus-Schaufelraddampfers, um den IQ einer illustren Hochzeitsgesellschaft zu heben. Beim Publikum hebt sich erstmal die Lust aufs Reisen angesichts dieser pittoresken Postkartenmotive. Die Motive für einen Mord sind zwar weniger nobel, aber zahlreich vorhanden. Im Mittelpunkt steht nämlich Wonder Woman Gal Godot (wie immer eine Augenweide) als steinreiches It-Girl Linnet, die ihrer besten Freundin den Mann ausgespannt hat. Sowas tut man nicht, aber andererseits: wo die Liebe hinfällt, wächst keine Moral. Also heiratet die Schöne den schnauzbärtigen Simon und reist mit ihm samt Entourage an den Nil, auf welchem der Tod natürlich schon eingecheckt hat. Weiters mit im Schlepptau: die um ihre rosige Zukunft geprellte Ex, die fröhlich durch die Gegend stalkt. Mit Hercule Poirot, der sich aus ganz anderen Gründen ebenfalls dort aufhält, hat sie allerdings nicht gerechnet, und Linnet bittet den alten Hasen mit den grauen Zellen, die Gesellschaft doch lieber im Blick zu behalten – es könnte ihr Übles widerfahren. Es dauert nicht lang, da fällt schon der erste Schuss. Poirot muss sich anstrengen, denn diesmal ist nicht nur das Kapital anderer, sondern auch ganz viel Liebe mit im Spiel. Sogar die eigene.

Und da hat Kenneth Branagh den eleganten Denker an seiner Achillesferse erwischt. Was John Guillermin in seiner Verfilmung mit Peter Ustinov nicht getan hat. In der ebenfalls sehr edlen Adaption aus den Siebzigern ist der Detektiv eine Ikone des Moments, geradezu eine Art Superheld der Kombinationsgabe. Wie Sherlock Holmes in etwa, vor dem man Ehrfurcht haben kann. Branagh legt seinen Poirot ganz anders an. Und das erkennt man schon in den ersten Szenen des neuen Films, bei welchem mich das Gefühl bemächtigt hat, im falschen Saal zu sitzen. Erster Weltkrieg, Grabenkämpfe in Belgien, Giftgas – und dann der junge Poirot, noch ohne Schnauzer, der seinem Bataillon den Allerwertesten rettet, selbst aber nicht ganz unversehrt bleibt. Was dann passiert, hat viel Einfluss auf den Charakter des Kriminologen, und daher geht Branagh auch entscheidend tiefer in die Psyche der Figur als es Guillermin jemals hätte tun wollen, um dem Idol außer einigen Spleens keine Schwächen zuzugestehen. Branagh hingegen hat keine Angst davor. Poirot ist hier kein zwingend frohsinniger Genießer wie Ustinov, sondern verbittert, aber distinguiert und gut erzogen. Dass einer wie Poirot sentimental werden kann, schien bislang unmöglich – diese Neuentdeckung des detektivischen Charakterzuges ist das Herzstück des Films und überwindet die Distanz zum Zuschauer. Das übrige Ensemble ist weicher gezeichnet, wenngleich mit Annette Bening oder der brillanten Sophie Okonedo gut besetzt. Ein schmissiger Score, der die Klänge des amerikanischen Jazz über den längsten Fluss Afrikas trägt, verleiht dem Setting eine launige Atmosphäre, der Nachbau der 70 Meter langen Sudan und des Abu Simbel-Tempels in den britischen Studios beweist wieder mal, dass man bei großen Filmen wie diesen keine Mühen scheut. Und dennoch bleibt das Gefühl, einen Rückschritt in das Studiokino ganz früherer Zeiten gemacht zu haben. Abgesehen von den Drohnenaufnahmen ist die ganze Reise den Nil entlang nur Stückwerk von überallher, nur nicht aus Nordafrika. Ägypten nachzubauen oder eben dort zu sein, sich ganz auf den Vibe der Location zu verlassen, das sind dann doch zwei Paar Schuhe. In Tod auf dem Nil wird manche Szenen überdeutlich kulissenhaft, womöglich mit dieser Art Projektionstechnik umgesetzt, die schon Jon Favreau für The Mandalorian entwickelt hat. Die Raffinesse gelingt nicht immer, vieles erscheint artifiziell, auch das Licht sitzt oftmals nicht richtig und passt meist nicht zu den Dämmerstunden im landschaftlichen Hintergrund.

Schade, dass Marokko als Drehort dann doch nicht genutzt worden war. So bleibt uns zumindest ein Kammerspiel, dessen kreuz und quer gesponnenes Netzwerk aus Bedürfnissen, Leidenschaften und sinisteren Plänen solide unterhält. Statt des Orient-Express ist es nun ein Schiff. Das Konzept, der Rhythmus – ungefähr gleich. Branagh, den der Doppeljob aus Dreh und Schauspiel nicht überfordert, gelingt ein weiteres Whodunit, dem man trotz der durch Ustinov für viele bereits bekannten Auflösung gerne zusieht. Am Schluss tut der Brite sogar etwas, das undenkbar scheint. Doch andererseits: Poirot ist auch nur ein Mensch.

Tod auf dem Nil (2022)

Nightmare Alley

DER MENTALIST UND DAS MONSTER

8/10


nightmarealley© 2022 Twentieth Century Fox / The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: GUILLERMO DEL TORO

CAST: BRADLEY COOPER, CATE BLANCHETT, ROONEY MARA, WILLEM DAFOE, TONI COLLETTE, RICHARD JENKINS, RON PERLMAN, DAVID STRATHAIRN, MARY STEENBURGEN, HOLT MCCALLANY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN


Das würde ich wirklich gerne mal machen, und zwar einen Rundgang in Guillermo del Toros schauriger Bude, auch genannt Bleak House, frei nach Charles Dickens und angesiedelt in den Vororten von Los Angeles. Dort wohnt er zwar nicht, aber er geht dorthin, um Ideen zu finden oder sich inspirieren zu lassen. Ich möchte fast sagen, es ist ein Heimkommen in ein inneres Zuhause aus Phantastereien und Alpträumen; ein Metaversum, wenn man so will. All die Räume sind bis zur Decke randvoll mit Monstern, Kuriositäten und Absonderlichem. Mit allem, was seine und andere Filme, die den Mexikaner faszinieren, jemals bevölkert haben. Da ist so viel Zeug, das hat sogar gereicht für eine ergiebige Wanderausstellung quer durch die USA bis hinauf nach Kanada. Vielleicht schafft sie es ja mal nach Übersee, wer weiß. Bis dahin sind del Toros Filme das, was immerhin auch ganz gut als Gruselkabinett funktioniert, aus welchem man allerdings nicht das Heil in der Flucht sucht, sondern fasziniert und an allen Nischen und Erkern innehält, um die bizarre Welt, getaucht in Rot- und Grüntönen, die in der Dunkelheit miteinander verschmelzen, in sich aufzusaugen.

Für diese Welt braucht es Zeit, da geht nichts zackzack. Del Toro muss man genießen wollen und sich nicht verstören lassen von in Spiritus eingelegten Missgeburten, die wie Exponate aus dem Narrenturm indirekt beleuchtet werden, um das Widernatürliche des Körperlichen zu exponieren. Es mag zwar in Nightmare Alley kein Fischmonster in die Wanne steigen, kein Vampir die Zähne fletschen oder eine gehörnte Teufelsbrut coole Oneliner schieben. Doch die Bestien aus seinen Träumen sind auch hier, in einem stringenten, opulenten Meisterwerk der Schwarzen Serie, omnipräsent.  

Guillermo del Toro hat sich eines Romans angenommen, der bereits 1947 erstmals verfilmt wurde: Der Scharlatan von William Lindsay Gresham, der den Aufstieg und tiefen Falls eines Hochstaplers beobachtet, der vorgibt, Mentalist zu sein. Und was für einer: nicht nur kann er angeblich Gedanken lesen und in die Zukunft blicken, sondern vor allem auch mit den Toten kommunizieren. Dabei sieht anfangs alles danach aus, als würde Stanton Carlisle sein Leben nicht mehr auf die Reihe bekommen. Das tut er aber doch, und zwar bei Clem und seinem Wanderjahrmarkt aus Schaustellern, Freakshows und Karussellen. Dort macht er sich nützlich, lernt Tricks und das Lesen von Menschen. Sieht, wie Missgestaltete und Saufbolde als Sensationsbestien missbraucht werden, brennt dann bald durch mit seiner Geliebten, dem Jahrmarktmädchen Molly. Stanton will mehr. Mit seiner Gabe und dem perfekten Betrug die Oberschicht für sich gewinnen und reiche Beute machen. Er wird zu weit gehen, das ist klar. Und er wird einbiegen, in die Allee der Alpträume, die kein Ende hat.

Ein klassischer Film Noir, würde man meinen. Und natürlich mit dazugehöriger Femme Fatale, die Cate Blanchett als gnadenlose und maskenhafte Überzeichnung einer Lauren Bacall zum Versatzstück einer Geisterbahn werden lässt, deren Schein trügt. Es wäre aber nicht Guillermo del Toro, wäre der Film nicht genauso ein seltsames Mischwesen wie seine Kreaturen, die ihn umgeben. Das Publikum wird zum Begaffer eines ganz anderen Bestiariums, das sein großes Vorbild, nämlich Tod Brownings Horrorklassiker Freaks, vor allem in seiner parabelhaften Moral präzise zitiert. Es gibt Szenen und Bilder, die erinnern so frappant an das Schreckensdrama von damals, da gibt’s für mich keine Zweifel. Browning hatte damals mit tatsächlich missgestalteten Menschen gearbeitet, die in einer simplen, aber effektiven Rachegeschichte die finsteren Pläne einer bildschönen Trapezkünstlerin sühnen werden. Auch dort ist ein Jahrmarkt Ort des Geschehens, und auch dort sind niedere Triebe wie die Gier nach Mammon und Wohlstand der Grund dafür, die Gutgläubigkeit anderer zu manipulieren und deren Vertrauen zu missbrauchen. Bradley Cooper alias Stanton tut als Blender nichts anderes als das Schändliche und mutiert zur Kreatur der Nacht mit Vaterkomplex und Hang zum Wahnsinn – ein intensives Spiel, so wie das des gesamten Ensembles des Films, die geben, was verlangt wird, und noch ein bisschen mehr an grimmigem Spuk. In malerische Bilder taucht del Toro sein üppiges Opus Magnum, und schließt mit sicherer Hand den Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gibt.

Nightmare Alley