Touch Me (2025)

EIN HIP-HOP-JESUS GEGEN DEN KLIMAWANDEL

7/10


© 2025 WTFilms


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: ADDISON HEIMANN

KAMERA: DUSTIN SUPENCHECK

CAST: OLIVIA TAYLOR DUDLEY, LOU TAYLOR PUCCI, JORDAN GAVARIS, MARLENE FORTE U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


War Jesus vielleicht ein Außerirdischer? So krude Gedanken wie diese gibt es womöglich tatsächlich, und in Anbetracht der Leichtgläubigkeit der menschlichen Spezies bei gar nicht so wenigen Individuen. Wie sonst könnte man sich diese wundersamen Heilsmethoden erklären, die der Sohn eines Zimmermanns alleine schon durchs Handauflegen erfolgreich praktizieren konnte. Und manchmal, war da nicht mal das vonnöten? Gehe hin in Frieden, erwache von den Toten, bewege deine Beine – du bist nicht mehr gelähmt. Eine Macht hatte der, das lässt mitunter manch kritische Stimme nicht verstummen, die den Bergprediger als ein Wesen verdächtigt, das nicht von dieser Welt sein muss. Im Grunde steht auch genau das als direkte Rede im Testament. Also warum nicht?

Das Heil in den Tentakeln

Und warum nicht eine Geschichte entwerfen, in der die fleischgewordene christlichsoziale Heilsverkündung wie Jared Leto aussieht, der wiederum manchmal so aussieht wie eines der kitschigen Heiligenbilder, die in bäuerlichen Schlafzimmern hängen, direkt über dem Kopfende, und wo das flammende Herz expositioniert vor sich hin wabert. Dieser Mann, nicht Jared Leto, ist kein menschliches Wesen, sondern ein Außerirdischer, der in Wahrheit ganz anders aussieht. Ein bisschen was lässt sich anfangs schon vermuten, wenn dieses Individuum seine Tentakel ausfährt, um irdischen Glückbedürftigen einen Gemütszustand zu bescheren, den man normalerweise erst dann erlangt, wenn man wie Siddhartha jahrelang meditiert hat. Den mentalen Genuss einer sorgenfreien Weltsicht, ohne der Schwere vergangener Traumata, die man wie einen nicht abnehmbaren Fallschirm nach der Landung auf hartem Grund hinter sich herzieht, wollen schließlich alle – und da kommen Joey und Craig ins Spiel – zwei Freunde, die bisher nicht ganz so sehr auf die Sonnenseite des Lebens gefallen sind. Mit dem feschen Brian haben beide wohl das große Los gezogen, so scheint es. Denn Sex mit einem Alien, was Besseres gibt es nicht. Da mögen dessen Ambitionen, rotlaubige Bäume gegen den Klimawandel zu pflanzen, bereitwillig akzeptiert werden, wobei diesen Umstand zu hinterfragen wohl dringender nötig gewesen wäre als auf den nächsten Austausch von Körperflüssigkeiten zu warten.

Wie viel Good Will steckt in einem Alien?

Filme, in denen Aliens über uns Menschen das uneigennützige Heil bringen, und zwar vorwiegend bei älteren Semestern, das gabs in den Achtzigern mit dem erquickend sentimentalen Klassiker Cocoon. Das Bad im Pool wurde, angereichert durch die Energien eines extraterrestrischen Eis, für vulnerable Pensionisten zum Jungbrunnen. Doch anders als Ron Howards humanistischer Diskurs übers Altwerden klingt das Wunschkonzert aus dem All in Touch Me nach schiefen Tönen – die sich der Mensch gerne schönhört, weil er will, dass alles gut wird.

Wenn Brian – dieser Jared Leto-Jesus-Verschnitt – mit textilfreiem Oberkörper seinen gymnastischen Morgentanz hinlegt, lukriert das eine Menge Lacher aus dem Publikum. Denn diese Performance wirkt dann so, als wäre man in einem Aerobic-Video der Achtziger gelandet, unfreiwillig komisch und ohne jemals die Chance, ernstgenommen zu werden. Das wiederum passt perfekt zu einem der ungewöhnlichsten und auch wagemutigsten Features im Rahmen des Slash Filmfestivals – denn Touch Me ist eine clevere Satire auf so manches, was den nach Glückseligkeit und Eintracht strebenden Menschen nicht nur auszeichnet. Addison Heimann, der seinen Film selbst präsentierte und auch für Q&As wortreich zur Verfügung stand, spiegelt die Umtriebigkeit und Craziness seiner Arbeit wider – für alle, die seinen Film nicht mögen würden, sendet er vorab schon mal ein sympathisches „Fuck you“. So überdreht und ausgetickt Heimann wirkt, so überdreht und ausgetickt ist Touch Me, der durchwegs auch in die düsteren Tiefen eines gespenstischen Thrillers mündet, um dort wieder emporzusteigen als handgeschnitzter Bodyhorror voll praktischer Geht ja-Effekte und jeder Menge Schleim. Das wiederum hätte ich im Laufe des Films auch nicht erwartet, doch was davon lässt sich hier auch wirklich absehen?

Aus den besten Freunden werden Feinde, Missgunst, Abhängigkeit und verschenktes Vertrauen an das Gute sind nur einige menschliche Eigenschaften, die Heimann in seinem Fast-Schon-Kammerspiel seziert – gespickt mit Wortwitz und einem vom Regisseur höchstpersönlich projizierten Elan, der irritiert, manchmal zu Brei schlägt, was hätte erhalten werden können, aber im Ganzen dazu beiträgt, dass die abgefahrene Science-Fiction-Mär ihre Gleichung ganz gut löst. Und Heimanns „Fuck You“ muss ich letztlich dann doch nicht auf mich beziehen.

Touch Me (2025)

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Babygirl (2024)

SEXUELLE BEFREIUNG AM ARBEITSPLATZ

7/10


© 2024 Constantin Film / Niko Tavernise


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: HALINA REIJN

CAST: NICOLE KIDMAN, HARRIS DICKINSON, ANTONIO BANDERAS, SOPHIE WILDE, ESTHER MCGREGOR, VICTOR SLEZAK, ANOOP DESAI, MAXWELL WHITTINGTON-COOPER U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Alle sprechen von Künstlicher Intelligenz. Doch niemand, wirklich niemand, von Emotionaler Intelligenz. Betrachtet man das Weltgeschehen, schmilzt dieser Skill genauso zügig davon wie die vereiste Nordpolkappe, die bald nicht mehr existieren wird, weil 20 Grad zu warm. Von dieser Emotionalen Intelligenz spricht Romy, CEO eines Robotikunternehmens, die genau weiß, was für Vorteile Automatisierungen am Arbeitsplatz und überhaupt in der Logistikbranche mit sich bringen – die aber auch genau weiß, wie wichtig es gerade in Zeiten wie diesen ist, sich selbst nicht automatisieren zu lassen. Wer diktiert also wem die Zukunft? Der Fortschritt uns Menschen – oder umgekehrt?

Derlei ungewöhnliche Gedanken spinnt Halina Rejin in ihren Film, der beim schnellen Hinsehen so wirkt, als wäre er die Neuauflage eines Streifens aus den Neunzigern mit Demi Moore und Michael Douglas, nämlich Enthüllung. Man könnte auch meinen, bei Babygirl an eine Business-Version von Fifty Shades auf Grey geraten zu sein. Nichts dergleichen ist der Fall. Reijn, die zuletzt mit dem One-Night-Horrorthriller Bodies Bodies Bodies für gewitzte, aber oberflächliche Unterhaltung sorgte, hat etwas ganz anderes im Sinn: Weniger eine Parabel um Macht und Ohnmacht, sondern ein genau beobachtetes Gesellschaftsdrama über Individualität, Bedürfnisse und Prioritäten. Über Werte, Konsens und Konsequenzen. Natürlich erotisch aufgeladen, natürlich spielt der Sex dabei die größte Rolle überhaupt. Klar, Sex ist wichtig in einer Beziehung, egal wie, egal was, Hauptsache einvernehmlich. Sex mag Motor, Kitt und Garant für eine langlebige Beziehung sein, mag entspannen, erforschen und näherbringen. Dumm nur, wenn der eine Partner nichts von den Bedürfnissen und Vorlieben des anderen weiß.

In Babygirl ist die Menschheit im Begriff, ohne Rücksicht auf Verluste so schnell voranzuschreiten, dass sie sich beinahe selbst abschafft. Im Gegensatz zur technologischen Intelligenz kämpft die soziale nach wie vor mit Tabus, unter Kapazundern wie Trump, Musk und Co erfährt sie den Niedergang des Jahrhunderts. Nicole Kidman macht da nicht mit. Sie als integre, toughe Romy wittert, auch wenn sie es sich selbst nicht zugesteht, die sexuelle Befreiung und die eigene Akzeptanz in der geheimen Affäre mit einem weitaus jüngeren Praktikanten, der ausgeschlafen genug ist, um seinen Boss zu manipulieren und aus der Reserve zu locken. Du willst es doch auch, hört man ihn sagen. Und ja, sie will es. Es stellt sich die Frage: Wie lange kann dieses verbotene sexuelle Abenteuer denn geheim bleiben? Und überhaupt: Was ist mit der Moral in Zeiten wie diesen? Ist es überhaupt eine Frage derselben? Oder muss sie neu definiert werden?

Es ist spannend, dabei zuzusehen, was Halina Reijn aus diesem ganzen relevanten Stoff letztlich macht: Allen voran schickt sie eine bereits für Jahrzehnte im Filmbiz kontinuierlich arbeitende Kidman auf die Bühne ihres Lebens. Zumindest scheint es so, als würde die bereits mit dem Oscar ausgezeichnete Allrounderin völlig neue Aspekte an ihrem schauspielerischen Tun entdeckt haben. Ihre Figur der Romy ist mutig, eloquent, gleichzeitig schamhaft, schüchtern, unsicher und verletzlich. In deren Kindheit dürfte Relevantes passiert sein, das womöglich nicht unwesentlich daran beteiligt ist, sie so agieren zu lassen, wie sie es in diesem Film tut. Reijn erachtet Details dabei aber nicht für wichtig. Einzig ausschlaggebend ist das Handeln im Jetzt – und hier zeigt sich Kidman von einer zerrissenen, sehnsüchtigen und selbstbewussten Seite, die wie KI alles in den Griff bekommen will. Nur: Das eine geht nicht ohne den menschlichen Faktor. Und der bleibt fehlerhaft, impulsiv, unüberlegt – wie Individuen eben sind. Diese Menschlichkeit, auf geradezu klassisch retrospektive Art, bringt Kidman in diesen Film ein, und überzeugt auf ganzer Länge. Dass die Academy sie dabei nicht berücksichtigt hat, ist ein fahrlässiger Fehler.

Sie allein stemmt das Ensemble, das einen aufschlussreich intelligenten Film garantiert, nicht im Alleingang. Antonio Banderas ist so untypisch Antonio Banderas, dass man fast zweimal hinsehen muss, um den Weltstar auszumachen. Sein Schauspiel hat ebenfalls, wie Kidman, eine Menge an Facetten, die ihn trotz der knappen Spielszenen so greifbar werden lassen, als kenne man ihn persönlich. Harris Dickinson ist der experimentierfreudige Jungspund einer Zukunftsgesellschaft – dominant, egozentrisch, doch kein Christian Grey, sondern viel unberechenbarer. Babygirl wird zum schauspielerischen Genuss und setzt den Preis für die Erfüllung geheimer Wünsche recht hoch. Sex ist dabei nicht alles, der Konsens ist die Lösung – und so ist Babygirl weder ein Thriller noch ein lasziver 9 1/2 Wochen-Schmachtfetzen, sondern eine neu durchdachte Nachjustierung quer durch die verschiedenen Vertrauenszonen der Gegenwartsgesellschaft.

Babygirl (2024)

Queer (2024)

IM SCHWEISSE KOSMISCHEN ANGESICHTS

7,5/10


queer© 2024 MUBI


LAND / JAHR: ITALIEN, USA 2024

REGIE: LUCA GUADAGNINO

DREHBUCH: JUSTIN KURITZKES, NACH DEM ROMAN VON WILLIAM S. BURROUGHS

CAST: DANIEL CRAIG, DREW STARKEY, JASON SCHWARTZMAN, LESLEY MANVILLE, ANDRA URSUTA, MICHAËL BORREMANS, DAVID LOWERY, HENRY ZAGA, DREW DROEGE U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Sieht man sich das schauspielerische Oeuvre von Daniel Craig an, so fällt auf, dass gerade seine finanziell erfolgreichste Rolle des 007-Agenten James Bond im Grunde wohl am wenigsten das schauspielerische Können des smarten Briten illustriert. Seine Bond-Interpretation mag etwas stiernackig und verbissen wirken – ein Charakter, den Craig liebend gerne gegen andere tauscht, die dem Image des charmant-chauvinistischen Actionhelden zuwiderlaufen oder dieses geradezu konterkarieren. Die schmissige Hercule Poirot-Hommage des Benoit Blanc aus Knives Out war da schon ein erster Schritt in die für Craig ideale Richtung. Jetzt kommt das Sahnehäubchen obendrauf, jetzt darf der lange im Dienste der Broccolis gestandene, leidenschaftliche Akteur Dinge tun, die Tür und Tor aufstoßen in eine regenbogenfarbene Vielfalt an verlorenen, verkorksten, herumirrenden Gestalten, die sich in ihren Schwächen verlieren. Und dies mit ausgesuchter Leidenschaft.

Luca Guadagnino, seines Zeichens Meister im Abbilden verlorener Sehnsüchte – siehe Call Me By Your Name – weiß, was er gewinnt, wenn er Craig besetzt. Für ihn ist dieser ein in hellen Leinenanzügen gekleideter, ungehemmt dem Alkohol und allerlei Drogen zugetaner Privatier mit Fedora auf dem Kopf und genug Geld in den Taschen, um den lieben Gott tagelang einen guten Mann sein zu lassen. Aufgrund seiner Liebe zu rauschigen Stoffen aller Art hat William Lee den Staaten der Rücken gekehrt. Hier, in einem pittoresken, fast unwirklichen Mexiko City der Fünfzigerjahre, ist das Leben ein ewiger Zyklus aus Barbesuchen, Aufrissen und Trunkenheit. Was Lee allerdings begehrt, sind, wie der Titel schon sagt, Männer knackigen Alters, die des Nächtens für die nötige Süße sorgen sollen. Eine Affäre folgt der anderen, bis der Ex-Soldat Eugene Allerton (Drew Starkey aus Outer Banks) Lees Wege kreuzt. Ab diesem Moment ist es aus und vorbei mit der kunterbunten Auswahl an Bettgesellen. Eugene bedeutet mehr, obwohl dieser, eigentlich hetero, nur des Geldes wegen mit dem betuchten Lebemann ins Bett steigt. Alles sieht danach aus, als wäre diese Romanze zum Scheitern verurteilt, als eine gemeinsame Reise in den Dschungel Perus nebst schweißnassem Entzug auch die Entdeckung eines Rauschmittels mit sich bringt, die das Leben der beiden für immer verändern wird.

Die Vorlage zu Queer lieferte 1985 niemand geringerer als der Meister der literarischen Beat-Generation: William S. Burroughs. Der Konnex zum Kino: Dessen Kultbuch Naked Lunch, ein als unverfilmbar geltendes Sammelsurium an Grenzerfahrungen durch Drogeneinfluss, hatte sich Anfang der Neunziger David Cronenberg zu Herzen genommen. Guadagnino kann es besser. Sein psychologisches Drama einer Reise ins Unbekannte war dieses Jahr der Überraschungsfilm der Viennale und ist deutlich leichter verständlich als der zu Papier gebrachte bizarre Wahnsinn aus Tausendfüßern, Alienwesen und kriminellen Verschwörungen. Daniel Craig liefert in der ersten Hälfte des Films, die sich handlungsarmen Betrachtungen hingibt, dafür aber auf Stimmung setzt, das grenzlabile, psychologisch durchdachte Portrait eines Ruhelosen und Verlorenen, einer zutiefst einsamen Seele, die dem wahren Glück näherkommen will, indem sie sich überall sonst, nur nicht in sich selbst verliert. Der bittersüßen Liebesgeschichte schenkt Craig das schmachtende, fieberhafte Zittern eines Süchtigen. Guadagnino lässt dabei, wie schon in Call Me By Your Name, malerischen Sex unter Männern nicht zu kurz kommen. Hier ist er ein Ausdruck von Nähe und weniger die pure Befriedigung.

Es wäre aber nicht Burroughs, wenn dieses flirrende Delirium von Film nicht vollends in einen surrealen Albtraum kippen würde, der im tropischen Dschungel den irreversiblen Schritt in halluzinogene Welten wagt, um hinter den Vorhang des Realen zu blicken. Queer wird zum selbstvergessenen Horrortrip, verrückt bebildert, kosmisch aufgeladen und bewusstseinsverändernd. Wie Guadagnino diese Brücke schlägt, ist gewagt, gelingt aber dank Craigs beharrlichen Ego-Eskapaden so überzeugend, als hätte Captain Willard aus Apocalypse Now am Ende seiner Reise festgestellt, General Kurtz gäbe es nur in seiner vom Kriegswahn gezeichneten Vorstellung. In Queer ist es der Drogenwahn, dem man am liebsten zu zweit frönt. Und so eigentümlich dieses Psychodrama sich auch anfühlt – so, als könnte man sich kaum etwas Erbauliches mitnehmen aus diesem Dilemma – sickern Filme wie Fear and Loathing in Las Vegas ins Gedächtnis: Auch dieser nur ein Trip in die fantastischen Welten psychedelischer Substanzen.

Guadagninos Psycho-Abenteuer ist eine Überdosis Burroughs – der Wahnsinn kommt nicht überraschend. Sein existenzialistischer Schlussakkord wiederum erinnert an Lovecraft. Oder, um es anders auszudrücken: Der transzendente Abenteuerfilm ist zurück. Und Craig gibt ihm Seele.

Queer (2024)

Anora (2024)

DEN PRINZEN UM JEDEN PREIS

8,5/10


anora© 2024 Universal Pictures / Drew Daniels


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: SEAN BAKER

CAST: MIKEY MADISON, MARK EYDELSHTEYN, YURA BORISOV, KARREN KARAGULIAN, VACHE TOVMASYAN, IVY WOLK, DARYA EKAMASOVA, LINDSEY NORMINGTON U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Wie angelt man sich einen Millionär? Da gibt es unterschiedliche Wege zur praktikablen Glückseligkeit. In den Fünfzigern setzten Marylin Monroe und Lauren Bacall ihre äußerlichen Reize dafür ein, an einen reichen Ehemann zu kommen, um sich darauffolgend von diesem aushalten zu lassen. Da war noch üblich, dass der Mann die Existenzen der Dame sichert – heute längst überholt und anmaßend. Anfang der Neunziger dann die Romanze schlechthin, vorhaltend für die nächste Dekade: Pretty Woman, eine Art My Fair Lady für die Großstadtgeneration, die wohl keine Berührungsängste mehr mit dem ältesten Gewerbe der Welt hat und sich nicht mehr angewidert wegdreht, wenn reizvoll gekleidete Damen notgeilen Herren stundenweise ihr Geld entlocken. Julia Roberts beerbte Audrey Hepburn und angelte sich nicht Rex Harrison, sondern den damals schon graumelierten Richard Gere, auch er noch chauvinistischer Gentleman der alten Schule, der glaubt, Frauen erst zur Gesellschaftsfähigkeit erziehen zu müssen.

Und dennoch: Das Publikum hat den Schmachtfetzen mit Rhythmen von Roxette geliebt. Tränen in den Augen, weiche Herzen, Träume davon, so ein Glück mal selbst zu erfahren. Dreißig und ein paar zerquetschte Jahre später – Roberts und Gere sind immer noch im Business, die eine mehr, der andere weniger – sind die Parameter zwar ähnliche, aber doch auffallend andere. In Sean Bakers mit der Goldenen Palme prämierten, fast schon nihilistischen Tragikomödie Anora verfällt namentliche Stripperin, die eigentlich nur Ani genannt werden will, den jugendlichen Reizen eines aufgeweckten, Timothée Chalamet nicht unähnlichen Oligarchensohnes. Die Russen sind also im Spiel, die unbesonnene Jugend stellt alles auf den Kopf, die Sehnsucht nach Liebe und Wohlstand erfüllt sich in einem bequemen Kapitalismus, der mit ausreichend Sex den Himmel auf Erden beschert. Aus dem Rotlichtmilieu in eine niemals enden wollende Party- und Vergnügungswelt. Da war Richard Gere schon einer, der, die Hörner längst abgestoßen in einer gnadenlosen Business-Welt, genau wusste, was er einer wie Julia Roberts bieten konnte und was nicht. Erfahrenheit nennt man so etwas. In Anora haben die beiden Liebenden nichts davon. Und wäre Wanja vielleicht nicht der Filius aus reichem Hause, der, wie Gere eben, sein Escort-Girl gleich wochenweise bucht, sondern einer, der erahnen hätte können, was Verantwortung eigentlich bedeutet, wäre Anora vielleicht in genauso einem kitschigen Filmmärchen gelandet, wie wir es bereits kennen und lieben.

Sean Baker allerdings findet diese zuckersüßen Zustände grauenerregend. Sein Publikum geht ihm aber insofern auf den Leim, da er es glauben lässt, wie wären in einem Kino der Happy Ends, das sich der gerechten Ordnung von Liebenden unterwirft und sie gewinnen lässt. Romeo und Julia haben längst gezeigt, dass das nicht sein muss. Doch sowohl zum Glück als auch zur Tragödie gehören immer zwei, die dieselben Sehnsüchte leben. Anora erteilt den Stereotypen dabei die Rundum-Faustwatsche mit KO-Garantie, während Mikey Madison sich dabei gebärdet wie eine Furie, die um ihr Glück, ihr Leben und ihre Achtung ringt, mit Fingernägeln, Fußtritten und dem schrillen Schrei einer Sirene. Für die Qualität ihrer Performance gibt die Schauspielerin alles, es ist eine Tour de Force, der sie sich stellt, soar noch die letzten Meter. In diesen Sog des wahrhaften Schauspiels – und ja, ich wage die Prognose, Madison könnte nächstes Jahr bei den Oscars ganz groß mitmischen – geraten auch allerlei Nebenrollen. Nicht nur Mark Eydelshteyn, der den party- und sexhungrigen Wanja verkörpert, sondern auch jene, die die Entourage des russischen Oligarchen antanzen lassen. Sean Baker gerät dabei in ein virtuoses, dramaturgisches Crescendo und entfesselt das dichte Spektakel eines emotional aufgeladenen, verzweifelten Konflikts. Was dieser bereits in The Florida Project und zuletzt im satirischen Red Rocket begonnen hat, nämlich zu zeigen, wie reale soziale Konflikte ihre eigene Dynamik erzeugen, führt er nun an einen Höhepunkt, der in Baker ein enormes Maß an Menschenkenntnis und ein Gefühl für menschliche Desaster voraussetzt. Iñárritu, Tarantino, Scorsese – auch sie beherrschen das Einmaleins der Konfliktdarstellung. Baker drängt sich mit dem großen Beispiel eines virtuosen Kinoerlebnisses in den Vordergrund, ohne dass diese als effektive Tragikomödie genügt.

Die schnöde Chronik des Missbrauchs von Liebe, Vertrauen und Erwartung findet unendlich zarte, verletzliche Momente zwischen Sex, drogengesättigtem Spaß und der unendlich anmaßenden Arroganz der Kapitalisten. Es ist ein Kampf gegen die Formeln des romantischen Kinos. Das Erwachen einer desillusionierten Pretty Woman aus einem einlullenden Albtraum ist nicht nur bitter, sondern vor allem bittersüß. Anora ist somit ein hinreißendes, ambivalentes Erlebnis. Und ja, vielleicht ist es einer der besten Filme des Jahres.

Anora (2024)

Kryptic (2024)

FINDE DICH SELBST

5,5/10


Kryptic© 2024 XYZ Films

LAND / JAHR: KANADA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: KOURTNEY ROY

DREHBUCH: PAUL BROMLEY

CAST: CHLOE PIRRIE, JEFF GLADSTONE, PAM KEARNS, JASON DELINE, ALI RUSU-TAHIR, JENNA HILL, JANE STANTON, JENNIFER COPPING U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Vorsicht, es könnte eklig werden! Kryptic, das Regiedebüt der Kanadierin Kourtney Roy, steckt toxische Männer in übergroße Vaginas, und nicht nur die: Auch die auf dem Selbstfindungstrip befindliche Kay (Chloe Pirrie, u a. in der SerieHanna zu sehen) dürfte – man weiß es nicht so genau – mit einem pelzigen Ungetüm, einem sogenannten Sooka, nicht nur Geschlechtsverkehr gehabt haben, sondern auch eine auf diversen geistigen Metaebenen liegende Verbindung eingegangen sein. Es ist, als hätte Kay nicht nur die Identität einer dem Bigfoot ähnlichen Kreatur angenommen, sondern auch die Identität jener, auf deren Spuren sie wandelt. Dabei handelt es sich um die bereits längere Zeit verschollene Kryptozoologin Barb Valentine (ebenfalls Chloe Pirrie), die auf der Suche nach dem Kryptid spurlos verschwand.

Dabei hat die junge und sozial recht inkompetente, weil schüchterne Kay nur an einer geführten Wanderung auf den Kryptic Peak teilnehmen wollen, mit nicht viel mehr dahinter, als in die Natur hinauszugehen. Der Guide jedoch bringt mit seiner Erzählung dessen, was sich damals ereignet hat, die junge Frau auf die Idee, sich auf eigene Faust umzusehen. Dabei entdeckt sie Spuren von Valentine – und schließlich auch das Monster. Danach ist – wie bei David Lynch – von einem Moment auf den anderen alles anders. Der Samen fließt (frage nicht!), Kay weiß nicht mehr, wer sie zu sein scheint, und stiefelt nun mit falschem Namen durch British Columbia, wobei sie auf eine schräge Rezeptionistin, kauzige Eremiten und Augenzeugen trifft, die mit dem Sooka schon zu tun hatten. Manche von ihnen verschwinden nach der ersten Begegnung spurlos. Manche outen sich damit, ebenfalls von einer obskuren Macht beseelt zu sein.

Was immer auch in dieser Waldgegend abgeht, es entwickelt sich zu einem obskuren Mindfuck, dem es gelingt, fast so geschickt wie Lynch selbst Zeit und Raum zu einer Möbiusschleife zusammenzuzwirbeln. Es wäre ein durchaus beeindruckend konzipiertes Werk geworden, hätte sich Kourtney Roy nicht zusätzlich bemüßigt gefühlt, das Trauma sexueller Gewalt und den Ekel vor dem Koitus mitsamt den dabei entstehenden Körperflüssigkeiten zu verarbeiten. Der Schleim zieht sich wie eine Schneckenspur durch einen Film, der viel zu bedeutungsschwer ein sonst verspieltes Mystery-Abenteuer vermantscht.  

Schließlich ist die narrative Zeitebene tatsächlich das gelungen Kernstück eines prinzipiell geheimnisvollen, metaphysischen Gespinstes – wie Kourtney Roy den Bogen spannt zu einem Story-Twist, der verblüfft, ist entweder dramaturgischer Zufall oder wirklich präzise durchdacht. Angesichts mangelnder Stilsicherheit und einer derben Üppigkeit, mit welcher die sexuell aufgeladene, peripher besiedelte Waldwildnis sein Publikum verwirrt, vermute ich gar ersteres. Der Knopf bezüglich besagter, ineinander verflochtener Ereignisse und Identitäten wird nicht aufgehen. Und auch wenn: Die Legende des Sooka traut sich zu zaghaft ans Genre des Monsterhorrors heran, der angedeutete radikale Feminismus und der Schrecken der Fleischeslust wirken so befremdend wie die plötzliche Begegnung mit einem Exhibitionisten. Warum nur hätte Roy nicht dem Pfad durch den Wald weiter folgen können, warum ufert ihr Film aus in kaum zweckdienliche Brutalität – es ist, als würde sich die Filmemacherin eine schreckliche Erfahrung von der Leber inszenieren, als würde sie auskotzen, was ihr selbst widerfahren sein mag. Währenddessen schillert die Möbiusschleife wie ein vergessenes Element im Hintergrund herum, um dann doch noch aufgegriffen zu werden. Der Knoten im Hirn löst sich langsam, am Ende mag manches klarer sein, aber längst nicht alles.

Kryptic (2024)

Suitable Flesh (2024)

BODYSWITCH IM CTHULHUVERSE

7/10


SuitableFlesh© 2023 Shudder


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JOE LYNCH

DREHBUCH: DENNIS PAOLI, NACH DER KURZGESCHICHTE VON H. P. LOVECRAFT

CAST: HEATHER GRAHAM, JUDAH LEWIS, BRUCE DAVISON, JOHNATHON SCHAECH, BARBARA CRAMPTON, CHRIS MCKENNA, J. D. EVERMORE, ANN MAHONEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Obwohl der Begriff im Film nicht namentlich erwähnt wird, muss man dennoch die Frage stellen: Wer oder was ist Cthulhu? Kenner des Gesamtwerks von H. P. Lovecraft wissen: dieser Mann hat einen Mythos herbeifantasiert, welcher sich durch viele, um nicht zu sagen fast alle seine Werke zieht. Dieses uralte Geheimnis birgt die Tatsache, dass dieser unserer Planet Äonen noch vor dem Auftauchen des Menschen durch die sogenannten großen Alten besiedelt wurde. Diese haben sich dann mehr oder weniger von der Bildfläche verabschiedet, manche davon haben sich in die Tiefe der Meere zurückgezogen, manche tarnen sich und leben unter uns, was gerne zu paranoiden Visionen führen kann. Seit den Bergen des Wahnsinns hat sich Cthulhu und alles, was dazugehört, zu einem Verschwörungsmythos hochstilisiert, der das Genre des Kosmischen Horrors durchdringt und unter anderem auch in der Kurzgeschichte Das Ding an der Schwelle zu finden ist. Dass sich Lovecraft durchaus verfilmen lässt, hat zuletzt eine der Episoden aus Guillermo del Toros Cabinet of Curiosities bewiesen: Pickman’s Model mit Ben Barnes. Horror wie ein Schlag in die Magengrube. Keine Erlösung, stattdessen nur der Wahnsinn.

Die Farbe aus dem All ist auch so ein Lovecraft-Vehikel. Nicolas Cage verfällt da samt Familie einem violetten Leuchten – Dinge, Körper und ganze Landschaften verändern sich. Kann man ansehen, wenn man auf Body Horror-Rambazamba steht. Das Ding an der Schwelle hat sich Joe Lynch zu Herzen genommen und daraus den mit Heather Graham prominent besetzten Suitable Flesh inszeniert: einem Bodyswitch-Schocker, der es faustdick hinter den Ohren hat. Der sich anfangs jedoch so anfühlt, als hätten wir es hier mit Dutzendware aus der Mindfuck-Billigschiene zu tun, für welchen Heather Graham vielleicht angesichts mangelnder Angebote dann doch eingewilligt hat, nur, um wieder mal vor der Kamera zu stehen. Allerdings ist es nicht so, als ob Graham hier nur ihre Zeit absitzt und brav die Regieanweisungen Lynchs befolgt. Es scheint etwas an dem Film zu sein, wofür die mit Paul Thomas Andersons Boogie Nights bekannt gewordene Schauspielerin so etwas wie Herzblut investiert. Sie gibt die Psychiaterin Elizabeth Derby, Expertin auf dem Gebiet außerkörperlicher Erfahrungen, die eines Tages mit einem Fall konfrontiert wird, der sie an ihre Grenzen bringt. Ein junger Mann taucht auf und behauptet, von einem Bewusstsein temporär gesteuert zu werden. So wie es aussieht, könnte der eigene Vater dahinterstecken. Derby geht der Sache nach, stößt auf das schmucke Anwesen von Vater und Sohn, allerdings auch auf mittelalterliche Schwarten, in denen der Cthulhu-Mythos schlummert. Dumm nur, dass zu ebendieser Stunde ihr Patient gar nicht mehr Herr seiner Sinne ist, als er aufschlägt und seine Psychologin zu einem sexuellen Ex temporae verführt. Mit nachhaltigen Folgen.

Natürlich klingt Suitable Flesh nach ordentlichem B-Movie. Nach Sex und Ekel, Bodyhorror, Körpertausch und nackten Brüsten. Nach Monsterkino und Kellerhorror. In Joe Lynchs aufgekratzter, allerdings auch düsterer Horrorkomödie hält sich permanent eine undurchdringliche, kryptische Metaebene, die ganz dem verqueren Gedankengut von Lovecraft entspricht. Das Wie und Weshalb wird ohnehin niemals erklärt, manche Szenen enthalten Andeutungen für Insider. Details, die seltsam anmuten, die näher erforscht werden wollen, verschwinden auf Nebenspuren der Handlung, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. In lustvoller Gier nach Blut und multiplen Identitäten schraubt sich der hyperaktive Streifen in lächerlich absurde Höhen, die so lächerlich nicht sind, weil sie in Lovecraft’scher Konsequenz den maximalen Fall zelebrieren. Immer noch haben wir das billige B-Movie als Fassade, dahinter ein Freaky Friday mit alten Mächten, deren wahre Gestalt ein Geheimnis bleibt. Den rotierenden, sich selbst einholenden Wahnsinn verewigt Lynch formschön mit trudelnder Kamera, die keinen Halt mehr findet.

Suitable Flesh (2024)

Cat Person (2023)

VORSICHT VOR MÄNNERN

7,5/10


cat-person© 2023 Studiocanal


LAND / JAHR: FRANKREICH, USA 2023

REGIE: SUSANNA FOGEL

DREHBUCH: MICHELLE ASHFORD, NACH DER KURZGESCHICHTE VON KRISTEN ROUPENIAN

CAST: EMILIA JONES, NICHOLAS BRAUN, GERALDINE VISWANATHAN, ISABELLA ROSSELLINI, HOPE DAVIS, CHRISTOPHER SHYER, LIZA KOSHY, JOSH ANDRÉS RIVERA U. A.

LÄNGE: 2 STD 


Etwas schräg ist der Kerl an der Kinokassa eigentlich schon, aber andererseits auch süß. Doch Vorsicht. Dieses „Süß“ könnte nur die Fassade für einen charakterlichen Zustand sein, der – wie bei zu viel Süßem – in weiterer Folge für Unwohlsein sorgt. Ein Problem, mit welchem Frau sich herumschlagen muss, will akuter Männernotstand im Rahmen heterosexueller Beziehungsmuster behoben werden. Denn Männer wollen – ganz oben auf der Agenda – empirischen Wissens nach immer nur das eine. Dafür schlüpfen sie in Rollen, die für das andere Geschlecht attraktiv genug erscheinen. Sie bewahren ihre Geheimnisse und verkaufen sich gänzlich ohne Unzulänglichkeiten. Eigenwerbung und Partner-PR – nichts davon, damit ist zu rechnen, mag authentisch sein. Und doch passiert es immer wieder. Denn die Liebe ist – wie Conny Francis schon singt – ein seltsames Spiel, aus dessen Fehlern niemand lernt.

Dieser Kerl an der Kinokassa also, dieser Robert, der auf charmante Weise unbeholfen daherkommt, will Margot (Emilia Jones) gerne näher kennenlernen. Oftmals hat man Pech und das Gegenüber ist bereits vergeben – so aber hat Robert Glück und beide kommen sich näher. So weit, so simpel wäre Cat Person von Susanna Fogel, gäbe es da nicht die potenzielle Gefahr, die, sensibilisiert durch News und Medien, hinter jedem Mannsbild steckt, welches sich an soziokulturell tief verankerten Stereotypen und Rollenbildern abarbeitet, die jahrhundertelang alles Weibliche als zu unterdrückendes Feindbild entsprechend behandelt haben, aus Angst, nicht nur intellektuell zu unterliegen. Mit dieser herumgeisternden Möglichkeit, die Katze im Sack erstanden zu haben, muss Margot nun umgehen. Ein kleiner Trost mithilfe eines Glaubenssatzes gefällig?

Männer, die Katzen halten, also eben Cat Persons, sind harmlos, so sagt man. Stimmt das? Je mehr die beiden Zeit miteinander verbringen, desto deutlicher regt sich in Margot der Verdacht, dass mit Robert irgendetwas nicht stimmt. Oder ist es nur die eigene Angst, irgendwann ausgeliefert zu sein? Als die Katze durch Abwesenheit glänzt und der Sex dann auch kein zündendes Heureka verursacht, sondern ganz im Gegenteil, lediglich zur Tortur wird, distanziert sich Margot, will gar Schluss machen. Doch einen Mann wie Robert einfach so abservieren, der vielleicht seinen Psychopathen hervorgekehrt, wenn es um Kränkung geht? Immer mehr spitzt sich Cat Person zum Thriller zu, zum psychologischen Tagebuch unguter, gar bedrohlicher Vorahnungen, die in der Fantasie Margots eher Gestalt annehmen als es tatsächlich der Fall ist. Diese stete Furcht vor toxischer Männlichkeit gebiert Ungeheuer, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Susanna Fogel, welche die viral gegangene Blogger-Story von Kristen Roupenian interpretiert, spielt geschickt mit Erwartungen, Ängsten und den Zwickmühlen gesellschaftlicher Pflichten, die auf kolportierten Glaubenssätzen basieren. Cat Person atmet die kontaminierte Luft aus Misstrauen und berechtigter Vorsicht. Anders als Bisheriges, das aus spannungsgeladenen Beziehungskisten gezaubert wurde – von Eine verhängnisvolle Affäre bis zum eben in den Kinos angelaufenen Romantikdrama It Ends with Us mit Blake Lively – liefert Cat Person keinen offenen Kampf und keine klar markierten Positionen. Die spielerische Suspense entsteht durch das Ausleben der bitteren Konsequenzen, die aufgrund von Vorurteilen entstehen, die über ein gesamtes Geschlechterbild hinwegschwappen. Die Vermutung ist das Indiz, die Möglichkeit der Beweis. Fogel ist eine ausgesprochen kluge und ungewöhnliche Tragikomödie gelungen, deren Protagonisten einem leidtun können, die jedoch Opfer des eigenen mitgelebten sozialen Wahnsinns geworden sind, der immer mehr um sich greift. Ein Film, der ausser oft ins Schwarze auch den Puls der Zeit trifft.

Cat Person (2023)

Stars at Noon (2022)

NACKT IN NICARAGUA

5/10


starsatnoon© 2022 Ad Vitam Distribution


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: CLAIRE DENIS

DREHBUCH: CLAIRE DENIS, ANDREW LITVACK, LÉA MYSIUS

CAST: MARGARET QUALLEY, JOE ALWYN, DANNY RAMIREZ, BENNY SAFDIE, JOHN C. REILLY, NICK ROMANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Reden wir nicht über Politik. Reden wir über die Liebe. Oder die Leidenschaft. Die Sexuelle Begierde, die in zerknüllten feuchten Laken und dampfenden Körpern – mein Gott, ist das schwülstig formuliert – ihren Ausdruck findet. Doch ob schwülstig hin oder her: in letzter Zeit ist mir kein anderer Film untergekommen, der die Definition von romantischem Abenteuer so sehr in eine Groschenroman-Ästhetik verpackt wie Stars at Noon. Die französische, sich quer durch alle Genres durchkostende Vielfilmerin Claire Denis hat sich eines Romans aus den Achtzigern angenommen, der in den Wirren des Nicaragua-Krieges spielt und sehr viel mit CIA, waghalsigem Journalismus und zwielichtigen Nutznießern aus der Wirtschaft zu tun hat. Alles Faktoren, die großes internationales Kino versprechen, so episch, als wären Catherine Hepburn und Spencer Tracy oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart traumwandelnde Gestalten inmitten politischer Umbrüche und derlei gesellschaftlicher Spannungen, die damit einhergehen.

Traumwandlerisch ist wohl das Adjektiv, das am besten zu Stars at Noon passt. Ins Zentrum setzt Claire Denis Margaret Qualley, die Tochter Andie McDowells und seit Tarantinos Once Upon a Time… in Hollywood einem breiteren Publikum wohlbekannt. Sie gibt eine amerikanische Journalistin, die unangenehme Fragen gestellt und einen Artikel veröffentlicht hat, den allerlei mächtige Leute als bedenklich einstufen. Das hat zur Folge, dass die junge, durchaus promiskuitive Dame ohne Geld und ohne Pass in Nicaragua festsitzt und darauf hofft, durch Sex in die Gunst mancher Männer zu gelangen, die Beziehungen haben. Nicht selten lässt sie sich dafür auszahlen, darunter auch von Geschäftsmann Daniel (Joe Alwyn), der den Reizen der zugegeben hocherotischen Trish naturgemäß erliegt. Dieser Geschäftsmann aber hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, und zwar mit jenen der costa-ricanischen Polizei und natürlich auch mit der CIA, und allesamt sind sie hinter ihm her, während Trish, immer noch darauf aus, ihre Papiere zurückzuerlangen, Daniel zur romantischen Zweisamkeit nötigt, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Letztendlich beschließen sie, sich gemeinsam Richtung Costa Rica abzusetzen. Auch ohne Pass und Geld.

Was an Stars at Noon am meisten fasziniert, ist das Gesicht von Margaret Qualley. Claire Denis kann sich daran nicht sattsehen. Wenn das liebreizende Konterfei nicht reicht, gibt’s Qualley auch im Evakostüm vor dem Fenster, vor dem Spiegel, auf dem Bett oder im Badezimmer. Es ist, als hätte Richard Hamilton lediglich seinen Weichzeichner vergessen, doch die eingefangene, schweißtreibende Schwüle tut ihr Übriges, um Konturen aufzuweichen. Stars at Noon ist schön anzusehen, keine Frage. Diese stellt sich aber umso mehr, betrachtet man den offensichtlichen Anachronismus des Films. Denis liegt weder daran, eine komplexe politische Geschichte zu erzählen noch daran, all die Umstände, die Trish und Daniel dorthin gebracht haben, wo sie sind, näher zu erläutern. Nicht mal die Zeit scheint von Bedeutung, Referenzstücke, um ein bestimmtes Jahrzehnt zu eruieren, fehlen gänzlich. Also vermischt sie Versatzstücke der modernen Gegenwart wie Smartphones und Chipkarten mit den politischen Unruhen der Reagan-Ära. Indizien, die nicht zusammenpassen.

Überhaupt nutzt Stars at Noon seinen fadenscheinigen Plot lediglich als abstrahiertes Konstrukt, als simplifizierte Verzerrung eines relevanten Politikums. Wie ein hohles Gefäß, in das Claire Denis ihre Zeit totschlagende Romanze bettet, eine Art Kulisse ohne Tiefe, eine austauschbare Variable für Thrillerdramen aller Art. In diesem kafkaesken Mysterium stört Margaret Qualley rein gar nichts, ihr breites Lächeln entschädigt für vieles, jedoch nicht für das langweilige Spiel von Joe Alwyn, zwischen beiden sprüht kein Funke. All die übrigen Figuren sind Staffage rund um Qualleys einnehmender Entrücktheit, der man die Rolle der investigativen Journalistin keine Sekunde abnimmt. Wer sind sie dann, diese beiden? Kolportierte Antihelden einer Stil-Hommage an den amerikanischen Film Noir, deren Plots manchmal so undurchschaubar waren, dass man sich am liebsten gar nicht damit auseinandersetzen, sondern nur mit den schmachtenden Momenten der Liebenden Vorlieb nehmen wollte. Diese Diffusion gelingt Claire Denis dann doch. Ob schwülstige Tropennächte das Soll erfüllen? Wie bei so vielen anderen Filmen bleiben bei diesem hier ohnehin nur Fragmente in Erinnerung. Es sollen die richtigen sein.

Stars at Noon (2022)

Miller’s Girl (2024)

DES LEHRERS FEUCHTER TRAUM

3/10


MillersGirl© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JADE HALLEY BARTLETT

CAST: JENNA ORTEGA, MARTIN FREEMAN, GIDEON ADLON, BASHIR SALAHUDDIN, DAGMARA DOMIŃCZYK, CHRISTINE ADAMS U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


In Ti Wests Retro-Slasher X fiel sie dem Publikum vielleicht nicht ganz so auf – spätestens als Wednesday war das eine Sorge weniger: Jenna Ortega brillierte als morbider Teenie-Freak in ungeahntem Ausmaß, ihre denkwürdige Tanzeinlage in einer der wohl erfolgreichsten Netflix-Serien ever zählt jetzt schon zu den popkulturellen Schätzen der 20er Jahre des neuen Jahrtausends. Tim Burton wusste, wie er nicht nur die gesamte monströse Sippschaft, sondern vor allem Ortega in Szene setzen muss – mit ernster, stoischer Miene und stets einem gespenstischen Lächeln auf den Lippen, wenn Mord, Tod und Verwesung gerade mal wieder Hochkonjunktur hatten. So eindringlich diese Performance in Addams verschroben-spannender Fantasy, so austauschbar wird sie im neulich in den Kinos angelaufenen Lehrer-Schüler Drama Miller’s Girl von Jade Halley Bartlett. Diesen Miller, den gibt der ewige Sympathieträger Martin Freeman, der als junger Bilbo Beutlin Wesentliches dazu beigetragen hat, um Mittelerde nicht in Schutt und Asche versinken zu lassen. Und als vom Krieg traumatisierter Dr. Watson war er die perfekte Ergänzung zum messerscharf kombinierenden Benedict Cumberbatch.

In Miller’s Girl darf er als mehr oder weniger erfolgloser Schriftsteller an einer Uni irgendwo in Tennessee Literatur unterrichten, ganz besonders bemerkt er dabei die stets in Miniröcken recht reizvoll aufgedonnerte 18jährige Studentin Cairo Sweet (was für ein obskurer Name), die es sich nicht nehmen lässt, den knuddeligen, leider etwas in seiner künstlerischen Entfaltung verhinderten Intellektuellen mit subversiver Koketterie zu verführen und daher nicht mit Reizen zu geizen, die spätestens dann, als Miller seiner Schülerin die Möglichkeit gibt, aufgrund ihres famosen Talents eine vorgezogene Zwischenprüfung zu absolvieren, nicht umsonst gewesen sein werden. Denn in der Wahl ihrer Arbeit wählt sie Henry Miller als stilistisches Vorbild, und wir alle wissen, was dieser Mann alles geschrieben hat, vor allem Dinge, die Minderjährige nicht lesen sollten. Spätestens da wird die Namensgleichheit der beiden Wortakrobaten überdeutlich, und Martin Freemans Figur des stets nahe an der süßen Versuchung (Sweetie – Nomen est Omen) befindlichen Miller Nr. 2 kann gerade noch so an sich halten, um nicht das Verbotene zu tun, nämlich eine Liaison mit einer Studentin einzugehen, die ihm vermutlich den Job kosten würde.

Natürlich ist die junge Dame ein Hingucker, natürlich sind die Close Ups ihres Konterfeis und all die figurenbetonenden Outfits so richtig nett – für einen Instagram Account. Für einen Film, der sich zaghaft gibt und meilenweit davon entfernt ist, mit dem Thriller-Genre zu kokettieren, fehlt es an der Wahl der richtigen Szenen, um den Charakteren eine relevante Biographie angedeihen zu lassen, da hilft nicht mal Jenna Ortegas Stimme aus dem Off, die über ihr Leben klagt, weil sie in elternloser, aber steinreicher Einsamkeit (ein Soll, nach dem Barry Keoghan in Saltburn strebt) jenseits ihres Studiums sonst nichts hat, was ihr Leben aufpeppt. Diesen Mangel an Biss, den Cairo Sweetie mit aus meiner Sicht dilettantischer Provokation wettmachen will, macht Miller’s Girl aber unentwegt zum Thema.

Vielleicht liegt es auch an der Fehlbesetzung von Martin Freeman, der sich nicht entscheiden kann, wer oder was er sein will: Bilbo, Dr. Watson, Agent Ross aus dem Marvel-Universum oder jemand ganz anderer? Es ist ein ständiges Zögern auf beiden Seiten, viel Gerede über Literatur, es ist wie das Warten auf die Unterrichtsstunde irgendwo am Schulhof, während man eine Zigarette raucht. Dabei blicken sich beide tief in die Augen – und nichts passiert. Sidekicks wie Bashir Salahuddin als Millers Lehrerkollege oder Dagmara Domińczyk als exaltierte bessere Hälfte Freemans stören dieses ohnehin scheiternde Chemie-Experiment auf nervtötende Weise, ihr Mehrwert für diesen Film lässt sich nicht deutlich erkennen, dabei nehmen diese ganz schön viel Raum ein, wie Hooligans bei einem Fußballmatch: Störend, auffällig, doch den Kern der Sache bringt es nicht weiter. Miller‘s Girl ist ein Beispiel dafür, wie Nebenrollen einen Film dabei hindern können, mehr aus sich zu machen.

Da diese Nebenrollen wie lästige Gäste am Ende noch immer nicht gehen wollen, verhallt die körperliche Liebe in Gedanken. Ohne Funke, ohne Feuer, nur kalter Rauch, das letzte Überbleibsel einer zaghaften Idee, die nicht den Mut hat, über eine Schamesröte beim Lesen von Henry Miller hinauszugehen. Da bleibt nur Jenna Ortega, wie sie in Zeitlupe die Spindzeile ihrer Schule entlangschreitet – was sie in Wednesday auch schon getan hat, nur diesmal selten in Schwarz und mit offenem Haar.

Miller’s Girl (2024)