The Village Next to Paradise (2024)

WIE TRÄUMT MAN AM HORN VON AFRIKA?

6,5/10


thevillagenexttoparadise© 2024 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SOMALIA 2024

REGIE / DREHBUCH: MO HARAWE

CAST: AHMED ALI FARAH, ANAB AHMED IBRAHIM, AHMED MOHAMUD SALEBAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


„Erzählst du mir wieder von deinen Träumen?“, fragt der eine Junge seinen ehemaligen Schulkollegen, und zwar deswegen ehemalig, da die Bildungseinrichtung im Dorf namens Paradies mangels Lehrkräfte dicht machen musste. „An die kann ich mich nicht mehr erinnern“, entgegnet Cigaal. Vielleicht, weil Träume mit Aussicht auf eine bessere Zukunft Teil der Realität geworden sind. Sein Vater Mamamrgrade hat ihn schließlich aufs Internat geschickt. Damit irgendetwas wird aus ihm, wenn schon die Erwachsenen an den wenigen Möglichkeiten, die es braucht, um im Leben weiterzukommen, ihre ganze Motivation verbrauchen. Eine gute Ausbildung ist alles, genauso wie die Bereitschaft, sich für alles anzubieten. Denn Mamamrgrade ist nicht nur Lieferant für heiße Ware, sondern vor allem auch Totengräber, der vermehrt Opfer von Terroranschlägen und Drohnenangriffen in der knochentrockenen Erde Somalias verscharrt. Seine Schwester Araweelo hat indes mit einer gescheiterten Ehe zu kämpfen und mit dem Traum einer eigenen Schneiderei. Dafür gelingt es ihr zumindest, einer Nähmaschine habhaft zu werden. Der Rest solle dann folgen. Und dafür braucht es Geld, einen ganzen Haufen dieser ausgefransten, abgegriffenen, speckigen Scheine, welche die inflationäre Währung am Horn von Afrika verkörpern.

Wenn man von Somalia etwas mitbekommt, dann sind es von Piraten in ihren Schlauchbooten aufgebrachte Frachtschiffe wie in Captain Phillips von Paul Greengrass. Oder katastrophal danebengegangene Missionen des US-Militärs, wie sie Ridley Scott in Black Hawk Down so fühlbar vor Augen führt. Von Gewalt, Krieg und religiösem Fanatismus ist in The Village Next to Paradise nichts oder nur sehr wenig zu sehen. Jene Anarchie eines Landes, die es in die Schlagzeilen bringt, schwelt am glutheißen Horizont, während die Anarchie einer Gesellschaft, in der jede und jeder selbst improvisieren muss, um nicht unterzugehen, Erwähnungen im Auslandsfernsehen kaum wert sind. Am Horn von Afrika findet, man möchte es kaum glauben, sogar so etwas wie Alltag statt. Werte, Würde und Beharrlichkeit sind selten etwas, wofür die Erziehung Ressourcen übrighat. Die Not bringt Tugenden – oder manchmal auch die falsche Entscheidung.

Der aus Somalia nach Österreich immigrierte Autorenfilmer und Kurzfilmkünstler Mo Harawe hat mit The Village Next to Paradise seinen ersten Langfilm inszeniert und diesen ins Programm der diesjährigen Viennale gebracht. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass Harawe wohl kaum jene Mühsal auf sich genommen hat, um tatsächlich vor Ort am Schauplatz der Geschichte zu filmen. Doch das hat er getan – und verleiht damit seinen Alltagsbeobachtungen eine intensive dokumentarische Authentizität, die es schafft, die fremde Realität für kurze Zeit als die eigene wahrzunehmen. Das liegt vielleicht daran, dass es Harawe nicht darum geht, poetische Verklärungen aus einem exotisch anmutenden Land auf gefällige Weise einem Weltpublikum näherzubringen, um vielleicht die Werbetrommel im Tourismus Somalias zu rühren. Der ist faktisch nicht vorhanden, und während dieser im Eigenantrieb voranschlurfenden Tagen wird klar, wie sehr Harawe einerseits seine Heimat vermissen muss, andererseits, wie sehr es ihm wohl auch daran gelegen hat, dem Unzulänglichkeiten eines Staates, der seine Bürger weitestgehend ihrem Schicksal überlässt, ins Auge zu sehen. Und das Leben, welches so ganz anders abläuft, als wir es gewohnt sind in den luxuriösen europäisch-westlichen Breiten, folgt dabei der Begrifflichkeit von Zeit, die uns womöglich wahnsinnig machen würde, da Schnelllebigkeit nichts ist, womit sich Somalier herumschlagen müssen.

Vieles, wenn nicht alles, verläuft mit angezogener Handbremse. Mit lakonischem Phlegma ringen Menschen mit ihrer Existenz, doch nicht, wie man erwarten würde, schicksalsergeben. Hier in Somalia ist der Rhythmus der eines träge schlagenden Herzens. Und was andernorts auf eine Filmlänge von knapp 90 Minuten heruntergebrochen werden könnte, füllt in The Village Next to Paradise eine satte Überlänge, und zwar so, als gäbe es kein filmisches Ende, als würde Harawe gar nicht daran denken, einen Schlusspunkt zu setzen. Ich beobachte ihn, wie er einen nach dem anderen verpasst, immer weiter zieht das Schicksal, der Zufall und die Gunst ihre Kreise, das Sitzfleisch wird mürbe. The Village Next to Paradise gerät fast ein Drittel seiner Spielzeit zu lang, Geduldige können sich glücklich schätzen, diese Eigenschaft zu besitzen. Alle anderen winden sich in den Sitzen, und irgendwann endet der immersive Ausflug in eine Vergessene Welt dann doch und lässt ein bisschen Hoffnung über. Ein bisschen Zuversicht, und lobt nebenher des Menschen Drang zur Erfüllung der eigenen Wünsche.

The Village Next to Paradise (2024)

Mond (2024)

AUDIENZ IM GOLDENEN KÄFIG

7,5/10


Mond© 2024 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: KURDWIN AYUB

CAST: FLORENTINA HOLZINGER, ANDRIA TAYEH, CELINA SARHAN, NAGHAM ABU BAKER, OMAR ALMAJALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


In Kurdwin Ayubs Vorgängerfilm Sonne ging es noch darum, wie sehr es schicklich ist, als junge Muslimin auf Social Media jugendlicher Lebensfreude Ausdruck zu verleihen – ganz ohne Hijab und anderweitiger kulturell bedingter Verhüllungen. Ein leichtfüßiger, offener Versuch, auf experimentellem Wege ein Problem anzusprechen – dem es aber allerdings an Biss fehlt. Nach dem strahlenden Zentralgestirn rückt aber nun der Erdtrabant in den Vordergrund – er ist titelgebend für den Mittelteil einer geplanten Trilogie, und dieser lässt Performancekünstlerin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle zu Luna werden, zu einer um einen zentralen Missstand kreisenden Satelliten, der sich anfangs nicht imstande sieht, das Geschehen auf diesem fremden Planeten zu beeinflussen, nicht mal, was die Gezeiten betrifft. Dieses fremde und doch so vertraute Gestirn ist ein goldener Käfig für drei weibliche Geschwister im Teenageralter, die auf Anweisen ihres größeren Bruders hin zur körperlichen Ertüchtigung angehalten werden. Holzinger gibt in Ayubs Film eine erfahrene Martial Arts-Sportlerin, deren Bestzeiten allerdings vorbei zu sein scheinen. Nach einer Niederlage im Wettkampf verdingt sie sich als Trainerin, bis sie die Anfrage eines steinreichen Jordaniers erhält, der Protagonistin Sarah gerne für einen Monat nach Amman einlädt, um seinen Schwestern beizubringen, wie man kämpft, in Form bleibt und vor allem eins: Disziplin erlernt.

Es mag der Luxus und der Prunk noch so sehr schillern – Holzingers Charakter Sarah ist nicht jemand, der sich davon blenden lässt. Ihr geerdetes Welt- und Werteempfinden kollidiert schon bald mit dem obskuren Regelwerk eines elitären, patriarchalen Haushalts, in welchem die jungen Frauen nichts zu sagen haben. Ihre von den Männern verordnete Gefangenschaft lässt sich zwar aushalten, doch Freiheiten gibt es kaum welche – wenn, dann nur Langeweile und übersättigter Luxus in kalten Räumen. Sarah wird zur Beobachterin eines dysfunktionalen Familienlebens, das nur so tut, als wäre es liberal genug, um westliche Besucher nicht vor den Kopf zu stoßen. Eine der Mädchen zieht die selbstbewusste Trainerin ins Vertrauen – in der Hoffnung, dass diese etwas ändern könnte an einem Status Quo, der so scheint, als könnte niemand ihn ändern.

Kurdwin Ayub beherrscht ihr Handwerk so souverän, als wäre sie schon lange Zeit im Filmbiz unterwegs, dabei ist Mond erst ihr zweiter Langfilm. Ein Naturtalent, könnte man meinen, vor allem auch deshalb, weil Ayub ein komplexes Thema verfolgt, das mit nur einem Film längst nicht auserzählt ist, wofür es zahlreiche Blickwinkel braucht, die zur Sprache gebracht und in Bilder gepackt werden müssen. Sowohl Konzept als auch das Skript und die Regie sind von ihr, gefördert und auf positive Weise beeinflusst durch alte Hasen auf ihrem Gebiet wie zum Beispiel Ulrich Seidl. Das Schöne daran: Ayub kopiert den Lehrmeister nicht, sondern macht ihr eigenes Ding. Sie kopiert auch nicht Regiekollegin Veronika Franz, die bei ihren Filmen ausführende Funktionen übernimmt. Ayub ist eine Quer- und Alleindenkerin, eine originäre Künstlerin, die in Mond, noch viel mehr als in Sonne, ihren eigenen Rhythmus gefunden hat. Und der ist streng, straff und dicht. Obwohl Mond per se kein Thriller ist, fühlt er sich an wie einer. Das liegt an den effizient verfassten Passagen des Drehbuchs, und an der Fähigkeit, Wesentliches vom Überflüssigen zu unterscheiden. Was bleibt, ist in Mond das Wesentliche. Ayubs Szenen erlauben viel Beobachtung und ruhende Momente, in denen Konflikte wachsen, die sich allesamt relevant anfühlen. Nichts ist nur so daherinszeniert, dahergesagt oder lediglich ausprobiert. Das authentische, ungekünstelte Spiel Holzingers unterstreicht diese Direktheit, dieses Hindurchgreifen zwischen die Gitterstäbe eines goldenen Käfigs. Dahinter die unterdrückte Weiblichkeit durch eine längst obsolete, fatale Männerkultur. Zivilcourage wird dabei nicht zum plakativen Heldenmut, sondern zur ambivalenten Notwendigkeit, zum Pflichtgefühl aufgrund zu verteidigender Werte.

Mond ist ein hochspannendes, faszinierendes Stück Konfliktkino, trotz oder gerade wegen seiner passiv-aggressiven Zurückhaltung. Raum für Persönliches und Raum für dezenten Suspense formulieren diesen Film zu einem prägnanten, klaren Statement. Und das nur mit wenigen, aber präzise gesetzten Kniffen.

Mond (2024)

Shahed – The Witness (2024)

PORTRAIT EINER KÄMPFERIN

6,5/10


shahed© 2024 Viennale


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: NADER SAEIVAR

DREHBUCH: JAFAR PANAHI, NADER SAEIVAR

CAST: MARYAM BOUBANI, NADER NADERPOUR, HANA KAMKAR, ABBAS IMANI, GHAZAL SHOJAEI U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Männer im Iran können tun und lassen, was sie wollen. So ein politisches Ungleichgewicht zum Leidwesen aller dort lebenden Frauen nennt man Patriarchat. Es wird angeführt von Würdenträgern, die Staat und Glaube nicht trennen wollen. Frauen müssen gehorchen, kuschen, sich unterwerfen. Das beginnt mit dem Tragen des Hijab und endet vielleicht damit, als Kollateralschaden für männlichen Machtwillen mit dem Leben zu bezahlen. Wie es aussieht, scheint genau das in Shahed – The Witness passiert zu sein. Vor dem Hintergrund gehörverschaffender Demonstrationen gegen das Regime und den darauffolgenden Unruhen in Teheran aufgrund von Todesfällen durch willkürliche Polizeigewalt sieht sich die längst pensionierte Lehrerin Tarlan vor Herausforderungen gestellt, die kaum zu bewältigen sind. Längst erfahren im sozialpolitischen Aktivismus, muss sie diesmal mit ansehen, wie ihre Ziehtochter von ihrem Ehegatten zwangsbestimmt wird. Die Schule für traditionellen Tanz hat sie zu schließen, fördert dieser doch sündigen Ungehorsam. Tarlan bemüht sich, zu intervenieren und zu vermitteln, diese Fähigkeit beherrscht sie schließlich gut. Doch anscheinend hilft das alles nichts: als Tarlan im Haus ihrer Tochter nach dem Rechten sehen will, wird sie Zeugin einer vom Schwiegersohn begangenen Straftat. Ob es sich um den reglosen Körper der Person im Schlafzimmer um die eigene Ehefrau handelt, kann Tarlan nicht genau bestimmen. Doch die Gewissheit folgt auf dem Fuß, als diese tot aufgefunden wird. Der Dreck am Stecken des eitlen Geschäftsmannes ist unübersehbar, da kann die rechtschaffene Seniorin noch so sehr gebeten werden, die Sache auf sich beruhen zu lassen: Wo die Ungerechtigkeit Opfer fordert, lässt sich nicht wegsehen.

Diesem Dorn im Auge einflussreicher Männer gibt Maryam Boubani in dieser deutsch-österreichischen Produktion eine eindrucksvolle Gestalt. Niemals müde, und doch der Erschöpfung nahe, scheint es die Pflicht jener, aufzubegehren, die sich darin noch imstande fühlen. Dass Tarlan dabei das Feld den Jungen überlässt, so zum Beispiel der Tochter der Ermordeten, kommt ihr erstmal gar nicht in den Sinn. Regisseur Nader Saeivar, der mit Jafar Panahi (No Bears) zu diesem Film gemeinsam das Drehbuch verfasst hat, folgt in seinem sozialpolitischen Justizdrama, in welchem es ganz viel um Familie geht, einer bereits etablierten Tradition hellwachen, kritischen Kinodenkens, die Ashgar Farhadi mit seinen neorealistischen Meisterwerken längst anführt. Panahi hat sich dabei mit No Bears ein bisschen zu sehr selbst inszeniert, während Saeivar die Bühne zu Gänze seiner vor Kraft, Einfallsreichtum und Beharrlichkeit strotzenden Protagonistin überlässt. Shahed – The Witness funktioniert daher viel besser als fiktives Portrait einer Kämpferin und weniger als politisches Statement. Ein Einzelschicksal, verflochten mit anderen, tragischen Schicksalen, und gleichermaßen auch ein Aufruf, den Blick zu heben, um zu erkennen, dass Kämpfernaturen nicht allein sein müssen.

Da sich Saeivar sehr auf die Sichtweise einer Frau beschränkt, fällt sein Film als psychologische Miniatur auf; als streng positioniertes, persönliches Hazardspiel, das große Ganze anderen überlassend. So aber wird klar, wieviel Wirkung Einzelne erzielen können. Mit Shahed – The Witness wird das kritische Kino, das den Problemstaat Iran ins Visier nimmt, um eine Facette, einen Blickwinkel erweitert. Mag sein, dass inhaltlich wenig mehr Erhellendes übrig bleibt und nur wiederholt wird, was andere längst gesagt haben. Andererseits tut es gut, das gesprochene Wort nochmal zu unterstreichen. Und dabei die Generation der Älteren in den Fokus zu stellen.

Shahed – The Witness (2024)

Viennale 2024

MIT DEN FLÜGELN EINER ALGE


Mit dem Natürlichen steht die Viennale stets in Verbindung. Letztes Jahr der Fötus eines Tigers in roter Ursuppe, dieses Jahr eine rote Alge mit dem wissenschaftliche Namen Delesseria lancifolia, die obendrein noch aussieht wie der Flügel eines Vogels. So, als hätte ein Naturkundler eine neue Art entdeckt und sie publiziert, im Rahmen eines prachtvollen Portfolios.

Jenes des großen Wiener Filmfestivals hat diesmal so einiges Wundersames, wenngleich weniger Überraschendes in petto, vor allem, wenn man das ganze Jahr über all die Events von Cannes bis Venedig akribisch mitverfolgt hat. Dabei lässt sich ganz gut prognostizieren, was sich Festivalleiterin Eva Sangiorgi alles für Schnäppchen sichern wird – ihre Vorlieben lassen sich mittlerweile gut einschätzen. Wie so meistens rückt der Termin für die knapp zwei Wochen, in denen man als Filmnerd weniger Zeit für was auch immer hat als sonst, schneller näher als vermutet. Der Stress mit dem Vorverkauf schlug mir letztes Jahr ein Schnippchen in meine Planung – heuer aber läuft es anders. Ich bin akkreditiert worden. Allerdings konnte ich keine solche ergattern wie für das Slash Filmfestival, sondern eine Art Hybrid zwischen klassischem Besucher und Journalist – günstigere Tickets für Blogger wie mich, die keinem großen Medium angehören, allerdings aber in fleißigem Rhythmus der Veröffentlichungen seine Leserschaft informieren.

Da ich diesmal eben nicht zu einem gewissen Stichtag wissen musste, was genau ich sehen möchte, sondern stets bis zu zwei Tage vor der Screening-Time relativ spontan im Ticketshop in einem eigenen Kontingent herumwühlen kann, ist es diesmal entspannter. Ein paar Eckpfeiler sind aber bereits in der Tasche: Andreas Dresens In Liebe, eure Hilde mit Liv Lisa Fries, die Tier-Mensch-Dokumentation Monologo Collectivo aus Argentinien sowie der Cannes-Gewinner Anora und Jacques Audiards Emilia Pérez. Hierfür probiere ich erstmals das Filmfrühstück – will heißen: 6:30 morgens im Kino, wenn’s draußen noch dunkel ist.

Ich werde auch diesmal wieder, so wie es meine Zeit erlaubt, meine Gedanken bloggen und freue mich auf zahlreiche Leserinnen und Leser, die, so hoffe ich, gerne auch ihre Meinung kundtun wollen. Bis bald im Kino!

Viennale 2024

80 Plus (2024)

DAS SCHICKSAL ÜBERHOLEN

7/10


80 Plus© 2024 Orbrock Film/ Tivoli Film/ Jovan Stevanovic


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: SABINE HIEBLER, GERHARD ERTL

CAST: CHRISTINE OSTERMAYER, MARGARETHE TIESEL, MANUEL RUBEY, LAURA HERMANN, JULIA KOSCHITZ, THOMAS MRAZ, PETRA MORZÉ, JULIA JELINEK, STEFANIE SARGNAGEL, REINHARD NOWAK, DAVID SCHEID, GÜNTER TOLAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Die Jungen werden es nie verstehen. Oder doch? Wenn man alt wird, erweckt man seltsamerweise stets den Eindruck, immer knapp vor der Entmündigung zu stehen. Warum man als Greisin oder Greis nicht mehr das tun darf, was man will, liegt an unreflektierten Glaubenssätzen, die stets Demenz, Verwirrtheit und Arthritis in ihrem Wortschatz wissen. Die Jungen wollen dann für die Alten nur das Beste, in Wahrheit aber für sich selbst – aufgrund von Schuldgefühlen, falschem Gewissen oder einfach nur aus Eigennutz. Warum im Alter Selbstbestimmung so schwer zu erkämpfen ist und wie sich diese aber einfordern lässt, davon erzählt ein launiges und beherztes Roadmovie quer durch Österreich. Das klingt nun recht simpel, vielleicht auch vorhersehbar. Doch da ist noch eine andere Ebene, eine viel wichtigere Botschaft, die auch als Gebrauchsanweisung verstanden werden kann.

Denn nicht nur ums hohe Alter geht es hier, sondern natürlich auch um den Tod, der sich am Ende aller Lebensstraßen letztlich abzeichnen wird und den Helene bereits ausmachen kann. Der ehemalige Kinostar mit Stil und Noblesse hat sich dank des Erlernens sämtlicher Bühnen- und Filmrollen eine so gepflogene Aussprache angeeignet, dass man sich selbst dabei vorkommt wie ein röhrender Urmensch. Helene hat Krebs und hat die Krankheit schon einmal in ihre Schranken verwiesen, doch jetzt ist sie wieder da. Noch einmal diese schwere Therapie über sich ergehen zu lassen, ist keine Option. Von daher winkt das Nachbarland Schweiz, in welchem Sterbehilfe straffrei in Anspruch genommen werden kann, sind die Parameter dafür erfüllt. Das Problem: Helene sitzt in einer Seniorenresidenz und ist in ihrer Mobilität eingeschränkt, überdies quält sie ihr Neffe (ambivalent: Manuel Rubey) mit scheinbar fürsorglichen Sanktionen. Womit er nicht gerechnet hat: Zimmernachbarin Margarete Tiesel als Toni. Sie ist das genaue Gegenteil zu Diva Helene, ist bodenständig, urwienerisch und raucht wie ein Schlot. Es sieht niemals danach aus, als würden die beiden einen gemeinsamen Nenner finden, doch in Paul Harathers Indien gaben Alfred Dorfer und Josef Hader ebenfalls zwei wie Tag und Nacht. Ein Film wie dieser lebt davon, das sich Gegensätze anziehen und schließlich ergänzen. Und so suchen beide mit dem Oldtimer Helenes das Weite Richtung Westen, während Neffe Rubey und später auch die Polizei den beiden im Nacken sitzen. Klingt nach Thema & Louise? Vielleicht ein bisschen. Das Alter sollte dabei keine Unterschiede machen.

Nicht alles in 80 Plus ist, wie vermutet, vorhersehbar. Und auch wenn es das wäre: Christine Ostermayer und Margarete Tiesel sind das neue Dreamteam am österreichischen Filmhimmel. Beide spielen ihre Rollen mit Hingabe, erfrischender charakterlicher Kontinuität und einer Sympathie füreinander, die über den Dreh hinausgehen muss. Die 88jährige Ostermayer strahlt vor Schönheit und Anmut – die Dame hat Stil bis in die Fingerspitzen, sie weiß auch den Frust und den Drang ihrer Figur in der richtigen Balance zu halten und entsprechend auf Tiesels eher rabiatere Lebenseinstellung einzugehen. Tiesel wiederum, bekannt aus Ulrich Seidls Paradies: Liebe, gibt sich als scheinbar lebensfrohes, bodenständiges Original, das sich als Genussmensch mit Hang zur Autoaggression dem Hier und Jetzt verschrieben hat. Damit stehen zwei Philosophien anfangs gegeneinander, um später einander zu bereichern: Das Innehalten in der Gegenwart und das Versöhnen mit einer nicht mehr fernen Zukunft. Beides könnte einen Lebensabend voll innerer Zufriedenheit garantieren, trotz so mancher Dunkelheit, die sich anbahnt oder längst da ist. Worauf es dabei ankommt, um auch damit fertigzuwerden, bringen Sabine Hiebler und Gerhard Ertl (Sargnagel – Der Film, Anfang 80) auf traditionelle, wenn nicht gar deutlich konventionelle, aber entwaffnend liebenswürdige Weise ihrem Publikum in klar verständlicher Chronologie näher. Es ist nichts, was wir nicht ohnehin schon gewusst hätten, zumindest in der Theorie. Hätte Manuel Rubeys Filmfigur Josef diesen Film gesehen, würde er mir zustimmen. Doch die Praxis ist immer anders, spätestens dann weiß man es nicht mehr besser, sondern ist mittendrin. Vielleicht wirken Filme wie diese deswegen so selbstverständlich in ihrer Conclusio.

Dass 80 Plus auch Tränen mit sich bringt und sich zu Sentimentalitäten hinreissen lässt, die in trivialeren Fernsehformaten meist besser funktionieren, mag man skeptisch betrachten. Gefühle richtig darzustellen, ohne sie zu verseifen, ist schwierig. Hiebler und Ertl retten sich aber schnell wieder da raus, somit sei gesagt: Keine Scheu vor Alter und Tod, schon gar nicht in diesem Film, in welchem es dann doch viel mehr um das Leben geht.

80 Plus (2024)

Veni Vidi Vici (2024)

DER PAPA WIRD’S SCHON RICHTEN

6/10


VeniVidiVici© 2024 Ulrich Seidl Filmproduktion


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE: DANIEL HOESL & JULIA NIEMANN

DREHBUCH: DANIEL HOESL

CAST: LAURENCE RUPP, URSINA LARDI, DOMINIK WARTA, JOHANNA ORSINI, MARTINA SPITZER, MARKUS SCHLEINZER, MANFRED BÖLL, CHRISTOPH RADAKOVITS, BABETT ARENS U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Der Papa wird‘s scho richten, das g’hört zu seinen Pflichten… Dass die Oberen über dem Gesetz stehen, besang schon Helmut Qualtinger. Dabei ist Reichtum prinzipiell keine Schande. Reichtum allein macht noch niemanden zum Bösen. Reichtum allerdings, frei nach dem geläufigen Zitat „Wer zahlt, schafft an“, ist das wohl beliebteste Machtmittel, um in der Gesellschaft so hochzusteigen, dass alle anderen unten bleiben. Ist man mal im Olymp derer angekommen, die alles haben und noch viel mehr, ist die Versuchung groß, diese gottgleiche Freiheit dafür zu nutzen, gleich die ganze Welt an den hauseigenen Tropf zu hängen. Am süchtigsten wird dabei die Politik, oder jene, die glauben, den Krösus für sich instrumentalisieren zu können. Das wird nicht gelingen, viel eher ist es umgekehrt, und wir sehen, wohin diese Sache mitunter geführt hat. Als Paradebeispiele sind unter anderem Helmut Elsner, Karl-Heinz Grasser oder der von der Slimfit-Entourage hofierte Rene Benko zu nennen, der jetzt, nach all dem Desaster um sein verschachteltes Imperium, immer noch mit genug Mammon dastehen wird, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Draufzuzahlen haben immer nur die Kleinen. Oder jene, die viel lieber für Vermögenssteuern plädieren würden als nur irgendetwas mit dieser weltfremden Haute Volée zu tun haben zu wollen. Leute wie Amon Maynard, welchem Laurence Rupp in der Gesellschaftssatire Veni Vidi Vici ein fast kindlich naives, unbekümmertes und jedem Zweifel erhabenes Gesicht gibt, gehen im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Dort, in dieser urösterreichischen Welt aus Freunderlwirtschaft, astreiner Korruption und Postenschacher, zählt die Jagd zu den Lieblingsbeschäftigungen des Multimilliardärs. Nur: Einem Tier kann der reiche Bonze niemals etwas zu leide tun. Dann wohl schon eher der eigenen Spezies. Nach diesem wenig humanistischen Motto entspannt sich das verzerrte Benko-Imitat beim Abknallen wildfremder Menschen.

Ein Verbrechen? Natürlich ist es das, und jeder weiß, dass Maynard dahintersteckt. Das Problem dabei: Maynard aus dem Verkehr zu ziehen würde schließlich für Politik und Wirtschaft bedeuten, an Einfluss zu verlieren. Denn Maynard ist viel zu wichtig, um ihn zu belangen. Macht geht über Menschenrechte, Justitia ist wieder mal blind und jene, die versuchen, dieser Gottheit, die in den hallenden Hallen des Olymps residiert, das Handwerk zu legen, sind auch nur schwache Geister im Angesicht der Verführung.

Bitterböse will Veni Vidi Vici sein, der sich selbst in Veni, Vidi und Vici teilt. Man kann davon ausgehen, dass das lateinische Wort Vici am Ende wohl nicht hinterfragt werden wird. Man kann davon ausgehen, dass, wenn die Ulrich Seidl Filmproduktion dahintersteht, wohl kaum Kompromisse eingegangen werden, wenn es heisst, eine kritische Agenda zu verfolgen, die den Hass auf all die manipulativen Reichen schürt, die sich erlauben können, am System herumzudrehen. Sieht man die ganze reiche Familie, die lieber falsche als keine Moral besitzt, die sich in NS-Zeiten auf Kosten der Verfolgten wohl gesundgestoßen hätte und kein Gewissen kennt, wünscht man ihnen das Unglück. Daniel Hoesl und Julia Niemann lassen Laurence Rupps Überfigur eines Hoffmansthal’schen Jedermanns mit dem Dilemma der Unberührbarkeit hadern. Er verübt seine Verbrechen, nicht nur weil es geht, sondern auch, weil er darf. Die Hölle sind auch hier die anderen, die Maynard erst zu dem gemacht haben, der er ist. Veni Vidi Vici zeigt die Schwäche des Menschen am Ende der Nahrungskette. Das alles ist berechtigt, es darzustellen.

Das Problem an diesem Film jedoch ist, dass Hoesl und Niemann die Zügel oft lockerlassen und ihre „Vorzeigefamilie“ auf gewisse Weise bewundern. Politik und die einflussreiche Gesellschaft bleiben in ihren Methoden vage, die Kritik bleibt unbeherzt und fast etwas duckmäuserisch. Mitunter blitzt die Radikalität im Film auch auf, die meiste Zeit aber werden genau jene Figuren, auf die es ankommt, kaum herausgefordert. Ans Eingemachte geht es nie, der Papa wird alles schon richten. Veni Vidi Vici erlangt dabei keine Tiefe, schon gar nicht, wenn es kaum etwas gibt, wodurch das Biotop kippen könnte. Die Energie des Hasses auf die Reichen verpufft, am Ende bleibt die Resignation.

Veni Vidi Vici (2024)

LaRoy, Texas (2023)

DIE AGENDEN DER SELBSTZWEIFLER

8,5/10


laroy© 2023 Laroy Productions LLC


LAND / JAHR: USA, FRANKREICH, ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: SHANE ATKINSON

CAST: JOHN MAGARO, STEVE ZAHN, DYLAN BAKER, MEGAN STEVENSON, MATTHEW DEL NEGRO, BRAD LELAND, GALADRIEL STINEMAN, BOB CLENDENIN, ALEX KNIGHT U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Einst waren Blood Simple, Fargo oder No Country for Old Men brillante filmische Beispiele dafür, wie der lakonische Genre-Hybrid zwischen Film Noir, Thriller und Western, durchsetzt mit bitterbösem Humor, das postmoderne Kino umgedacht hat. Verantwortlich dafür waren eine ganze zeit lang die Brüder Joel und Ethan Coen. Seit Sichtung von LaRoy, Texas, einer Provinzdramödie, die von gescheiterten Existenzen und ihren Beziehungen zueinander erzählt, könnte man sich unter Umständen darauf verlassen, dass, sollten es die Coens nicht mehr hinbekommen, zumindest Shane Atkinson auf souveräne Art einspringen könnte. Sein Film ist allerdings weder ein Abklatsch noch eine schöngeredete Hommage an diese spezielle Art des amerikanischen Heimatsfilms, sondern ein zutiefst eigenständiges Konstrukt, mit anderem Timing, mit neuem Rhythmus und selten gesehenen Gesichtern, die dem ganzen Schicksalsreigen doch eine gewisse Eigenständigkeit verleihen; eine Originalität, die es nicht notwendig hat, mit Kassengold-Stars zu punkten. Es ist eine Story, die sich selbst genügt und auf nachvollziehbare Weise das eine auf das andere folgen lässt, wobei die Verknüpfungen in diesem Thriller nicht chronologisch erfolgen, sondern in einem zeitlosen Vakuum an Begebenheiten. Diese sind rein zufällig, denn Koinzidenzen machen in Atkinsons Welt das Leben aus.

Der erste Stein, der den Domino-Effekt zum Kippen bringt, ist das des Nächtens liegengebliebene Auto eines Mannes, der kurze Zeit später von einem scheinbar zufällig vorbeikommenden Killer in die ewigen Jagdgründe geschickt wird. Dann: Szenenwechsel. Wir treffen auf den Baumarktbediensteten Ray Jepsen (John Magaro als die neorealistische Version eines mieselsüchtigen Buster Keaton), der von Möchtegern-Detektiv Skip (Steve Zahn) in einem Diner darüber unterrichtet wird, dass seine Frau anscheinend fremdgeht. Daraufhin sieht Ray keinen Sinn mehr im Leben und will sich eine Kugel in den Kopf jagen. Dieser Suizid wird allerdings vereitelt, als er mit jenem Killer verwechselt wird, der die Ouvertüre des Films zu verantworten hat. Und schon verdichten und verhaspeln und stolpern die Ereignisse übereinander, als würden alle zur Stoßzeit aus der vollgepackten U-Bahn wollen. Jede dieser Figuren, die allesamt ein ähnliches Problem mit sich herumschleppen, nämlich jenes, dass keiner an sie glaubt, ereifert sich in diesem Spiel um Erwartungen und Erwartungshaltungen so sehr, dass kein Auge trocken bleibt, keine Chance unversucht und niemand im Streben nach Anerkennung den großen Jackpot knackt.

LaRoy, Texas ist eine staubtrockene Verliererballade im kessen Folklore-Cowboygewand eines lakonischen Thrillers, angereichert mit schwarzhumorigen Spitzen, die aus eloquent verfassten Dialogpassagen herausbrechen. Die paar Stereotypen, die sich in diesem Dilemma um Selbstachtung ebenfalls einfinden – wie zum Beispiel der unscheinbare Auftragsmörder – sind satirisch zitierte Versatzstücke in einem bereits bravourös interpretierten Kinobiotop. Hier lässt sie Atkinson nochmal Revue passieren, und stellt ihnen verhaltensoriginelle Kerle wie Steve Zahn entgegen, der scheinbar allen hier die Show stiehlt und als idealistischer Streber in Sachen Ermittlungen von der lokalen Polizei unentwegt verlacht wird. Was passiert mit Menschen, deren Kompetenzen unterwandert werden? LaRoy, Texas gibt die Antwort. In diesem Thriller strebt niemand nach der Gunst des materiellen Wohls, jedoch nach der Gunst des Respekts. Das hebt Atkinsons Film von anderen dieser Machart ab, die sich um Schatzjagden und dem Anraffen von Mammon bemühen. Dieser hier hat die Metaebene des psychologischen Konflikts ganz für sich allein gepachtet und bringt eine Eigendynamik mit ins Spiel, die in einer cineastisch brillanten melancholischen Verlorenheit ihre Erschöpfung findet. Desillusioniert zwar, aber wahrhaftig. Kurzum: Ein mit feiner Klinge geführtes, komplexes wie verstecktes Filmjuwel.

LaRoy, Texas (2023)

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

KAFKA, EINMAL UNVERKITSCHT

7,5/10


herrlichkeitdeslebens© 2024 Majestic/Christian Schulz


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: JUDITH KAUFMANN & GEORG MAAS

CAST: SABIN TAMBREA, HENRIETTE CONFURIUS, MANUEL RUBEY, DANIELA GOLPASHIN, ALMA HASUN, PETER MOLTZEN, LEO ALTARAS, LUISE ASCHENBRENNER, FRIEDERIKE TIEFENBACHER, MICHAELA CASPAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 99 MIN


Als kafkaesk bezeichnet man groteske gesellschaftspolitische Umstände, Überwachungsstaaten und Albtraumbürokratien. Morphologische Veränderungen, Paranoia und die Angst vor einer körperlosen Übermacht. Will man Franz Kafka darstellen, lässt man ihn gerne so sein wie eine seiner Figuren, orientierungslos, verfolgt und nicht Herr seiner Sinne. Der Autor Michael Kumpfmüller hat über das letzte Lebensjahr des großen deutschsprachigen Schriftstellers einen Roman verfasst und ihn so dargestellt als jemand, der zwar krank war, jedoch keinesfalls so verschroben, wie man ihn gerne hätte. Kafka hatte Stil und war redegewandt wie kein Zweiter. War charmant zu den Damen, nur leider keiner, der, so sagt er selbst, für Langzeitbeziehungen wirklich geeignet ist. Das letzte Jahr seines Lebens gewährt ihm aber dann doch den Schein einer ewigen Beziehung, eine Lebensgemeinschaft bis in den Tod. Dieser jemand an seiner Seite war Dora Diamant – schöner kann ein Name, der kein Künstlername ist, wahrlich nicht klingen. Mit Dora findet Franz Kafka seine ideale Partnerin – und schließlich auch jemanden, der die Leiden einer Lungentuberkulose bedingungslos mitträgt. Alles beginnt in einem idyllischen Nordseesommer beim Spazierengehen am Strand, den Sprösslingen im nahegelegenen jüdischen Kinderheim erzählt er, kauernd im Strandkorb, allegorische Geschichten über Mäuse und Katzen. Dora Diamant lauscht mit – und gerät ins Blickfeld des edlen Herren, den von da an nichts mehr daran hindert, ihr den Hof zu machen. Das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit, beide sind klug, beide ticken ähnlich, nur die Krankheit bremst so manche Pläne. Der darauffolgende Winter in Berlin wird zur Belastungsprobe, die Eltern, insbesondere Kafkas Vater, wird auf ewig ein Schreckgespenst bleiben. Bald kann Kafka nicht mehr sprechen, die Tuberkulose breitet sich aus. Doch Dora weicht nicht von seiner Seite.

Melodramatisch ist Die Herrlichkeit des Lebens sehr wohl, doch auf eine gute Art. Auf die einzig richtige Weise, wie man Melodramatisches nur auf die Leinwand bringen kann und dabei genau darauf achtet, jedweden sentimentalen Kitsch zu vermeiden. Denn Melodrama muss niemals sentimental sein. Das Regieduo Judith Kaufmann und Georg Maas finden am Anfang des Films sommerliche norddeutsche Bilder, die an die impressionistischen Malereien Renoirs oder Monets erinnern. Wir sehen eine Holzbank auf einem Aussichtsplatz hoch über dem Strand, um die Rückenlehne ist ein seidenes, auberginerotes Band gewickelt, welches in der Sommerbrise weht. Klingt nach Rosamunde Pilcher? Ist es aber nicht. Diese Romantik verdient es kompromisslos, sich dieser Bildsprache zu bedienen. Inszeniert wird sie voller Respekt vor dem Genre und den historischen Figuren, die sich begegnen. Sabin Tambrea verleiht der literarischen Legende Charisma und Charakter, und vor allem versucht er nicht, sich an dieser bedeutenden Rolle, seinem Geltungsdrang verpflichtet, zu ereifern. Tambrea macht einen Schritt zurück, bleibt besonnen und unaufgeregt. Das gibt der Figur jede Menge Raum. Ebenso Henriette Confurius als Dora: Auch sie authentisch und natürlich, kein bisschen zu viel, niemals zu wenig. Diese beiden schaffen eine immersive Atmosphäre, in die man als Zuseher unweigerlich hineingleitet. Trotz der leisen, fast ereignislosen Chronik eines Abschieds ist es allen voran diese konstante, stilsichere Gefühlswelt, die Kaufmann und Maas hier errichtet haben, die den Zugang zu diesem Film so frappant erleichtern. Keine Regie-Allüren, keine Schauspiel-Allüren, kein bizarres Gemotze wie bei David Schalko. Menschlich und warmherzig gibt dieses Drama einen fast schon intimen Einblick in eine Künstlerseele und seinen Dämonen, in eine späte Liebe und in die Kunst, das Unausweichliche zu akzeptieren.

Die Herrlichkeit des Lebens ist ein strahlend schöner Film, wohltuend und berührend, ohne darauf aus sein zu müssen, dieses Ziel zu erreichen. Das Werk genügt sich selbst, es ist Melancholie mit Understatement.

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

Mit einem Tiger schlafen (2024)

DAS INNERE NACH AUSSEN KEHREN

8/10


miteinemtigerschlafen© 2024 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: ANJA SALOMONOWITZ

CAST: BIRGIT MINICHMAYR, JOHANNA ORSINI, LUKAS WATZL, OSKAR HAAG, JOHANNES SILBERSCHNEIDER, SALADIN DELLERS, CARL ACHLEITNER, GRISCHKA VOSS U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN 


Die meiste Zeit ihres Lebens stand sie im Schatten ihrer männlichen Künstlerkollegen zu einer Zeit, in der die Kunst von Frauen eher belächelt als ernstgenommen wurde: Maria Lassnig, stets unverstanden und unnahbar zugleich, die Personifizierung der Einsamkeit einer Nonkonformistin. So, wie Anja Salomonowitz die Kärtner Ikone der feministischen Body-Art und des surrealen Aktionismus skizziert, möchte man meinen, es mit einer Ausgestoßenen zu tun zu haben, die stets vergeblich, und ähnlich wie Vincent van Gogh, darum bemüht war, ihren ganz persönlichen Zugang zu ihrer Kunst für andere verständlich zu machen. All die Versuche scheiterten, bis die Dame alt und gebrechlich wurde und ihre Kunstwerke längst als Teil einer Familie ansah, die sie nie gehabt hatte. Zweisamkeit, Vertrautheit, das Teilen von Ansichten und Empfindungen – Lassnig blieb stets allein auf weiter Flur, in großräumigen, lichtdurchfluteten Atelierräumen, meist am Boden liegend, verkrümmt und seltsam verrenkt, um so ihr Innerstes nach außen kehren zu können und dieses Etwas auf großformatige Leinwände zu applizieren, die, sobald sie fertiggestellt waren, nicht selten an Francis Bacon erinnern, nur heller, strahlender, getaucht in pastellige Farben, die neben dunklen, körperlichen Details existieren. Das Körperliche, allerdings das subjektiv Körperliche, war Lassnig stets das Wichtigste. Ihre Werke sind zahlreich, surreal und phantastisch. Selbstportraits, die mit Träumen und Albträumen kokettieren. Selbstportraits, die Lassnig mit gesellschaftlichen Agenden und einer abstrakten Gefühlswelt verband wie keine andere.

Ihre Werke gingen mir lange Zeit nie besonders nah. Womöglich, weil ich nicht gut genug hingesehen hatte. Ein Umstand, der sich geändert hat, und nicht erst sein diesem Film, der es tatsächlich schafft, dem Subgenre des Künstlerbiopics völlig neue Vibes zu verpassen. Mit einem Tiger schlafen – so auch der Titel eines ihrer Gemälde – ist alles, nur kein normaler Spielfilm mit klassischer Chronologie. Lassnigs Leben liegt scheinbar in Bruchstücken vor dem Publikum, Salomonowitz schlendert, über all die Scherben gebeugt, von einer zur anderen, hebt sie auf, dramatisiert sie, in völlig ungeordneter Reihenfolge; die Lust am Chaotischen, am Assoziativen befeuert den ganzen Film. Von der Kindheit im ländlichen Kärnten springt Salomonowitz gleich weiter in die späten Jahre, von dort wieder zu ihren Anfängen während der Nazizeit, um dann wieder als Erwachsene die Rolle ihres kindlichen Alter Egos einzunehmen, das der Willkür einer Mutter ausgesetzt war, die eine Hassliebe zu ihrer Tochter gehabt zu haben schien. Da man in den ersten Jahren des Heranwachsens für den Rest des Daseins geprägt wird, ist es auch nicht verwunderlich, dass Lassnig immer wieder abtaucht in die Dunkelheit der Mädchendaseins. Wie die geniale Eremitin dann ihre Seele zur Schau stellt, ist das mitfühlende, schmerzliche und berührende Drama einer Einzelgängerin, die immer berühmt sein wollte, so wie Arnulf Rainer, Ernst Fuchs oder Joseph Beuys, in den späten Jahren aber ihre Bilder als die Chronik ihres Lebens betrachtet, längst nicht mehr notwendig, sie irgendwem zu vermachen.

Mit einem Tiger schlafen gelingt es auf erfrischende Weise, das Geflecht an Szenen dennoch in einer verblüffenden Akkuratesse zu ordnen. Ein Widersprich in sich, der sowohl als Werkschau, als dokumentarische Betrachtung und als analytisches Portrait funktioniert, ohne die Zuneigung für die dargestellte Person vermissen zu lassen. Zu danken ist dieses Gefühl der Verbundenheit natürlich Birgit Minichmayr (Andrea lässt sich scheiden), die, um viel freier zu agieren, nicht altern braucht, nur um eine äußerliche Authentizität zu wahren. So einfach scheint es, diesen Anspruch wegzulassen. Dafür gibt sich die Burgschauspielerin in ihrer Performance einem biographische Akzente setzenden Naturalismus hin – intuitiv, ernsthaft und im Einklang mit einer, die wohl, hätte sie diesen Film noch gesehen, vielleicht gar zugeben würde, endlich verstanden worden zu sein.

Mit einem Tiger schlafen (2024)

Mater Superior (2022)

EIN HAUCH VON MODER

4/10


mothersuperior© 2022 Splendid Film


ORIGINALTITEL: MOTHER SUPERIOR

LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: MARIE ALICE WOLFSZAHN

CAST: ISABELLA HÄNDLER, INGE MAUX, JOCHEN NICKEL, TIM WERTHS, FLORIAN TRÖBINGER, TOMMY GFÖLLER, PATRICIA AULITZKY, DIANA REUCHLIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 11 MIN


Marie Alice Wolfszahn. Diesen Namen muss man sich merken, es geht gar nicht anders. Im Gedächtnis bleibt dieser aber weniger aufgrund dessen, was nämliche österreichische Filmemacherin so inszeniert hat, sondern vielmehr aufgrund des phonetischen Klangs an sich. Wolfszahn hat einen gänzlich unter dem Radar heimischer Kinoauswertungen laufenden, gediegenen Herrenhaus-Grusel inszeniert, der zumindest die Ehre erfahren durfte, im Rahmen des Slash Filmfestival 2022 auf der großen Leinwand gezeigt zu werden. Schauplatz ist ein dem Zahn der Zeit ausgeliefertes, schmuckes Anwesen im Gebiet um den Semmering, das ist für Nichtkenner der österreichischen Landkarte im Süden des Bundeslandes Niederösterreich. Wir schreiben das Jahr 1975, der Weltkrieg mitsamt seines Nazi-Regimes liegt auch schon 30 Jahre in der Vergangenheit, und dennoch ist dieses alte Gemäuer namens Rosenkreuz inmitten von Grün und fernab jeglicher anderen Infrastruktur von einer reaktionären Aura umgeben, als wäre es ein Tor in eine traumatische Zeit. Abschrecken lässt sich die junge Krankenpflegerin Sigrun davon nicht, die von nun an bei Baronin Heidenreich nach dem Rechten sehen wird. Ebenfalls in den Diensten der Alten befindlich ist der verschrobene, lakonische Hauswart Otto (brummig: Jochen Nickel). Als ungleiches Trio geistern sie von nun an rund 70 Minuten durch eine seltsame Welt aus verfallenen, geradezu postapokalyptisch anmutenden Räumen, kafkaesker Archive und Okkultem, das in seiner praktischen Umsetzung unfreiwillig komisch wirkt. Baronin Heidenreich war mal Aufseherin in einem dieser faschistoiden Geburtshäuser, die man auch Lebensborn-Heime nannte. Klein Sigrun dürfte damals genau dort zur Welt gekommen sein, von ihren Eltern weiß sie so gut wie gar nichts. Ihre Anstellung ist demnach nicht sozial motiviert, sondern hat genau diesen Hintergedanken – nämlich, der alten Nazi-Dame jene Geheimnisse zu entlocken, die ihre Existenz betreffen.

Was in diesem Gothic-Mysterium dann sonst so passiert, ist vermutlich so sperrig wie all die windschiefen Türen in diesem historistischen Bau, die nicht mehr in ihren Türstock passen und von einer zugigen Halle in die andere führen. Immer wieder mal erscheint die in Brautmoden gehüllte, titelgebende Mater Superior, auf Deutsch Mutter Oberin, niemals ist ganz klar, wer damit gemeint ist und welchen Mehrwert diese personifizierte Allegorie denn eigentlich hat. Inge Maux gibt sich ganz neureich, vorgestrig österreichisch und hat jede Menge dunkle Vergangenheit zu verbergen, doch mit dieser setzt sich Wolfszahn nur flüchtig auseinander. Keine Ahnung, was Inge Maux hier treibt, welche Funktion dieser Otto eigentlich hat und was das für ein Kult ist, den beide praktizieren.

Mater Superior kolportiert bedeutungsschwere Schauerromantik, die eine Spurensuche illustriert, die dank der historischen Komponente genug Tiefgang mitbringen hätte sollen. Die Praxis macht der Theorie aber einen Strich durch die Rechnung. Alle drei Figuren, sowohl Inge Maux als auch Isabella Händler und Jochen Nickel füllen zwar ihre Rollen aus, doch diese sind zu dürftig skizziert, um einer direkten Konfrontation untereinander standzuhalten. So sind die Biographien der beiden weiblichen Filmfiguren mehr als vage und irgendwie seperat, es fehlt der Bezug oder die Relevanz oder auch nur ein driftiger Grund, um motiviert genug zu sein, die Indizien zusammenzuzählen.

Schöne Bilder allein retten Mater Superior auch nicht vor seiner heillosen Konfusion, vor seiner unzusammenhängenden Erzählweise und gar vor einer völligen Verwirrung am Ende des elegischen Lost Places-Horrors, dessen Twist auf keiner erkennbaren Vorahnung beruht. Es ist, als hätte die Geschichte vergessen, auf seine Conclusio hinzuarbeiten. Was bleibt, sind Stuck, Staub und ein Hauch von Moder.

Mater Superior (2022)