Magellan (2025)

POSTKARTEN EINES ENTDECKERS

5/10


© 2025 Luxbox Films


ORIGINALTITEL: MAGALHÃES

LAND / JAHR: PHILIPPINEN, SPANIEN, PORTUGAL, FRANKREICH, TAIWAN 2025

REGIE / DREHBUCH: LAV DIAZ

KAMERA: LAV DIAZ, ARTUR TORT, CIRIL BARBA, MIQUEL BARCELÓ, JULIEN HOGERT

CAST: GAEL GARCÍA BERNAL, AMADO ARJAY BABON, DARIO YAZBEK BERNAL, ÂNGELA RAMOS, HAZEL ORENCIO, RONNIE LAZARO, TOMÁS ALVES, RAFAEL MORAIS, VALDEMAR SANTOS, MARIO HUERTA U. A.

LÄNGE: 2 STD 35 MIN


Während Vangelis mit seiner Jahrhundertkomposition Conquest of Paradise auf überwältigende Weise die ganze Szene akustisch einnimmt, voller Fernweh-Vibes und bis zur Halskrause voll mit historischem Pathos, schippert ein noch ranker und agiler Gerard Depardieu als Christoph Kolumbus mit seiner Santa Maria in Richtung der Karibischen Inseln – Ridley Scotts mitreißend opulentes Meisterwerk ist ein Schulbeispiel dafür, wie Entdeckermythen auf die Leinwand gewuchtet werden können. Der Genuese und seine weltbewegende Expedition ist schließlich einer jener globaler Wendepunkte, die so gut wie alles, was danach kam, beeinflusst haben. Ein weiterer ist die Seefahrt des Ferdinand Magellan, doch hierfür hat Ridley Scott keinen Film gemacht. Den darf jemand anderer ein Denkmal setzen, wenn auch ein weitaus kritischeres, objektiveres – um nicht zu sagen: Eines, das den militanten und auch im Glauben recht extremistischen Seefahrer als einen asozialen Tunichtgut hinstellt, der mittlerweile mit seinem Namen auf allen Atlanten und Globen dieser Welt hausieren geht und den was weiß ich was noch angetrieben haben mag, um diesen Globus zu umrunden – jedenfalls weder Ehrgeiz noch das Fernweh noch der Wille, die Welt zu entdecken. So zumindest bleibt Lav Diaz, Filmemacher mit Hang zur Überlänge, relativ ratlos dabei, wie er seinen historischen Charakter überhaupt anlegen soll.

Pop-Up-Portfolio tropischer Gestade

Zur Verkörperung dieser unnahbaren Persönlichkeit holt er sich Gael García Bernal, ein bekanntes Gesicht also, versteckt hinter dichter Gesichtsbehaarung, der aber genauso wenig eine Ahnung davon hat, wie er ins Bild passt, bis Lav Diaz ihm die Regieanweisungen gibt; bis er also das akribisch arrangierte Tableau betritt, bis die passive Kamera ihn einfängt – sie wartet schließlich wie ein verharrendes Tier, unbeweglich, Ausschau haltend, geduldig lauernd, ohne zuzuschlagen. Magellan ist auf eine Art und Weise inszeniert, die mich an die Arrangements des Schweden Roy Andersson erinnert, der mit seinen surrealen Werken Das jüngste Gewitter oder Über die Unendlichkeit die Leinwand zur Guckkastenbühne macht und in seinen Episoden statische Settings samt zugehörigem Blickwinkel einrichtet, der sich aber niemals verändert, sondern das Geschehende in der Totalen abbildet. Lav Diaz arbeitet noch dazu im 4:3-Format, nahezu quadratisch also, und in dieser Quadratur dringt üppig wuchernd der Dschungel der philippinischen Inseln, treiben schwimmende Untersätze aus der Renaissance über die Ozeane wie auf einer Badewanne, stolpern ganze Inselbevölkerungen durch das Dickicht, liegen Tote und Verwundete – Konquistadoren und Eingeborene der Inseln Cebu und Mactan – im tropischen Sand, während sich darüber Gewitterwolken türmen, zerschlissene Fahnen wehen und die bedrängte Sonne spärliches Licht über sie Szene gießt – alles wie die Gemälde später romantischer Maler, die längst schon dem Realismus gehören. Soviel Pathos lässt Lav Diaz dann doch wieder zu, doch immer ist er meilenweit davon entfernt, jene Monumentalität in Bewegung zu versetzen, die wie bei Ridleys Scott alle Sinne betört, ungeachtet dessen, ob dieser in der Rekonstruktion der Geschehnisse historisch akkurat bleibt. Wir wissen, Scott tut das nie – Lav Diaz schon eher, obwohl er auch am Ende einiges durcheinanderbringt und Magellan dafür verwendet, um die Geißel katholischen Missionseifers anzuprangern.

Was fehlt, ist Perspektive

Die befremdend statische Bildgewalt ist eine Sache, sie hält auf Distanz, fühlt sich an wie eine Ansammlung von Postkarten – flache, aber berauschende Bilder, die nichts über ihre Figuren erzählen. Magellan leidet daher unter seiner Tendenz, in seinen Protagonisten nicht mehr sehen zu wollen als Statisten eines historischen Reenactments, ohne sich für das Wesen Magellans zu interessieren. Ihn bei Sonnenuntergang an den Bug zu setzen und gen Horizont schauen zu lassen, reicht nicht. Die Seefahrt so sehr runterzustutzen, dass nur noch Fragmente eines außerordentlichen Hochseedramas übrig bleiben, um dann Magellans Einfluss breitzutreten, der die philippinische Geschichte betrifft, sind leere Kilometer, die außer des Visuellen keinen Mehrwert besitzen. Erst spät wird klar, dass Lav Diaz seinen Film von der anderen Seite hätte aufziehen können, von jener des Stammesältesten Lapu-Lapu, denn der ist schließlich philippinischer Nationalheld und wurde letztlich zur Nemesis des übereifrigen Portugiesen, der dank falscher Entscheidungen auf Mactan seinen Tod fand.

Hätte Lav Diaz die Historie auf eine Weise erzählt, auf welcher sie noch nie erzählt wurde (das hat nicht mal jene sechsteilige Serie mit dem Titel Ohne Grenzen gewagt, die, allerdings sehr sehenswert, auf amazon prime abrufbar ist), hätte er sich die Blamage erspart, womöglich aufgrund mangelndem Budgets die wohl misslungenste Darstellung eines stürmischen Gewitters auf hoher See zu inszenieren. Wenn das Schiff nur leicht schwankt und die Gischt wie aus der Gießkanne plätschert, wäre das wohl eher die Puppenhaus-Ironie eines Wes Anderson gewesen als Teil eines Pop-Up-Naturalismus, der nicht weiß, wo er ansetzen und was er weglassen soll.

Magellan (2025)

Misericordia (2024)

EIN FREUND DER FAMILIE

7,5/10


© 2024 Salzgeber


ORIGINALTITEL: MISÉRICORDE

LAND / JAHR: FRANKREICH, SPANIEN, PORTUGAL 2024

REGIE / DREHBUCH: ALAIN GUIRAUDIE

KAMERA: CLAIRE MATHON

CAST: FÉLIX KYSYL, CATHERINE FROT, JEAN-BAPTISTE DURAND, JACQUES DEVELAY, DAVID AYALA, SÉBASTIEN FAGLAIN, TATIANA SPIVAKOVA, SALOMÉ LOPES, SERGE RICHARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Ganz gemächlich schlingert die Landstraße durch den provinziellen Südosten Frankreichs – solche Kamerafahrten verheißen in Filmen oft nichts Gutes, man denke da nur an Stanley Kubricks Shining. Da kommt eine Bedrohung auf jemanden zu, nicht nur auf das zusehende Publikum, sondern auch auf so manche Figur in diesem Kriminalfilm, die genauso wenig wie wir damit rechnen wird, woher und wohin der Wind weht. Angenehm herbstlich ist es hier, im mittelalterlich anmutenden Städtchen Saint Martial im Department Ardèche, weit weg von urbanem Trubel, umgeben von Wald und dem Gefühl eines seltsamen Verwelkens. Diese eingangs erwähnte Landstraße ist ein Kerl entlanggefahren, der früher mal in diesem Städtchen gelebt und der als Teenager für den lokalen Bäckermeister gearbeitet hat. Dieser ist schließlich nun verstorben, deshalb ist Jérémie (Félix Kysyl) auch hier, um ihn, den er einst insgeheim geliebt hat, die letzte Ehre zu erweisen. Es wäre auch gar nichts weiter passiert, hätte Martine (Catherine Frot), die Witwe des Mannes, gegen den Willen ihres Sohnes Vincent den jungen Mann nicht dazu aufgefordert, doch hier zu übernachten, schließlich ist es schon spät. Jérémie willigt ein, und bald stellt sich heraus: Der seltsame, arbeitslose Niemand mit der undurchschaubaren Mimik ist gekommen, um zu bleiben. Vincent gefällt das gar nicht, denn er weiß: Jérémie ist nur hier, um sich in das Leben einer Familie zu schleichen, auf manipulierende Weise. Mit dieser offenen Zurschaustellung seiner Antipathie tut sich der argwöhnische Sohnemann keinen Gefallen – und bald ist er auch verschwunden.

Es ist kein Geheimnis in diesem Film, dass diesem Jérémie aus Toulouse bald schon Blut an den Fingern kleben wird. Das hindert ihn nicht daran, seine Chance auf ein neues Leben ohne Rücksicht auf Verluste zu ergreifen – und sind sie auch menschlicher Natur. Seine Identität wechselt der Mörder allerdings nicht, was man als Argument ins Feld führen kann, um den Vergleich mit Patricia Highsmiths kultigen Kriminellen Tom Ripley hinken zu lassen. Und dennoch: nicht von ungefähr drängt sich während der Betrachtung dieser Groteske das Bild jenes Mannes auf, der einst seinen Freund versenkt hat, um seine Identität anzunehmen. Man darf bei Misericordia (was so viel bedeutet wie Barmherzigkeit, Gnade) allerdings auch kein gewöhnliches Krimispiel erwarten, denn Autorenfilmer Alain Guiraudie schichtet sein bizarres Stelldichein in mehreren Ebenen übereinander, nur, um diese dann im Laufe der Erzählung ineinanderfließen zu lassen, damit eine lakonische, perplex machende Komödie entsteht, die den Witz gar nicht als solchen zu erkennen geben will. Die pragmatische Schrägheit ergibt sich aus einem Arrangement an Figuren, die zur richtigen oder falschen Zeit einander über den Weg laufen, und die jede auf ihre Art eine Abhängigkeit zur anderen entwickelt. Darunter Jacques Develay als obskurer Pater, der die Gabe der vielsagenden Blicke beherrscht; oder der bärige Walter (David Ayala), der mit den homosexuellen Avancen des Eindringlings völlig überfordert scheint.

Misericordia ist ein bizarres Schauspiel von einer solchen Unvorhersehbarkeit, dass es fast den Anschein hat, Guiraudie will das Genre des Landkrimis nicht nur parodieren, sondern diesem den Mut verleihen, auch mal tiefer zu graben – dort, wo die Morcheln wie Boten des Todes und der Niedertracht aus dem feuchten Waldboden schießen. Die titelgebende Gnade wiederum ist ein Geschenk, motiviert aus der Sehnsucht anderer, so wird gar das mit groben Strichen gezeichnete Ensemble zum unschuldigen Opfer seiner Gefühle und Bedürfnisse. Diese psychologische Betrachtungsweise  verdrängt gar den düsteren Krimiplot, der aber essenziell für die ganze Geschichte bleibt, und rückt näher an einen autochthonen, im Dämmerschlaf befindlichen Mikrokosmos heran, der durch externe Invasoren dazu mobilisiert wird, sich selbst zu finden. Misericordia ist ein feiner, verrückter, sonderbarer Film, voller Barmherzigkeit für einen wie Ripley. Und nicht nur für ihn.

Misericordia (2024)

Eureka (2023)

FRAGMENTE ÜBER DAS VERSCHWINDEN

7/10


eureka© 2023 Grandfilm


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, FRANKREICH, PORTUGAL, MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LISANDRO ALONSO

CAST: VIGGO MORTENSEN, CHIARA MASTROIANNI, SADIE LAPOINTE, ADANILO R, JOSÉ MARIA YAZPIK, ALAINA CLIFFORD, VIILBJØRK MALLING AGGER, RAFI PITTS U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein Mädchen verschwindet. Genau genommen die Tochter des dänischen Landvermessers Gunnar, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Argentinien weilt. Gespielt wird dieser verzweifelt suchende Mann, der sich in der argentinischen Raumzeit verliert, von „Aragorn“ Viggo Mortensen. Die Rede ist dabei aber vom Film Jauja von Lisandro Alonso, der 2014 ebenso auf der Viennale lief wie letztes Jahr das neueste Werk des Argentiniers: Eureka. Auch in diesem überlangen Werk, welches zwar anmutet wie ein Episodenfilm, es bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht ist, gibt Mortensen jemanden, einen abgewrackten Revolverhelden mit schweißnasser Stirn, der seine Tochter sucht. Er durchquert dabei die Prärie und geht dabei über Leichen, das alles gefilmt in 4:3 und in Schwarzweiß. Die Mission des Mannes wird dabei von einem nordamerikanischen Indigenen beobachtet, der frühmorgens seine Trommel ertönen lässt und dabei auf die Welt blickt. So beginnt ein Film, der sich willig dazu entschlossen hat, sich selbst treiben und seine Geschichten zerfransen zu lassen, ohne dem narrativen Dogma nachzugeben, alles auserzählen zu müssen. Bei Eureka braucht man getrost auf gar nichts warten. Denn alles hat kein Ende, und falls doch, dann ist es das vorläufige des Verschwindens.

Es ist ja nicht nur Mortensens Filmtochter, die fehlt. Im gewichtigen Mittelteil des avantgardistischen Werks befinden wir uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota während eines klirrend kalten Winters. Der trostlose Ort ist nur noch ein Schatten seiner Begrifflichkeit. Sozialen Missstand gibt es an allen Ecken und Enden, und schon wieder verschwinden Menschen wie zum Beispiel die kleine Mackenzie, die niemand gesehen haben will. Lisandro Alonso verfolgt dabei Lakota-Polizistin Debonna, die für Recht und Ordnung sorgt während der langen Winternacht und nicht nur von dieser sozialen Verwahrlosung, sondern auch von ihren Kollegen bitter enttäuscht ist. Ihre Nichte Sadie (faszinierend: Sadie Lapointe) arbeitet im Jugendheim, um den desorientierten Nachwuchs mit Sport und Spiel auf dem rechten Weg zu halten. Was mit diesen beiden Frauen passieren wird, bleibt offen. Auch sie verschwinden, auf ihre jeweils ganz eigene Art. Zuletzt findet sich Eureka im brasilianischen Dschungel der Siebzigerjahre wieder: Ein Goldwäscher, nach einer Bluttat geflohen von seinem Stamm, muss sich seiner Tat stellen. Auch er ist auf der Suche. Vielleicht nach Absolution, vielleicht nach einem sicheren Leben. Die Allegorie des Verschwindens macht auch hier nicht Halt, in dieser letzten Episode.

So seltsam das alles auch klingt: Eureka ist seltsamer. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) kennt, wird ungefähr erahnen können, was es zu bedeuten hat, wenn ich meine, dass Alonso in seinen verharrenden, teils unerträglich langen Einstellungen die Essenz des wahrgenommenen Moments, des Daseins, der Existenz einfach nur durch stoische Betrachtung intensiviert. Tatsächlich gelangt er dadurch in die Tiefe, und je länger man hinblickt, um so mehr verändert sich das Bild. Oder es blickt das Bild, frei nach Nietzsche, geradewegs zurück. Das Transzendente dringt in die entbehrungsreiche Wirklichkeit, der Aminismus der Indigenen spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn Eureka ist schwer mysteriös. Wonach Alonso genau auf der Suche ist, das könnte vieles sein. Kulturelle Identität, Geschichte, Familie, Stammbaum. Eine sichere Zukunft? Schließlich wissen wir: Eureka, vermutlich von Archimedes ausgesprochen, kommt aus dem Griechischen und heisst so viel wie Ich hab’s gefunden. Letztlich aber bleiben alle diese Figuren im Film auf der Suche nach etwas Verschwundenem, das auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da ist oder da sein will.

Unbefriedigender Existenzialismus als zerfranstes Geduldsspiel, das sich seinem Fluss hingibt, egal, welche Bahnen er nimmt: Gefunden hat in Eureka niemand etwas. Doch vielleicht ist es die Lösung aller Probleme, in einem gewissen kapitulierenden Pragmatismus den Abgesang zuzulassen.

Eureka (2023)

Gaza Mon Amour

IN DER GUNST DES APOLLO

6/10


GazaMonAmour© 2021 Alamode Film


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, PORTUGAL 2020

BUCH / REGIE: ARAB & TARZAN NASSER

CAST: SALIM DAW, HIAM ABBASS, MAISA ABD ELHADI, GEORGE ISKANDAR, HITHAM OMARI U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die Gebrüder Tarzan und Arab Nasser hätten es fast geschafft, ihre verschmitzte Alltagsminiatur der Academy of Motion Pictures and Science als würdig für den Auslandsoscar zu verkaufen. In Gaza Mon Amour suchen weder epische Schicksale die hier Mitwirkenden heim, noch wagt die Geschichte narrative Bocksprünge, bei denen einem die Brillen runterfallen. Nichts dergleichen geschieht hier – im Grunde ist es nicht nur das Warten auf den Linienbus in Gaza Stadt, sondern auch auf das Warten einer transzendentalen Eingebung, die festgefahrenen religiösen wie ethnischen Ansichten längst erhaben zeigt. Das passiert dann auch, in Gaza Mon Amour, und zwar widerfährt dieser Wink von oben, aus einer ganz anderen Ecke antiker Weltanschauungen, einem genügsamen Fischer, der jede Nacht aufs Meer hinausfährt, um seinen Fang dann tags darauf am Markt zu verkaufen, wobei er stets die Chance hat, der netten Schneiderin von nebenan einen schönen Tag zu wünschen. Da braucht er sich gar nicht mal groß vor einem eifersüchtigen Ehemann in Acht zu nehmen, denn den gibt es nicht mehr. Siham ist nämlich geschieden. Eines Nachts zieht der gestandene Issa nicht nur seine Fische aus dem Wasser, sondern auch eine antike Statue des Gottes Apollo. Das Besondere dabei: das bronzene Abbild des schön gestalteten Jünglings feiert im Intimbereich nachhaltige Potenz, und das ganz ohne Viagra. Was tun mit diesem Fund? Der Behörde melden? Oder einfach mit nachhause nehmen und vorerst mal verstecken. Vielleicht hilft’s ja was in der Sache mit Siham.

Die Welt im Nahen Osten scheint also noch nicht ganz von allen guten Göttern verlassen. Obwohl entfernt die Bomben donnern und immer wieder Schüsse zu hören sind, ist die andauernd schwelende offen Wunde des Scharmützelkrieges gerne etwas, dem Leute wie Issa oder Siham keine Beachtung mehr schenken, wenn’s denn nicht unbedingt sein muss. Eine dritte, unsichtbare Kraft bahnt sich den Weg zwischen zwei einander zugetane Menschen, die ihr Glück nicht in der Flucht sehen, sondern in einem möglichen Miteinander, inmitten einer Welt, die ihnen immerhin noch gut vertraut ist. Tarzan und Arab Nasser injizieren dem redundanten Alltag jener, die ihrer schlichten Existenz nachgehen, ein Quäntchen Zauber. Natürlich muss dieser verdient sein – es gibt Ärger mit der Polizei und den Behörden, aber dargestellt als kauziges Abenteuer aus den Seitengassen großer Weltbühnen.

Großes Kino ist Gaza Man Amour keines. Wohl eher eine lakonische, allerdings sehr volkstümliche Romanze, der ein bisschen mehr metaphysische Präsenz vielleicht noch gutgetan hätte. Die vielleicht zu behutsam der Mentalität vor Ort auf den Zahn fühlt. Schwierig, wenn man das ganze Politikum außen vorlassen will und etwas Unbefangenes erzählen möchte. Die Ambition dahinter ist verständlich, Apollos Gunst dabei nur eine zaghaft arrangierte Allegorie.

Gaza Mon Amour

Das Wunder von Fatima

GLAUBEN, WAS MAN NICHT SIEHT

6/10


wundervonfatima© 2021 capelight pictures


LAND / JAHR: USA, PORTUGAL 2020

REGIE: MARCO PONTECORVO

CAST: STEPHANIE GIL, ALEJANDRA HOWARD, JORGE LAMELAS, SÔNIA BRAGA, HARVEY KEITEL, JOAQUIM DE ALMEIDA, JOANA RIBEIRO, GORAN VIŠNJIĆ U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Ich frage mich, woher die katholische Kirche ihr Wissen hernimmt, um Wunder als solche deklarieren zu können. Da gibt es vielleicht einige Parameter, die wie bei einem Multiple-Joice-Test angekreuzt werden oder nicht – das Ergebnis entspricht einem der drei Einstufungen, die da wären: Es steht fest, dass es sich um Übernatürliches handelt, es steht fest, dass es das nicht tut, oder man weiß es nicht. Bei den Marienerscheinungen von Fatima Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Geistlichkeiten wohl zu dem Schluss gelangt, dass hier weit mehr als nur physikalische Phänomene mit im Spiel waren. Danke all den Physikern und Sozialpsychologen an dieser Stelle, die hier (vielleicht) mitgewirkt haben.

Genau genommen waren es drei Hirtenkinder, zwei Mädchen und ein Junge – der die Mutter Gottes allerdings nur sehen, aber nicht hören konnte. Alle drei sind einer strahlend schönen Frau in strahlendem Gewand begegnet, die den drei völlig vor den Kopf Gestoßenen drei Geheimnisse offenbart hat. Zwei wurden ehebaldigst bekannt gemacht, die dritte durfte Kardinal Ratzinger erst im Jahr 2000 öffnen. Interessant dabei ist, dass bei allen drei Visionen Hölle und Verderben eine wichtige Rolle spielen – da erscheint die Offenbarung des Johannes geradezu wie eine Gutenachtgeschichte. Abgesehen davon, dass die Psyche der Kinder natürlich auch an Schreckensbildnissen reifen kann, dies aber bei Gott nicht sein muss. Maria, so wie ich sie mir vorstelle, würde anders aussehen, und auch weniger Getöse verkünden, aber das ist nur meine Meinung, die in einem Film wie diesen sehr wohl über Gefallen oder Nichtgefallen entscheiden kann. Glaubens- und Religionsfilme sind immer so eine Sache. Bei Martin Scorsese oder Mel Gibson ist das eine Frage der Interpretation eines Stoffes, der unter Gläubigen zum Dogma gehört. Bei Das Wunder von Fatima gibt es hingegen gar keinen künstlerischen Interpretationsspielraum, den man mögen könnte oder nicht.

Denn Marco Pontecorvo, sonst eigentlich Kameramann unter anderem auch bei Game of Thrones, hat zum Wunder von Fatima wohl nicht wirklich eine eigene Meinung – zumindest tut er diese hier nicht kund. Sein christlicher Historienfilm gerät zum pittoresken Bilderbuch und zeigt, was laut Kirche damals passiert sein soll. Dabei unterstützt er unbewusst auch jene, die fest davon überzeugt sind, dass die Heilige Jungfrau Maria tatsächlich erschienen ist. Wir wissen bereits aus der Bibel: Kinder sind stets diejenigen, die den direktesten Draht zu all dem Metaphysischen haben, dass kirchlich geerdet ist. Allerdings irritiert die fromme Positionierung Marias unter die deutungssicheren Dogmen der Kirche. Demnach müsste der Katholizismus von jeher alles richtig gemacht haben. Dieses Alleinstellungsmerkmal kann so nicht sein – auch, weil die drei Hirtenkinder im Kontext gesehen nichts anderes wiedergeben als das in der Glaubenskultur bereits Gelehrte. Harvey Keitel, der als skeptischer Journalist die einzige Überlebende der drei Kinder, nämlich Lúcia dos Santos, aufsucht, um ihr innerhalb der Rahmenhandlung des Films durchaus kritische Fragen zu stellen, zieht nicht von ungefähr den Vergleich zum Stigmata-Problem, welche die Wunden einer Kreuzigung ganz falsch platziert sieht. Vielmehr orientiert sich dieses Wunder – wie das von Fatima – an sakraler Volkskultur.

Für den frommen Religionsunterricht oder Bibelrunden eignet sich Das Wunder von Fatima optimal – weil es abbildet, was geschehen sein könnte, und die Meinung dann jenen überlässt, die den Film gesehen haben. Denn umso weniger Pontecorvo Stellung bezieht, umso mehr reizt die Chronik der Ereignisse zur hitzigen Diskussion. Im Zuge dessen wäre es wohl spannender gewesen, den heiligen Superstar nur indirekt in Erscheinung treten zu lassen.

Das Wunder von Fatima

Der Tod von Ludwig XIV.

MONARCHIE IM ABENDROT

5/10

 

DerTodvonLudwigdemXIV© 2016 Filmgarten

 

LAND: FRANKREICH, PORTUGAL, SPANIEN 2016

REGIE: ALBERT SERRA

CAST: JEAN-PIERRE LÉAUD, PATRICK D’ASSUMCAO, MARC SUSINI, IRENE SILVAGNI, BERNARD BELIN U. A.

 

Die Epoche des Barock ist ein Liebling des Kinos. Der Brite Peter Greenaway hat sich diesen bizarren Erscheinungsformen des elitären Lebensstils in üppigster, direkt maßloser Form hingegeben. Auch Jorgos Lanthimos konnte erst vor kurzem mit seinem Intrigenspiel The Favourite Perücke, Puder und Brokat bis zur Schadenfreude zelebrieren. Das krasse Gegenteil zu diesen Bilderorgien ist Albert Serras extrem zentriertes Kammerspiel, dass eigentlich – in strengem Fokus und in völliger Bedächtigkeit versunken – nur eines zum Thema hat: Hospiz für den Sonnenkönig. Für einen absolutistischen Herrscher, der länger als ein halbes Jahrhundert über Frankreichs Gestaden herrschten durfte. „Der Staat bin ich“, soll er gesagt haben. Historikern zufolge stimmt das aber nicht. Allein: das Zitat sagt über die Regentschaften zu dieser Zeit so ziemlich alles. Ludwig der XIV. also, fast schon gottgleich, ist in dieser französischen Film-Agonie auch nichts mehr anderes als ein gewöhnlicher Sterblicher. Was mich wiederum an das Zeremoniell der Habsburger erinnert, die nur als arme Sünder Einlass in die Kapuzinergruft erbeten können. So ist es auch mit König Ludwig XIV., der sich fatalerweise eine Infektion im linken Bein einfängt. Und was ihm, auch dank der Inkompetenz von Leibarzt und Co, den Rest geben wird.

Nouvelle Vague-Legende Jean Pierre Léaud spielt den Herrscher als Schatten seiner selbst mit unglaublicher Intensität. Vor allem in den Momenten, in denen sein wächsern gewordenes Antlitz für Minuten ins Nichts starrt, bedient sich der Historienfilm barocker Maßlosigkeit. Sonst aber bleibt der Pomp schön draußen in all den anderen Gemächern, und hat keinen Zutritt in das Schlafzimmer, in welchem sich der ganze Film fast ausschließlich abspielt. Um das Bett mit dem Baldachin, um Pölster und Satin herum und nur beleuchtet von wenigen Kandelabern, steht der nahe Hofstaat mit ratlosen Gesichtern. Betrübt, nachdenklich, kaum lösungsorientiert. Hand anzulegen an des Königs Bein? Nie und nimmer. Dass es sich bei den schwarzen Flecken auf dessen Fuß um Wundbrand handelt, wird viel zu spät erst bemerkt. Die rechtzeitige Initiative ergreift auch niemand. Denn was gilt, ist der Befehl des Königs. Und der kommt nicht. So beginnt der Anfang vom Ende eines politischen Zustandes, der das Volk in Abhängigkeit vor den königlichen Worten weiß und dann keine Worte mehr über die Lippen bringt.

Dunkel, mitleidig und befangen bleibt Albert Serras Film. So leicht ließe sich Melodiöses in dieses siechende Szenario einbringen. Der Regisseur tut es nicht. Die Szenen bleiben still, nüchtern. Getuschelt wird im Flüsterton. Alles wartet. Es ist ein Harren auf den ewigen Frieden, unterbrochen von Jammern und dem Flehen um Wasser aus Kristallgläsern. Zugegeben – so hat man Geschichtsfilme noch selten gesehen. Doch war die Wahl der wenigen Mittel und die Kunst des Weglassens wirklich zielführend, um diesen Moment eines Endes am besten zu fassen? Faszinierend ist der fluktuierende Aufmarsch um des Königs Bett seltsamerweise schon. Doch auch gleichermaßen träge, schleppend und zeitraubend. Irgendwann warten wir alle – der Hofstaat und ich – auf die doch bitte endlich hereinbrechende Erlösung des großen Mannes, der unter der Last seiner mächtigen Wolkenperücke wie unter der Last eines Geschichtsbuch füllenden Lebens geradezu erdrückt wird. Das nächste Mal machen sie’s besser, sagt die Entourage beim postmortalen Entnehmen der Organe.

Ja, vielleicht hätte der Film auch besser werden können, wäre des Königs Reflexion auf sein Leben auch Teil des Requiems geworden. Mit dem Tod aber macht man keine Spielchen, so Albert Serras filmische Prämisse. Oder zumindest meine ich, genaus das aus seinem Werk herausgehört zu haben.

Der Tod von Ludwig XIV.

303

LIEBE GEHT DURCH DEN WAGEN

5,5/10

 

303© 2018 Alamode

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: HANS WEINGARTNER

CAST: MALA EMDE, ANTON SPIEKER, MARTIN NEUHAUS U. A.

 

Ab in den Süden! – Ich kann es kaum erwarten, bis Buddy vs. DJ the Wave wieder aus dem Radio scheppert, bis die Uhren endlich umgestellt sind und es langsam wieder nach Sommer riecht. Mit Ab in den Süden ist das Urlaubsfeeling in der Zielgeraden, da freut man sich, endlich ausbrechen und den ganzen Alltag hinter sich lassen zu dürfen. So wie die 24jährige Biologiestudentin Jule, die gerade ihre letzte Prüfung vor der große Pause versemmelt hat und sich nun mit einem Wohnmobil der Marke Mercedes Homer 303 aufmacht, ihren Freund zu besuchen, der in Portugal weilt und noch gar keine Ahnung davon hat, dass er womöglich Vater wird. Doch ganz sicher ist sich Jule da nicht – ob sie die Schwangerschaft nicht abbrechen soll? Kurz nach Berlin gabelt die junge Frau an einer Tankstelle den Tramper  Jan auf – ebenfalls Student, ebenfalls mit einem Projekt gescheitert, und eigentlich vaterlos. Sein unbekannter, biologischer Erzeuger, der weilt auch im Süden, und zwar in Spanien. Sommerferien sind also da, um das zu tun, was man irgendwie tun muss − wobei der Weg als Ziel eigentlich viel schöner ist als das, was wartet, wenn man ankommt.

Fatih Akin hat schon Anfang der 90er mit der Sommerkomödie Im Juli so ein launiges, verliebtes Roadmovie inszeniert, mit einer traumhaft quirligen Besetzung, und mit einer kurzweiligen Story, die nah an der hollywoodtauglichen Krimikomödie entlangflaniert. 25km/h, die Reise auf zwei Mofas Richtung Nordsee, war auch so ein Selbst- und Wiederfindungstrip. Und 303 – der liegt auch irgendwo auf dieser Schiene, nähert sich aber thematisch fast schon mehr den Dialogkomödien eines Richard Linklater an, insbesondere der Before-Trilogie, bestehend aus Sunrise, Sunset und Midnight. Ethan Hawke und Julie Delpy trafen sich da in Wien, Paris oder letztendlich in Griechenland, um einfach miteinander zu reden, Diskussionen vom Zaun zu brechen und an den Erkenntnissen zu wachsen. Das ist auch der Punkt, warum Linklaters Dialog-Trilogie in allen Teilen so gut funktioniert. Weil einfach die Chemie zwischen den beiden gestimmt hat – und beide auch bereit waren, ihren Standpunkt zu verändern, aus einem anderen Licht zu betrachten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Chemie zwischen Mala Emde und Anton Spieker scheint erstmal auch zu stimmen. Beide Schauspieler lassen sich gut aufeinander ein, und sehr wahrscheinlich lief das Casting für diesen Film nicht getrennt voneinander ab, wie vielleicht bei Herzblatt. Die beiden mögen sich, das ist klar, zumindest nach dem zweiten Anlauf, denn beim ersten Mal hat Jan noch den Beifahrersitz räumen müssen, weil er bei Jule einen wunden Punkt getroffen hat. Gut aber, dass der Zufall es so wollte und beide wieder zusammengeführt hat. Und so tingeln sie quer durch Deutschland, Belgien, Frankreich und Spanien. Wir sehen, wie sie die offenen EU-Grenzen passieren, wenn der Kölner Dom oder rustikale französische Dörfer vorbeirauschen und das Meer zum Greifen nah ist. Während sie so von einer Landschaft in die nächste reisen, rund eine Woche lang, wird viel geredet, diskutiert und sinniert. Und genau darin liegt das Problem in diesem deutlich überlangen und auch viel zu langen Reisefilm vom Österreicher Hans Weingartner (Das weiße Rauschen, Die fetten Jahre sind vorbei). Sein mobiler Liebesfilm nimmt sich einerseits und vollkommen nachvollziehbar genügend Zeit, die Zuneigung der beiden füreinander langsam, aber stetig und glaubhaft wachsen zu lassen. Das ist das Kernstück, das tatsächlich auch so gemeinte Herzstück des Films – denn das Herz, das spielt hier eine große Rolle. Und was das Herz will, das, so wünscht man sich, soll es bei Jule und Jan auch bekommen. Andererseits aber sind die Dialoge nicht das, was sie sein sollten, da hätte Weingartner von Linklater mehr lernen sollen. Insbesondere bei den Gesprächen, die so aussehen sollen wie jene über Gott und die Welt. Wenn es um Suizid, Sexualität und Massenkonsum geht, wirken die Diskussionen so klischeehaft, vorbereitet und in den Mund gelegt wie durchkonzipiertes Schulfernsehen. Kann sein, dass Mala Emde und Anton Spieker hier aus dem Stegreif plaudern, aber wie Stegreif mutet das ganze nicht an. Eher wie eine Umfrage zu trendigen Jugendthemen. Da fehlt das Unmittelbare, das Aufgreifen des Gesprächs aus der Situation heraus. So hat man das Gefühl, einem Schulprojekt aus der Oberstufe beizuwohnen, das gerade mal ein Wochenende Zeit gehabt hat, sich stichwortartig die Fragen zu überlegen.

Liebens- und sehenswert sind die beiden ja trotzdem, und es sei ihnen das Glück in ihrem jungen Leben vergönnt, aber vielleicht bin ich diese Art der Twentysomething-Diskussionskultur schon durch und muss niemandem mehr meinen Standpunkt klarmachen. Weingartners Verliebte müssen das, und so ist sein Film auch durch den Eifer seiner populären, recht aufgepappten Topics ein reiner Jugendfilm, der weder überrascht, erstaunt oder Reibungsflächen bietet, der einfach nur  – und das kann er aber –- vom Gefühl einer Sommerliebe erzählt, und vom Alltag, den man gerne zurücklassen würde. Was aber nicht ganz klappt, denn die Hürden des Lebens sind mit dabei, wobei diese in 303 aber kleiner werden, sich anders verlagern oder von selbst lösen. Das ist wohl das, was das Reisen ausmacht – Distanz hinter sich und dem Status Quo zu bringen, während man sich neuen Horizonten auf der Landkarte und im Kopf zuwendet.

303

Silence

DAS SCHEITERN DES GLAUBENS

8/10

 

silence© 2017 Constantin Film

 

LAND: USA 2017

REGIE: MARTIN SCORSESE

MIT ANDREW GARFIELD, ADAM DRIVER, LIAM NEESON, CIARAN HINDS U. A.

 

Wir schreiben die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Martin Luther und die Kirchenspaltung hat längst die Welt verändert. Der katholische Orden der Jesuiten hat nach den Eroberungsfeldzügen der Conquistadores in der neuen Welt alle Hände voll zu tun, ein heidnisches Volk nach dem anderen zum einzig wahren, christlichen Glauben zu bekehren. Und das nicht nur in Süd- und Mittelamerika, nein. Die Jesuiten, des Papstes militanteste Friedens- und Heilsbringer, auch der einzige Orden, der wirklich auszog, um das Evangelium in jedem auch nur so entferntesten Winkel zu verkünden, haben sich auch nach 1600 in Gegenden vorgewagt, in denen bereits Weltreligionen wie der Buddhismus längst Wurzeln schlagen konnten. Was für eine Anmaßung! Da wagen intellektuelle Jünger Christi tatsächlich, mit bescheidenen Mitteln dem Vermächtnis des Buddha auf die Pelle zu rücken. Bei vielen mag die zwar gewaltfreie, aber immer noch ziemlich beharrliche Penetranz der Jesuiten, die einzige Wahrheit auch ganz weit weg von Rom manifestiert zu wissen, auf Ablehnung stoßen. Das Missionieren an sich war für mich immer etwas, dass dem Glauben an Jesus Christus zu keiner freiwilligen Entscheidung werden lässt. Der Lehrauftrag irgendwo zwischen Manipulation und – überspitzt formuliert – Gehirnwäsche stellt den ursprünglichen Glauben ja in Abrede. Und da beginnt das Gegeneinander. Dennoch – jemandem von der Heilsbotschaft zu überzeugen, einfach nur durch Worte und Beispiele, damit wollten die Jesuiten ziemlich rechtschaffen und voller Menschlichkeit punkten. Damit wollten sie ihr Ziel erreichen. Aus voller Überzeugung, weil das Christentum die einzig wahre Religion darstellt.

Spätestens bei dem Dogma über das Leiden mit Gott, für Gott und durch Gott, spätestens bei der ohnehin unendlich komplexen Bedeutung des Todes Christi am Kreuz – geraten die Botschaften des Neuen Testaments in ein verfremdend flackerndes Licht. Diese Missinterpretation Jesu, dieses Entfernen der Botschaft des Messias, ist Teilaussage des authentischen Berichtes anno 1638 aus Japan, der vom Scheitern des Glaubens, von Apostasie und die Unschärfe der religiösen Wahrheit erzählt. Martin Scorsese, vielseitiger Filmemacher und Ikone des amerikanischen Filmes, hat schon mit der einzigartigen Verfilmung von Theodorakis´ Roman Die letzte Versuchung Christi und der Dalai Lama-Biografie Kundun gezeigt, dass sein Interesse nicht nur der kriminellen Unterwelt Amerikas gilt, sondern auch religiösen Themen aus Buddhismus und Christentum. Beide ihn faszinierenden Quellen der Weisheit hat Scorsese nun vereint – in einem Epos, das den Wert des Glaubens und die eigene geistliche Identität in seinen Grundfesten erschüttert. Wer noch für religiöse Credo etwas über hat, sich selbst als Gläubigen sieht oder zum Agnostizismus neigt, findet in dem faszinierenden, hoch speziellen Religionsfilm einiges an brisanten und bis in die Wurzeln der Glaubensdidaktik reichenden Stoff zum Weiterphilosophieren und Ausdiskutieren.

Auf die unheilvolle Odyssee jenseits des Fassbaren schickt Scorsese niemand geringeren als „Kylo Ren“ Adam Driver und Andrew Garfield, der schon in Mel Gibsons Hacksaw Ridge mit der Kraft des Heiligen Geistes im Japan des zweiten Weltkriegs als pazifistischer Engel am Schlachtfeld diverse Leben retten konnte. Die beiden sind auf der Suche nach ihrem Lehrer, der als Jesuitenpater Ferrera (hat wieder mal gezeigt, dass er noch zu mehr taugt als nur zum Actionhero: Liam Neeson) angeblich vom Glauben abgefallen sei. Im christlichgläubigen Untergrund Japans angekommen, beginnt ein ganz eigener, erschütternder Kreuzweg in eine verbotene Zone für das Christentum, wo deren Anhänger vom Tokugawa-Shogunat, einer dynastischen Militärregierung, verfolgt, zwangskonvertiert oder ermordet werden. Die Methoden, die diese Inquisitoren erwählt haben, um den feindlichen Glauben auszumerzen, sind in seiner einfallsreichen Absurdität so unglaublich wie bestialisch. Wobei das Quälen der Christen meist nicht erste Wahl ist – das Konterfei der Jungfrau Maria oder Jesu Christi mit Füßen zu treten, ist für die Glaubensjäger meist Beweis genug, einen neuen Konvertiten gewonnen zu haben. Nur eine Frage der Zeit, wann die beiden ausgesandten Portugiesen das gleiche Schicksal erleiden müssen.

Scorsese findet neben der Schilderung dieser dunklen Episode des Christentums unter Aufwendung sehr viel Feingefühls genug Zeit, sich obendrein noch mit Sinn und Unsinn des Märtyrertums auseinanderzusetzen. Er verwickelt seine Figuren in Zwiegespräche mit Gott, lässt sie mit den Inquisitoren tiefschürfende Gespräche führen und lädt den interessierten Zuseher auf eine ganz persönliche Bibel- und Glaubensexegese ein, die vieles kritisch hinterfragt und das Verständnis des neuen Testaments auf mehrere, sich ad absurdum führende Ebenen hebt. Silence ist kein Film für das breite Publikum. Keine bequeme Geschichtsstunde, nicht frei von Gräuel, sehr speziell und fast schon ein seltener Beitrag zu einem verschwindenden Subgenre des Religionsfilms, zu welchem auch Roland Joffe´s Mission oder der preisgekrönte venezolanische Film Jericho zählt. Wobei Silence ebenso weit weg ist von christlicher Propaganda wie die beiden zuvor genannten Filme. Scorseses persönliche Meinung bleibt verborgen, sein Film ist eine unparteiische, aufwühlende Grauzone und Bildnis einer Irrfahrt voller Verfehlungen und lächerlicher Dogmen. Sie handelt von der Frage am Verrat des Glaubens und vom Verrat am persönlichen Jesus. Vom Seelenheil und vom Heil einer Weltreligion. Von Nächstenliebe und verbohrter Gottesliebe.

Silence ist ein starkes Stück cineastische Religionsgeschichte, so wuchtig bebildert wie nüchtern erzählt.

Silence