Never Let Go (2024)

WENN ALLE STRICKE REISSEN

7/10


NEVER LET GO - LASS NIEMALS LOS / Ab 26. September 2024© 2024 Lionsgate


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ALEXANDRE AJA

DREHBUCH: KC COUGHLIN, RYAN GRASSBY

CAST: HALLE BERRY, PERCY DAGGS IV, ANTHONY B. JENKINS, WILL CATLETT, MATTHEW KEVIN ANDERSON, STEPHANIE LAVIGNE U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Hütten und Häuser im Wald gibt es viele. Dort auszuharren bedeutet oft nichts Gutes. Entweder ist die Welt bereits den Bach runter, die Menschheit ausgelöscht oder ein Fluch hindert die darin Lebenden, ihre Existenzblase zu verlassen. Ob Evil Dead, The Cabin in the Woods oder Knock at the Cabin – irgendwo ist dabei immer das Böse einen Steinwurf entfernt und nur das bedächtige Verhalten einer Handvoll Überlebender entscheidet über Leben und Tod. Horror-Spezialist Alexandre Aja (u. a. Crawl, Oxygen) will Raimi oder Shyamalan weder kopieren noch parodieren noch sich gar vor ihnen verbeugen. Er schafft es, dank einer literarischen Vorlage, die den bekannten Versatzstücken entgeht, eine völlig anders geartete Variation des Haunted Cabin-Genres vorzulegen. Wir befinden uns dabei inmitten eines Waldes irgendwo in den Vereinigten Staaten, dort steht eine relativ alte Immobilie, die noch den Großeltern von Halle Berry gehört hat, die in Never Let Go eine traumatisierte Mutter gibt, die nichts mehr anderes in ihrem entbehrlichen Überleben antreibt als auf ihre beiden Söhne aufzupassen. Denn eines weiß sie: Eine niederträchtige Entität lauert jenseits des Grundstücks. Sie kann jedwede Gestalt annehmen und ihre Opfer zum Wahnsinn treiben, sobald diese berührt werden. Allerdings gibt es da eine Methode, um der Belagerung zu entgehen: Alle drei, Mutter und Söhne, müssen mit einem Strick stets mit dem Haus verbunden bleiben. Solange keine Abnabelung stattfindet, kann das Böse den Überlebenden nichts anhaben. Die Kinder zeigen sich, je älter sie werden, zunehmend skeptisch: Wie kann es sein, dass nur Mama das Böse sieht? Warum wir nicht? Und was, wenn alles gar nicht wahr ist und Mama längst in die Geschlossene gehört, weil sie was auch immer aus ihrer Vergangenheit nicht verarbeiten kann? Ist das Ende der Welt wirklich passiert oder liegt eine gänzlich andere Wahrheit irgendwo da draußen?

Wenn sich der Nachwuchs aus der elterlichen Fürsorge entwindet, um auf eigene Faust die Welt, in der er lebt, zu erforschen, mag das sehr viel mit Trial und Error zu tun haben, aber auch mit dem Erlernen notwendiger Selbstständigkeit. Es gibt Mütter und Väter, die das nur schwer zulassen können. Die sich viel zu sehr mit ihren Kindern identifizieren, ohne diese als autarke Persönlichkeiten zu betrachten. Wie monströs können Eltern werden, wie fanatisch, wenn juveniles Reifen nichts ist, was sich entwickeln darf. So sitzt Halle Berrys Figur wie eine Glucke auf den Brüdern Nolan und Samuel, lehrt sie, ihr Zuhause zu lieben und lehrt sie, niemals loszulassen. Der Titel ist dabei maßgeblich Programm. Und sagt vielleicht schon viel zu viel darüber aus, ob der Schutz vor der Außenwelt wirklich berechtigt ist oder nicht.

Dennoch belässt Aja die meiste Zeit des Films sein Publikum im Dunkeln, um nicht zu sagen: Fast die gesamte Laufzeit. Dieses Spiel mit Vertrauen, Misstrauen, Glaube und Aberglaube gerät zum dichten Reigen eines familiären Albtraums zwischen Einbildung, Angst und der klaren Sicht auf die Dinge, wie sie vermutlich sind. Never Let Go entwickelt dort noch Suspense, wo andere Filme längst aufgegeben haben und zur Tagesordnung eines Showdowns übergegangen sind. Mit The Village gelang Shyamalan – um einen Vergleich mit dem Regiekollegen dennoch zu bemühen – ähnliches. Dort konzentrierte sich dieser auf das fatale Dilemma rund um Verschwörung und Aberglaube, womit der Film mit Never Let Go einiges gemeinsam hat. Letzterer nimmt sich aber auch noch der Problematik elterlicher Erziehung an. Mag sein, dass Never Let Go letzten Endes zu viel will. Und ja, Aja stopft hier einiges in seine hundert Minuten, vor allem allerlei Symbolträchtiges und Allegorisches und verliert dabei vollends eine gewisse inhärente Logik aus den Augen, die den Nebel aus Halluzinationen, Tatsachen und Phantastischem teilen könnte.

Festhalten kann sich das Publikum nirgendwo. Was Never Let Go dann auch so beklemmend macht. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, schwindet der Boden unter den Füßen. Immer wilder wird der Ritt, wer hätte gedacht, dass Berry und zwei Jungdarsteller so ein Inferno entfesseln? Den rettenden Strohhalm gewährt Aja dann doch, aber erst dann, wenn jedwede Zuversicht schon aufgegeben scheint.

Never Let Go (2024)

The Village Next to Paradise (2024)

WIE TRÄUMT MAN AM HORN VON AFRIKA?

6,5/10


thevillagenexttoparadise© 2024 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SOMALIA 2024

REGIE / DREHBUCH: MO HARAWE

CAST: AHMED ALI FARAH, ANAB AHMED IBRAHIM, AHMED MOHAMUD SALEBAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


„Erzählst du mir wieder von deinen Träumen?“, fragt der eine Junge seinen ehemaligen Schulkollegen, und zwar deswegen ehemalig, da die Bildungseinrichtung im Dorf namens Paradies mangels Lehrkräfte dicht machen musste. „An die kann ich mich nicht mehr erinnern“, entgegnet Cigaal. Vielleicht, weil Träume mit Aussicht auf eine bessere Zukunft Teil der Realität geworden sind. Sein Vater Mamamrgrade hat ihn schließlich aufs Internat geschickt. Damit irgendetwas wird aus ihm, wenn schon die Erwachsenen an den wenigen Möglichkeiten, die es braucht, um im Leben weiterzukommen, ihre ganze Motivation verbrauchen. Eine gute Ausbildung ist alles, genauso wie die Bereitschaft, sich für alles anzubieten. Denn Mamamrgrade ist nicht nur Lieferant für heiße Ware, sondern vor allem auch Totengräber, der vermehrt Opfer von Terroranschlägen und Drohnenangriffen in der knochentrockenen Erde Somalias verscharrt. Seine Schwester Araweelo hat indes mit einer gescheiterten Ehe zu kämpfen und mit dem Traum einer eigenen Schneiderei. Dafür gelingt es ihr zumindest, einer Nähmaschine habhaft zu werden. Der Rest solle dann folgen. Und dafür braucht es Geld, einen ganzen Haufen dieser ausgefransten, abgegriffenen, speckigen Scheine, welche die inflationäre Währung am Horn von Afrika verkörpern.

Wenn man von Somalia etwas mitbekommt, dann sind es von Piraten in ihren Schlauchbooten aufgebrachte Frachtschiffe wie in Captain Phillips von Paul Greengrass. Oder katastrophal danebengegangene Missionen des US-Militärs, wie sie Ridley Scott in Black Hawk Down so fühlbar vor Augen führt. Von Gewalt, Krieg und religiösem Fanatismus ist in The Village Next to Paradise nichts oder nur sehr wenig zu sehen. Jene Anarchie eines Landes, die es in die Schlagzeilen bringt, schwelt am glutheißen Horizont, während die Anarchie einer Gesellschaft, in der jede und jeder selbst improvisieren muss, um nicht unterzugehen, Erwähnungen im Auslandsfernsehen kaum wert sind. Am Horn von Afrika findet, man möchte es kaum glauben, sogar so etwas wie Alltag statt. Werte, Würde und Beharrlichkeit sind selten etwas, wofür die Erziehung Ressourcen übrighat. Die Not bringt Tugenden – oder manchmal auch die falsche Entscheidung.

Der aus Somalia nach Österreich immigrierte Autorenfilmer und Kurzfilmkünstler Mo Harawe hat mit The Village Next to Paradise seinen ersten Langfilm inszeniert und diesen ins Programm der diesjährigen Viennale gebracht. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass Harawe wohl kaum jene Mühsal auf sich genommen hat, um tatsächlich vor Ort am Schauplatz der Geschichte zu filmen. Doch das hat er getan – und verleiht damit seinen Alltagsbeobachtungen eine intensive dokumentarische Authentizität, die es schafft, die fremde Realität für kurze Zeit als die eigene wahrzunehmen. Das liegt vielleicht daran, dass es Harawe nicht darum geht, poetische Verklärungen aus einem exotisch anmutenden Land auf gefällige Weise einem Weltpublikum näherzubringen, um vielleicht die Werbetrommel im Tourismus Somalias zu rühren. Der ist faktisch nicht vorhanden, und während dieser im Eigenantrieb voranschlurfenden Tagen wird klar, wie sehr Harawe einerseits seine Heimat vermissen muss, andererseits, wie sehr es ihm wohl auch daran gelegen hat, dem Unzulänglichkeiten eines Staates, der seine Bürger weitestgehend ihrem Schicksal überlässt, ins Auge zu sehen. Und das Leben, welches so ganz anders abläuft, als wir es gewohnt sind in den luxuriösen europäisch-westlichen Breiten, folgt dabei der Begrifflichkeit von Zeit, die uns womöglich wahnsinnig machen würde, da Schnelllebigkeit nichts ist, womit sich Somalier herumschlagen müssen.

Vieles, wenn nicht alles, verläuft mit angezogener Handbremse. Mit lakonischem Phlegma ringen Menschen mit ihrer Existenz, doch nicht, wie man erwarten würde, schicksalsergeben. Hier in Somalia ist der Rhythmus der eines träge schlagenden Herzens. Und was andernorts auf eine Filmlänge von knapp 90 Minuten heruntergebrochen werden könnte, füllt in The Village Next to Paradise eine satte Überlänge, und zwar so, als gäbe es kein filmisches Ende, als würde Harawe gar nicht daran denken, einen Schlusspunkt zu setzen. Ich beobachte ihn, wie er einen nach dem anderen verpasst, immer weiter zieht das Schicksal, der Zufall und die Gunst ihre Kreise, das Sitzfleisch wird mürbe. The Village Next to Paradise gerät fast ein Drittel seiner Spielzeit zu lang, Geduldige können sich glücklich schätzen, diese Eigenschaft zu besitzen. Alle anderen winden sich in den Sitzen, und irgendwann endet der immersive Ausflug in eine Vergessene Welt dann doch und lässt ein bisschen Hoffnung über. Ein bisschen Zuversicht, und lobt nebenher des Menschen Drang zur Erfüllung der eigenen Wünsche.

The Village Next to Paradise (2024)

Der Spatz im Kamin (2024)

DIE KATZE IST TOT

7/10


spatzimkamin© 2024 Viennale


LAND / JAHR: SCHWEIZ 2024

REGIE / DREHBUCH: RAMON ZÜRCHER

CAST: MAREN EGGERT, ANDREAS DÖHLER, BRITTA HAMMELSTEIN, LUISE HEYER, MILIAN ZERZAWY, PAULA SCHINDLER, LEA ZOË VOSS, ILJA BULTMANN, LUANA GRECO U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Familie und ihre dunklen Geheimnisse. Gerade in den skandinavischen Dramen eines Henrik Ibsen, August Strindbergs oder später in den gallig-polemischen Satiren eines Edward Albee kommen Familien, gepfercht in einen sinnbildlichen Druckkochtopf, an ihren Siedepunkt. Was raus muss, muss raus, es ist wie bei einem entzündeten Blinddarm oder einem faulen Zahn. Das Problem dabei ist nur: Sich des Eiterherds zu entledigen, dafür braucht es Mut und Anstrengung. Oder gerade den richtigen Moment. Welcher wäre dafür nicht besser geeignet als eine Familienfeier anlässlich des Geburtstages von Papa Markus. Der Mann hat drei Kinder und eine Ehefrau, die längst nicht mehr das ist, was sie damals war, als beide sich kennengelernt haben. Nun – Zeit, Alltag, Stress und Midlife-Krisen ändern oft alles, und nichts lässt sich mehr wiedererkennen. Die ganze kaputte Familie soll anrücken – Schwester mit Schwager, die entlaufene Tochter, sogar die Hundesitterin, die vis a vis in der Holzhütte wohnt, um ihr nach einem Aufenthalt im Gefängnis eine zweite Chance zu geben. Der Haussegen hängt schief, und es scheint, als würde die miese Stimmung einzig und allein von Mama ausgehen, während der Rest der Sippschaft sich darin übt, diese Frau entweder zu hassen oder zu meiden.

An einem Wochenende wie diesen, an welchem sich versehentlich ein Spatz in den Kamin verirrt und vielleicht auch die Katze stirbt (um Schrödingers Dilemma zu bedienen), könnte die große Katharsis stattfinden, der große Kehraus nach einem Feuerwerk aus Gift und Galle, verletzenden Worten und völlig falsch verteilter Rollen. Der Spatz im Kamin ist für mich der erste Film der Gebrüder Zürcher, ein waschechtes Schweizer Fabrikat, ein pointiertes Familiendrama mit spitzen Zungen und paraverbaler Botschaften. Zwar untereinander nicht zusammenhängend, ist dieser Teil nach Das merkwürdige Kätzchen und Das Mädchen und die Spinne nun der letzte einer sogenannten Tier–Trilogie, die jeweils den animalischen Symbolismus bedient. Alle drei gehen in Medias Res, was soziale Mikrokosmen betrifft, in denen Liebe, Hass, Sehnsüchte und Geheimnisse reif für die Ernte sind. In diesem Schweizer Sommer schwant einem Übles, mag man den Haushaltseifer des Jungen als bedrohlich betrachten und die falsche Freude der Besucher als aufgesetzt. Während alle anderen gar nicht mal so tun, als ob, sondern die Wahrheit hinter allem auf provokante Weise höher schaukeln, bleibt Maren Eggert (zuletzt in Ich bin dein Mensch neben „Roboter“ Dan Stevens zu sehen) die zentrale Figur einer strindberg’schen Mutterfigur, die, immer noch wohnhaft im Haus ihrer Eltern und scheinbar verbunden mit einem Fluch, das Erbe der eigenen Ahnen antritt. Familie wird in Der Spatz im Kamin zur Wucherung auf den Fundamenten des Vergangenen. Wie Eggert sich diesem Geschwür entledigt und gleich die ganze Verwandtschaft mitreißt, das schildert Ramon Zürcher mal nüchtern, mal radikal, mal versunken in einer metaphysischen Traumwelt.

Im letzten Drittel dringt das Irreale wie eine helfende Hand für Eggerts Figur in die bittere Realität, verliert aber dadurch auch etwas an Substanz. Es scheint, als wäre die Flucht in den Traum der einzige Ausweg in den Augen Zürchers, und ja, das Theater arbeitet mit solchen Elementen relativ oft. Tabula Rasa spielt es in diesem Drama wohl weniger, dafür hat die in der Psychotherapie erfolgreich praktizierte Familienaufstellung ihren Film gefunden. Nach der Erkenntnis, wo wer hingehört, obwohl er ganz woanders steht, ebnet den Weg zum Neuanfang.

Der Spatz im Kamin (2024)

Memory (2023)

DIE DUALITÄT DES ERINNERNS

7,5/10


memory© 2024 MFA+ Filmdistribution


LAND / JAHR: MEXIKO, USA 2023

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION: MICHEL FRANCO

CAST: JESSICA CHASTAIN, PETER SARSGAARD, BROOKE TIMBER, MERRITT WEVER, ELSIE FISHER, JESSICA HARPER, JOSH CHARLES U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Die einen wollen vergessen und können nicht. Die anderen vergessen und wollen nicht. Selten ist es so, dass jene, die vergessen wollen, es auch tatsächlich tun. Zu tief stecken hier traumatischen Erfahrungen in der eigenen Biografie fest, zu sehr beeinflussen diese die Gegenwart. Jene, die vergessen, obwohl sie jede Erinnerung behalten möchten, leiden vermutlich an kognitiven Störungen, die zur Demenz führen. Oft wird diese Erkrankung mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, doch Filmemacher Michel Franco sieht das anders. Er wirft Peter Sarsgaard als Saul in einen vernebelten Alltag, der allein nicht mehr zu meistern ist. Abhängig vom eigenen Bruder, erlebt er mal helle Momente, dann wieder Phasen der völligen Desorientierung. Und: Der Mann steht mitten im Leben. Auf der anderen Seite muss Sylvia (Jessica Chastain) als ehemalige Alkoholikerin, die schon seit dreizehn Jahren trocken ist, ein Trauma mit sich herumtragen, welches sich einfach nicht wegsperren lässt. Das hat auch starken Einfluss auf die eigene Tochter, die weder mit Freunden abhängen noch zu Partys gehen darf. Francos Romanze will es, dass sich beide – Chastain und Sarsgaard – auf einem Klassentreffen über den Weg laufen. Oder anders gesagt: Saul sucht Sylvias Nähe und folgt ihr aus welchen Gründen auch immer (später erfährt man auf einer geschickt eingeflochtenen Meta-Ebene, warum) bis vor ihre Haustür – wo er, bei Sturm und Regen, Wurzeln schlägt. Sylvia ahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt, allerdings nichts, was ihr bedrohlich werden könnte. Nächsten Morgen stellt sich heraus: Der Mann leidet an dementen Schüben, die ihn völlig aus der Bahn werfen. Ohne Betreuung geht es nicht, also nimmt Sylvia auf Bitten von Sauls Bruders den Job an, sich um ihn zu kümmern. Während also Erinnerung und Vergessen aufeinandertreffen, ziehen sich diese Gegensätze sehr bald an.

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Wie ein einziger Tag oder sentimentalem Taschentuchdrama, wenn ich nicht wüsste, dass Michel Franco hier nicht nur die Story ersonnen, sondern eben auch inszeniert hat. Dessen letzter Film – Sundown – Geheimnisse in Acapulco – kann, wenn man sich einlässt, zu einer speziellen Filmerfahrung werden – mit der dramaturgischen Taktik, fast die gesamte Laufzeit des Films seine Zuseher im Unklaren zu lassen, was Tim Roth wohl antreibt, um aus seinem bisherigen Leben auszusteigen und alle Verbindungen zu kappen. Dieses Mysterium steht und fällt mit der hypnotischen Gelassenheit und stillen Melancholie des Hauptdarstellers, den ruhigen, fast ereignislosen Szenen und dem vielen Platz, den Franco lässt, um eigene Ideen hineinzuinterpretieren. Bei Memory macht er es ähnlich. Die Art, wie Franco seine Filme reduziert, und wie er dabei nach eigenem System die Kamera einsetzt, mag bereits zu seiner unverkennbaren Handschrift geworden sein. Was dabei auffällt: Sobald seine Figuren in einen Konflikt geraten, zieht er sich zurück – wir sehen die Szene in der Totalen, distanziert und als stiller Beobachter. Sind die Gefühle im Reinen, hat Franco auch den Wunsch, sich zu nähern. Menschen, die negative Emotionen auslösen, stehen vorrangig mit dem Rücken zur Kamera oder werden erst gleich gar nicht gezeigt. Ein haarfeines, akkurates, psycho-symbolisches Konzept liegt hier vor, während – wie bei Sundown – all die Szenen in unerzwungener Konsequenz fast schon fragmentarisch aneinandergereiht werden. Nie werden diese auserzählt, sondern enden an dem Punkt, an dem wir selbst als Zuseher, ob wir wollen oder nicht, das Geschehen gedanklich ergänzen. Trotz der Bruchstücke – wie beim assoziativen Erinnern – entsteht so ein Ganzes, eine unaufgeregte, nicht karge, aber pietätvolle Erzählung, die mit lamentierender Schwermut nichts anzufangen weiß. Memory widmet sich einschneidenden Schicksalsschlägen, ohne die Schwere auszunutzen. Er erzählt sie anders, und probt damit das symptomatische Empfinden seiner eigenen Themen. Wie Film und Inhalt sich dabei ergänzen, ist wie Vergessen und Erinnern. In der Mitte liegt eine pragmatische Balance für ein gutes Leben.

Memory (2023)

The End We Start From (2023)

HINTER MIR DIE SINTFLUT

5/10


the-end-we-start-from© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: MAHALIA BELO

DREHBUCH: ALICE BIRCH, NACH DEM ROMAN VON MEGAN HUNTER

CAST: JODIE COMER, JOEL FRY, KATHERINE WATERSTON, GINA MCKEE, NINA SOSANYA, MARK STRONG, BENEDICT CUMBERBATCH, SOPHIE DUVAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Diese Woche soll es endlich wieder mal ordentlich regnen. Zumindest hier, im staubtrockenen, glutheissen Wiener Becken, waren all die verzweifelten Regentänze für die Fische. Unter solchen Umständen wandern Filme, die sich mit Klimawandel und noch dazu mit dem heiß ersehnten Niederschlag auseinandersetzen, die Watchlist höher. Eines dieser neuen Werke ist jener Streifen, der Jodie Comer als frischgebackene Mutter durch ein teilweise überflutetes und vollends dem Ausnahmezustand anheimgefallenes Großbritannien schickt. Durch das London an der Themse lässt sich nur noch per Boot manövrieren, zum Glück haben eine Frau ohne Namen und ihr Mann rechtzeitig Haus und Heim hinter sich gelassen, zum Glück hat diese Frau auch rechtzeitig ihr Baby zur Welt gebracht. Es scheint, als wäre das Schicksal dieser frischgebackenen Familie gewogen, denn Papas Eltern leben überdies in höhergelegenen Gefilden am Land, mit jeder Menge Vorrat, um gut durch die Krise zu kommen. Diese dauert aber länger als gedacht, es scheint, als wäre die Flutkatastrophe sowas wie einer Zombieapokalypse gewichen, nirgendwo gibt es mehr Nahrung, und selbst im Haus der Großeltern leert sich der Keller. Das Schicksal meint es also doch nicht gut, als ein Unglücksfall dem anderen folgt und Jodie Comers Charakter plötzlich ganz allein dastehen muss, den Säugling vor die Brust geschnallt und ums Überleben kämpfend. Die Suche nach Papa muss verschoben werden. Die Zukunft ist ungewiss.

Aus gefühlt jedem Katastrophenzustand wird im Kino gerne eine Endzeit generiert. Auf ein zivilisiertes Danach lässt sich in vielen Fällen einfach nicht mehr hoffen. Meist ist das Elysium ein am Horizont vage manifestierter Lichtblick, ein Ideal, ein Hoffnungsschimmer oder Motivator, der die hartnäckig Suchenden nicht resignieren lässt. The End We Start From ist nicht viel anders und fühlt sich an wie ein Spin Off von The Last of Us, nur ohne den toxischen Pilzsporen anheimgefallene Mutanten. Hier ist das Hochwasser schlimm genug, um die gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln zu heben. Dass man in Zeiten wie diesen dann doch noch eine neue Generation in eine ungewisse, äußerst instabile Zukunft schicken soll, versucht der nach einem Roman von Megan Hunter inszenierte melodramatische Streifen zu illustrieren. Und lässt sich dabei zu einem mitunter elegischen Kaffeekränzchen für Mamas hinreissen, das mit einer Engelsgeduld, die der Zuseher vielleicht nicht hat, den pflegetechnischen Alltag von Jodie Comer und dann auch noch Katherine Waterston, die sich ebenfalls um ihr Kleinkind bemüht, in den Fokus nimmt. Das mutet in jedem Fall recht empathisch und gefühlvoll an, reizt die Thematik aber zu sehr aus, während sich der rote Faden in den Wirren der nicht näher beleuchteten Katastrophe verliert, die überdies das Gefühl vermittelt, nicht ganz schlüssig zu sein. Geht’s mal nicht um das Erfüllen mütterlicher Pflichten, setzt Mahalia Belo Jodie Comers Konterfei breitenwirksam in Szene – nachdenklich, rückblickend, sehnsüchtig. Und dann nochmal: nachdenklich, rückblickend, sehnsüchtig, vielleicht gar schwelgend in Erinnerungen mit Partner Joel Fry, der stets so aussieht, als würde er nicht nur in den Fluten, sondern auch im Selbstmitleid ertrinken.

Es ist schon gut erkennbar, worum es der Story um Mutterschaft angesichts extremer Umstände wohl gehen mag: Um den Verlust gesicherter Existenzgrundlagen und die Erschaffung neuer Parameter. Was es dafür braucht, ist letztlich die gesamte leidgeprüfte Familie. Mahalia Belo lässt sich mit dieser redundanten Erkenntnissuche aber viel zu viel Zeit, The End We Start From hat mitunter ermüdenden Leerlauf und fühlt sich dem Melodramatischen sehr zugetan. Ein Endzeitdrama light mag hier gelungen sein, für all jene, die The Road mit Viggo Mortensen als unzumutbar erachten, derweil ist dieser düstere Streifen einer der „schönsten“ und aufrichtigsten Filme um das Ende der Welt, die bisher gedreht wurden. The End We Start From weiß nicht so recht, wieviel es seinen Figuren zumuten will. Als Schonprogramm zwischen Krabbelstube und Existenzanalyse mag dieser gemächliche Paradigmenwechsel wie weichgespült wirken, auch wenn, wie es scheint, die Insel sich mutwillig selbst aufgibt.

The End We Start From (2023)

Mothers‘ Instinct (2024)

DAS KIND DER ANDEREN

6/10


mothers-instinct© 2024 Ascot Elite


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: BENOÎT DELHOMME

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON BARBARA ABEL

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANNE HATHAWAY, ANDERS DANIELSEN LIE, JOSH CHARLES, EAMON O’CONNELL, CAROLINE LAGERFELT, BAYLEN D. BIELITZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Werden wir kurz mal biblisch. Denn gäbe es nach den zehn Geboten, die Moses von Gott höchstselbst ausgehändigt bekommen hat, noch ein elftes Gebot, würde dies vermutlich lauten: Du sollst nicht begehren der anderen Kind. Manche würden meinen: Mit diesem Gesetzt würde man offene Türen einrennen, denn als Mutter oder Vater ist man mit dem eigenen Nachwuchs wohl schon genug gesegnet, und gäbe es mal keinen, so ist das der Wille der Erwachsenen oder aber, sofern der Nachwuchs nicht auf natürlichem Wege auf die Welt kommen kann, kann Adoption immer noch ein Ausweg sein. Gott würde wohl mit seinem elften Gebot jene traurigen Gestalten ansprechen, die, längst glücklich mit Tochter oder Sohn, plötzlich kinderlos dastehen. Wenn das Schicksal erbarmungslos zuschlägt, dann ist das das Schlimmste, was einem widerfahren kann: Der Tod des eigenen Kindes. Kultstar Romy Schneider hat das erleben müssen. Sie wird sich davon niemals mehr erholt haben.

Im hochdramatischen Psychothriller Mothers‘ Instinct schickt Kameramann Benoît Delhomme in seinem Regiedebüt zwei schillernde Stars in den Nachbarschaftskrieg und lässt sie zu desperaten Hausfrauen mutieren, die sich beide nichts schenken – schon gar nicht das eigene Kind. Bereits die längste Zeit sind Jessica Chastain als Alice und Anne Hathaway als Celine dicke Freundinnen, die, jeweils gesegnet mit einem Sohn, bereits sowas wie Familie sind. Auf allen möglichen Festivitäten kann die eine nicht ohne die andere. Was wie ein idyllisches, harmonisches Miteinander aus der Epoche der biederen 60er Jahre aussieht, wird wohl bald einer Naturkatstrophe ausgesetzt sein, die das Fundament nicht nur einer Existenz, sondern auch einer innigen Freundschaft zerbrechen lässt. Celines Sohn schließlich, draufgängerisch und unachtsam, fällt von der Balustrade der hauseigenen Loggia mehrere Meter tief. Ein Unglück, das der Kleine nicht überleben und eine ganze Familie in den Abgrund reissen wird. Auf der anderen Seite bleibt Alice – schockiert, tröstender Worte nur schwer mächtig, aber immer noch einen lebendigen Spross an ihrer Seite. Eine Konstellation, die ungute, intuitive Gefühle hochkommen lässt – vorallem jene von Celine, die mitten in ihrer zermürbenden Trauer neidvoll zusehen muss, wie andernorts das Leben weitergeht. Was aus diesem Neid erwächst, der sich kontinuierlich in eigennützigen Aktivitäten Bahn bricht, die den Sohn der anderen stärker an die Trauernde binden soll, nimmt hochdramatische Züge an.

Rein theoretisch hätte man es in Mothers‘ Instinct beim Drama belassen können. Andererseits ist Belhommes verhaltenspsychologischer Thriller das Remake eines bereits 2018 erschienenen belgischen Films selben Titels. Die Thriller-Komponente war wohl auch im Original vorhanden, und vielleicht hat sich diese unter Olivier Masset-Depasses Regie besser integriert. Beurteilen kann ich das nicht, das Remake habe ich dem Original dann doch vorgezogen. Und ja – eine Zeit lang entwickelt Delhommes Interpretation einen ungeheuerlichen, geradezu reißerischen Sog, wenn es darum geht, das tragische Schicksal einer Mutter darzustellen. Anne Hathaway mag in ihrem Schauspiel zwar immer wieder dick auftragen – solange sie die Qual einer Trauer hinter gesellschaftsfähiger Fassade verbirgt, kann sie überzeugen. Chastain steht Hathaway um nichts nach, ihre Paranoia wirkt greifbar – beide liefern sich ein Kopf an Kopf-Rennen, es ist wie das Ringen zweier Profis, zuletzt ähnlich gesehen in May December – zwischen Julianne Moore und Natalie Portman.

Und dann das Abrutschen ins generische, weil routinierte Thrillerkino: Wie so oft in diesem Genre sind psychologische Aspekte sowie die Entwicklung eines pathologischen Verhaltens nichts, womit sich Drehbuchautoren auch wirklich ausführlich beschäftigen wollen. Meist verändern im Laufe der Handlung tragende Charaktere ihre Persönlichkeit um hundertachtzig Grad, was wenig plausibel erscheint. Mothers‘ Instinct spitzt sich zu und ist effektiv, mag aber zu sehr auf Worst Case Szenario gebürstet sein, um die feinen Nuancen der ersten Filmhälfte beizubehalten. Was als Familien- und Freundschaftsdrama beginnt, endet als zynische Schicksalsgroteske. Wer beide Ansätze gut miteinander vereinbaren kann, mag an Mother‘ Instinct Gefallen finden. Ich für meinen Teil finde das Abgleiten ins Triviale nicht nur vorhersehbar. Als sich die Befürchtung, es könnte vielleicht so kommen, bewahrheitet, verliert der Streifen doch etwas an Niveau.

Mothers‘ Instinct (2024)

Welcome Venice (2022)

VENEDIG IN DER SELBSTREFLEXION

7/10


welcome_venice© 2022 Polyfilm


LAND / JAHR: ITALIEN 2022

REGIE: ANDREA SEGRE

DREHBUCH: ANDREA SEGRE, MARCO PETTENELLO

CAST: PAOLO PIEROBON, ANDREA PENNACCHI, ROBERTO CITRAN, ANNA BELLATO, GIULIANA MUSSO, SARA LAZZARO, OTTAVIA PICCOLO, FRANCESCO WOLF U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Es ist natürlich dreist, zu sagen: Zur Zeiten der Pandemie war nicht alles schlecht. Bei genauerer Betrachtung stimmt das aber. Vor allem hinsichtlich des globalen Tourismus, der zumindest für ein paar Jahre diverse Hot Spots wie eben auch Venedig davor bewahrt hat, mit Menschen aus aller Herren Länder lawinenartig überrollt zu werden. So manch attraktives Ökosystem konnte von dieser Auszeit profitieren, um sich zaghaft zu renaturieren. Bauliche Attraktionen wie die Lagunenstadt konnten ebenfalls durchatmen, sich auf sich selbst besinnen, reflektieren, was auf der Habenseite und der Sollseite steht. Andrea Segre, Venezianer aus Leidenschaft, hat die Zeit genutzt, um Venedig fast gänzlich frei von dem augenkrebsfördernden bunten Wahnsinn freizeitgekleideter Massentouristen unter die Lupe zu nehmen. Anders als in seiner Dokumentation Moleküle der Erinnerung aus dem Jahr 2020 nutzt er die entspannte Nüchternheit eines fischerstädtischen Alltags, um in dieser Ruhe vor dem kommenden Ansturm, der zwangsläufig irgendwann folgen wird, wenn Covid aus den Medien verschwindet, um diesmal eine fiktive Geschichte zu erzählen. Ein handfestes, konfliktreiches Familiendrama um zwei Brüder, deren Lebenskonzepte und Wertebewusstsein unterschiedlicher nicht hätte sein können.

Doch keiner schreit und zetert in knackigem Italienisch herum wie seinerzeit Sophia Loren in den neorealistischen Klassikern der 60er Jahre. Das sprichwörtliche, vielleicht auch klischeehafte italienische Temperament mag überall auf der Stiefel-Halbinsel durchkommen – in Venedig ticken die Uhren anders, sind Geräusche subtiler, schwelt die Morbidität des Metaphysischen wie nirgendwo sonst. Tod in Venedig, Wenn die Gondeln Trauer tragen – entweder ist die Lagunenstadt das Ende von etwas oder hält einen Paradigmenwechsel parat. Wie in Welcome Venice. Und auch dort wetzt der Gevatter seine Sense. Denn ursprünglich waren es drei Brüder, die eine Villa als gemeinsames Erbe verwalten und es eine ganze Zeit lang auch dafür genutzt haben, um die Zunft des Krabbenfischfangs zu zelebrieren. Was sie da so aus den Salzmarschen holen, sind die sogenannten Moeche, die man dann fängt, wenn die Panzer der Krustentiere noch weich genug sind, um sie mit Stumpf und Stiel in die Pfanne hauen zu können. Das ist harte Arbeit, allerdings ist sie Tradition, verbindet die Farmer mit dem Meer, lässt sie kaum abhängig sein von irgendwas, außer den Gezeiten. Einer der Brüder, Alvise, sieht das anders. Er ist Geschäftsmann und Tourismusmanager und wartet nur darauf, dass es wieder losgeht mit der Invasion der Kreuzfahrtriesen, die dieser besonderen Stadt den Charme nehmen, dafür aber Geld bringen. Piero und Toni hingegen feiern die Entschleunigung und die Balance zwischen Geben und Nehmen. Als Toni eines Tages beim Krabbenfischen vom Blitz erschlagen wird und dessen Witwe Alvise ihren Anteil des Hauses überlässt, bleibt nur noch, Piero davon zu überzeugen, dass die Zukunft im kapitalistischen Glück des Fremdenverkehrs liegt.

Ein Bruderzwist zu Venedig, so könnte man Segres Film zumindest theatralisch genug untertiteln. Dabei ist schwer vorauszusagen, wie ein solch verwurzelter Konflikt gelöst werden kann – oder eben nicht. Verflochten mit der Familiengeschichte der beiden Brüder, die versuchen, anhand einschneidender Erlebnisse aus deren Kindheit ihre Überzeugungen zu begründen, reflektiert Welcome Venice mit dieser Chronologie einer übermächtigen globalen Veränderung die Bedeutung und Identität einer zum Ausverkauf stehenden urbanen Besonderheit, die viel Geschichte erzählt und sich zwischen den Zeilen lesen lässt, als wäre es eine Fahrt mit einer Trauer tragenden Gondel durch versteckte, totenstille Kanäle. Die Bilder eines entschleunigten, auf sich selbst heruntergebrochenen Venedigs berühren und versetzen in eine vertraute Stimmung. Obwohl man selbst Venedig, hat man es einmal gesehen, nur oberflächlich kennt, mag der Zustand eines der Öffentlichkeit abgekehrten mediterranen Ist-Zustandes auch emotional nachvollziehbar sein. Man schmeckt und riecht das Meer, dessen Früchte und modrigen Mauern. Wenn sich der Morgen über den Marschen hebt, ist das ein Impressionismus, den Touristen weitaus lieber haben als sich mit den Massen durch die zeitlose Blase einer Welt zu schieben, die gerne mit sich selbst allein wäre.

Segre bleibt melancholisch und ruhig, sein Film birgt Stille, aber auch Trotz. Eine gewisse Erschöpfung geht von allem aus, eine Resignation, die an Pessimismus grenzt. Am Ende findet der Autorenfilmer keinen anderen Ausweg, als einem symbolträchtigen Zynismus zu folgen. Die letzte Szene birgt die Wut einer inneren Katastrophe, und in ihrer fast surrealen Radikalität zählt sie zu den eindrucksvollsten Schlussbildern der letzten Jahre.

Welcome Venice (2022)

Sterben (2024)

DIE NEUORDNUNG DER FAMILIE

7/10


sterben2© 2024 Jakub Bejnarowicz, Port au Prince, Schwarzweiss, Senator


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: MATTHIAS GLASNER

CAST: LARS EIDINGER, CORINNA HARFOUCH, LILITH STANGENBERG, ROBERT GWISDEK, RONALD ZEHRFELD, SASKIA ROSENDAHL, ANNA BEDERKE, SAEROM PARK, HANS-UWE BAUER U. A.

LÄNGE: 3 STD 2 MIN


Es ist wohl das traurigste und aufrichtigste Interview, dass ich jemals gelesen habe. In der letzten Ausgabe des Kinomagazins cinema steht Filmemacher Matthias Glasner anlässlich seines neuen Spielfilms Sterben (ein wenig erbaulicher Titel, der wohl keine Massen ins Kino locken wird) Rede und Antwort. Und seine Antworten sind herzzerreißend, weil er darin von irreversiblen Versäumnissen erzählt, von Krankheit und dem Tod seiner Eltern, von den eigenen Kindern und dem Gefühl, nicht geliebt zu werden. Diese Worte gingen zumindest mir relativ nah, und sie waren letztendlich auch der Beweggrund dafür, mir einen Film von einem Menschen anzusehen, dem nichts ferner liegt, als sich in ein strahlendes Künstlerlicht zu rücken oder mit seinen Talenten anzugeben. Glasner scheint mir ein bodenständiger, sehr reflektierender Mensch zu sein, der selbst erst lernen musste, zu verstehen, worauf es im Leben ankommt.

Sterben ist somit durchaus autobiographisch zu verstehen. Vorallem den Tod seines Vaters verarbeitet er hier vorrangig, um dann auf die Erkrankung der Mutter einzugehen und überhaupt auf das Gefüge oder die Institution Familie, die in Hollywood als oberstes Dogma zelebriert wird und im Idealismus ertrinkt, während im herbstkalten Hamburg Familie zu etwas wird, was man gelinde gesagt als Zufallsbekanntschaft ansehen kann, als eine zusammengewürfelte Truppe an Menschen, die alle das gleiche Los gezogen haben, doch keinesfalls wirklich miteinander klarkommen wollen. Familie ist ein Zweckbündnis und impliziert keinesfalls, das Blut dicker als Wasser sein muss. Wie wenig gewollt sich diese Familie in Glasners Film darstellt, kommt auch erst nach und nach ans Licht der Wahrheit. Für diesen inneren wie äußeren Seelenstriptease nimmt sich der Filmemacher viel Zeit, oder besser gesagt: Sein Film dauert, so lange er dauern muss. Er ist lang, aber nie zu lang. Klar hätte man ihn kürzen können, doch ohne sonderlich darauf zu achten, die Lebenswelten seiner Figuren in ein annehmbares Zeitfenster zu zwängen, gliedert er sein Werk erst recht in fünf unterschiedlich lange Kapitel, drei davon betreffen die Eckpfeiler dieser Familie mit dem Nachnamen Lunies – die Mutter, den Sohn und die Tochter. Der Vater (Hans-Uwe Bauer) vegetiert als dementer und an Parkinson erkrankter Pflegefall im Dämmerlicht eines Lebensendes vor sich hin, Mutter Lissie, selbst mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, tut, was sie kann – dank einer guten Seele aus der Nachbarschaft gelingt ihr das. Sohn Tom lässt sich kaum blicken, er arbeitet gemeinsam mit seinem besten Freund Bernard an einem Benefiz-Musikstück, das denselben Titel trägt wie der Film. Es ist eine fulminante Komposition, nur den Schöpfer selbst plagen Zweifel. Mit Exfreundin Liv, die gerade das Kind eines anderen zur Welt gebracht hat, lebt Tom sowas wie ein familiäres Patchwork-Leben, während Schwester Ellen, schwere Alkoholikerin, so gut wie überhaupt nichts auf die Reihe bekommt. Das ändert sich auch nicht, als sie eine wilde Beziehung mit einem Zahnarzt eingeht, der überdies verheiratet ist.

In Sterben bricht das, was idealerweise zusammengehört, auseinander, während gewisse Komponenten im zwischenmenschlichen Dasein, die prinzipiell überhaupt nicht zusammenpassen, plötzlich zueinanderfinden. Glasner stülpt die familiäre Ordnung von innen nach außen. Natürlich spielt da der Tod – oder besser: die Entropie, die Vergänglichkeit – eine große Rolle. Doch nicht so, wie man es vielleicht verstehen würde. Was stirbt, sind Illusionen, sind gesellschaftliche Dogmen, unter anderem auch holt Glasner das Thema des Freitods aus der Rumpelkammer der Sünden, er wird zum Beispiel einer bedingungslosen freundschaftlichen Liebe, während im langen Abschied von den Eltern Gefühle den Erfrierungstod sterben. Die Szene, in der sich Corinna Harfouch und Lars Eidinger gegenübersitzen und von ihren Empfindungen beichten, die so wahrhaftig und zugleich so erschreckend sind, ist großes Dialogkino voller Wahrhaftigkeiten. Zu verdanken ist das einem präzise aufspielenden Eidinger, der wieder mal beweisen konnte, wie sehr er auch darauf verzichten kann, den weinerlichen Weltschmerz zu verkörpern. Harfouch ist dabei sowieso eine Institution – als hätte Michael Haneke sie inszeniert, bringt sie ihr Dasein in allem Pragmatismus, den sie aufbringen kann, auf den traurigen Punkt. Und Lilith Stangenberg (letztes Jahr mit dem Film Europa auf der Viennale zu Gast), die sich längst ihrer familiären Vergangenheit entsagt hat, unterstützt mit ihrem grotesk-lasziven Gehabe, das für skurrile Momente sorgt, den unorthodoxen Stilwandel des Films, der weder schwermütig noch zynisch noch melancholisch sein will. Dass Glasner vorallem dem Zynismus entgeht, der sich anhand dieser Themen wohl anbieten würde, zeugt von Respekt und Achtsamkeit, zeugt vom Mut zum Verzicht, seinen Film als prätentiöses Schreckensgemälde zu inszenieren. Diese sich selbst genügende Methode ist es, die Sterben niemals in die Abgründe des Betroffenheitskinos zieht, sondern in fast schon philosophisch-stoischer Betrachtungweise über die Unmöglichkeit von Familie sinniert. Und über die Möglichkeit, aus allem eine Familie machen zu können. Das ist Freiheit.

Sterben (2024)

Ich seh ich seh (2014)

BRÜDER IM GEISTE

5/10


ichsehichseh© 2014 Ulrich Seidl Filmproduktion


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2014

REGIE / DREHBUCH: VERONIKA FRANZ & SEVERIN FIALA

CAST: SUSANNE WUEST, ELIAS SCHWARZ, LUKAS SCHWARZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Juvenile Zwillinge, die nach einer Gesichts-OP ihrer Mutter nicht mehr wissen, ob es sich dabei noch um dieselbe Person handelt – mit dieser Prämisse lassen sich ganz gut Ängste schüren. Die von Veronika Franz und Severin Fiala ersonnene Idee hat Biss und Potenzial, Alfred Hitchcock wäre erfreut darüber gewesen, hätte ihm jemand ein ähnliches Skript wie dieses auf den Tisch gelegt. Dieses Suspense-Kino hier kommt – oder kam, schließlich sind bereits zehn Jahre ins Land gezogen – aus heimischen Landen. Wie so oft in diesem Genre, sofern selbstproduziert, verortet sich der österreichische Horror im geheimnisvollen Waldviertel, da gibt es genug finstere Botanik, Einschicht und Isolation. Nirgendwo sonst kann es so gespenstisch werden, nirgendwo sonst ist selbst der Sommer immer einer, in dem die Wärme der Sonnenstrahlen nicht nur die Gemüter weckt, sondern auch ein bisschen den Wahnsinn. In dieser menschenleeren, doppeldeutigen Abgeschiedenheit müssen die quietschvergnügten Jungs Elias und Lukas ihre Ferien fristen, während sie auf die Rückkehr ihrer Mutter warten, die – keiner weiß, wie lange sie weg war – frisch von der Schönheits-OP daheim wieder aufschlägt. Dabei drängt sich gleich die erste Frage auf, die Ich seh ich seh nicht unbedingt einen Freifahrtschein in Sachen Plausibilität ausstellt: Kann es sein, dass die beiden – noch nicht mal Teenager – im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein selbst klarkommen mussten? Vernachlässigung der Aufsichtspflicht– ein Fall für das Jugendamt. Aber gut, ich gebe dem Streifen noch eine Chance, denn alles fühlt sich so an, als wäre es sehr wohl so gedacht gewesen, den Psychothriller in einer nüchternen, geradezu sperrigen Realität zu verankern, die zwar ordentlich mit Reduktion klarkommen muss, das Phantastische aber nur als Ausdruck eines Seelenzustandes streifen möchte.

So ist Susanne Wuest mit ihren Gesichtsbandagen nicht sofort als Mama zu erkennen, und die Zwillinge hegen erste Zweifel, ist doch das Verhalten der scheinbar fremden Frau so anders, als es zuvor war, als Mama noch Mama war, und nicht dieser Eindringling, der vorgibt, vertraut zu sein. Der Verdacht einer Home Invasion steht im Raum, während Lukas bei Elias weiter Ängste schürt und Panik verbreitet. Er scheint auch das weniger geliebte Kind zu sein, womit Mama nicht hinterm Berg hält. Diese ungesunde Konstellation aus Misstrauen, Zweifel und häuslicher Gewalt lässt sehr bald den Haussegen ordentlich schief hängen, was zur Folge hat, dass Elias zu drastischen Mitteln greift, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Der Einfluss eines Ulrich Seidl, welcher den Film auch produziert hat, ist unübersehbar. Wenig Score, nüchternes Setting, das Interieur des Hauses ist trotz flauschiger Teppiche kalt und unnahbar, die Bilder der berühmten Mama an der Wand, ist sie doch eine angesehene Fernsehmoderatorin, bewusst unscharf, was als wunderbare Symbolik dafür dient, die Identifikation geliebter Menschen zu verhindern. Sie dienen als Platzhalter für Doppelgänger und Falschspieler, und angesichts dieser erziehungsverpflichteten Übermacht denken die beiden Jungs aber gar nicht daran, sich zu unterwerfen. Und dann passiert das: In einem Thriller, in dem andauernd falsche Fährten gelegt werden und Vermutungen geschürt, bevor sie wieder verpuffen, macht Ich seh ich seh seine Exskalationsspirale von gewissen Umständen abhängig, die so, wie sie dargestellt werden, wohl kaum passieren hätten können. Die Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung häufen sich, je näher wir dem wuchtigen Grande Finale kommen.

Ein weiteres Problem sind die kaum stringent gezeichneten Charaktere. Zwischen übergriffig und devot mäandert die Rolle der Mutter durch den Film, ähnlich orientierungslos sind die beiden Jungdarsteller, die sich aufgrund einer dem Storytwist geschuldeten, sperrigen Inszenierung dem filmischen Konzept unterordnen müssen. Als Psychostudie versagt der Film auf ganzer Linie, als Horrorthriller mag er mit allerlei Genrezitaten aus dem Suspense-Sektor wiederum punkten. Doch das Grundproblem, das viele Horrorfilme aufweisen, und womit auch der Anspruch steht und fällt, als solcher ernstgenommen zu werden, ist die mangelnde Glaubwürdigkeit in Bezug dessen, wie sich Menschen normalerweise in Extremsituationen oder generell in Situationen, die den Horror begünstigen, tatsächlich verhalten würden. Die Mängel sind der Tribut, den Filmemacher dafür zollen müssen, um ihre filmische Wirkung zu garantieren. Der eine Anspruch bedingt aber den anderen, daher ist es gar nicht mal so leicht, guten Horror hinzubekommen, ähnlich wie bei einer guten Komödie. Nachvollziehbarkeit und eine gewisse inhärente Logik lassen, wenn man es gut macht, das Blut in den Andern gefrieren.

Bei Ich seh ich seh sind letztlich die Kompromisse zu zahlreich, um zu überzeugen, wenngleich Dramatik und Idee dahinter eine beachtenswerte Leistung darstellen, die Veronika Franz und Severin Fiala als ein vielversprechendes Regieduo auszeichnen, das frischen Wind ins österreichische Genrekino gebracht hat. Man darf gespannt sein auf ihren Neuling Des Teufels Bad, der diesjährig bei der Berlinale 2024 den Silbernen Bären für Kameramann Martin Gschlacht abholen konnte.

Ich seh ich seh (2014)

Eineinhalb Tage (2023)

ROADMOVIE AUS DEM SETZKASTEN

4/10


eineinhalbtage© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SCHWEDEN 2023

REGIE: FARES FARES

DREHBUCH: FARES FARES, PETER SMIRNAKOS

CAST: FARES FARES, ALMA PÖYSTI, ALEXEJ MANVELOV, ANNIKA HALLIN, STINA EKBLAD, ANNICA LILJEBLAD, RICHARD FORSGREN, BENGT C. W. CARLSSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Was haben Aki Kaurismäkis lakonisches, vielfach ausgezeichnetes Sozialmärchen Fallende Blätter und das Regiedebüt des schwedischen Schauspielers Fares Fares gemeinsam? Die Schauspielerin Alma Pyösti, die 2020 mit Tove, der Filmbiografie nämlicher Künstlerin, erstmals einem breiteren Publikum bekannt wurde. Seit September letzten Jahres wird sie auf Netflix als Krankenpflegerin Louise eines schönen Tages von Artan, ihrem Ex-Ehemann, heimgesucht, der, bewaffnet und emotional im Ausnahmezustand, einfach beschließt, die Mutter seiner Tochter als Geisel zu nehmen. Menschen wie Artan werden zum Unsicherheitsfaktor schlechthin, inmitten eines sicheren Europas, wo die Exekutive noch zeitnah heranrückt, wenn irgendwo einer beschließt, anderen den fremden Willen aufzuzwingen. So eine unschöne Situation lässt sich durch geschulte Verhandler entsprechend entschärfen, nur die Zeit drängt, und das Spezialkommando lässt sich bitten. Fares Fares ( u. a. Die Nile Hilton Affäre, Die Kairo Verschwörung) höchstselbst gibt den Exekutivbeamten, der in rechtschaffener Selbstlosigkeit dem aufgelösten Familienvater entgegentritt. Es gelingt ihm gar, das Geiseldrama ins Innere eines Polizeiwagens zu verfrachten, weg von all den Schaulustigen und Betroffenen, weg von möglichen Kollateralschäden, rauf auf die Bundesstraße – es bleiben Louise, Artan und der Polizist, unterwegs zu den Schwiegereltern des Mannes, dessen Tochter dort in deren Obhut weilt. Das Roadmovie kann beginnen.

Wie der Titel schon verrät, sind alle drei einen knappen Tag lang, eine Nacht und wieder einen halben Tag unterwegs. Stets hintendrein: Ein Konvoi an Polizeiwägen. Kommt einem dieses Szenario bekannt vor? Natürlich. Zwar liegt der Klassiker schon einige Jahrzehnte zurück, doch Sugarland Express von Steven Spielberg fasziniert immer noch. Allein schon wegen Goldie Hawns famoser Darstellung der Lou Jane Poplin, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreit, einen Polizeiwagen samt Beamten kapert und diesen zwingt, die Pflegeeltern ihres kleinen Sohnes aufzusuchen. Sowohl Spielbergs Roadmovie-Klassiker als auch Fares Fares‘ Familiendrama auf vier Rädern beruhen auf wahren Begebenheiten – letzterer wohl mehr oder weniger nur sehr vage. Eher diente eine ähnliche Gesamtsituation, die es nicht mal in die internationalen Medien schaffte, als Inspiration für einen Film, bei dem man sich fühlt, als führen Opfer, Täter und Verhandler im Kreisverkehr, ohne abzubiegen. Der gebürtige Russe Alexej Manvelov punktet anfangs zwar mit einer beunruhigend nervösen Art, die aber auf Dauer keine Variationen zulässt und im Laufe des Films, der gottseidank keine eineinhalb Tage dauert, zusehends nervt. Alma Pöysti daneben auf der Rückbank hat wenig Text, gibt die Eingeschüchterte und auch sie kann ihre Figur im Laufe der Handlung kaum durch neue Erkenntnisse bereichern.

Nicht jeder, der schauspielern kann, ist auch im Regiefach bestens aufgehoben, geschweige denn als Drehbuchautor geeignet. Fares Fares hat für Eineinhalb Tage schließlich alles übernommen – und zumindest beim Skript auf vertraute Strukturen gesetzt. Ein Konzept wie dieses, auf engstem Raum und überschaubaren Plot, eignet sich bestimmt für ein Debütprojekt. Da Fares sich aber dramaturgisch nicht weiter aus dem Autofenster lehnt wie nötig, wechseln im braven Rhythmus die Interaktionen unter den dreien wie beim Bällewerfen – einmal mehr, dann wieder weniger emotional. Überraschungsmomente gibt es keine, die Geschichte ist vorhersehbar, und irgendwann ist man froh, diesen Artan losgeworden zu sein und überhaupt diese ganze bleierne Autofahrt hinter sich gebracht zu haben.

Eineinhalb Tage (2023)