Bugonia (2025)

DIE BIENEN HABEN ES SCHON IMMER GEWUSST

7/10


© 2025 Atsushi Nishijima / Focus Features


LAND / JAHR: USA, SÜDKOREA, IRLAND 2025

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: WILL TRACY, NACH DEM FILM VON JANG JOON-HWAN

KAMERA: ROBBIE RYAN

CAST: EMMA STONE, JESSE PLEMONS, AIDAN DELBIS, ALICIA SILVERSTONE, STAVROS HALKIAS U. A.

LÄNGE: 2 STD


Überall diese Muster

Wie schön es nicht ist, völlig belegfrei im Geflecht von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung auf diesem unseren Planeten Muster zu erkennen, wo keine sind. Besten Dank an dieser Stelle ans Gehirn! Einige unserer Mitmenschen sind wirklich gut darin und machen ihre Hausaufgaben, denn wenn man versuchen würde, manch gordischen Gehirnknoten zu lösen, dabei verzweifelt darum fleht, mit diesem Unfug aufzuhören, da Belegbares anscheinend nicht reicht – es würde nicht gelingen. Genauso wenig, wie sich die Existenz eines Gottes weder widerlegen noch beweisen lässt, lässt sich auch bei manch anderen Behauptungen nur schwer über den Tellerrand blicken. In diesem Vakuum aus Belegungsnotstand treibt die üppige Botanik gemeinsam mit unkurierter Paranoia herrliche Blüten, vom Ursprung der menschlichen Rasse, angetrieben durch die Intervention einer uns haushoch überlegenen außerirdischen Spezies über die Deep State-Bestrebungen, den Freimaurern, dem eigentlichen Zweck der Pyramiden (Danke, Roland Emmerich), der Qanon-Blutsaugern, natürlich den Chemtrails, der gefakten Mondlandung, der Biowaffe namens Covid bis zur aktuellen Streitfrage, ob Brigitte Macron nicht doch ein Mann ist – oder, viel schlimmer: vielleicht, wie Michael Jackson, ein Alien.

In Wahrheit ist Elch Emil auch nur ein als Elch getarntes biopositronisches russisches Vehikel, materialisiert in Polen, welches den Osten Österreichs ausgekundschaftet hat, Putin hat schließlich überall seine Augen, Ohren, Geweihe. Man kann bis zum Abwinken dahinschwurbeln, eine Systematik hinter immer wieder auftretenden Zahlen erkennen (die 23!) oder Beweise in der Schublade liegen haben, wonach die Erde in Wahrheit nämlich flach ist – wenn es dann tatsächlich Beweise geben sollte und die Schwurbler lägen richtig, wäre ihr Aufmerksamkeitsdefizit dann plötzlich nicht mehr so pflegebedürftig.

Wir sind nicht allein

In so einem irren Dunst der Wahnvorstellungen – und weil die Bienen es ohnehin schon immer gewusst haben und deswegen stiften gehen – reitet einer wie Jesse Plemons die aalglatte, toughe Geschäftsfrau Emma Stone in eine unangenehme Situation hinein: Schließlich soll sie wie Michael Jackson ein Alien sein, es gibt allerhand Indizien dafür, Wangenknochen, Vorbiss, et cetera. Die weite Reise vom Andromeda-Nebel auf sich genommen, soll sie mit einigen anderen ihrer Spezies die Menschheit längst infiltriert haben. Teddy, Plemons Figur, und der geistig etwas langsame Don haben alles von langer Hand geplant und bringen Michelle, so Emmas Figur, in ihre Gewalt. Eine Audienz beim Imperator will Teddy schließlich erzwingen, um sich der Schattenherrschaft der Aliens zu entledigen. Natürlich hat Michelle keine Ahnung, doch wie belegt man bei einem Verschwörungstheoretiker wie diesen denn die Fakten, ohne dass die Sache nach hinten losgeht? Richtig, nämlich gar nicht. Wie im Laufe dieser unglaublichen Entführung der verrückten Mrs. Stone ebenjene versucht, sich aus den Gehirnwindungen des Teddy herauszumogeln, beschert uns Zuseherinnen und Zusehern den wohl bekömmlichsten, weil geradlinigsten und gefälligsten Film des Exzentrikers Yorgos Lanthimos. Von seinen Anfangswerken wie Dogtooth oder The Lobster – exzentrische, verkopfte, strenge Werke – hat der Grieche Abstand genommen. Das könnte, so vermute ich – und das ist keine Verschwörungstheorie – mitunter daran liegen, dass das Skript gar nicht von Lanthimos stammt, basiert dieses doch auf einem bereits existierenden südkoreanischen Science-Fiction-Film mit dem Titel Save the Green Planet!.

Es wäre wegen den Bienen

Übertragen auf US-amerikanische Bedürfnisse und Ängste, versteht sich Bugonia als geradlinige, direkte und kaum doppelbödige Thrillersatire, die ein lustvolles Ensemble einfach machen lässt. Selbst ich hätte dabei meinen Spaß an der Freude, wenn ich jene Ohrfeige austeilen könnte, die am Ende des wenig zimperlichen Werks mit Schmackes ins Gesicht jedes Verschwörungsschwurblers knallt, der von sich behauptet, als einziger die Wahrheit zu kennen. Ein Fun Fact zum Titel gefällig? Bugonia – bitte nicht verwechseln mit der Begonie – kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Ochensgeburt, was wiederum auf ein antikes Ritual zurückzuführen ist, in dem aus dem Kadaver einer toten Kuh (!) Bienen zu neuem Leben erwachen (nochmal !).

Opfer bringen für eine Zeitenwende, zur Tat schreiten auf kruden Wegen, die sonst niemand beschreitet: Ja, es mag Blut fließen und ganze Tiegel an antihistaminischer Körpercreme verschmiert werden – irgendwann sieht Emma Stone, und das schon relativ früh, tatsächlich aus wie nicht von dieser Welt: wie eine Version von Werner Herzogs Nosferatu wird sie selbst für uns zur zweifelhaften Geheimnisträgerin, die vielleicht doch nicht das ist, was sie vorgibt.

Selbsterfüllende Prophezeiungen

Bugonia macht Spaß, treibt den Teufel kruder Weltbilder durchs Dorf, bevor der Film diese Geißel an die Wand malt, um ihn dann vielleicht zu bannen. Der Stich in die Blase der Verschwörungen ist dann nur ein leises Plopp – wie Lanthimos diese Metapher in seine humorvolle Groteske im wahrsten Sinne des Wortes hineinstrickt, ist elegant, die Optik wie immer so akkurat wie sonderbar, und auch die Schmerzgrenze für quasselnde Alltagsweisen mag nach diesem Film etwas höher liegen – vielleicht deswegen, weil man sich dann wünscht, dass sie allesamt, von den Scheibenweltlern bis zu den Deep State-Enthusiasten – endlich bekommen sollen, was sie verlangen. Dann aber möchten sie alle selbst nicht mehr glauben, was sie denken.

Bugonia (2025)

Für immer hier (2024)

LÄCHELN GEGEN DEN TERROR

6,5/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: AINDA ESTOU AQUI

LAND / JAHR: BRASILIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: WALTER SALLES

DREHBUCH: MURILO HAUSER, HEITOR LOREGA

CAST: FERNANDA TORRES, SELTON MELLO, FERNANDA MONTENEGRO, ANTONIO SABOIA, VALENTINA HERSZAGE, MARIA MANOELLA, LUIZA KOSOVSKI, BÀRBARA LUZ, CORA MORA, GUILHERME SILVEIRA, MARJORE ESTIANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Familie ist wirklich alles, das weiß auch Walter Salles, brasilianischer Filmemacher und seit Central Station längst bekannt als Beobachter eines jüngeren Südamerika zwischen Individualität und biographischen Notizen, zwischen stillem Aufbegehren und der Charakterbildung einer Revolution, wie sie Che Guevara salonfähig machte (Die Reisen des jungen Che), und zwar so weit, bis sie einging in die Popkultur. Weniger bekannt ist aber das Schicksal und Leben der Menschenrechtsaktivistin Eunice Paiva, die, bevor sie sich als Aktivistin eines Namen machte, als fünffache Mutter das Familienglück in Rio de Janeiro am Laufen hielt: Die malerische Bucht inklusive Jesus stets vor Augen, das strahlende, heiße tropische Wetter, der immerwährende Sommer auch in den Gemütern der Kinder und des Ehemannes Rubens (Selton Mello), ehemaliger Kongressabgeordneter und Kritiker des Militärregimes von Brasilien Anfang der 70er Jahre.

So ein Verhalten, das hätte Rubens wissen müssen, weckt irgendwann den Argwohn der Mächtigen. Hinter der Fassade einer glücklichen Familie, deren Zuversicht man kaum fassen kann, brodelt der kleine Widerstand. Es gibt Botengänge unter der Hand, die dem Regime sicher nicht in die Hände spielen. Irgendwann klopfen die Schergen der Regierung an die Tür des trauten Heims und nehmen Papa kurzerhand mit, um ihm „ein paar Fragen zu stellen“. Aus der Zusage, Rubens wäre bald wieder in der Obhut seiner Liebsten, wird nichts. Die Familie aber, sie bricht nicht auseinander. Eunice versucht, alles zusammenzuhalten, wird sogar selbst verschleppt und landet im Verhörgefängnis an einem unbestimmten Ort, muss Qualen erleiden und um ihre Kinder bangen.

Desaparecidos nennt man jene Menschen, die der Staatsapparat verschwinden lässt. Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Ereignisse, die sich scheinbar zur selben Zeit am ganzen Kontinent abspielen, errichtet Walter Salles das sehr intime und subjektive Portrait einer Familiengemeinschaft mit Mutter Eunice als jemand, der erhobenen Hauptes der Tragödie trotzt. Europa ist dabei weit entfernt von der Geschichte eines Kontinents, der nicht mal ansatzweise seinen Weg in die Schulbücher findet und auch sonst und vorallem angesichts der eigenen tragischen Geschichte nicht viel Platz im Bewusstsein der alten Welt einnimmt. Filme wie diese tun da ihre Pflicht und setzen ein künstlerisch definiertes Ausrufezeichen, machen aufmerksam auf etwas, dass passiert sein mag, das man hierzulande aber maximal zur Kenntnis nimmt als etwas, das genauso nicht hätte sein dürfen wie das Nazi-Regime. Hinzu kommt eine Familie, die, so scheint es, gerne unter sich bleiben würde und sein Publikum nur pflichtbewusst ins Innere blicken lässt.

Anfangs fällt Salles fast schon ungefragt mit der Tür ins traute Eigenheim und stiftet Verwirrung inmitten einer Großfamilie samt unzähliger Freunde und Bekannter, die wir alle nicht kennen. Dieses Bildnis des satten Wohlstands tangiert wenig, es wird gefeiert, und das nicht zu kurz. Der Mittagstisch biegt sich, es gibt Soufflé, dann geht es an den Strand, auch dort eine geschlossene Gesellschaft. Für immer hier lässt sich ordentlich Zeit, um sein Publikum mit dieser Familie bekanntzumachen. Statt Effektivität verliert sich Salles Film aber in einem langwierigen Anlauf. Schon klar, die intakte Gemeinschaft darzustellen, dafür benötigt es Zeit und erzählerischen Raum. Die Methode geht vorerst nach hinten los. Nach einer zähen halben Stunde redundanter Alltagsdarstellungen geht das Drama in den Absprung über – und setzt die oscarnominierte Fernanda Torres als erschütterte, aber stets erhobenen Hauptes lächelnde Matriarchin groß in Szene, umringt von ihren Töchtern und Söhnen. Langsam nähert man sich auch emotional dem ganzen Desaster, spürt die Bedrohung, empfindet Verlust und Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, der fortan eine große Lücke bei allen Anwesenden hinterlassen wird.

Die Zeit heilt in Für immer hier niemals alle Wunden. Salles konzentriert sich dabei auf den Mikrokosmos, auf das Einzelschicksal und wechselt niemals die Perspektive. Nicht das Regime, das Konstrukt der Familie ist die eigentliche Politik, das eigentliche System, das funktionieren muss. Je stärker sich Salles fokussiert, umso besser wird der Film, bis nur noch Torres übrigbleibt, die die Flucht nach vorn wählt und den Entschluss fasst, sich für jene einzusetzen, die ähnlich gelitten haben wir ihr Ehemann. Dann aber folgt ein großer Zeitsprung – Für immer hier spart den Werdegang von Eunice Paiva ebenfalls aus wie das Dokumentarische hinter dem Psychodrama. Ob sich Salles hier nicht mit den Prioritäten etwas vertan hat, mag man als Frage in den Raum stellen. Klar ist: Gegen Ende sind die Gefühle groß, wächst die Einheit der Familie umso mehr. Das sind die geglückten Szenen eines melodramatischen Films, der nicht zu allem den nachfühlbaren Zugang gewährt. Und vorallem dann punktet, wenn man Parallelen zur eigenen Familiengeschichte entdeckt.

Für immer hier (2024)

Tanz der Unschuldigen (2020)

HEXENSABBAT AUF BESTELLUNG

6,5/10


tanzderunschuldigen© 2020 Sophie Dulac Productions


ORIGINALTITEL: AKELLARE

LAND / JAHR: SPANIEN, ARGENTINIEN 2020

REGIE: PABLO AGÜERO

DREHBUCH: PABLO AGÜERO, KATELL GUILLOU

CAST: AMAIA ABERASTURI, ALEX BRENDEMÜHL, DANIEL FANEGO, GARAZI URKOLA, IRATI SAEZ DE URABAIN, JONE LASPIUR, LOREA IBARRA, YUNE NOGUEIRAS U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Mit diesem Inquisitor ist nicht gut Kirschen essen. Einem Mann mit kaltem Blick und messerscharfem Verstand. Einer, der zu wissen glaubt, dass Hexen die brave Gesellschaft unterwandern, fürs miese Wetter verantwortlich sind und unliebsame Nachbarn sterben lassen. In Ermangelung wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse sind die Schuldigen immer jene, die sich am wenigsten wehren können – abgesehen vielleicht von Kindern. Denn Kinder haben immer noch diese gewisse Unschuld. Doch selbst da verschiebt sich die Grenze, und mindestens eine der willkürlich eingefangenen jungen Frauen ist nicht mal noch ein Teenie. Da die Männer der älteren auf hoher See unterwegs sind, weiß Gott in die Neue Welt, hat die sakrale Institution leichtes Spiel, wenn es darum geht, die Obrigkeit zufriedenzustellen und Dienst nach Vorschrift zu verrichten. Im Jahre 1609 gilt in Spanien jede als Hexe, die sich länger im Wald aufhält als nötig. Wenn dann noch gesungen und getanzt wird, scheint alles klar: Das kann nur ein Hexensabbat gewesen sein, zu welchem Menschen in Tiere verwandelt werden und Beelzebub seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen will.

So werden sie also entführt und eingesperrt – und Ana, die versucht, das eigene und das Überleben ihrer Freundinnen zu sichern, muss Inquisitor Rostegui (Alex Brendemühl) so lange hinhalten, bis all ihre Ehemänner wieder heimkehren – um den Kirchenmännern so richtig den Kampf anzusagen. Angesichts der vorherrschenden Gewalt, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, lässt sich Widerstand nur dann entsprechend aufbauen, wenn die ganze negative Energie des richtenden Klerus nicht abgeblockt, sondern absorbiert wird. Um sie gleichsam dafür zu nutzen, das zu inszenieren, was die Beauftragten sehen wollen: den Tanz der Hexen, den Sabbat, die verwerfliche Erotik junger Frauen, die dem Inquisitor letztlich den Kopf verdrehen soll.

Spanien kann ein Liedchen – was heißt, eines: mehrere, ein ganzes Liederbüchlein – davon singen, welche Vielzahl an Verbrechen im Namen des Herren schon begangen wurden. Die Filmwelt selbst hat für den Mythos der Naturmächte beherrschenden, selbstbestimmten und unabhängigen Frauenfigur, die manchmal Böses im Sinn hat oder eben auch Gutes, unterschiedlichste Spielarten präsentiert. Meist aber mit der Überlegung, dass Hexen als solche tatsächlich existieren – von der monströsen Baba Yaga über die Grimm’schen Auswüchse bis hin zum Found-Footage-Horror einer Blair Witch. Und dann gibt es eine ganze Reihe Filme, die den Schwarzen Peter einer bigotten, hysterischen Gesellschaft zuschieben, die durch die Mechanismen einer selbsterfüllenden Prophezeiung jenen Umstand vorgesetzt bekommen, über dessen mögliche Tatsache sie sich das Maul zerrissen haben. Wie in Dave Eggers The Witch oder im Slowakischen Mysterydrama Nightsiren bringt religiöser Fundamentalismus oder engstirniges Dorfdenken die Hexe überhaupt erst auf den Plan. In Tanz der Unschuldigen von Pablo Agüero, der am Filmfestival von San Sebastian 2020 seine Premiere feierte, ist die Betrachtung des Themas wieder eine ganz neue. Mit Paranormalem kokettiert das Historiendrama nur wenig bis gar nicht – dieses Quäntchen an möglicher Metaphysik mag offenbleiben. Vielmehr reicht das Hexische maximal für ein aus dem Überlebensmut Einiger entstandenes Theater, das die Task Force einer Inquisition nur noch der Lächerlichkeit preisgibt. Was gleichsam gefährlich werden kann.

Als faszinierende Zentralfigur bleibt Amaia Abaratsuri als bereits erwähnte Ana, die massiv auf ihre erotische Ausstrahlung setzt und das promiskuitive Weibliche wie das As aus dem Ärmel spielt. Agüero bemüht sich dabei aber gewissenhaft, realitätsnah zu bleiben. Dennoch: Diese Gratwanderung gelingt ihm manchmal mehr, manchmal weniger. Die längste Zeit über dreht sich Tanz der Unschuldigen etwas im Kreis; Befragungen, Folter und der stetig aufs Neue einzuschwörende Teamgeist der jungen Frauen bereiten das Drama gebetsmühlenartig auf den Hexentanz vor. Zu rustikal wird das Ganze, und die wirklich spannenden Momente, die ganz der Konfrontation des Inquisitors mit der schönen Ana gehören, sind dünn gesät.

Dass der herrische Staatsmann dann so sehr den Überblick verliert, mag man eigentlich gar nicht glauben. Doch ob ganz plausibel oder auch nicht – das letzte Drittel legt das sehr wohl durchdachte, oszillierende Konzept eines Psychothrillers frei, das mit verwirrender Sinnlichkeit punktet und das strohtrockene Kammerspiel von zuvor fast schon vergessen lässt. So, als würde man doch noch in Trance geraten, trotz der eigenen Skepsis.

Tanz der Unschuldigen (2020)

Schachnovelle

ÜBERLEBEN IST EIN KÖNIGSSPIEL

7/10


schachnovelle© 2021 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2021

REGIE: PHILIPP STÖLZL

CAST: OLIVER MASUCCI, BIRGIT MINICHMAYR, ALBRECHT SCHUCH, SAMUEL FINZI, ANDREAS LUST, LUKAS MIKO, MORITZ VON TREUENFELS, ROLF LASSGÅRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Einen Tag vor seinem Suizid brachte der nach Brasilien ausgewanderte Stefan Zweig sein letztes Manuskript zur Post, um es an seinen Verleger zu senden. Es handelte sich dabei um die Schachnovelle, dem knappen, intensiven Psychogramm eines Menschen, der mit allen ihm möglichen Mitteln dagegen ankämpft, gebrochen zu werden. Wenn man so will, ist das Buch nichts anderes als die Chronik einer psychischen Folterung, ein frühes Guantanamo, in welchem der Protagonist insofern gequält wird, indem ihm alles, was den menschlichen Geist am Leben erhält, entzogen wird. Wäre da nicht diese kleine Schachlektüre gewesen, hätte der im Buch als Dr. B bezeichnete Ich-Erzähler wohl seine Geheimnisse preisgeben müssen und hätte sich vermutlich der totalitären Gewalt gebeugt. So jedoch klammert sich der Gefangene statt an den lebensrettenden Strohhalm an zweiunddreißig Figuren, jeweils die Hälfte davon Schwarz und Weiß – und ackert das Büchlein von vorne bis hinten durch, erprobt Strategien und spielt gegen sich selbst. Zum Glück hat der Boden des Badezimmers quadratische Fliesen, und das Brot zur täglich gebrachten Suppe eignet sich wunderbar dafür, vom König bis zum Bauern all die Spielfiguren nachzubilden.

Ein Klassiker, diese Schachnovelle. Spätestens in der Oberstufe ist dieses Buch Teil des Deutschunterrichts und seit den Sechzigern auch Teil des deutschen Filmschaffens, denn eine Aufbereitung mit Curd Jürgens und Mario Adorf gibt es bereits. Die hat allerdings brav nach Vorlage ihre Hausaufgaben gemacht. Philipp Stölzl (Nordwand, Der Medicus) war das zu wenig, vielleicht auch zu langweilig, eine Rahmenhandlung wie in der literarischen Vorlage zu schaffen, und in diese eine gedehnte Rückblende zu betten, die das Martyrium von Dr. B. präzise schildert. Stölzl bricht Rahmenhandlung – eine Schiffsfahrt nach New York, also ins Exil – und Rückblende auf, so als würde man zwei Kartendecks frisch entfolieren und miteinander vermischen. Die Isolation im Wiener Hotel Metropol ist keine Erinnerung mehr, sondern ein gegenwärtiger Ist-Zustand, während die Fahrt auf dem Ozeandampfer meinem Resümee nach genau das gleiche darstellt. Beides findet zur selben Zeit statt. Beides ist Realität und Imagination, ist Wahnsinn und nüchterne Betrachtung.

Schachnovelle ist bei weitem kein herkömmlicher Geschichtsfilm, auch keine herkömmliche Verfilmung. Es lässt – bis auf die kurze Schlussszene – keinen anderen Blickwinkel zu außer jene subjektive Sicht des Gemarterten. Oliver Masucci, ehemals Hitler in Er ist wieder da oder zuletzt als Fassbinder, steigert sich in seine Rolle voller Inbrunst, Schweiß an der Stirn und wimmernder Verzweiflung. Dazwischen ab und an klare Gedanken, die eine neue Taktik fürs Überleben entwerfen. Masucci trägt den Film schauspielerisch im Alleingang, alle anderen sind Hirngespinst und begleitende Schatten gleichermaßen. Stölzls Interpretation des zeitlosen Manifests für das Unbeugsame gegen falsche Ideale gelingt es, die Zeit noch viel mehr einzukapseln und ad absurdum zu führen als Zweig selbst es getan hat. Natürlich sorgt dieses surreale Setting für Irritation und Verwirrung, erst sehr viel später ordnet sich das Gesehene zu einem schlüssigen Ganzen. Im Moment des Sehens jedoch fühlt man sich selbst in seiner Wahrnehmung hinters Licht geführt, und selbst der Stellenwert des Schachspiels ist ein wieder Erwarten deutlich geringerer, sodass sich rein aus der Geschichte nicht ableiten lässt, warum Dr. Josef Bartok so sehr die Perfektion des Spielens beherrscht.

Der Geist ist das einzige, wohin sich ein Mensch, wenn sonst nichts mehr bleibt, zurückziehen kann. Stölzl zeigt, wie eng und ausweglos es selbst da werden kann.

Schachnovelle

Der Mauretanier

KUBAKRISE 2.0

6,5/10


mauretanier© 2021 TOBIS Film GmbH.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: KEVIN MACDONALD

CAST: TAHAR RAHIM, JODIE FOSTER, SHAILENE WOODLEY, BENEDICT CUMBERBATCH, ZACHARY LEVI, COREY JOHNSON U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Es kommt immer darauf an, wie Message Control ihre Arbeit leistet: Außen hui, innen pfui. Nach Filmen wie Judas and the Black Messiah oder eben Der Mauretanier ist das Bild von den (ehemals) selbsternannten Wächtern der Welt das eines durchtriebenen Heuchlers, der westliche Werte predigt, und selbst aber zu Mitteln greift, die schon in der spanischen Inquisition irgendwann später als überholt galten. Die Rede ist vom Foltern, bis das Geständnis kommt. Statt Streckbank und Daumenschrauben gibt’s in Guantanamo Waterboarding, Schlafentzug und sonstige Abscheulichkeiten, die den Gefangenen brechen sollen. Mit diesen Methoden ist es ein Leichtes, alle möglichen Geständnisse zu erzwingen, und seien es auch jene, die zugeben, mit sowas Abstraktem wie dem Teufel im Bunde zu sein oder den Hexensabbat zu tanzen. Unterzeichnete Wahrheiten, die nichts wert sind. Doch zumindest befriedigt es die Wähler, denn die wollen einen Sündenbock für das 9/11-Verbrechen, und da ist einer, der über mehrere Ecken mit Bin Laden zu tun hatte, gut genug.

Dieser Jemand ist Muhamedou Ould Slahi, eben ein Mauretanier, der früher mal auf Seiten der Amerikaner und der Al Kaida gegen die kommunistischen Invasoren in Afghanistan gekämpft hat. Der wird eines Nachts, kurz nach dem 11. September, ganz einfach einkassiert, zuerst in den Nahen Osten verschleppt, dann in Guantanamo inhaftiert – und folglich immer wieder verhört. Zuerst noch auf humane Weise, später dann auf die harte Tour. Klar sieht man das in diesem Film, manche Szenen wirken so, als wären sie aus der Horrorreihe The Purge oder aus einem anderen perfiden Psycho-Murks. Tatsächlich waren das Methoden des US-Militärs. Von dieser Schande erfuhr die Öffentlichkeit erst einige Zeit später, und das dank einer liberalen, sozial engagierten Anwältin, die sich Slahi annimmt, einfach, um einen fairen Prozess auf Schiene zu bekommen – und den Verdächtigen mangels Beweisen freizubekommen. Das gebärdet sich natürlich schwieriger als gedacht.

Das Beeindruckende an diesem Politdrama von Kevin McDonald, der in Sachen Menschenrecht und Politik schon mit Der letzte König von Schottland verstört hat, sind die im Abspann zu sehenden, echten Aufnahmen des ehemals Gefangenen. Slahi wirkt wie eine unerschütterliche, lebensbejahende und enorm sympathische Person. Wie einer, der es geschafft hat, dank seines Glaubens an Gott diese 14 gestohlenen Jahre zu überstehen. Tahar Rahim versucht, diesem Gemüt ebenfalls zu entsprechen – und bekommt das szenenweise wirklich gut hin. Dieses Verschmitzte, Zuversichtliche, diese direkte Art, aber auch dieses Unbeugsame: eine stilsichere Performance. Dagegen bleibt Jodie Foster angespannt und blass, der Golden Globe für diese Rolle wurde womöglich aus reiner Sympathie vergeben. Der Fokus liegt also eindeutig auf Rahim, der übrige illustre Cast bleibt nicht mehr als solide, was man von der eigentlichen Inszenierung allerdings auch sagen kann. Schwierig, so einem brisanten Thema gleichzeitig den Schrecken zu lassen und andererseits aber ein chronologisch akkurates Geschichtskino zu bieten. Sehr wohl gelingt das, und auch schafft MacDonald den Schulterschluss mit vergeltungsaffinen, skeptischen und humanitär veranlagten Parteien. Dadurch bekommt Der Mauretanier eine überlegte Nüchternheit – doch was nebenbei den stärksten Effekt erzielt, ist die erfolgreiche Nutzbarkeit eines festen, inneren Glaubens, in diesem Fall dem des Islam, der in seiner reinen, von kulturellen Geboten entkoppelten Beschaffenheit genauso wie das Christentum Geist und Seele schützen kann.

Der Mauretanier

Der unverhoffte Charme des Geldes

ZUM TEUFEL MIT DEN KOHLEN

6,5/10

 

charmedesgeldes© 2018 Cinémaginaire Inc. – Film TDA Inc.

 

LAND: KANADA 2018

REGIE: DENYS ARCAND

CAST: ALEXANDRE LANDRY, MARIPIER MORIN, RÈMY GIRARD, MAXIM ROY, VINCENT LECLERC U. A.

 

Kanadas wohl bekanntester Filmemacher neben David Cronenberg ist womöglich Denys Arcand. Der Mann ist Oscarpreisträger, und zwar für seine eloquente Satire Die Invasion der Barbaren. Ein spitzzüngiger, sehens- und vor allem ob der Dialoge hörenswerter Film. Allerdings auch schon länger her, genau 16 Jahre. Drei Filme später legt der Autorenfilmer mit Hang zum Understatement eine ganz andere Komödie vor, oder viel mehr eine Thrillerkomödie, die den guten Mammon zum Thema hat. Und er lässt es regnen, das viele Geld, auf einen Unglücksraben, der sich selbst ganz nach Woody Allen-Manier für das Maß aller Dinge hält und mit zynischen Betrachtungsweisen seine Umgebung immer wieder vor den Kopf stößt. Nichts ist gut genug für den Paketzusteller, der es sogar noch schafft, seine Freundin mit Worten davonzuekeln. Alles soll sich ändern, als Fortuna das Füllhorn entgleitet. Und Fortuna schüttet es da aus, wo andere ins Gras beißen. So gesehen bei einem Banküberfall, der aber vereitelt wird, trotzdem es auf beiden Seiten keine Gefangenen gibt. So steht der intellektuelle Jungspund in kurzen Hosen und Lieferwagen alleine da, vor ihm mehrere Taschen voller Kohle. Was tun in so einem (un)glücklichen Moment? Natürlich das Geld schnappen und so tun als wüsste man von nichts. Und das, obwohl man eigentlich gegen den globalen Kapitalismus wettert.

Das Glück ist, wo sie sind – sagen die Casinos Austria. Am Glück klebt aber auch das Pech wie selbiges an der sinistren Schwester der Goldmarie. Gute Taten helfen da nicht weiter. Oder doch? Wäre ja alles kein Problem, gäbe es da nicht die gesamte Unterwelt Montreals, die diese vermaledeiten Sporttaschen sucht. Und zu drastischen Maßnahmen greift, wenn es darum geht, diese aufzuspüren. Die sind manchmal wirklich weit über der Schmerzgrenze. Wer sehen will, wie Foltermethoden aus dem Mittelalter so manch einem halbseidenen Ganoven die Wahrheit entlocken, der kann sich gerne auf dieses Katz- und Mausspiel einlassen. Was aber nicht heißen soll, dass Denys Arcand andauernd die Grenzen zwischen süffisanter Diebesballade und wenig gelenkschonender Gewalt auslotet. Nein, das tut er nicht. In Jesus von Montreal war es auch nur die Kreuzigung Jesu im Selbstversuch, der Rest kluges Gesellschaftsdrama. Der unverhoffte Charme des Geldes setzt seine Gewaltspitzen aber auf überrumpelnde Weise. Dazwischen: durchaus turbulente Bestrebungen rund um hohe Summen, was wiederum an Richard Pryors Eskapaden aus dem 80er-Klamauk Zum Teufel mit den Kohlen erinnert. Damals war’s eine Erbschaft, hier mehr oder weniger Blutgeld.

Die unaufgeregt bebilderte „Oceans“-Satire macht aus kapitalistischer Gier einen sozialen Krankheitsfall, so als würde jemand an Geld leiden, und andere sollen die Symptome gefälligst kurieren. Der junge Held aus Denys Arcands Film wird selbstredend in Versuchung geführt, angelt sich auch eine bildschöne wie sündteure Hostess (wahnsinnig erotisch: Maripier Morin) und tut sich noch dazu mit einer Parodie auf Helmut Elsner (ich sage nur: Bawag) zusammen, um die Knete, anstatt sie zu verbrennen, in alle vier Winde zu verstreuen. Es ist wie die wundersame Brotvermehrung, womit wir wieder bei Jesus von Montreal wären. Und das Geld verliert ein paar von seinen dunklen Seiten, weil es immer darauf ankommt, was man damit macht. Es horten, raffen oder verteilen, als wäre es nichts als ein Mittel zum Zweck. Was es ja auch ist.

Der unverhoffte Charme des Geldes

Silence

DAS SCHEITERN DES GLAUBENS

8/10

 

silence© 2017 Constantin Film

 

LAND: USA 2017

REGIE: MARTIN SCORSESE

MIT ANDREW GARFIELD, ADAM DRIVER, LIAM NEESON, CIARAN HINDS U. A.

 

Wir schreiben die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Martin Luther und die Kirchenspaltung hat längst die Welt verändert. Der katholische Orden der Jesuiten hat nach den Eroberungsfeldzügen der Conquistadores in der neuen Welt alle Hände voll zu tun, ein heidnisches Volk nach dem anderen zum einzig wahren, christlichen Glauben zu bekehren. Und das nicht nur in Süd- und Mittelamerika, nein. Die Jesuiten, des Papstes militanteste Friedens- und Heilsbringer, auch der einzige Orden, der wirklich auszog, um das Evangelium in jedem auch nur so entferntesten Winkel zu verkünden, haben sich auch nach 1600 in Gegenden vorgewagt, in denen bereits Weltreligionen wie der Buddhismus längst Wurzeln schlagen konnten. Was für eine Anmaßung! Da wagen intellektuelle Jünger Christi tatsächlich, mit bescheidenen Mitteln dem Vermächtnis des Buddha auf die Pelle zu rücken. Bei vielen mag die zwar gewaltfreie, aber immer noch ziemlich beharrliche Penetranz der Jesuiten, die einzige Wahrheit auch ganz weit weg von Rom manifestiert zu wissen, auf Ablehnung stoßen. Das Missionieren an sich war für mich immer etwas, dass dem Glauben an Jesus Christus zu keiner freiwilligen Entscheidung werden lässt. Der Lehrauftrag irgendwo zwischen Manipulation und – überspitzt formuliert – Gehirnwäsche stellt den ursprünglichen Glauben ja in Abrede. Und da beginnt das Gegeneinander. Dennoch – jemandem von der Heilsbotschaft zu überzeugen, einfach nur durch Worte und Beispiele, damit wollten die Jesuiten ziemlich rechtschaffen und voller Menschlichkeit punkten. Damit wollten sie ihr Ziel erreichen. Aus voller Überzeugung, weil das Christentum die einzig wahre Religion darstellt.

Spätestens bei dem Dogma über das Leiden mit Gott, für Gott und durch Gott, spätestens bei der ohnehin unendlich komplexen Bedeutung des Todes Christi am Kreuz – geraten die Botschaften des Neuen Testaments in ein verfremdend flackerndes Licht. Diese Missinterpretation Jesu, dieses Entfernen der Botschaft des Messias, ist Teilaussage des authentischen Berichtes anno 1638 aus Japan, der vom Scheitern des Glaubens, von Apostasie und die Unschärfe der religiösen Wahrheit erzählt. Martin Scorsese, vielseitiger Filmemacher und Ikone des amerikanischen Filmes, hat schon mit der einzigartigen Verfilmung von Theodorakis´ Roman Die letzte Versuchung Christi und der Dalai Lama-Biografie Kundun gezeigt, dass sein Interesse nicht nur der kriminellen Unterwelt Amerikas gilt, sondern auch religiösen Themen aus Buddhismus und Christentum. Beide ihn faszinierenden Quellen der Weisheit hat Scorsese nun vereint – in einem Epos, das den Wert des Glaubens und die eigene geistliche Identität in seinen Grundfesten erschüttert. Wer noch für religiöse Credo etwas über hat, sich selbst als Gläubigen sieht oder zum Agnostizismus neigt, findet in dem faszinierenden, hoch speziellen Religionsfilm einiges an brisanten und bis in die Wurzeln der Glaubensdidaktik reichenden Stoff zum Weiterphilosophieren und Ausdiskutieren.

Auf die unheilvolle Odyssee jenseits des Fassbaren schickt Scorsese niemand geringeren als „Kylo Ren“ Adam Driver und Andrew Garfield, der schon in Mel Gibsons Hacksaw Ridge mit der Kraft des Heiligen Geistes im Japan des zweiten Weltkriegs als pazifistischer Engel am Schlachtfeld diverse Leben retten konnte. Die beiden sind auf der Suche nach ihrem Lehrer, der als Jesuitenpater Ferrera (hat wieder mal gezeigt, dass er noch zu mehr taugt als nur zum Actionhero: Liam Neeson) angeblich vom Glauben abgefallen sei. Im christlichgläubigen Untergrund Japans angekommen, beginnt ein ganz eigener, erschütternder Kreuzweg in eine verbotene Zone für das Christentum, wo deren Anhänger vom Tokugawa-Shogunat, einer dynastischen Militärregierung, verfolgt, zwangskonvertiert oder ermordet werden. Die Methoden, die diese Inquisitoren erwählt haben, um den feindlichen Glauben auszumerzen, sind in seiner einfallsreichen Absurdität so unglaublich wie bestialisch. Wobei das Quälen der Christen meist nicht erste Wahl ist – das Konterfei der Jungfrau Maria oder Jesu Christi mit Füßen zu treten, ist für die Glaubensjäger meist Beweis genug, einen neuen Konvertiten gewonnen zu haben. Nur eine Frage der Zeit, wann die beiden ausgesandten Portugiesen das gleiche Schicksal erleiden müssen.

Scorsese findet neben der Schilderung dieser dunklen Episode des Christentums unter Aufwendung sehr viel Feingefühls genug Zeit, sich obendrein noch mit Sinn und Unsinn des Märtyrertums auseinanderzusetzen. Er verwickelt seine Figuren in Zwiegespräche mit Gott, lässt sie mit den Inquisitoren tiefschürfende Gespräche führen und lädt den interessierten Zuseher auf eine ganz persönliche Bibel- und Glaubensexegese ein, die vieles kritisch hinterfragt und das Verständnis des neuen Testaments auf mehrere, sich ad absurdum führende Ebenen hebt. Silence ist kein Film für das breite Publikum. Keine bequeme Geschichtsstunde, nicht frei von Gräuel, sehr speziell und fast schon ein seltener Beitrag zu einem verschwindenden Subgenre des Religionsfilms, zu welchem auch Roland Joffe´s Mission oder der preisgekrönte venezolanische Film Jericho zählt. Wobei Silence ebenso weit weg ist von christlicher Propaganda wie die beiden zuvor genannten Filme. Scorseses persönliche Meinung bleibt verborgen, sein Film ist eine unparteiische, aufwühlende Grauzone und Bildnis einer Irrfahrt voller Verfehlungen und lächerlicher Dogmen. Sie handelt von der Frage am Verrat des Glaubens und vom Verrat am persönlichen Jesus. Vom Seelenheil und vom Heil einer Weltreligion. Von Nächstenliebe und verbohrter Gottesliebe.

Silence ist ein starkes Stück cineastische Religionsgeschichte, so wuchtig bebildert wie nüchtern erzählt.

Silence