The Village Next to Paradise (2024)

WIE TRÄUMT MAN AM HORN VON AFRIKA?

6,5/10


thevillagenexttoparadise© 2024 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SOMALIA 2024

REGIE / DREHBUCH: MO HARAWE

CAST: AHMED ALI FARAH, ANAB AHMED IBRAHIM, AHMED MOHAMUD SALEBAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


„Erzählst du mir wieder von deinen Träumen?“, fragt der eine Junge seinen ehemaligen Schulkollegen, und zwar deswegen ehemalig, da die Bildungseinrichtung im Dorf namens Paradies mangels Lehrkräfte dicht machen musste. „An die kann ich mich nicht mehr erinnern“, entgegnet Cigaal. Vielleicht, weil Träume mit Aussicht auf eine bessere Zukunft Teil der Realität geworden sind. Sein Vater Mamamrgrade hat ihn schließlich aufs Internat geschickt. Damit irgendetwas wird aus ihm, wenn schon die Erwachsenen an den wenigen Möglichkeiten, die es braucht, um im Leben weiterzukommen, ihre ganze Motivation verbrauchen. Eine gute Ausbildung ist alles, genauso wie die Bereitschaft, sich für alles anzubieten. Denn Mamamrgrade ist nicht nur Lieferant für heiße Ware, sondern vor allem auch Totengräber, der vermehrt Opfer von Terroranschlägen und Drohnenangriffen in der knochentrockenen Erde Somalias verscharrt. Seine Schwester Araweelo hat indes mit einer gescheiterten Ehe zu kämpfen und mit dem Traum einer eigenen Schneiderei. Dafür gelingt es ihr zumindest, einer Nähmaschine habhaft zu werden. Der Rest solle dann folgen. Und dafür braucht es Geld, einen ganzen Haufen dieser ausgefransten, abgegriffenen, speckigen Scheine, welche die inflationäre Währung am Horn von Afrika verkörpern.

Wenn man von Somalia etwas mitbekommt, dann sind es von Piraten in ihren Schlauchbooten aufgebrachte Frachtschiffe wie in Captain Phillips von Paul Greengrass. Oder katastrophal danebengegangene Missionen des US-Militärs, wie sie Ridley Scott in Black Hawk Down so fühlbar vor Augen führt. Von Gewalt, Krieg und religiösem Fanatismus ist in The Village Next to Paradise nichts oder nur sehr wenig zu sehen. Jene Anarchie eines Landes, die es in die Schlagzeilen bringt, schwelt am glutheißen Horizont, während die Anarchie einer Gesellschaft, in der jede und jeder selbst improvisieren muss, um nicht unterzugehen, Erwähnungen im Auslandsfernsehen kaum wert sind. Am Horn von Afrika findet, man möchte es kaum glauben, sogar so etwas wie Alltag statt. Werte, Würde und Beharrlichkeit sind selten etwas, wofür die Erziehung Ressourcen übrighat. Die Not bringt Tugenden – oder manchmal auch die falsche Entscheidung.

Der aus Somalia nach Österreich immigrierte Autorenfilmer und Kurzfilmkünstler Mo Harawe hat mit The Village Next to Paradise seinen ersten Langfilm inszeniert und diesen ins Programm der diesjährigen Viennale gebracht. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass Harawe wohl kaum jene Mühsal auf sich genommen hat, um tatsächlich vor Ort am Schauplatz der Geschichte zu filmen. Doch das hat er getan – und verleiht damit seinen Alltagsbeobachtungen eine intensive dokumentarische Authentizität, die es schafft, die fremde Realität für kurze Zeit als die eigene wahrzunehmen. Das liegt vielleicht daran, dass es Harawe nicht darum geht, poetische Verklärungen aus einem exotisch anmutenden Land auf gefällige Weise einem Weltpublikum näherzubringen, um vielleicht die Werbetrommel im Tourismus Somalias zu rühren. Der ist faktisch nicht vorhanden, und während dieser im Eigenantrieb voranschlurfenden Tagen wird klar, wie sehr Harawe einerseits seine Heimat vermissen muss, andererseits, wie sehr es ihm wohl auch daran gelegen hat, dem Unzulänglichkeiten eines Staates, der seine Bürger weitestgehend ihrem Schicksal überlässt, ins Auge zu sehen. Und das Leben, welches so ganz anders abläuft, als wir es gewohnt sind in den luxuriösen europäisch-westlichen Breiten, folgt dabei der Begrifflichkeit von Zeit, die uns womöglich wahnsinnig machen würde, da Schnelllebigkeit nichts ist, womit sich Somalier herumschlagen müssen.

Vieles, wenn nicht alles, verläuft mit angezogener Handbremse. Mit lakonischem Phlegma ringen Menschen mit ihrer Existenz, doch nicht, wie man erwarten würde, schicksalsergeben. Hier in Somalia ist der Rhythmus der eines träge schlagenden Herzens. Und was andernorts auf eine Filmlänge von knapp 90 Minuten heruntergebrochen werden könnte, füllt in The Village Next to Paradise eine satte Überlänge, und zwar so, als gäbe es kein filmisches Ende, als würde Harawe gar nicht daran denken, einen Schlusspunkt zu setzen. Ich beobachte ihn, wie er einen nach dem anderen verpasst, immer weiter zieht das Schicksal, der Zufall und die Gunst ihre Kreise, das Sitzfleisch wird mürbe. The Village Next to Paradise gerät fast ein Drittel seiner Spielzeit zu lang, Geduldige können sich glücklich schätzen, diese Eigenschaft zu besitzen. Alle anderen winden sich in den Sitzen, und irgendwann endet der immersive Ausflug in eine Vergessene Welt dann doch und lässt ein bisschen Hoffnung über. Ein bisschen Zuversicht, und lobt nebenher des Menschen Drang zur Erfüllung der eigenen Wünsche.

The Village Next to Paradise (2024)

Sew Torn (2024)

NUR NICHT DEN FADEN VERLIEREN

7/10


Sew Torn© 2024 The Playmaker

LAND / JAHR: USA, SCHWEIZ 2024

REGIE: FREDDY MCDONALD

DREHBUCH: FREDDY & FRED MCDONALD

CAST: EVE CONNOLLY, CALUM WORTHY, JOHN LYNCH, K. CALLAN, RON COOK, THOMAS DOUGLAS, CAROLINE GOODALL, WERNER BIERMEIER, VERONIKA HERREN-WENGER U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Dass Zwirnfäden so reißfest sein können, ist erstaunlich. Ich dachte stets, dieses hauchdünne Nähzubehör hält keinen größeren Einflüssen stand, doch eigentlich tut es das, und zwar in jedem Kleidungsstück. In Sew Torn (übersetzt: zerrissene Naht) spielt der handwerklich genutzte Nähfaden eine große Rolle, fast noch mehr als der Spinnenfaden bei Spiderman Peter Parker, wenn er sich wieder mal an senkrechte Hauswände heftet. Um den Zweck der Fäden zu nutzen, muss man erstens räumlich gut denken können und zweitens mit geschlossenen Augen den Zwirn ins Nadelöhr bringen – das wiederum in Sekundenschnelle. Man muss auch das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung verstehen, das Prinzip einer Kugelbahn oder des Dominoeffekts. Wäre dem nicht so, wäre Schicksalsschneiderin Barbara (Eve Connolly, u. a. The Other Lamb) wohl sehr schnell über ihr eigenes, komplex geflochtenes Netz gestolpert, das letztlich Dinge in Bewegung bringt, die wie in Kevin – Allein zu Haus unliebsamen Aggressoren das Handwerk legen soll. Eine Art „McGyver“ wäre an Barbara verloren gegangen – hätte sie ihn nicht rechtzeitig entdeckt, nachdem ein einziger kleiner, scheinbar nichtiger Umstand das restliche Leben infrage stellen wird. Dieser Umstand ist ein kleiner, weißer Knopf, der Barbara beim Anprobieren des Hochzeitskleides einer sichtlich längst entnervten Kundin aus der Hand fällt. Vor einem Lüftungsgitter am Boden macht er Halt – die Frage ist: Fällt er durch den Spalt oder bleibt er auf dem Gitter liegen? Barbara fordert das Schicksal heraus – und lässt den Knopf in die Finsternis kullern. Da sie nochmals zurück in ihre Schneiderei fahren muss, um einen neuen Knopf zu holen, wird sie auf der Landstraße zur Zeugin eines kriminell motivierten Unfalls. Auf dem Asphalt der Fahrbahn liegt ein Koffer voller Geld, am Straßenrand zwei schwer verletzte, männliche Individuen, unweit von ihnen entfernt zwei Pistolen. Was soll Barbara also tun? Den Geldkoffer an sich nehmen, um neu anzufangen? Einfach weiterfahren? Oder die Polizei rufen?

An diesem Punkt spaltet sich Sew Torn auf. Ein dramaturgisches Spiel, das durchaus auch an Tom Tykwers experimentellem Thriller Lola rennt erinnert. Dort muss Franka Potente immer und immer wieder und ohne dabei zwingend in einer Zeitschleife gefangen sein zu müssen einen missglückten Raubüberfall durchexerzieren und dabei unterschiedliche Entscheidungen treffen. Der Qual der Wahl muss sich in Freddy McDonalds Film- und Regiedebüt auch Barbara aussetzen und behält die Übersicht über drei Möglichkeiten. Sew Torn näht sich dabei sein Insert zu den jeweiligen Episoden formvollendet selbst – um immer vom selben Punkt weg neu durchzustarten. McDonald setzt dabei auf den Nähkoffer seiner Heldin, die alles enthält, was auch Mary Poppins braucht, um aussichtslose Situationen meistern zu können – oder auch nicht. Sew Torn erhält durch diese kreative Komponente – nämlich: sich die Skills einer Näherin märchengleich zunutze zu machen – ein Alleinstellungsmerkmal und verhält sich auch sonst so, als wäre der Film selbst das Schneidern eines komplizierten Kleidungsstücks, während der Teufel hinter einem her ist. Die Nähmaschine rattert, die Spule entrollt den Zwirn, der geradezu ein Eigenleben entwickelt und es so scheint, als müsste Mission Impossible-Agent Tom Cruise als nächstes einen Weg durch ein Wirrwarr an Fäden finden, ohne auch nur an einen einzigen anzustreifen. Dergleichen Spannung erreicht Sew Torn auffallend früh – und McDonald kann sie halten. Neben vielen originellen und verblüffenden Einfällen, die Barbara zu einem Improvisationstalent hochstilisieren, ist die stets auf dem Gaspedal befindliche Inszenierung auch angesichts einer Erstlingsarbeit eine beeindruckende Leistung. Die Ursache für die handwerkliche Raffinesse des Werkes liegt wohl auch daran, dass McDonald, völlig eins mit dem Rhythmus seines Films, auch für den Schnitt verantwortlich war. Eine Aufgabenverteilung, die sich bezahlt macht.

Sew Torn ist schließlich der Glücksfall eines leidenschaftlichen Handwerks, das über ein anderes unterschätztes Handwerk erzählt, dass sich zweckentfremden lässt, um das Schicksal neu zu schneidern. Die Schwerpunkte sind richtig gesetzt, Eve Connolly als Barbara vielleicht in so kurzer Zeit manchmal zu einfallsreich, doch das ist in dieser Realität des Films eine Prämisse, die man annehmen muss, sonst funktioniert das ganze Konstrukt nicht. Lässt sich damit gut zurechtkommen, sitzt die Naht perfekt. Im Übrigen: von Freddy McDonald, da bin ich mir sicher, wird man noch einiges hören.

Sew Torn (2024)

Final Cut of the Dead (2022)

DER FILMDREH ALS OLYMPISCHER GEDANKE

8,5/10


finalcutofthedead© 2022 Filmladen / Lisa Ritaine


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: MICHEL HAZANAVICIUS

BUCH: SHIN’ICHIRÔ UEDA, MICHEL HAZANAVICIUS

CAST: ROMAIN DURIS, BÉRÉNICE BEJO, FINNEGAN OLDFIELD, MATILDA LUTZ, GRÉGORY GADEBOIS, SÉBASTIEN CHASSAGNE, RAPHAËL QUENARD, LYES SALEM, SIMONE HAZANAVICIUS, JEAN-PASCAL ZADI U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Eines gleich vorweg: One Cut of the Dead, das japanische Original aus dem Jahr 2017, kenne ich nicht – ein Low Budget-Zombiefilm, der bei genauerer Betrachtung eigentlich gar keiner ist, oder eben nur zum Teil. Schließlich handelt das unkonventionelle Machwerk ja eher darum, wie leicht oder schwer es fallen mag, einen Genrefilm wie diesen, und sei er auch nur eine halbe Stunde lang, im Kasten zu haben. Die besondere Erschwernis bei diesem Vorhaben ergibt die Anforderung, dass dieses online und gleichermaßen live zu erscheinende Horrorschmankerl eine einzige Plansequenz sein muss. Will heißen: Ein One oder Single Cut, was beinhaltet, dass kaschierte Schnitte wie bei Alejandro Gonzáles Iñárritus Birdman gar nicht mal in Frage kommen. Sollte möglich sein, oder? Theoretisch schon. Wie das beim Filmemachen eben so ist, gibt es dabei viel zu viele Variable, mit denen man rechnen kann oder auch nicht, die das Projekt versenken können – oder das leidenschaftliche Improvisationstalent aller Anwesenden herausfordert.

Die schier kongeniale Originalität des Drehbuchs darf sich Michel Hazanavicius nicht an die Fahnen heften. Das ist schließlich nicht sein Verdienst, sondern der von Shin’ichirô Ueda und Ryoichi Wada. Aus Japan winken schließlich so einige Ideen, auf die man im Westen womöglich nie gekommen wäre. Wer würde sich auch erlauben, einen Zeitreisefilm wie Beyond the Infinite Two Minutes zu erzählen? Wer würde es auch nur wagen, das Genre so dermaßen zu verbiegen, um etwas Neues entstehen zu lassen, auf die Gefahr hin, das zahlende Publikum zu irritieren? Generell ist da Ostasien der Vorreiter und bietet westlichen Filmemachern die Chance, in einer Neuinszenierung ihr eigenes Couleur darüberzutünchen. Hazanavicius, einstmals mit The Artist groß gefeiert und Wegbereiter für die Karriere von Jean Dujardin, hat genau das gemacht: Dasselbe nochmal inszeniert. Als Liebeserklärung fürs Filmemachen stellt Final Cut of The Dead Damien Chazelles Babylon – Rauch der Ekstase in den kinematographischen Museumswinkel, obwohl ich auch dort kaum etwas über die orgiastische Filmdrehsequenz inmitten der kalifornischen Wüste kommen lasse, die aus dem Chaos wahre Wunder des frühen Stummfilms entstehen lässt.

Final Cut of the Dead schlägt diese Liebeserklärungen scheinbar alle. Begeisterungen für den Film und für die Handhabung des künstlerischen Mediums gibt es genug, zuletzt ließ sich auch in Pan Nalins Das Licht, aus dem die Träume sind ganz gut nachvollziehen, was den eigentlichen Antrieb für die Leidenschaft zum bewegten Bild darstellen kann. Dieser Film hier geht aber noch einen Schritt weiter. Und offenbart seinem nicht weniger leidenschaftlichen Publikum mit schierem Aberwitz eine ganze Handvoll Wahrheiten hinter der Illusion, die wir alle niemals oder nur ansatzweise vermutet hätten.

Dabei erhalten wir, die im Auditorium des Kinos sitzen, zuallererst mal die Warnung, dass wir wohl dem schlechtesten Zombiefilm aller Zeiten beiwohnen, nach einer halben Stunde aber das ganze Unding besser verstehen und sowieso nicht ahnen werden, was da für Überraschungen auf uns zurollen. Und tatsächlich: Die erste halbe Stunde ist ein Film-im-Film-Trash mit ganz viel Kunstblut und obskuren Dialogen, die wohl The Room-Maestro Tommy Wiseau erfreut hätten. Es wird schlecht gekreischt, europäische Schauspieler tragen japanische Namen und das Timing ist zum Vergessen. Doch irgendwie hat das Ganze Charakter, als wäre es eine durchgetaktete parodistische Komposition auf das Genre schlechthin. Was dann folgt, ist die Entstehung des Ganzen, das Zusammenbringen der Crew und Einblicke ins Privatleben von Regie-As Rémi (Romain Duris als energischer Wirbelwind). Man ahnt schon: mit diesem Haufen unmotivierter, aber auch sich selbst überschätzender Fachidioten lässt sich schwer einen One Cut drehen, ohne nachher nicht aus dem Fenster springen zu wollen. Oder ist gerade diese Ansammlung unpässlicher Nerds der Garant für das Gelingen so einer Sache? Die Antwort liefert das letzte Drittel, wo wir die erste halbe Stunde als Making Of betrachten können. Und es fällt tatsächlich wie Schuppen von den Augen, wenn uns Filmkonsumenten gewahr wird, was eigentlich alles gar nicht mal im Drehbuch stand.

Hazanavicius (und natürlich auch Ueda) feiern nicht nur das Filmemachen, sondern vor allem auch den Teamgeist. Zu dieser Gruppe will man gehören, von dieser schrägen Begeisterung will man sich anstecken lassen. So ein Abenteuer will man unbedingt mal selbst erleben. Final Cut of the Dead ist zum Brüllen komisch und wohl einer der lustigsten Filme der letzten Zeit. Er bringt die spielerische Improvisation und die Not, aus der allerlei Tugenden entstehen, auf Augenhöhe zu unserem Alltag und lässt sie nicht als elitäre Blase unserer Wahrnehmung entfleuchen. Es lässt sich danach greifen, es lässt sich nachfühlen, wie so vieles eigentlich gar nicht (und auch im Wahrsten Sinne) in die Hose gehen kann, weil alle an einem Strang ziehen, um das künstlerische Ziel zu erreichen. Final Cut of the Dead ist wie der Blick hinter die Illusionskunst eines Zauberers, ohne aber dessen Magie zu entreißen. Er steht für Begeisterung, Hysterie, Träumerei und Enthusiasmus. Aber auch für alles, was nur schiefgehen kann. Gerade diese Fehler, das Unerwartete und Missglückte – kurzum: der Zufall und der sich daraus ergebende kollektive Willen, es hinzukriegen, machen Filme erst lebendig. Geahnt haben wir das immer schon – so offen wie hier wurde uns das aber noch nie demonstriert.

Final Cut of the Dead (2022)

Das Licht, aus dem die Träume sind

SO SCHMECKT KINO

7,5/10


lastfilmshow© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: INDIEN, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: PAN NALIN

CAST: BHAVIN RABARI, BHAVESH SHRIMALI, RAHUL KOLI, RICHA MEENA, TIA SEBASTIAN, DIPEN RAVAL, SHOBAN MAKWA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Blickt man auf die Geschichte der bildnerischen Künste, so ist ganz klar, wer hier als Meister des Lichts gelten kann: William Turner. Und ja, natürlich, Claude Monet. In der Filmwelt gibt es dann doch noch einige weitere Kandidaten, mehr als eine Handvoll, die das Licht, aus dem die Träume sind, so einfangen können, dass es nicht nur dekorativen Zwecken nutzt, sondern als eigene narrative Ebene zum Verständnis des Films beitragen kann. Zu diesen Meistern des Lichts zählt zweifelsohne der Inder Pan Nalin. Ein Indepententfilmer, der mir vor einundzwanzig Jahren mit seinem Meisterwerk Samsara schon die Sprache verschlagen hat. Das Himalaya-Epos über einen buddhistischen Mönch, der vom profanen Leben angezogen wird wie die Motte vom Licht, führt jenseits der Wolken – strahlend blauer Himmel, zerklüftete Gebirge, in den Fels eingebettete Klöster, dazu ein hypnotischer, längst nicht altbackener Score zwischen Moderne und indischer Klassik. Samsara ist eine Wucht, wagt sich in Sachen Perspektiven weit vor, experimentiert mit Kontrasten und feiert die Farbe wie bei einem Holi-Fest.

Nach einigen weiteren Filmen – darunter einer ebenfalls bildstarken Ayurveda-Doku oder dem Frauendrama 7 Göttinnen – erschien zum Tribeca Filmfestival 2021 seine Hommage ans Kino der guten alten Zeit: bildgewaltig, sinnlich und fabulierend: Last Film Show – oder eben: Das Licht, aus dem die Träume sind. Zugegeben, eine Übersetzung, die vermuten lässt, es hier mit einem Nicholas Sparks-Roman zu tun zu haben. Dem ist aber logischerweise nicht so, wenngleich das Licht, wie bereits vermuten lässt, alle Stückchen spielt. Das hat damals schon, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, bereits Georges Méliès erkannt. Und später die Gebrüder Lumière. Mit dem Licht lässt sich allerhand anstellen. Es lassen sich Bilder zum Laufen bringen. Und es lassen sich anhand dieser Bilder Geschichten erzählen. Der Film war geboren, das laufende Bilderbuch ohne Umblättern und Mitlesen, sondern eben nur zum Staunen. Pan Nalin dürfte das Kino ebenfalls schon in jungen Jahren fasziniert haben, was in Indien keine Kunst sein muss, ist der Subkontinent doch der eifrigste Filmproduzent der Welt – ein Umstand, von welchem wir im Westen nur die Spitzen sämtlicher Eisberge wahrnehmen können – der Rest ist Bollywood mit immer ähnlichen Formeln und Farben und ganz viel Gesang. Oft stundenlang, aber mit unvermindertem Herzblut und wirbelnden Saris. Pan Nalin findet aber einen anderen, weniger gefälligeren Zugang. Er weiß, dass es mehr gibt als nur das, was Indien bewegt. Er kennt Chaplin, Godard und Kubrick. Er würdigt Tarantino und Scorsese. Und er will die Essenz von alldem nicht aus den Augen verlieren. Den Anfang, das Alpha, die Big Bang Theory, warum und wodurch Film eigentlich möglich wird. Was ist das Eigentliche, was Bilder und Publikum bewegt? Was tut man mit dem Licht, und was braucht man dafür? Was macht Film zum Erlebnis? Und wen berührt es?

In diesem Fall den neunjährigen Samay (grandios: Bhavin Rabari), der im Westen Indiens, am Rande eines Reservats voller Löwen und Großwild, eines Tages mit Papa an der Seite im Kino sitzen darf, um einen schwer religiösen Hindu-Streifen über Göttin Kali zu bewundern – ihr wisst schon, die blauäugige Dame mit der herausgestreckten Zunge und den vielen Armen. Ab diesen Moment ist es um Samay geschehen – er will Filme machen. Verstehen, wie so etwas funktioniert. Dem Vater schmeckt das gar nicht, denn Filme sind lasterhaft und verdorben, mit Ausnahme eben solche über Kali und Co. Der Junge aber hat seinen eigenen Kopf, schwänzt die nächsten Tage die Schule und schleicht sich dank eines Deals mit dem Filmvorführer Fazal in den Vorführraum des Galaxy-Kinos, bringt diesem die köstlichen Speisen seiner Mutter und darf durch ein Guckloch alles sehen darf, was hier so läuft. Obwohl dank dieser besonderen Konstellation glückselig, will Samay auch seine Freunde daran teilhaben lassen. Also stiehlt er Filmrollen und versucht, das Knowhow von Fazal über Film und Technik in einem verlassenen Gebäude abseits des Dorfes in die einfache Praxis umzusetzen. Und siehe da – irgendwann funktioniert es. Dank Grips, Improvisationstalent und der enormen Kreativität aller Beteiligten.

In den Szenen, in welchen das „Kinderkino“ immer mehr Gestalt annimmt und das Einmaleins des Mediums Film von der Pike auf erklärt, gerät Last Film Show zum Meisterwerk. In humorvoller und erfrischender Betrachtung schenkt Pan Nalin dem Kino all seine Liebe. Und nicht nur dem Kino: Auch dem Licht, dass durch Buntglas geschickt oder vom Spiegel reflektiert wird, durch ein Gitter fällt, durch Staub zum Strahl wird oder die Hand Samays berührt. Last Film Show erzählt im Grunde seines Wesens eine recht unspektakuläre Geschichte, fast alltäglich. Doch gerade dort, zwischen den Schmalspurlinien einer bald ausdienenden Eisenbahn und dem entwendeten Sari der Mutter als Leinwand, ruht ein zauberhafter Charme, der auch schon in Guiseppe Tornatores Cinema Paradiso, untermalt von Ennio Morricones melancholischen Klängen, berührt hat. Nicht das große Wumms, sondern kleine Ideen werden mal was Großes. Last Film Show beginnt am Anfang von etwas, wie der immer wieder zitierte Klassiker 2001, in welchem unter Also sprach Zarathustra der Urmensch den Knochen als Werkzeug erkannt hat.

Nalins Film ist eine spielerische Odyssee der Erkenntnis und der Wahrnehmung. Letzteres geht manchmal gar über die Leinwand hinaus, wenn der Meister des Lichts den Geruch und Geschmack indischen Essens, das ebenso aus einzelnen wichtigen Zutaten besteht wie das Medium Film, erfahrbar werden lässt. Wenn dann unter Blubbern und giftigen Dämpfen das Ende allen Zelluloids einen Neuanfang einläutet, wird Last Film Show zum dokumentarischen Paradigmenwechsel und blickt – gar nicht mal so wehmütig – zurück auf eine Ära, die gehuldigt werden muss, denn ohne sie gäbe es das Kino nicht. Egal, wie einfach heutzutage das Licht auf die Leinwand geworfen wird.

Das Licht, aus dem die Träume sind

My Son

VOM VATER, DER NIE DA WAR

6/10


myson© 2021 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: CHRISTIAN CARION

CAST: JAMES MCAVOY, CLAIRE FOY, TOM CULLEN, GARY LEWIS, MICHAEL MORELAND U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Wie hieß die deutsche Comedyserie doch gleich? Ach ja, willkommen in der Schillerstraße! Sämtliche Spaßmacher, von Cordula Stratmann über Ralf Schmitz bis Dirk Bach durften da auf Anweisung eines Moderators zu teilweise wirklich absurden Regieanweisungen ihren Text und ihr Schauspiel improvisieren. Aber Achtung: das ganze musste in den Kontext passen. Gerne lässt sich sowas auf rustikalen Sommerbühnen auch als Stegreif bezeichnen. Kein Text also, dafür aber den roten Faden wie auch immer im Blick behaltend.

Jung-Professor-Xavier und Shyamalan-Psychopath James McAvoy hatte da eine ähnliche Herausforderung angenommen, nur gibt’s bei ihm rein gar nichts zu lachen. Er übernimmt die Rolle eines desperaten, jedoch bei seinem Nachwuchs recht wenig präsent gewesenen Familienvaters im Thrillerdrama My Son, dem Remake eines französischen Originals aus dem Jahre 2017 unter der Regie von Christian Carion. Den Herrn kennt man womöglich aufgrund seines Weltkriegsdramas Merry Christmas mit Diane Kruger und Daniel Brühl. Mit My Son wird vielleicht deshalb im selben Atemzug miterwähnt werden, weil er James McAvoy drehbuchtechnisch von der Leine gelassen hat. Wüsste man diesen Umstand aber nicht, würde man auch nicht zwingend auf die Idee kommen, dass hier irgendetwas anders wäre. Zumindest nicht so sehr anders.

Die überschaubare Story hat Carion selbst verfasst und lässt sich auch in zwei Sätzen problemlos umschreiben: Der elfjährige Sohn eines getrennt lebenden Ehepaares – Clair Foy und eben James McAvoy – verschwindet während eines Aufenthalts in einem Feriencamp irgendwo in den schottischen Highlands scheinbar spurlos. Alles sieht nach Kidnapping aus, die Eltern sind verzweifelt, beteiligen sich an Suchaktionen und gehen der Sache gar selbst nach. Auf diesem Wege geht der Vater eine Spur zu weit, als er den neuen Lover seiner Ex verdächtigt und mit dieser Einschätzung nicht hinterm Berg hält. Seltsamerweise macht auch die Polizei einen Rückzieher, was bedeutet, dass Mama und Papa auf sich allein gestellt sind. Die große Spurensuche hebt an, was den recht eifrig aufspielenden James McAvoy immer mehr aus der Reserve lockt.

Allerdings ist dann, wenn es wirklich spannend wird, keine Zeit mehr dafür, große Worte zu finden. Gegen Ende gelingt My Son zumindest über mehrere Minuten hinweg, das Katz- und Mausspiel eines Films wie Don’t Breathe nachzuahmen und für flachatmende Spannung zu sorgen, die gänzlich ohne Worte auskommt, da alles andere als Schleichen und Schweigen in Momenten wie diesen wirklich nicht gefragt ist. Zu diesem Herzstück des soliden Kriminaldramas kommt man als Zuseher allerdings auf Umwegen, und da ich vorhin schon bemerkt habe, dass zwar alles an diesem Film ganz normal erscheint, aber irgendetwas doch nicht stimmt, dann liegt das womöglich an McAvoy höchstpersönlich, der sich anfangs bemüht, aus der hirneigenen Improvisationsmühle einen schlagfertigen verbalen Support zu leisten. Wird schon, denkt man sich, und da wartet man und sieht zu, wie er mit kleinen, situationsangepassten Floskeln seine Rolle auf die Spur bringt. Ja klar, es wird schon. Claire Foy und all die anderen beteiligten Rollen hätten ja auch improvisieren können – wie wäre der Film dann wohl geworden? Vielleicht hätte sich McAvoy nicht so im Stich gelassen gefühlt, so ganz ohne Skript. Dann hätten sich wohl alle wohl gegenseitig etwas besser gepusht. Und vielleicht wären ihnen dann auch ein paar Hänger in Sachen Plausibilität aufgefallen. Wenn sie dann noch die Freiheit gehabt hätten, auch den Plot entsprechend umzukrempeln, wär‘s womöglich zu viel der Anarchie, aber reizvoller gewesen.

My Son

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

BODYSWITCH FÜR LITERATEN

7/10


felixkrull© 2021 Warner Bros Pictures Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

REGIE: DETLEV BUCK

SCRIPT: DANIEL KEHLMANN, DETLEV BUCK, NACH DEM ROMAN VON THOMAS MANN

CAST: JANNIS NIEWÖHNER, LIV LISA FRIES, DAVID KROSS, MARIA FURTWÄNGLER, NICHOLAS OFCZAREK, JOACHIM KRÓL, CHRISTIAN FRIEDEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Thomas Mann zu lesen ist Arbeit. Seine Kunst bekommt man nicht bequem vor die Füße gelegt, ist also keine Convenience-Lektüre, die runtergeht wie Öl. Für Thomas Mann muss man sich kognitiv ins Zeug legen, da muss man mitdenken. Thomas Mann ist wie das Besteigen eines Gipfels – auch nicht immer einfach. Dafür aber, wenn dieser als erklommen gilt, ist das Gefühl ein erhabenes, vor allem erfülltes, dank präzise ausformulierter Sätze und geistreicher Umschreibungen. Den großen Literaten auch filmisch umzusetzen, gestaltet sich prinzipiell als eine ebensolche Gratwanderung – zum Glück aber fanden und finden sich immer wieder Könner ihres Fachs, die den Geist Thomas Manns einfangen konnten und können. Luchino Visconti zum Beispiel – aus seinem Tod in Venedig sind die nebligen Bilder vom Lido immer noch in guter Erinnerung. Hans W. Geißendörfer, Urvater der Lindenstraße, hat den Zauberberg Anfang der 80er als internationale Produktion mit unter anderem Charles Aznavour und Rod Steiger auf die Leinwand gewuchtet. Der Geist des Literaten war da immer noch da. Heinrich Breloers Buddenbrooks mit Armin Müller-Stahl geriet hingegen zu einer sitzfleischquälenden, elendslangen Familienchronik, die wohl als Miniserie besser geeignet gewesen wäre. Denn dünne Heftchen sind Manns Werke natürlich keine. Und jetzt, jetzt will Detlev Buck es auch nochmal wissen. Wie es denn so ist, Thomas Mann zu inszenieren. Und zwar ein Werk, das gar nicht mal fertiggestellt wurde, ein Fragment eben. Vielleicht liegen Fragmente besser in der Hand des Filmemachers, wenn das Ende gar nicht mal vom Zaun gebrochen werden muss. Denn das ist stets die größte Hürde, um zu erreichen, dass ein Film zur runden Sache wird.

Eines aber vorweg: Detlev Buck bringt den Klassiker zu einem melancholischen Ausklang, indem er diesen zuvor mit einer verbal durchaus gestrengen, aber leichtfüßigen Dramatisierung liebkost hat. Kein Wunder, hinter dem Drehbuch steht jemand, dessen Bücher ich sehr schätze und der mich zuletzt auch in Daniel Brühls Nebenan in Aufbau und Dialog absolut überzeugt hat: Daniel Kehlmann. Bei Kehlmann ist selten ein Wort zu viel, die Szenen sind knackig und nicht über Gebühr aufgebauscht. Detlev Buck gefällt das, und ich bin froh, dass dieser die Finger von seiner sonst fahrigen Fabulierlust lässt. Die braucht es hier nicht. Bei einem Stoff wie Felix Krull braucht es Millimetermaß, und beide, Kehlmann und Buck, geben sich konzentriert. Die richtige Eleganz des Films hält dann schließlich mit dem lustvoll aufspielenden Ensemble Einzug. Statt Horst Buchholz brilliert diesmal der in Film und Fernsehen mittlerweile recht omnipräsente Jannis Niewöhner. Doch alle Achtung: der junge Mann scheint die beste Wahl für einen Hochstapler zu sein, der sich gar nicht mal als solcher verkauft, sondern viel mehr als charmanter Opportunist, der sich durch ein missgünstiges Leben schlängelt und weiß, bei wem und wann er ansetzen muss.

Das wäre nämlich dann Marquis Louis de Venosta, gespielt von David Kross, welchem Felix Krull sein Leben beichtet, im Schanigarten eines Pariser Cafés. Was Kroll in Paris so treibt? Er mogelt sich von Deutschland in die Stadt der Liebe und arbeitet in einem Hotel als Liftboy mit der Möglichkeit, die Karriereleiter hochzusteigen, wobei der eine oder andere weibliche Hotelgast nicht wirklich von ihm lassen kann. Viel wichtiger aber scheint die Liebe zur schönen Zaza (Liv Lisa Fries), für welche Krull wohl den größten Bodyswitch-Coup seines Lebens landen will.

Die meines Wissens nach dritte Verfilmung des Romans gelingt auf vielen Ebenen, ist formschön in ein heruntergebrochenes Script gegossen und geizt nicht mit stimmigen Kulissen, noblen Kostümen und schrägen Nebenfiguren, die das Karussell des improvisierten Lebens gefällig, aber auch süffisant vorführen.

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Der Hochzeitsschneider von Athen

NACH STICH UND FADEN

5/10


hochzeitsschneider© 2021 Neue Visionen Filmverleih


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, BELGIEN, DEUTSCHLAND 2020

REGIE: SONIA LIZA KENTERMANN

CAST: DIMITRIS IMELLOS, TAMILA KOULIEVA-KARANTINAKI, THANASIS PAPAGEORGIOU, STATHIS STAMOULAKATOS, DAFNI MICHOPOULOU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Oder: Erfolgreiches Business hängt von der derzeitigen Nachfrage ab, egal, ob diese einem selbst in den Kram passt oder nicht. Für diese Erkenntnis braucht der Hochzeitsschneider von Athen, der anfangs noch gar keiner ist, sondern zündteure Herrenanzüge in der Auslage verstauben lässt, einen ganzen Film lang. So wenig Kenntnisse im Marketing? Allein: Es fehlen die Wifi-Kurse und ergänzenden Schulungen, um selbst nicht als arbeitslos in der Statistik aufzuscheinen. Seinen Laden könnte Niko genauso gut schließen, aber da ist immer noch der altehrwürdige Papa, der seinen Traditionsladen so sehr verteidigt wie den Tempelberg in Jerusalem. Eine Institution ist das – die aber keinen mehr interessiert. Nicht zu vergessen: Wir sind in Griechenland, einem Staat, der auf Finanzspritzen aus der EU angewiesen war und durch leere Staatskassen die halbe Bevölkerung in die Verzweiflung getrieben hat. Wo kein Geld, da auch keine Kaufkraft. Nikos Papa ist also ein Relikt aus dem alten Griechenland – den Traditionen verhaftet, aber ohne Sinn für Improvisation. Das, was Alexis Sorbas so gut konnte, scheint der neuen Generation am Peloponnes abhanden gekommen zu sein. Diese zu finden ist jedoch möglich. Niko macht sich auf die Suche. Und variiert das Bibelzitat Berg-Prophet auf praktische Weise.

Laut dem Kinotrailer von letztem Jahr erschien Der Hochzeitsschneider von Athen als liebevoll-schrullige, intelligente Komödie mit dem notwendigen romantischen Zierrat. Und tatsächlich beginnt sie auch als ein lakonisches, schräges Stück mimischer Komödie, die Schauspieler Dimitris Imellos als Hommage an Figuren wie Jacques Tati, Buster Keaton oder Mr. Bean hinter dem Tresen stehen und an seiner akkuraten Kleidung zupfen lässt. Sein Gesichtsausdruck ist dabei stets derselbe, und ändert sich auch im Laufe des Films nicht. Eigenwillig, natürlich. Aber warum nicht. Seltsam nur, dass die ganze Geschichte genauso wenig in die Gänge kommt wie Emilios Gesichtsmuskulatur. Mit einer alles Herr werdenden Phlegmatik probiert das tapfere Schneiderlein neue Geschäftsstrategien, und schon bald bauschen sich tortenähnliche Kleider den Weg zu den Herzen heiratswilliger Frauen. Wer jemals Hand an eine Nähmaschine gelegt und dabei Freude empfunden hat, wird sich diese griechische Textilkomödie sicherlich auf die Watchlist setzen. Und die Idee ist ja vielversprechend – nur ist das stocksteife Spiel des Lebenskünstlers Niko so ziemlich hemmend für ausgelassene Stimmungen und positiven Esprit. Was sich aber mit diesem ungelenken Ausdruck bestens vereint ist der Tonus der Inszenierung. Auch hier bemüht die deutsche Regisseurin Sonia Liza Kentermann einen wohl adrett und knitterfrei gefilmten, aber zugeknöpften Stil, der durch seine fehlplatzierte Introversion die eigentlich charmante Geschichte nicht in Fahrt bringt. Erst am Ende zuckelt der Kleiderwagen befreit über die Landstraßen dahin, aber da ist der Film auch schon aus.

Der Hochzeitsschneider von Athen

Welcome to Sodom

RISE OF ELECTRO

7,5/10


welcometosodom© 2018 Camino Filmverleih


LAND: ÖSTERREICH 2018

REGIE: FLORIAN WEIGENSAMER, CHRISTIAN KRÖNES

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Erst unlängst habe ich einen alten Drucker zum Elektromüll gebracht – da steht so ein Container bei uns im kommunalen Werkraum, der heisst alles, wodurch irgendwie Strom floss, herzlich willkommen. Gut, dass man sowas Komplexes zielgerichtet entsorgen kann. Doch was genau passiert damit? Werden diese Apparaturen – diese Bildschirme, diese alten Rechner oder Kaffeemaschinen – zerlegt? Recycelt? Verheizt? Nun, verheizt wohl nicht, sonst könnten wir die Dinger ja gleich in den Restmüll befördern. Womöglich, so sagen uns Christian Weigensamer und Florian Krönes, zwei österreichische Dokumentarfilmer, landet das Ganze in einem Ort namens Agbogbloshie. Wo bitte soll das sein? Klingt afrikanisch. Ist es auch.

Der Welt größte Müllhalde für Elektroschrott befindet sich im Süden des westafrikanischen Landes Ghana. Wären Weigensamer und Krönes nicht dort gewesen, hätte sich mir das Wissen ob der Existenz dieses Ecks der Welt wohl niemals erschlossen. Doch das wäre schade gewesen. Denn dort, wo Elektronik dem buddhistischen Gedanken der Reinkarnation folgt, haben es Menschen von Jung bis Alt tatsächlich geschafft, aufgrund von Improvisation, Profitorientierung und Überlebenswillen aus diesem postapokalyptischen Chaos heraus sich selbst und den anderen vorzupredigen: „Aus diesem Wahnsinn aus giftigem Rauch, Metall und Kunststoff werde ich jeden Tag neu auferstehen wie ein Phönix aus der giftigen Asche. Jeden Tag. Von früh bis spät. Denn es gibt immer jemanden, der etwas findet, was ein anderer brauchen kann. Und umgekehrt.“

Weigensamer und Krönes folgen diesem immer gleichen Alltag und halten sich dabei streng im Hintergrund. Diese nicht endenwollende Landschaft aus Müll, dazwischen Hütten und Verschläge, barfußige Kids mit Magnetstangen, die das wertvolle Eisen aus dem Boden holen, Zentimeter für Zentimeter. Gezogene Wägelchen, darauf demolierte Bildschirme und Standcomputer. Irgendwo lodert wieder ein Feuer. Alles wird ausgebaut, zerlegt, gesammelt, verkauft, wiederverwertet. Es ist ein einziges, ineinander verschlungenes Gewusel, das Welcome to Sodom hier zeigt. Viel mehr braucht es gar nicht, um fasziniert und gleichzeitig erschüttert zu sein. Dieser improvisierte Irrsinn ist so fern unseres gelebten Lebens. Und dennoch: verweilt man rund 90 Minuten mit dem Blick genau dort hin und sieht, wie all diese vielen Glücksjäger, Tagelöhner und selbsternannten Kaufleute aus dem Nichts heraus plötzlich etwas lukrieren, lässt sich gut erkennen, wozu der Mensch fähig ist. Und was er alles aushalten kann. Sein Wunsch, in dieser Vorhölle herumzukrebsen, ist es aber dennoch nicht. Natürlich hätten sie gerne ein Leben wie unseres. Was sie bekommen, ist ein geschrotteter Teil davon.

Welcome to Sodom

Persischstunden

DAS WUNDER DER SPRACHE

7/10


Persischstunden© 2020 Alamode Film

LAND: DEUTSCHLAND, RUSSLAND 2019

REGIE: VADIM PERELMAN

CAST: NAHUEL PÉREZ BISCAYART, LARS EIDINGER, JONAS NAY, LEONIE BENESCH, NICO EHRENTEIT U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Kann man nicht erfinden – oder doch? Wenn es ums nackte Überleben geht, lässt sich fast alles bewerkstelligen. Es lassen sich ganze Schwachturniere im Kopf gewinnen, wie wir seit Stefan Zweigs Novelle wissen. Es lässt sich auf Ressourcen zurückgreifen, die sich im alltäglichen Normalzustand gar nicht vermuten lassen. Zum Beispiel auch so zu tun, als beherrsche man eine Fremdsprache. Diese Täuschung findet Verwendung, und zwar in einem Nazi-Lager in Frankreich des Jahres 1942, in welchem Sturmbandführer Koch – Nomen es Omen – davon schwärmt, nach dem Krieg nach Teheran auszuwandern, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Da kommt ihm ein eingefangener Perser ganz gelegen, denn der könnte ihm Farsi lehren. Durch Zufall gerät der französische Jude Gilles in Besitz eines persischen Märchenbuchs – und gibt sich, nichts ahnend, wie sehr er damit die eigene Haut rettet, als Perser aus. Eine Tarnung, die sehr leicht auffliegen könnte. Nur Perser, die sind außerhalb des Iran und ihrer Kolonialmacht Großbritannien rar gesät. Somit hat niemand eine Ahnung von Farsi, selbst Gilles nicht. Der sich aber bald um Kopf und Kragen redet, wenn es darum geht, seine ganz eigene Sprache des Überlebens zu erfinden.

2003 ließ Vadim Perelman Jennifer Connelly und Ben Kingsley in der Tragödie Haus aus Sand und Nebel aneinander krachen. Diesmal stellt er ein ganz anderes, ungleich kurioseres Zweiergespann in den Mittelpunkt seiner Weltkriegs-Erzählung. Charaktermime Lars Eidinger (gewohnt nuanciert und voll bei der Sache) als impulsiver NS-Offizier auf der einen Seite, der Argentinier Nahuel Pérez Biscayart als Jude inkognito auf der anderen. Ein Zwei-Personenstück, wenn man so will, mit einigen nebensächlichen Ausreißern, die für diese Geschichte gar nicht notwendig gewesen wären, wie zum Beispiel jene Episode der beiden Lageraufseherinnen Melanie und Elsa. Um das tragische Ausmaß der Situation natürlich greifbar zu machen, verzichtet Perelman auch nicht ganz darauf, das Verbrechen an den Juden zu dokumentieren – allerdings hält er sich, so wie damals schon Stefan Ruzowitzky in Die Fälscher, mit reißerischem Grauen mehr oder weniger zurück, und lenkt damit auch nicht von dem eigentlichen Impact der unglaublichen Begebenheiten ab, die sich in Wortgestalt einer völlig neu erfundenen Sprache Bahn brechen. Natürlich, Eidingers Figur zweifelt, will sich nicht verführen lassen, hängt seinen Träumen nach, ist mit Sicherheit kein durch und durch verdorbener Charakter, kein überzeichneter Hans Landa, sondern ein Opportunist auf Zeit, der ganz andere Pläne hat als das Deutsche Reich für ihn vorsieht. Gilles setzt alles auf eine Karte, ist anfangs ein verschreckter, panisch um sein Leben ringender Gefangener, der zusehends merkt, wie sehr er die Willkür seines Peinigers eigentlich parieren kann, und welche Macht er eigentlich über ihn hat.

Angeblich beruht diese Episode auf wahren Begebenheiten, jedoch: sicher ist das nicht. Zugrunde liegt eine Erzählung von Michael Kohlhaase, die natürlich genügend Potenzial vergibt für ein Drama, das sich über ein ausreichend dokumentiertes, reines Zeitbild hinwegsetzt und stattdessen ein zeitloses Gleichnis zitiert, dass über Opferrollen und die Kunst des Überlebens so Einiges zu sagen hat. Perelman macht daraus ein prosaisches Melodram um aus dem Stegreif erfundene Wörter, die ihre Wurzeln in den Namen der Ermordeten und Vertriebenen haben. Das ist zu komplex, zu konsistent und zu sinnbildlich, um tatsächlich so passiert sein zu können. Und auch wenn es nur erdacht ist – das Potenzial, mit Sprache ein Wunder zu vollbringen, und sei es auch nur für einen selbst und um das Böse hinters Licht zu führen, liegt dem Menschen zugrunde.

Persischstunden

Djam

RHYTHMUS DER STANDHAFTEN

6,5/10

 

djam© 2018 MFA

 

LAND: FRANKREICH, GRIECHENLAND, TÜRKEI 2018

REGIE: TONY GATLIF

CAST: DAPHNÉ PATAKIA, MARYNE CAYON, SIMON ABKARIAN U. A. 

 

Nichts hat er auf die Reihe bekommen, das Meiste improvisiert, und das hat dann schlussendlich doch geklappt: die Rede ist vom wohl berühmt-bercühtigsten Griechen in der Filmgeschichte, sehen wir mal von den Göttern und Halbgöttern des Olymps ab: Alexis Sorbas, grenzgenial verkörpert von Anthony Quinn. Und sein Tanz trotz all des Schlamassels am Ende des Films hat sogar einen völlig neuen Stil begründet: den Sirtaki. Vom Sirtaki ist die kokette Djam gar nicht so weit entfernt – ihr Steckenpferd ist der Rembetiko, eine den osmanischen Klängen verwandte Musikrichtung, die auch als der Blues Griechenlands bezeichnet wird. Tragische Inhalte, die von Liebe, Heirat und sonstigen Herzschmerz erzählen, melancholisch bis zum letzten Ouzo-Tropfen, allerdings aber auch von orientalisch-beschwingten Rhythmen durchzogen. Rembetiko – das ist Musik, da bleibt man laut STS wirklich irgendwann mal dort und steckt die Füße in den weißen Sand, grad weil es akustisch eben auch so anders ist als daheim.

Diese Djam also lebt auf Lesbos, direkt an der Grenze zur Türkei. Wir wissen natürlich, welchen schicksalhaften Stellenwert Lesbos in Sachen Flüchtlingskrise hat und ganz klar bleibt dieser tragische Faktor neben einigen anderen nicht unerwähnt. Die unangepasste Waise, die bei ihrem Onkel lebt, wird also von selbigem nach Istanbul geschickt, um Ersatzteile für das Ausflugsboot zu holen, das wieder flottgemacht werden soll, für den Fall, dass sich irgendwann doch wieder Touristen hierher verirren. Klar, dass Djam keinen straffen Zeitplan folgt, ganz im Gegenteil. Sie gabelt noch dazu eine völlig mittellose Französin auf, die auf dem Weg in ein syrisches Flüchtlingslager sitzengelassen wurde. Die beiden tun sich zusammen, vergessen Zeit und Ort und mit Musik geht fortwährend sowieso alles besser, und wo prinzipiell mal jeder die Flinte ins Korn wirft, wenn überall gestreikt oder sonst was wird, holt Djam ihre Instrumente hervor und trällert zwischen Grenzzaun und levantinischer Geschichte den Mut zum Weitermachen her.

Viel mehr ist in Tony Gatlifs Roadmovie gar nicht los. Muss es auch nicht, denn der gebürtige Algerier mit einem ausgeprägten Faible für richtig gute Volksmusik sucht den richtigen Klang für Momente, an denen Worte nicht mehr reichen, lässt Schauspielerin Daphné Patakia die Hüften schwingen und andere am Bouzouki schrummen. Gemeinsam setzen all diese Menschen, denen sowohl die Finanzkrise der Griechen oder das humanitäre Drama der Flüchtenden übel mitspielt, ganz auf Tradition, besinnen sich auf ihre Wurzeln, wollen durchhalten, solange die „Musi“ spielt. Gatlif, der 2005 für Exils den Regiepreis in Cannes gewonnen hat, ist mir mit seinem 2000 erschienenen, so feurigen wie temperamentvollen Film Vengo bis heute gut in Erinnerung geblieben. Djam entwickelt nicht ganz so ein Feuer und erweckt auch keine Sehnsucht nach dem Süden, zeigt Europa aber mal von einer ganz anderen Seite, nämlich mit dem Blick von der Ostküste her aufs Mittelmeer. Probleme gibt’s dort viele, irgendwann zählt nur mehr, woher man kommt. Und das lässt sich mit Klängen und Rhythmen am besten anpeilen, obwohl selbst diese berauschenden Rhythmen die gelegentliche Schwermut von Djam nicht ausgleichen können. Wer einen Sommerfilm erwartet, wird schaumgebremst – Gatlif verlegt seine kulturelle Reise in den mediterranen Winter, er filmt Schauplätze auf Lesbos, die alles, nur nicht touristisch verwertbar sind. Er zeigt die Grenze und die Verzweiflung, die Traurigkeit und den Trotz. Manchmal wirkt die Musik dabei fehl am Platz, aber vielleicht ist sie genau dann am besten platziert, wenn gar keinem danach ist, zu musizieren. Vielleicht braucht man dann die Musik am meisten. Wie bei Zorbas, dem Griechen, der plötzlich anfängt zu tanzen.

Djam