Die Farben der Zeit (2025)

VOM ERAHNEN DER AHNEN

8/10


© 2025 Constantin Film


ORIGINALTITEL: LA VENUE DE L’AVENIR

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2025

REGIE: CÉDRIC KLAPISCH

DREHBUCH: CÉDRIC KLAPISCH, SANTIAGO AMIGORENA

CAST: SUZANNE LINDON, ABRAHAM WAPLER, VINCENT MACAIGNE, JULIA PIATON, ZINEDINE SOUALEM, PAUL KIRCHER, VASSILI SCHNEIDER, SARA GIRAUDEAU, CÉCILE DE FRANCE, CLAIRE POMMET U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN 


Natürlich hatten die Leute des vorvorigen Jahrhunderts so einiges nicht. Keine Versicherungen, keine Sozialhilfe, keine flächendeckende gesundheitliche Versorgung und vor allem keine Frauenrechte. Damals, im Schatten der Industrialisierung und der aufkommenden alternativen Medien wie jene der Fotografie und des Films, fielen ganz ähnliche Sätze wie sie heutzutage fortschrittskritischen Denkerinnen und Denkern in den Sinn kommen würden. „Wohin soll das alles führen?“, fragt in Die Farben der Zeit ein Kutscher die junge Adéle, und wundert sich, wie schnelllebig die Welt doch geworden ist. Würde dieser ältere Herr, der seinen Gaul gemächlich durch ein spätsommerliches Nordfrankreich treibt, das Heute erleben, würde er, bevor ihn womöglich der Schlag träfe, seine Ansichten relativieren. Denn das, was in diesem Heute so alles an Umbrüchen stattfindet, wäre damals nicht mal noch Science-Fiction gewesen.

Ein Haus als gemeinsamer Nenner

Im wohl aus meiner Sicht wunderbarsten französischen Film des Jahres wagt Autorenfilmer Cédric Klapisch (u. a. L’auberge espanol, Der Wein und der Wind) die Probe aufs Exempel – und konfrontiert das längst Vergangene mit der Gegenwart. Angesichts dieser Diskrepanzen und angetrieben von unserer Sehnsucht nach Entschleunigung und Wahrhaftigkeit, die dank KI immer mehr abhandenkommt, schafft man es einfach nicht, sich die romantisierende rosarote Brille vom Nasenrücken zu reißen, so pittoresk, geerdet und überschaubar mutet dieses Frankreich knapp vor der Jahrhundertwende an. Es ist die Kunstepoche des Impressionismus, des neuen Mediums der Fotografie. Inmitten dieser aufblühenden Ära verlässt die gerade mal zwanzigjährige Adéle nach dem Tod ihrer Großmutter das geerbte Zuhause inmitten der ruralen Normandie, um im umtriebigen Paris nach ihrer Mutter zu suchen, die sie Zeit ihres bisherigen Lebens niemals kennengelernt hat.

Das ist aber nur die eine Seite des Films, konserviert in einem für mehr als ein Jahrhundert leerstehenden Gebäude voller Schriften, Fotografien und einem Gemälde, das frappant an einen großen Meister erinnert. Die andere Seite ist die Gegenwart – kantig, blaugrau, schnelllebig. Adéles Nachfahren werden zu einem Notariatstermin zusammengerufen, rund fünfzig Personen, die sich untereinander kaum kennen, obwohl sie doch alle verwandt sind. Man sieht, was 100 Jahre Leben ausmachen. Ein ganzes kleines Dorf wird lebendig – mehrere Generationen, einander völlig fremd und doch vereint. Dieses Haus in der Normandie, lange Zeit leerstehend, soll einem Parkplatz weichen, doch geschieht das nur mit dem Einverständnis der Erben. Fünf der Nachkommen machen sich auf den Weg dorthin, knacken die Zeitkapsel – und stoßen auf nicht nur ein, sondern gleich auf mehrere verblüffende Begebenheiten aus dem Leben einer Ahnin, die das damalige Zeitbild wie keine andere mit ihrer eigenen Biographie verwoben hat.

Was vom Damals übrig bleibt

Wenn schon nicht die elegante, gemächliche, aber niemals langweilig werdende Geschichte einer erkenntnisreichen Städtereise auf narrativem Wege das eigene Gemüt berührt, so ist es zumindest die hommierende Bildsprache, welche die Zeit handkolorierter Fotografien lebendig werden lässt. Sehen wir die Rückblenden auf Adéle, sehen die Bilder aus wie gefärbte Schwarzweißfotografien, wie alte Postkarten, die man am Antiquitätenmarkt findet. Anfangs wandelt die bezaubernde Suzanne Lindon in einem herausstechend roten Kleid durch die liebevoll ausgestalteten Kulissen einer überidealisierten Theaterstadt. Das ist so ergreifend schön, dass man es kaum erträgt, wenn Klapisch diesen Traum vom Gestern wieder einstürzen lässt und die allzu vertraute Gegenwart aus ausdrucksloser Kleidung, schnellem Essen und Techno-Beats dagegensetzt. Nein, hier herrschen, obwohl man es erwartet hätte, keine sanften Übergänge vor, die das Vergangene mit dem Heute verschmelzen lassen – die Brüche schmerzen, und schaffen erst so die richtige Distanz zwischen den Zeiten. Als Brücke dienen allein die Erben, die in der Vergangenheit stöbern und das Bild eines Lebens rekonstruieren – und Sängerin Pomme, die, mit den fließenden Gewässern der Seine im Hintergrund, den Chanson in seiner melancholischen Zerbrechlichkeit zeitlos werden lässt.

Wie Klapisch dann diese für all die Nachkommen so bedeutende Existenz mit der Kunstgeschichte verknüpft und einem großen impressionistischen Meister auf blumige Weise huldigt, hätte zwar gar nicht mal sein müssen, macht das Werk aber noch spezieller, noch relevanter, letztlich einfach märchenhaft und so eindrucksvoll, dass man den Eindruck gewinnt, dass früher einfach alles besser gewesen sein muss. Die Farben der Zeit sind einfach die schöneren – keine Nuance fehlt, um ein Filmbildnis wie dieses perfekt zu machen.

Die Farben der Zeit (2025)

Leonora im Morgenlicht (2024)

DA LACHEN DIE HYÄNEN

6/10


© 2024 Alamode Film

ORIGINALTITEL: LEONORA IN THE MORNING LIGHT

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, MEXIKO, RUMÄNIEN, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: THORSTEN KLEIN, LENA VURMA 

KAMERA: TUDOR VLADIMIR PANDURU

CAST: OLIVIA VINALL, ALEXANDER SCHEER, RYAN GAGE, LUIS GERARDO MÉNDEZ, ISTVÁN TÉGLÁS, CASSANDRA CIANGHEROTTI, DENIS EYRIEY, WREN STEMBRIDGE U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Warum Leonora Carrington bisher so sang- und klanglos an mir, der in Sachen Kunstgeschichte durchaus seine Hausaufgaben gemacht hat, vorübergegangen ist, lässt sich nicht erklären. Carrington schuf schließlich Kunst, die sich zwischen der nordischen Renaissance eines Hieronymus Bosch und den progressiven Formen eines Marc Chagall widerfindet. Die schließlich auch mit den Mythen Mittelamerikas kokettierte und so einiges aus dieser alten Kultur in ihre Werke hat einfließen lassen. Bemerkenswert sind ihre Arbeiten aus jener Zeit, in der sie mit dem deutschen Surrealisten Max Ernst liiert war, der wiederum in den Dunstkreis von André Breton agierte, selbstredend in Paris, denn dort trafen sich stets alle, die sich Künstler nennen durften, da sie auch schon Renommee genug hatten, um sich in Szene zu setzen. Carrington war da auch mit dabei, als von allen vergötterte Muse. Selbst hat sie sich nicht so gesehen. Sondern Zeit ihres Lebens wohl eher als Tier empfunden, insbesondere als Pferd. Als Kind wollte sie schon die Hufe schwingen, doch ihr gestrenger, erzkonservativer Vater hat das unterbunden. So viel zur Freiheit der Entwicklung im Elternhaus nach der Jahrhundertwende.

Was da an Murks einem späteren Leben mitgegeben wurde, lässt sich längst nicht auf nur eine Leinwand pinseln. Sind deshalb so auffallend viele Künstlerseelen gleichzeitig auch gebrochene? Van Gogh, Alfred Kubin, Niki de Saint Phalle, Leonora Carrington – eine kleine Auswahl nur unter all jenen, die ihre eigene Weltsicht einem psychosozialen Defizit zu verdanken haben, das sie nicht selten in die geschlossene Anstalt brachte. So auch Leonora. Worunter sie genau litt, ist nicht so ganz klar. Schizoides Verhalten oder doch „nur“ ein Nervenzusammenbruch aufgrund der plötzlichen Trennung von Max Ernst, der kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Frankreich als verdächtiger Deutscher verhaftet wurde? Laut vorliegendem Film hat Leonora ihren Lebensmenschen nie wieder gesehen. Ob das nicht genau der Trigger war, um verschüttete Traumata aus der Kindheit hochkochen zu lassen?

Üppiger Film, schwerer Zugang

Thorsten Klein und Lena Vurma schenken diesem psychologischen Wendepunkt ihre meiste Aufmerksamkeit, finden aber genauso schwer ihren Weg in den Kopf einer Surrealistin wie meine Wenigkeit in den Film. Viel, sehr viel Geduld ist ratsam, wenn man Leonora Carrington nahekommen will. Spät, fast schon zu spät, knackt das Regie-Duo die holzige Nuss einer biografischen Skizze, die sich genauso wenig formen und beherrschen lassen will wie die dargestellte Künstlerin kurz vor ihrer Elektroschock-Therapie, die damals gang und gäbe war und von der man nicht wirklich sagen kann, sie hätte einen medizinischen Nutzen gehabt. Mit Olivia Vinall, die ich erstmals auf dem Schirm habe, und Alexander Scheer (enttäuschend unbeteiligt) fügen sich zwei Darsteller in ein formelhaftes Konzept biografischer Szenen, ohne aus ihrer Zweidimensionalität hervorzutreten. Weder Max Ernst noch Leonora selbst werden erfahrbar – je länger der Film läuft, desto weiter distanzieren sie sich. Einnehmend interessant kann man beide nicht nennen, wohl eher introvertiert. In ihrer elitären Künsterblase hockend, wollen sie nichts davon wissen, in einem Film zu spielen, der kunstgeschichtliche Lücken füllt. Und dann erhasche ich einen Blick auf ein Werk Carringtons, alleine ihre Bilder wecken mein Interesse. Und dann das: Die Wende, vor allem erzählerisch. Die Szene, in der Carrington in einen verschlossenen Raum der Heilanstalt vordringt, gleichzusetzen mit einer Reise in ihr Unterbewusstsein, sprengt endlich die Grenzen zwischen drögem, chronologischem Vortragskino und surreal anmutendem Psychodrama. Die Nuss ist geknackt, die Hyäne lacht, begleitet von Buschtrommeln. Der üppige mexikanische Regenwald, inmitten Vinalls verlorene und wiedergefundene Figur, lässt nun, in der letzten halben Stunde, die Kreativität fließen.

Ich kann Leonora im Morgenlicht wohl nicht als perfekten Film bezeichnen – zu viel geht anfangs schief. Und dennoch bleiben die Leinwände nicht weiß, die Künstlerin namens Carrington nicht unbekannt. Unsereins lotst sie am Ende in ein ungelenk präsentiertes, aber neugierig machendes Euvre einer viel zu unbekannten Individualistin.

Leonora im Morgenlicht (2024)

The Room Next Door (2024)

DABEISEIN IST ALLES

7/10


theroomnextdoor© 2024 Warner Bros. Pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2024

REGIE: PEDRO ALMODÓVAR

DREHBUCH: PEDRO ALMODÓVAR, NACH DEM ROMAN VON SIGRID NUNEZ

CAST: JULIANNE MOORE, TILDA SWINTON, JOHN TURTURRO, ALEX HØGH ANDERSEN, ESTHER MCGREGOR, VICTORIA LUENGO, JUAN DIEGO NOTTO, RAÚL ARÉVALO, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Krankheit und Tod sind Themen, die selten ins Kino locken, will man Zerstreuung finden. Sie locken vielleicht ins Kino, um Schauspielgrößen dabei zuzusehen, wie sie als akribisch interpretierte Filmfiguren mit ihrer Endlichkeit klarkommen müssen. Mit Schmerz, Verlust und dem Herbst des Lebens womöglich mitten im Sommer. Meistens ist das schwermütiges Kino. Taschentücher sind in Griffnähe und Vorsicht davor geboten, im vielleicht sogar sentimentalen Morast zu versinken. Wie ein Stein im Magen liegen solche Filme. Nicht aber bei Pedro Almodóvar, seit Jahrzehnten schon im Filmgeschäft und bereits sämtliche Meisterwerke in seinem Oeuvre wissend, die eine gewisse Zeitlosigkeit genießen. Almodóvars Werke lassen sich ausschließlich anhand seiner Settings und vor allem seiner Farbtafeln erkennen. Dieser Kunst des komplementären Colorings in Szenenbildern und Kostümen verschreibt er sich auch in seinem neuesten Werk The Room Next Door. Und viel wichtiger als der tieftraurige Kloß im Hals, den man empfindet, wenn gute Freunde diese Welt verlassen, scheint ihm die erlesene Bildsprache allemal zu sein.

Den Stein im Magen lässt Almodóvar also anderen. Die wandelbare Tilda Swinton und die stets im Schauspielkino fest verankerte Julianne Moore müssen ihn auch nicht schlucken. Beide sind nicht dafür bekannt, zu Sentimentalitäten zu neigen oder sich in schmerzhaften Schicksalen zu verbeissen, obwohl Moore sich ab und an dazu hinreissen lässt, die Hysterikerin zu geben. Nicht so in diesem Film. Swinton und Moore sind zwei Freundinnen von früher, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Gerade noch zur rechten Zeit, denn Swintons Figur der Martha ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, wofür sie sich im Krankenhaus diversen Chemo- und Immuntherapien unterzogen hat. Von Selbstmitleid ist anfangs keine Spur bei der ehemaligen Kriegsreporterin, die alles schon gesehen hat auf dieser Welt, jedes Gräuel und allerlei schreckliche Tode. War der Krieg schon deren Arbeit, führt sie den letzten mit sich selbst. Und wünscht sich für einen selbstbestimmten Abgang Ingrid an ihre Seite, die nichts anderes tun muss als nur dabei zu sein, wenn Martha jene todbringende Pille schluckt, die sie aus dem Darknet erstanden hat.

Almodóvar zäumt das Pferd zwar nicht von hinten, nimmt aber längst nicht den direkten Weg, um zum Kern seiner Geschichte vorzudringen. Viel lieber hält er sich damit auf, beide Frauen erst einmal kennenzulernen. Was sie antreibt, was sie ausmacht, was sie verbindet. Dabei kippt The Room Next Door in eine melodramatische und recht plakative Nebengeschichte, die das Schicksal des für Marthas Tochter unbekannten Vaters bebildert. Es ist, als passe diese verästelnde Abkehr vom eigentlichen Erzählstrang nicht in dieses Konzept, genauso wenig manch fachsimpelnder Dialog über Kunstgeschichte, der letztlich nichts zur Handlung beiträgt. Und dennoch: dieses Konterkarieren der Erwartungen, dieses Hinhalten des eigentlichen Themas, macht etwas mit der Wahrnehmung und mit der Akzeptanz der eigentlichen, vielleicht gar eitlen Problematik zweier Damen aus dem intellektuellen Establishment, die jede für sich den Tod als etwas gänzlich anderes sieht. Letztlich hat dieses Mäandern einen Sinn, auch John Turturros Auftritt als Klima-Poet, der über das Ende der Welt rezitiert. Das Wichtigste dabei aber ist es, egal in welcher Lebenslage, ausschließen zu können, allein zu sein. Der Mensch ist dafür nicht geschaffen. Das Teilen von Meinungen, der Austausch von Empfindungen, das Interagieren mit einem Gegenüber erklärt Almodóvar als die Essenz menschlichen Glücks. All seine scheinbar überflüssigen Nebenszenen spiegeln doch nur die Lust am Zu- und Miteinander wider. Da wird das Thema rund um Sterbehilfe oder Tod zu einem Thema unter vielen anderen.

Interessant, dass es Almodóvar gar nicht darum geht, den illegalen Weg des Freitods zu bewerten oder zu analysieren. Er bleibt eine austauschbare Begrifflichkeit für einen Ist-Zustand in einer Welt der Lebenden und der Toten, der mit der Gewährleistung eines Miteinanders, um die Einsamkeit zu vernichten, alles hat, was er braucht.

The Room Next Door (2024)

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

KAFKA, EINMAL UNVERKITSCHT

7,5/10


herrlichkeitdeslebens© 2024 Majestic/Christian Schulz


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: JUDITH KAUFMANN & GEORG MAAS

CAST: SABIN TAMBREA, HENRIETTE CONFURIUS, MANUEL RUBEY, DANIELA GOLPASHIN, ALMA HASUN, PETER MOLTZEN, LEO ALTARAS, LUISE ASCHENBRENNER, FRIEDERIKE TIEFENBACHER, MICHAELA CASPAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 99 MIN


Als kafkaesk bezeichnet man groteske gesellschaftspolitische Umstände, Überwachungsstaaten und Albtraumbürokratien. Morphologische Veränderungen, Paranoia und die Angst vor einer körperlosen Übermacht. Will man Franz Kafka darstellen, lässt man ihn gerne so sein wie eine seiner Figuren, orientierungslos, verfolgt und nicht Herr seiner Sinne. Der Autor Michael Kumpfmüller hat über das letzte Lebensjahr des großen deutschsprachigen Schriftstellers einen Roman verfasst und ihn so dargestellt als jemand, der zwar krank war, jedoch keinesfalls so verschroben, wie man ihn gerne hätte. Kafka hatte Stil und war redegewandt wie kein Zweiter. War charmant zu den Damen, nur leider keiner, der, so sagt er selbst, für Langzeitbeziehungen wirklich geeignet ist. Das letzte Jahr seines Lebens gewährt ihm aber dann doch den Schein einer ewigen Beziehung, eine Lebensgemeinschaft bis in den Tod. Dieser jemand an seiner Seite war Dora Diamant – schöner kann ein Name, der kein Künstlername ist, wahrlich nicht klingen. Mit Dora findet Franz Kafka seine ideale Partnerin – und schließlich auch jemanden, der die Leiden einer Lungentuberkulose bedingungslos mitträgt. Alles beginnt in einem idyllischen Nordseesommer beim Spazierengehen am Strand, den Sprösslingen im nahegelegenen jüdischen Kinderheim erzählt er, kauernd im Strandkorb, allegorische Geschichten über Mäuse und Katzen. Dora Diamant lauscht mit – und gerät ins Blickfeld des edlen Herren, den von da an nichts mehr daran hindert, ihr den Hof zu machen. Das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit, beide sind klug, beide ticken ähnlich, nur die Krankheit bremst so manche Pläne. Der darauffolgende Winter in Berlin wird zur Belastungsprobe, die Eltern, insbesondere Kafkas Vater, wird auf ewig ein Schreckgespenst bleiben. Bald kann Kafka nicht mehr sprechen, die Tuberkulose breitet sich aus. Doch Dora weicht nicht von seiner Seite.

Melodramatisch ist Die Herrlichkeit des Lebens sehr wohl, doch auf eine gute Art. Auf die einzig richtige Weise, wie man Melodramatisches nur auf die Leinwand bringen kann und dabei genau darauf achtet, jedweden sentimentalen Kitsch zu vermeiden. Denn Melodrama muss niemals sentimental sein. Das Regieduo Judith Kaufmann und Georg Maas finden am Anfang des Films sommerliche norddeutsche Bilder, die an die impressionistischen Malereien Renoirs oder Monets erinnern. Wir sehen eine Holzbank auf einem Aussichtsplatz hoch über dem Strand, um die Rückenlehne ist ein seidenes, auberginerotes Band gewickelt, welches in der Sommerbrise weht. Klingt nach Rosamunde Pilcher? Ist es aber nicht. Diese Romantik verdient es kompromisslos, sich dieser Bildsprache zu bedienen. Inszeniert wird sie voller Respekt vor dem Genre und den historischen Figuren, die sich begegnen. Sabin Tambrea verleiht der literarischen Legende Charisma und Charakter, und vor allem versucht er nicht, sich an dieser bedeutenden Rolle, seinem Geltungsdrang verpflichtet, zu ereifern. Tambrea macht einen Schritt zurück, bleibt besonnen und unaufgeregt. Das gibt der Figur jede Menge Raum. Ebenso Henriette Confurius als Dora: Auch sie authentisch und natürlich, kein bisschen zu viel, niemals zu wenig. Diese beiden schaffen eine immersive Atmosphäre, in die man als Zuseher unweigerlich hineingleitet. Trotz der leisen, fast ereignislosen Chronik eines Abschieds ist es allen voran diese konstante, stilsichere Gefühlswelt, die Kaufmann und Maas hier errichtet haben, die den Zugang zu diesem Film so frappant erleichtern. Keine Regie-Allüren, keine Schauspiel-Allüren, kein bizarres Gemotze wie bei David Schalko. Menschlich und warmherzig gibt dieses Drama einen fast schon intimen Einblick in eine Künstlerseele und seinen Dämonen, in eine späte Liebe und in die Kunst, das Unausweichliche zu akzeptieren.

Die Herrlichkeit des Lebens ist ein strahlend schöner Film, wohltuend und berührend, ohne darauf aus sein zu müssen, dieses Ziel zu erreichen. Das Werk genügt sich selbst, es ist Melancholie mit Understatement.

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

Le Grand Chariot (2023)

GEISTIGES ERBE IST WIE ASCHE IM WIND

7/10


LeGrandChariot© 2023 Rectangle Productions – Close Up FIlms – Arte France Cinéma


LAND / JAHR: SCHWEIZ, FRANKREICH 2023

REGIE: PHILIPPE GARREL

DREHBUCH: JEAN-CLAUDE CARRIÈRE, CAROLINE DERUAS-GARREL, PHILIPPE GARREL & ARLETTE LANGMANN

CAST: LOUIS GARREL, DAMIEN MONGIN, ESTHER GARREL, LENA GARREL, FRANCINE BERGÉ, AURÉLIEN RECOING, MATHILDE WEIL, ASMA MESSAOUDENE U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Es ist schön, inspirierend und bereichernd, auf Filmfestspielen wie der Viennale Werke von Filmemachern anzutreffen, deren Arbeitsweise man bislang nicht kannte und die auf die eigenen Sehgewohnheiten treffen wie frischer Regen auf die blank geputzte Windschutzscheibe eines Autos. Immer wieder aufs Neue ist die Begegnung im Kino horizonterweiternd, und gerade auf eine Weise, die man nicht kommen sieht, die einen anfangs vielleicht irritiert oder vielleicht gar Ablehnung hervorruft, aber doch eine gewisse Neugier gegenüber einem Stil entlockt, der am Ende der Geschichte seine Berechtigung hat. So einen Zustand weckt Philippe Garrels pointiertes Drama La Grand Chariot, was so viel heisst wie Der große Wagen – was aber nichts mit dem Sternbild am Firmament zu tun hat, sondern mit dem kleinen Puppentheater eines Budenzauberers, der diese Kunstfertigkeit Jahrzehnte schon betreibt, diese selbst vererbt bekommen hat und letztlich natürlich weitergeben will an seine Kinder Martha, Lena und Sohnemann Louis. Mit ihnen rockt er auch die Schaubühne, nicht mehr als ein rustikaler Bretterverschlag, angebaut ans Eigenheim. Kinderlachen lässt die Holzbänke knarzen. Motivation, die Lust am Spaßmachen und Geschichtenerzählen: das alles ist da. Natürlich so lange, wie Papa auch den Ton angibt. Doch irgendwann verstummt auch dieser. Der große Puppenspieler lässt die in Handarbeit entstandenen Figuren sinken, nimmt den letzten Atemzug – und dann kommt das Vakuum. Ein chaotischer Umstand aus Verpflichtung, Verehrung und Tradition. Die Tournee wird abgesagt, der Angestellte Peter, Lebenskünstler und eigentlich Maler, der mit seinen eigenen Werke irgendwann groß rauskommen will, ist der erste, der sich abseilt, hat dieser ohnehin längst vorgehabt, die Mutter seines neugeborenen Sohnes sitzen zu lassen, um mit einer anderen unter dem Freiheitsdrang und der Autonomie, wie sie Künstler eben haben, durchzubrennen.

Nacheinander stürzen die Säulen der Beständigkeit einer Profession zu Boden, selbst die Großmutter, die den Tod ihres eigenen Sohnes mitansehen hat müssen, verliert sich in ihrer Demenz, Schauspieler Louis (Louis Garrel, Die drei Musketiere – D’Artagnan) geht ans Theater. Das Puppenspiel wird zum Schatten seiner Hochzeit, zum traurigen Abgesang, bei dem selbst Stücke mit dem Titel Das goldene Schlüsselchen niemanden mehr ins Auditorium locken. So bröckelt der Verputz, so bröckeln die Erinnerungen, die Illusionen und der Glaube, dem verstorbenen Papa die Weiterführung seines Vermächtnisses schuldig zu sein.

Das alles klingt hochdramatisch, sentimental und bittersüß. Nach intensivem Gefühlskonzert und vielerlei Tränen. Wider Erwarten ist es das aber nicht. Philippe Garrel, der den Film mit gefühlt seiner ganzen Familie besetzt hat, hält nichts von Gefühlsduselei, von französischer Melancholie, vom Chanson-Charakter eine Yves Montand oder Gilbert Bécaud. Le Grand Chariot ist so erfrischend unfranzösisch, dass man die Stirn in Furchen legt. Es wäre nicht zu erwarten gewesen, dass Garrel in dieser Erzählung sein Publikum immer wieder vor vollendete Tatsachen stellt. Vieles passiert innerhalb eines Jahres, und dennoch bleibt das Gefühl, hier mehrere Jahre dabeigewesen zu sein. In großen Zeitsprüngen illustriert der Filmemacher seinen Abgesang auf das Mysterium eines künstlerischen Determinismus in der eigenen Familie und auf das ungeschriebene Gesetz der bedingungslosen Ehrbarkeit elterlicher Vermächtnisse. Die Rolle des Peter, des ausserfamiliären Möchtegernkünstlers, bekommt im Laufe des Films immer mehr Gewicht. Seine Vorbestimmung, von der er glaubt, ihr entsprechen zu müssen, gerät zum Wahnsinn. So oder so darf und kann von Natur aus und nach freiem Willen aus Allem nichts werden, und aus dem Nichts alles entstehen.

Le Grand Chariot ist faszinierend nüchtern und ernüchternd virtuos. Der Pragmatismus hat dabei im französischen Drama noch selten so eine selbstbewusste Rolle gespielt wie in diesem speziellen Kleinod aus leiser Nostalgie und ausbleichendem, familiären Gruppenbild mit Puppen.

Le Grand Chariot (2023)

Roter Himmel (2023)

DIE PRIORITÄTEN EINES KÜNSTLERS

6,5/10


Roter-Himmel© 2023 Christian Schulz / Schramm Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN PETZOLD

CAST: THOMAS SCHUBERT, PAULA BEER, LANGSTON UIBEL, ENNO TREBS, MATTHIAS BRANDT U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Selbstzweifel und miese Laune. Fast könnte man meinen, diese beiden Eigenschaften gehören zum Künstlerdasein wie das Amen im Gebet. Fast könnte man meinen, die Selbstzweifel sind nur dazu da, um für Komplimente zu fischen: Dass das neue Werk sowieso gar nicht so schlecht ist, dass die bescheidene Selbstauffassung den Künstler nur sympathischer macht und devot gegenüber seiner gottgegebenen Gabe, Sätze stilvoll auszuformulieren und aneinanderzureihen. Nur keine falsche Bescheidenheit, könnte man meinen, um dann dem gemarterten Denker, der sich in die stille Oase eines Ferienhauses zurückzieht, um seinem Werk den letzten Schliff zu geben, auf die Schulter zu klopfen. Bei Leon, einem innerlich unrunden und von allem genervten Schriftsteller, ist das erhaschte Lob wohl genau der Motor, der ihn auf Vollgas bringt. Doch dieses Lob, das kommt nicht. Denn niemand hat seinen Zweitroman gelesen, abgesehen vom Verleger wohlgemerkt, der in den nächsten Tagen an die Nordseeküste kommen soll, um das Werk durchzugehen. Bis dahin heisst es arbeiten – doch wie soll das gehen, wenn die aus zwei Freunden bestehende Künstlerkommune (der andere, Felix, ist Fotograf und muss ein Portfolio fertigstellen) plötzlich durch eine dritte Person ergänzt wird, noch dazu durch eine attraktive junge Frau, die sich allnächtlich amourösen Vergnügungen hingibt und den armen, wirklich armen Leon um den Schlaf bringt?

Es wäre alles eine fast schon banale, norddeutsche Beziehungsgeschichte im Dunst frühsommerlicher Vorfreuden auf trockenheisse Monate, würde Christian Petzold, der im Rahmen der Viennale womöglich stundenlang über seinen Film hätte referieren können, nicht wieder seine schwergewichtige Metaebene in den Plot geholt hätte. Aus der Konstellation genrebekannter Charaktere, die allesamt nicht überraschen und tun, was von ihnen erwartet wird, entsteht somit ein Schicksalsreigen, der sein Ensemble auf gar keinen Fall in Ruhe tun lassen will, was es tun möchte. Viel zu viel steht auf dem Spiel, viel zu viel ringsherum in dieser Welt, um die sich keiner mehr schert, geht da vor sich. Es lodern Waldbrände, die kaum mehr zu kontrollieren sind, und das im Juni. Der Himmel leuchtet rot in der Nacht, das donnernde Geräusch der Löschhubschrauber lenkt Leon von seiner Arbeit ab, während Felix nur an den Strand will, um dabei Leute zu fotografieren, die aufs Meer schauen. Diese Ursuppe, die könnte bald übergehen, wenn der Klimawandel irgendwann zu seinem Ende kommt. Noch blicken wir erstaunt auf das, was sich auf rätselhafte Weise so anfühlt, als wäre es ein Naturphänomen oder eine Selbstverständlichkeit. Wie die Biolumineszenz des Meeres. Wie unbedeutend erscheint da die Qual des Virtuosen, den nächsten Bestseller zu schreiben? Doch Thomas Schubert, bekannt aus Karl Markovics fulminantem Einstand Atmen, grantelt und zwidert herum wie ein Hans Moser des 21. Jahrhunderts – zynisch, herablassend und wehleidig. Ihm zuzusehen, vertreibt die Zeit in Windeseile, weil er oft sein darf, wie wir selbst oft sein wollen, dabei aber ganz vergessen, dass es noch andere und anderes gibt, wofür es den aufmerksamen Blick braucht. Thomas Schuberts schwarzer Mann im Strom der Begebenheiten ist das von der Seele des Kreativen geredete La Linea-Männchen, dem man den Strich zum Weitergehen wegradiert.

Insofern wagt Petzold, das Künstlerdasein als mitunter etwas Irrelevantes darzustellen, in Anbetracht höher gesetzter Koinzidenzen und merkwürdiger Konstellationen. Roter Himmel wirkt wie metaphysische Mystery, wie ein Sommernachtstraum zwischen rezitierten Gedichten und Ascheregen. Einerseits ist es das, andererseits auch wieder nicht. Niemandem gelingt dieses zarte Changieren zwischen den Ebenen so beiläufig wie Petzold. Und dennoch ist es diesmal so, als würde der schon seit ewigen Zeiten filmemachende Virtuose ausnahmsweise mal selbst ein bisschen unter Druck geraten sein. So geschmeidig und leichtfüßig sich das Stelldichein am Meer auch anfühlt, so vehement bricht Petzold mit der Entrücktheit seiner Fast-Künstlerkommune. Schicksalsschläge wie bei einer Soap Opera donnern hernieder – das ist fast schon zu direkt und zu rutschfest am Schlafittchen gepackt. Aufgesetzt, will ich fast meinen. Und dann doch wieder nicht, denn das, was kommt, das ist schließlich etwas, dass man fast schon erwarten muss. Natürlich ist Roter Himmel dann nichts mehr Belangloses mehr, kein Künstlerjammern, kein Blickezuwerfen durchs Haus und am Strand. Das ist schön und gut, und auch faszinierend sowie in äußerster (Dis)harmonie dargeboten. Die Notwendigkeit aber, erhellen zu müssen, nimmt dem Drama aufgrund des zu erwarteten Unerwarteten eine gewisse Spontaneität, die sich so gut aus dem sozialen Spannungsfeld entladen ließe.

Roter Himmel (2023)

Alma & Oskar (2022)

DER HARTE UND DIE ZARTE

7/10


almaundoskar© 2023 Pandafilm


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2022

REGIE: DIETER BERNER

DREHBUCH: DIETER BERNER, HILDE BERGER, NACH IHREM ROMAN „DIE WINDSBRAUT“

CAST: EMILY COX, VALENTIN POSTLMAYR, ANTON VON LUCKE, MEHMET ATESÇI, MARCELLO DE NARDO, CORNELIUS OBONYA, TÁNA PAUHOFOVÁ, GERHARD KASAL, GERALD VOTAVA U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


A Show Biz ans Ende – so nennt sich Paulus Mankers Polydrama Alma rund um die Muse des 20. Jahrhunderts. Seit gefühlten Ewigkeiten schon hinterlässt das Enfant Terrible der österreichischen Bühnen als einer, der sich niemals nicht ein Blatt vor den Mund nehmen würde, nur um dem Mainstream zu entsprechen, mit diesem interaktiven Event sowohl hierzulande als auch in Übersee ziemlichen Eindruck. Ich selbst kam leider noch nicht in den Genuss dieser Aufführung – diese Möglichkeit hätte ich allerdings längst wahrnehmen sollen, da ist mir, so habe ich mir sagen lassen, einiges entgangen. Vor rund zwei Jahrzehnten gab es mal eine Zeit, da war Alma Mahler-Werfel in aller Munde. Neben Mankers epischem Treiben gabs da noch jede Menge Fernsehstücke, Biografien kamen auf den Markt. Alma hin, Alma her, man möchte gegenwärtig meinen, dass die eindrucksvolle und charismatische Dame, die sie gewesen sein muss, mit allen Kunstrichtungen liiert war, von der Musik eines Gustav Mahler über die architektonische Avantgarde eines Walter Gropius bis hin zu den bemalten Leinwänden eines Oskar Kokoschkas und am Ende dann Franz Werfel – der große Literat, dem wir unter anderem Die 40 Tage des Musa Dagh zu verdanken haben. Alma war immer und überall dabei, ein It-Girl der damaligen Zeit, mit allen befreundet und im Bett. Selbst auch komponierend, aber niemals malend. Eine erotische, sinnliche Muse, schwer zu greifen, schon gar nicht als Besitz zu verstehen. Eine, die ihrer Zeit als selbstbestimmte Frau voraus war und all die Männer weit hinter sich ließ, in ihrem chauvinistischen Denken, was selbiges der Frauen anging.

Obwohl die Person der Alma Mahler-Werfel eigentlich schon längst eine gewisse Omnipräsenz erreicht hat und so ziemlich von jedem, der etwas dazu zu sagen hatte, aufs Tapet gebracht wurde, ist immer noch nicht genug. Denn jetzt, jetzt ist Dieter Berner dran. Einer, der sich mit den Künstlern des österreichischen Expressionismus auskennt. Der bereits für Egon Schiele in Egon Schiele – Tod und Mädchen eine Lanze brach und nun in die derben Welten eines Oskar Kokoschka eintaucht. Für genau jene Zeitspanne, während dieser sich dessen Weg mit jener Alma Mahlers gekreuzt hat. Der Film setzt an und er endet mit einer wilden Beziehung, deren Brachialität eigentlich nur in den phantastischen Besitzansprüchen des Künstlers begründet liegt, der Mahler verteufelt und sich mit Gropius fast schon duelliert. Basierend auf dem Roman Die Windsbraut von Hilde Berger zeichnet Dieter Berner zwei Psychogramme gleichzeitig – und lässt einmal der Dame und dann wieder dem Herrn den Vorzug. Dieser abwechselnde Rhythmus tut dieser biographischen Skizze richtig gut. Es ist ein Rhythmus, der behagt, nicht anstrengt und einen erzählerischen Fluss entwickelt, von welchem man sich nur zu gerne mitreißen lässt. Weder gerät Alma & Oskar ins Stocken, noch wirken die Szenen sperrig oder verklärt – was leicht der Fall gewesen wäre, hätte man hier noch eine sphärische Metaebene eingezogen, die das knappe Stück von 88 Minuten heillos überfrachtet hätte. Doch Berner bleibt fokussiert, hält beide Charaktere nie zu weit auseinander, auf die Gefahr hin, den Film in zwei Teile zerbrechen zu lassen.

Mit Valentin Postlmayr, der sonst vorwiegend in Serien und auf Bühnen zu sehen ist, wird dieser grobschlächtige, ungestüme und obsessive Bär von einem jungen Mann lebendig genug, um ihm mit Vorsicht zu begegnen. Dieses Unberechenbare, Fanatische ist aber genau das, was Alma Mahler anziehend findet. Ihr integrer, intellektueller und berechnend leidenschaftlicher Charakter ist wie Medizin für den Avantgardisten, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg Bühnenshows hinlegt, die ihrer Zeit weit voraus sind. Emily Cox wiederum sieht der echten Alma ähnlich – ihr Spiel ist reizvoll und chargierend. Beide sind eine Klasse für sich.

Sie geben und sie nehmen: Dieser Emotionen-Pingpong unterhält als kunstgeschichtlicher Einkehrschwung mit historischen, leicht verwaschenen Bildern, einem Stück alten Wien und  verschlungenen, nackten Körpern, die an das Gemälde (und nicht den Roman) Die Windsbraut erinnern – Kokoschkas Meisterstück. Schön, dass dabei das sprachliche Kolorit auch nicht zu kurz kommt. Wenn der Künstler im ostösterreichischen Dialekt zetert und schmachtet, ist das genau jene bizarre Authentizität, die man sich als Ergänzung einer Retrospektive sehnlichst wünscht.

Alma & Oskar (2022)

Der Palast des Postboten (2018)

LEBEN IM MONUMENT

7,5/10


palastdespostboten© 2023 Polyfilm


LAND / JAHR: FRANKREICH 2018

REGIE: NILS TAVERNIER

DREHBUCH: LAURENT BERTONI, FANNY DESMARES, NILS TAVERNIER

CAST: JACQUES GAMBLIN, LAETITIA CASTA, BERNARD LE COQ, ZÉLIE RIXHON, NATACHA LINDINGER, LOUKA PETIT-TABORELLI, FLORENCE THOMASSIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Die einen bauen Luftschlösser, die anderen legen wirklich Hand an. Kaum zu glauben, dass sich diese Geschichte wirklich so zugetragen hat. Ein einfacher Postbote vom Land, der sich ohnehin schon sichtlich schwertut, sozial zu interagieren, setzt sich eines Tages in den Kopf, für seine Tochter einen Palast zu bauen. Natürlich, werden viele dieses Vorhaben nicht ohne Sarkasmus kommentieren. Gerne in der Sandkiste, werden andere sagen. So viel Schnapsidee kann nicht gut gehen, mit praktisch null Ahnung von der Materie lässt sich wohl kaum zur Tat schreiten. Joseph Ferdinand Cheval tut es trotzdem. Weil Schnapsideen die wahren Ideen sind. Weil das völlig Absurde, von welchem alle anderen, die meinen, mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen und sich nach der Decke strecken zu müssen, tunlichst abraten, genau das ist, worauf es im Leben ankommt. Wäre Cheval bereits beim ersten Versuch seiner Liebsten, ihn davon abzubringen, tatsächlich ihrem Rat gefolgt, wäre die Welt um das einzige naive Baukunstwerk ärmer.

Wie hat Michelangelo noch gleich so treffend formuliert? Die Figur war schon in dem rohen Stein drin. Ich musste nur noch alles Überflüssige wegschlagen. Und Steine, die gibt es überall und kosten nichts. Auch Kalk und Wasser ist überall zu finden. Somit konnte es losgehen. Wir schreiben das Jahr 1873, und Cheval – der Inbegriff eines Postboten mit dichtem Schnauzer, korrektem Gang und einer Gewissenhaftigkeit, die ihresgleichen sucht – trifft auf seine zukünftige Geliebte Philomène, nachdem seine erste Frau gestorben und sein Sohn in die Obhut von Verwandten gebracht worden war. Mit Cheval warm zu werden, das würde sicherlich niemandem leichtfallen: Der Mann ist verschlossen, scheint autistisch veranlagt. Gefühle zu vermitteln scheint für ihn unmöglich, doch Philomène nimmt ihn, wie er ist. Auf Cheval ist schließlich Verlass. Und als Töchterchen Alice zur Welt kommt, kann der Postbote gar nicht anders, als seinen Triumph, Vater zu sein, in Form eines Bauwerks auszudrücken. Dabei entsteht etwas absolut Einmaliges: ein fantastisches, surreal anmutendes Schloss, inspiriert aus fünf verschiedenen Baustilen – ein Palast voller Fabelwesen, Zapfen, Tropfen, Figuren und Mosaiken. Mit verschlungenen Gängen, kleinen und großen Toren, Türmen, auf denen Türme sitzen. Ein Konstrukt, das so aussieht, als wäre es stetig in Bewegung, als wäre es amorph und würde neue Gestalten gebären, so viel lässt sich beim ersten Mal übersehen, was Cheval in den Sinn kommt, darzustellen. Es wird 33 Jahre brauchen, bis das Kunstwerk seine Vollendung findet. Jahrzehnte und die ganze Brutalität eines Lebens, das nicht bereit ist, Cheval mehr zu geben als die Möglichkeit, das Unmögliche zu realisieren.

So staunend und respektvoll wie jeder Besucher, der sich diesem in Hauterives im südlichen Frankreich gelegenen und immer noch zu besichtigenden Kunstwerks nähert, will auch Nils Tavernier über Cheval und sein Leben berichten. Biografien wie diese, die noch dazu zur Entstehungsgeschichte einer denkwürdigen Arbeit werden, haben es nicht notwendig, die kreativen Eskapaden eines Filmemachers auch noch mittragen zu müssen. Tavernier nimmt sich zurück und wird zu einem Fotografen des 19. Jahrhunderts, der sein Werk genauso gut in Schwarzweiß hätte drehen können. Seine Bilder sind unprätentiös und schlicht, die Dramaturgie folgt einer konventionellen Chronologie der Ereignisse und wagt dabei auch des Öfteren große Zeitsprünge, die für die Essenz der Geschichte legitim scheinen. Ein ganzes Leben in einen Film zu packen ist sowieso unmöglich. Und so hat Tavernier Mut, Dinge wegzulassen, seinen Film zu entschleunigen und Bilder zu vermitteln, die neben der verblüffenden Architektur einer Galerie historischer Aufnahmen gleichkommt, in welcher Jacques Gamblin als liebenswerter Sonderling mit Bravour zwischen Rain Man, Jaques Tati und der Verbissenheit legendärer Renaissancekünstler oszilliert.

Der Palast des Postboten ist aber nicht nur erfrischend klassisch in seiner Erzählweise, sondern auch, fernab jeglicher Sentimentalitäten oder gar des Kitsches, enorm berührend. Was Cheval ertragen muss, und womit er gleichzeitig beschenkt wird, lässt sich als beeindruckendes Plädoyer für die heilsame Kraft der Kreativität und des Schaffens verstehen.

Der Palast des Postboten (2018)

Tár (2022)

AUS DEM TAKT GERATEN

5/10


tar© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION: TODD FIELD

CAST: CATE BLANCHETT, NINA HOSS, NOÉMIE MERLANT, JULIAN GLOVER, MARK STRONG, SOPHIE KAUER, ALLAN CORDUNER, MILA BOGOJEVIC, ADAM GOPNIK U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Wann geht’s denn endlich los? Eine Frage, die sich nach einer gefühlten halben Stunde Podiumsdiskussion mit Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár durchaus stellen lässt. Wir haben das nach Abspann aussehende Intro gesehen und folgen nun fachkundigen Fragen, die mit Sicherheit das musikaffine Publikum, insbesondere für Klassik, interessieren wird. Mahler hin, Mahler her, es fallen diverse Namen wie Claudio Abbado, Karajan, Bernstein und Furtwängler. Die Virtuosin zeigt sich gesprächsbereit und engagiert. Ist freundlich, aber bestimmt. Ein Star der Musikszene eben. Ganz oben am Zenit des Schaffens, inklusive Autobiographie und allen wichtigen Preisen, die man nur so abräumen kann – so jemand nennt sich EGOT. Tár ist ein Mensch, der sich dadurch definiert, für die Kunst zu leben und Teil der Kunst zu sein. Über eine halbe Existenz hinweg errichtet sie ihr eigenes strenges, prinzipientreues, fast schon dogmatisches Königreich. Genau so geht klassischer Ruhm.

Nach dem Abarbeiten von Társ künstlerischem Lebenslauf und Verweisen zu möglichen Vorbildern geht Todd Fields Beobachtung ihres Alltags weiter. Und langsam formt sich der Charakter einer selbstbewussten Größe, die ihrem streng durchgetakteten Terminkalender folgt, den ihre persönliche Assistentin Francesca (Noémie Merlant, grandios in Portrait einer jungen Frau in Flammen) schon im Schlaf herunterrasseln kann. Ohne Francesca wäre Tár selbstredend aufgeschmissen, doch im Idealfall soll sich ein Künstler nur auf seine Kunst konzentrieren. Vergessen darf er dabei nicht, auch sozial integer zu bleiben. Tár versucht es, was sich manchmal besser, manchmal schwieriger gestaltet. Es sind die Opfer, die eine Weltberühmtheit bringen muss – es ist der Fokus auf das Perfektionieren schwieriger Stücke vorzugsweise von Mahler oder Beethoven. Das Ensemble des Orchesters ist da nur Werkzeug. Ein liebgewonnenes Werkzeug. Und Tár tut, was sie kann. Vermeidet eklige Arroganz, vergisst manchmal, die ihr zu Diensten Stehenden entsprechend zu würdigen, hat nur das Ziel der Vollendung ihres Schaffens im Blick. Wer sich darauf einlässt, muss scheinbar wissen, wie so jemand tickt.

Und dann passiert das, was Promis manchmal passiert: Tár gerät in Misskredit. Zu Recht oder nicht, wen juckt das schon. Jedenfalls gerät ihre Welt aus den Fugen, nachdem Tár beschuldigt wird, mit dem Suizid einer ehemaligen Musikerin aus ihrem Mentoring-Programm Accordion Fellowships etwas zu tun zu haben. Sexuelle Ausbeutung? Machtmissbrauch? Alles nur Vermutungen, Andeutungen und vage What if-Konstrukte, denen sich Tár nun ausgesetzt sieht. Mit diesem Dilemma unterliegt bald auch ihre Wahrnehmung einer Verzerrung, die Wirklichkeit hat kaum mehr gute Erklärungen parat. Ihr soziales Umfeld zeigt ihr die kalte Schulter, Mentoren und Kollegen üben sich im Schuldspruch aufgrund eines Verdachts, der sich niemals erhärtet. Klar ist der Stern Társ daraufhin auf Sinkflug. Doch eine, die schon alles gehabt hat, muss sich nicht zwingend an einen Zustand klammern, der längst in einen Erfolgstrott verfallen ist.

Der für 6 Oscars nominierte Streifen und nach Little Children Todd Fields erste Regiearbeit nach 16 Jahren ist Arthouse-Kino, welches sich in seiner eigenen Themenwolke – nämlich in der Welt der Klassik und jener, die sie interpretieren – zu sehr bequem macht, um heraustreten zu wollen. Der Schritt in ein anderes Genre als das des Künstlerdramas ist zu zögerlich, um ihn letztendlich getan zu haben. Das Schauspiel von Cate Blanchett hätte es wohl nicht verändert, denn sie genügt sich und dem Publikum vollkommen. Es gelingt ihr, eine Figur mit Biografie zu erschaffen, und noch dazu eine, die man weder verurteilen noch anhimmeln kann – bewundern vielleicht schon, ob ihres Könnens und ihrer Tatkraft. Zu so einer Figur gehören Manierismen und Verhaltensweisen, die aber nichts Pathologisches an sich haben und später auch nicht haben werden. Nehmen wir mal Natalie Portman in Black Swan. Darren Aronofsky hat da viel energischer mit anderen Genres kokettiert, sein Ballettthriller wurde zum polanski’schen Horror, Portman zur Furie. Tár mag zwar auch manchmal austicken, doch richtig manisch wird sie nie. Insofern bleibt Todd mit seiner Halbgöttin im Hosenanzug auf dem Boden, schickt sie vielleicht manchmal durch entrische Gänge, die im Dunklen liegen, will sie aber letztendlich nirgendwo einordnen. Weder als Soziopathin noch als Opfer des Ruhms. Was zur Folge hat, dass bis auf Blanchetts Figur alle anderen Charaktere schemenhaft herumspuken. Genauso vage bleibt die mysteriöse Vergangenheit einer Dreiecksbeziehung und der Stein des Anstoßes, der Problemfall selbst, um welchen sich Társ Schicksal rankt. Reduziert auf Erwähnungen im Gespräch, die man leicht überhören kann, bleibt der Kern des Plots zu volatil, um jene Gewichtigkeit zu erlangen, die er hätte haben sollen. Tár als Film gefällt sich zu sehr in seiner Fachsimpelei und verlässt sich fast ausschließlich auf den Inhalt seiner Dialoge. Todd widersteht dem Versuch, Társ Charakter aus ihrer Reaktion auf die Umstände zu zeichnen, sondern formt sie bereits außerhalb der Geschichte, was dieser viel zu viel Zeit abringt. Das, was interessant ist, kommt als beiläufige Andeutung eines möglichen Skandals zu kurz. Obwohl überall hoch gelobt, empfinde ich Tár als ein Werk, das sich in seinen Prioritäten verpeilt.

Tár (2022)

The Meyerowitz Stories (New and Selected)

UND TROTZDEM IST ES FAMILIE

7,5/10


themeyerowitzstory© 2017 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2017

BUCH / REGIE: NOAH BAUMBACH

CAST: ADAM SANDLER, DUSTIN HOFFMAN, BEN STILLER, ELIZABETH MARVEL, EMMA THOMPSON, ADAM DRIVER, GRACE VAN PATTEN, DANIEL FLAHERTY, ADAM DAVID THOMPSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Es stimmt nicht, dass Adam Sandler bis vor nicht allzu langer Zeit nur für seichte Unterhaltung zu haben war, vorzugsweise für infantile Komödien, die keinerlei schauspielerisches Engagement nötig haben. Es stimmt wohl eher, dass Adams Sandler schon seit jeher offen war für richtig gutes, anspruchsvolles Kino. So zum Beispiel spielte dieser in Paul Thomas Andersons Liebesdrama Punch Drunk Love die Hauptrolle – würde Anderson Adam Sandler wohl besetzen, würde er nicht wissen, dass dieser auch wirklich das Zeug für gewichtige Rollen hat? Von irgendwoher wusste er es, und Noah Baumbach wusste es später wohl auch. Oder er hat Andersons Film gesehen. Jedenfalls hat der gerne als naiver Underdog dargestellte Komiker auch andere Seiten. Und schätzt auch Rollen, die Charaktere darstellen, die mit sich selbst nicht im Reinen sind – die sich selbst im Weg stehen oder an Vergangenem nagen müssen. Die vielleicht die Gier übermannt, wie in Der schwarze Diamant. Oder mit dem eitlen Bruder auf die „Blutwiese“ geht, wie in The Meyerowitz Stories (New and Selected).

Der, mit dem sich Sandler auf dem Rasen wälzt, heißt Ben Stiller. Lange schon nichts gehört von ihm. Noch stiller ist’s um Dustin Hoffman geworden. Aber gut, dieser Kapazunder hat seinen Ruhestand längst verdient, seine Karriere hinter sich und bleibt auf ewig nicht nur der Rain Man, sondern vielleicht auch Tootsie, Spielbergs Hook oder der eigenbrötlerische Bildhauer Harold Meyerowitz, der das Leben eines erfolgreichen und hofierten Künstlers gelebt hat, und der für seine drei Kinder kaum jemals mehr übrig gehabt hat als kritikvolles Feedback zu deren Lebenswandel. Gut, entweder man lässt sich mit den Defiziten aus der Kindheit mitreißen – oder man stemmt sich dagegen. Ben Stiller als Matthew Meyerowitz hat sich dagegengestemmt und wurde erfolgreich. Bruder Danny eben weniger, der hat nie wirklich gearbeitet, konnte nie aus sich herauswachsen oder aus dem musikalischen Talent irgendetwas Sinnvolles lukrieren. Die Diskrepanz zwischen den beiden ist gegeben, den Respekt vor dem dominanten Vater aber haben sie alle. Auch Schwester Elizabeth, introvertiert und verschroben bis dorthinaus. Sie alle treffen sich spätestens dann, wenn der Patriarch darniederliegt.

Mit dieser charmanten Dysfunktionalität aus Eitelkeiten, Missgunst und der Suche nach Anerkennung lässt sich arbeiten, lassen sich viele Erkenntnisse schöpfen und schauspielerische Spitzenleistungen einfordern, die Noah Baumbach aus dem fiktiven Portrait einer jüdischen New Yorker Intellektuellenfamilie schält. Dazu gehören nicht nur die drei Geschwister, auch die Next Generation als Dannys Tochter gehört dazu, die sich in obszöner Filmkunst übt, unvergessene Ex-Ehefrauen und Harolds ehemalige Künstlerkollegen. Das klingt vielleicht ein bisschen beliebig, so in das Leben fremder Figuren hineinzuplatzen, um ihnen auf den Zahn zu fühlen. Und das wäre es vielleicht auch, hätte Noah Baumbach nicht verstanden, dass Familienportraits nur dann dramaturgisch spannend bleiben, wenn das Ungleichgewicht zwischen den Figuren durch Geben und Neben stets in Balance gehalten werden muss. Im Mittelpunkt dieses Ringens steht nicht zwingend eine Ich-bezogene autobiographische Figur wie bei Woody Allen, sondern das Gewicht liegt auf allen Beteiligten gleichermaßen. Sandlers larmoyante, aber auch etwas resignierende Art und Weise, mit der er die Ursachen seiner Lebenslage ergründet, ist Schauspielkino, das sich auf Augenhöhe mit jener Dustin Hoffmans begibt, der herrlich selbstgefällig und lustvoll die Attitüden eines vergessenen Künstlers durch den Kakao zieht, ohne aber eine Parodie daraus zu machen. Baumbach hat ein Händchen für verbale Konflikte – bewiesen hat er dies zuletzt in seinem oscarnominierten Ehedrama Marriage Story mit Scarlett Johansson und Adam Driver.

Man könnte Adam Sandler und seiner Familie tatsächlich stundenlang zuhören. Man ist als Zuseher in dieser notgedrungenen familiären Gemeinschaft fast wie ein entfernter Verwandter, der doch irgendwie alles weiß über diese verpeilte Sippschaft, die sich einerseits selbst sehr leidtut, andererseits aber mit Mitgefühl geizt. Der Weg zum gegenseitigen besseren Verständnis ist eine filmische Genussmeile, und als eine Komödie zu bewundern, die durch ihre subtile Situationskomik scheinbar ausweglose Lebenssituationen erträglicher macht.

The Meyerowitz Stories (New and Selected)