The Piano Accident (2025)

DURCH HALS- UND BEINBRUCH ZUM STAR

6/10


© 2025 Diaphana Distribution


ORIGINALTITEL: L’ACCIDENT DE PIANO

LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: QUENTIN DUPIEUX

KAMERA: QUENTIN DUPIEUX

CAST: ADÈLE EXARCHOPOULOS, JÉRÔME COMMANDEUR, SANDRINE KIBERLAIN, KARIM LEKLOU U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Um Gottes Willen, bitte nicht nachmachen! Obwohl ihr damit vielleicht das große Geld scheffeln könntet, keine Frage. In den Sozialen Medien ist der verrückteste Content gerade noch gut genug, um Likes und Follower zu sammeln und Einfluss auf die Wirtschaftslage diverser Konzerne zu haben, die all diese Influencer so sehr zweckinstrumentalisieren, dass diese zumindest ihre Villa auf den Bahamas kaufen können. Dass diese Parallelwelt im Netz so sehr vor sich hin krankt, dass man ihr längst die letzte Ölung hätte geben müssen, ist uns allen, die hier mit einer gewissen Achtsamkeit darauf blicken, sowieso längst klar. Selbstverstümmelung und Suizid vor laufender Kamera, womöglich zu Tode geprügelt von anderen, die nur deswegen zuschlagen, weil sensationsgeile Follower ihr Erspartes hinterlassen, veranlasst heutzutage niemanden mehr, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Nun ja, jeder ist seines Glückes Schmied, erschreckender ist viel mehr, dass dieser Schmied, der sein Glück mit dem Hammer malträtiert, tatsächlich genug Leute findet, die so therapiewürdiges Zeug wie dieses auch pushen. Das war schon bei den alten Römern so, das war schon beim Scheiterhaufen so, als die Hexen brannten, Nicht umsonst wurden Hinrichtungen öffentlich abgehalten, um die Lust an der Show zu bedienen.

Soziopathie in Reinkultur

Das alles sind Dinge, die sich Quentin Dupieux ähnlich überlegt haben muss. Am meisten beschäftigt dürfte ihn die Frage haben, was das für Leute sind, die sich vor laufender Kamera selbst quälen, um groß rauszukommen. Sein Resümee: Massiv gestörte Individuen.

So eine Soziopathin ist Magalie, in hinreißender Exaltiertheit dargeboten von einer komödiantisch versierten Adèle Exarchopoulos mit unsortierter Bubenfrisur und Zahnspange. Ihre Besonderheit nebst ihres unverwechselbaren Aussehens: Magalie verspürt keinen Schmerz. Sie kann sich also antun, was sie will, es juckt sie so wenig, dass diese Abstumpfung ihrer Sensibilität auch dazu führt, das nichts und niemand auf dieser Welt auch nur irgendeinen Wert besitzt, schon gar nicht ein Menschenleben. Und schon gar nicht das eigene. Denn wie kann es denn sonst anders sein, dass Magalie in zehnsekündlichen Videos unter anderem sich selbst in Flammen setzt, von Dächern springt, unter Waschmaschinen zu liegen kommt und sich mit spitzen Gerätschaften impft. Die Community baut sich auf wie ein Tsunami, bald ist Magalie weltberühmt, auch wenn sie alle Nase lang einen Gips trägt. Immer extremer werden die sprichwörtlichen Fallbeispiele, bis die Sache mit dem Klavier dann doch nicht so läuft wie vorhergesehen – und Magalie untertauchen muss. Diesen Schachzug hält eine Journalistin nicht davon ab, als erste mit dem misanthropischen Superstar ein Interview führen zu wollen, schließlich hat sie gute Karten in der Hand, denn sie kennt jedes Detail über die Sache mit dem Klavier. Magalie muss wohl oder übel mitspielen, obwohl sie das alles abgrundtief hasst.

So zynisch ist Social Media

Diese Gehässigkeit in Dupieux brandneuem Film ist zu zynisch, um sie ernstzunehmen, andernfalls wäre eine Figur, wie Exarchopoulos sie spielt, kaum zu ertragen. Wir wissen: Dupieux beherrscht den surrealen, völlig überspitzten Wahnsinn so gut wie kein anderer, denn wem wäre sonst noch in den Sinn gekommen, einen mordenden Autoreifen als den Gummi-Hitcher aus der Taufe zu heben oder Lederjacken den Geist ihres Trägers manipulieren zu lassen (siehe Monsieur Killerstyle). Es sind zum Haareraufen schräge Themen, schwarzhumorig und von derber Brutalität. The Piano Accident macht aber mehr Unwohlsein als bei seinen Vorgängern, weil sich trotz des Absurden die Realität ähnlich anfühlt. Influencer ziehen ihr Ding vor laufender Kamera genauso durch wie Magalie es tut. Hypes und Trends, so destruktiv sie auch sein mögen, finden Anklang bei Menschen, die sich selbst und ihre Umwelt nicht imstande sind, zu spüren.

Die Wahrheit liegt bei Dupieux diesmal sehr nah am Irrsinn, und selten findet man im Arthouse-Kino dermaßen bösartige Figuren wider, die in ihrer sensorischen und empathischen Verkümmerung viel grässlicher sind als jedes Frankenstein-Monster. Ob die Medien sie dazu gemacht haben oder sie selbst schon so war: Während zum Streiten immer zwei gehören, bedingt auch hier das eine das andere.

The Piano Accident (2025)

Wilder Diamant (2024)

DAS ZEUG ZUM STAR

7,5/10


© 2024 Silex Films

ORIGINALTITEL: DIAMANT BRUT

LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: AGATHE RIEDINGER

KAMERA: NOÉ BACH

CAST: MALOU KHEBIZI, IDIR AZOUGLI, ANDRÉA BESCOND, ASHLEY ROMANO, ALEXIS MANENTI, KILIA FERNANE, LÉA GORLA, ALEXANDRA NOISIER, ANTONIA BURESI U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN

 

Vor einigen Jahrzehnten waren die Wege zum Ruhm noch gänzlich andere. Es gab kein Internet, folglich keine sozialen Medien, folglich auch keine Smartphones, die einem den Alltag diktieren und andere mit ihrer Reel- und Beitragsschwemme unterjochen. Berühmt zu werden scheint zumindest rein theoretisch so leicht wie nie zuvor. Man muss dafür nur omnipräsent sein, und zwar auf jenen Plattformen, auf welchen sich die Zielgruppe tummelt. Facebook, einst Vorreiter und nunmehr Plattform für ältere Semester, lässt Instagram und Tiktok die Welt regieren – genau dort will Liane (ein Naturtalent: Malou Khebizi) ganz groß rauskommen. Fragt sich nur, als was. Natürlich als Influencerin, als It-Girl, als Selbstdarstellerin eben, die sich in knappen Klamotten präsentiert. Und noch etwas braucht es, um gefeiert zu werden: Einen Platz im Olymp einer Reality-Show. Nur wer entdeckt sie? Was kann sie tun, um entdeckt zu werden? Und wie weit will und kann sie dafür gehen?

Der Traum, scheint in greifbare Nähe zu rücken, als tatsächlich eine Casting-Agentin bei ihr anruft. Das Glamour-Elysium, das Sprungbrett in märchenhafte Höhen – es erhellt mit ihrer Strahlkraft bereits Lianes Antlitz. Im Schatten liegt dabei noch die Realität: Eine Rabenmutter, eine kleine Schwester, sozialer Missstand irgendwo an der Cote D’Azur, wo das Meer der Möglichkeiten freien Horizont bietet und altersbedingte Teenager-Romantik in einem Umfeld wie diesen vom eigentlichen Ziel (un)willkommener Weise ablenkt.

Autorenfilmerin Agathe Riedinger, die in die inszenatorischen Fußstapfen von Andrea Arnold (zuletzt mit Bird im Kino) treten will, hat ihr Handwerk gelernt – und auch sonst die authentisch-grobkörnige Methodik ihres Vorbildes übernommen. Was ihr dabei hoch anzurechnen ist: Obwohl sie von einem Mädchen erzählt, das sich durch die Gunst ihrer Community definiert, lässt sich Riedinger in ihrem ungeschönten Social-Media-Sozialmärchen von keinem Bias vereinnahmen. Denn schließlich verhält es sich ja so: Influencer, Social Media – auf diese Weise Erfolg zu lukrieren, hat, über den gesellschaftlichen Kamm geschoren, wohl immer einen bitteren Nachgeschmack. Wie leicht sich mit diesen Kanälen Schindluder treiben oder ganze Existenzen zerstören lässt, wissen wir. Dieses Zeug scheint Gift, die Geißel des Informationszeitalters, und gerade weil aber Menschen wie Liane all die Werkzeuge zum Erfolg selbst in der Hand haben können, ist die Versuchung doch größer als jede Warnung, die man zu hören bekommt. Ob dem wirklich so ist, dazu will Riedinger nichts sagen. Nur so viel: Ich könnte ein Star sein, also holt nicht ihr mich heraus, sondern ich mich selber.

Wie Jungstar Malou Khebizi sich in ihre Rolle wirft, ist intensiv und kompromisslos. Schließlich strebt sie in ihrer Rolle bei Weitem nicht an, gefallen zu müssen. Schon ganz zu Beginn des Films, wenn Liane im Zug von einem Jungspund verbal belästigt wird, gibt der Teenie ordentlich kontra. Ihr Aufzug, ihr Sinn für Schönheit, der mag im Auge des Betrachters liegen. Hot Pants, enge Blusen, dahinter eine weitestgehend geglückte Brust-OP, vollzogen dank eigenem Erspartem. Andere mögen dieses Aussehen wohl als billig bezeichnen, anderen wiederum gefällts. Liane zumindest, sie mag, wie sie ist. Doch ist das wirklich so? Oder suggeriert sie sich selbst, so sein zu wollen, weil nur dieser selbstauferlegte Sexismus sie zu ihrem Ziel führt? Im Laufe der Geschichte offenbaren sich so einige Wahrheiten und Hintergedanken. Die anfangs unnahbare, trotzige High-Heels-Adoleszente offenbart dann doch ihr Selbst, ihre innere Befindlichkeit, ihre Rezeptur zu dieser Beharrlichkeit, die zu einem besseren Leben voller Glamour führen soll. Viele werden das nicht verstehen, werden darin keinen Wert finden. Doch was tangiert Liane unsere Meinung? Die Akzeptanz, die Riedinger ihrer Figur zukommen lässt, ist bewundernswert. Frei von Vorbehalten und einem destruktiven Schema, das moralinsauer über die Social-Media-Amoral herziehen könnte, blickt Wilder Diamant völlig objektiv, vorurteilsfrei und liebevoll auf eine hart zu ertragende Existenz, die ihren Kaninchenbau in der Smartphone-Welt verortet. Von dort gelangt Liane in ein Wunderland – oder eben auch nicht.

Zu akzeptieren ist es längst, dass das Zeitalter der Likes und Followers zumindest gegenwärtig den Fuß fest in der Tür zu unserem sozialen Leben hat. Liane will da hindurch. Ob freier Wille oder einzige Chance – Wilder Diamant zeichnet das Portrait einer belastungsfähigen Kämpferin, die nichts anderes in ihrer Hand hat als ihr Smartphone, womit sie sich gegen ihr vielleicht vordefiniertes Schicksal erwehren kann.

Wilder Diamant (2024)

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

DER AFFE IM ROCKSTAR

8,5/10


BETTER MAN© 2024 Tobis Film GmbH


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, USA 2024

REGIE: MICHAEL GRACEY

DREHBUCH: OLIVER COLE, SIMON GLEESON, MICHAEL GRACEY

CAST: ROBBIE WILLIAMS, JONNO DAVIES, STEVE PEMBERTON, ALISON STEADMAN, DAMON HERRIMAN, KATE MULVANY, RAECHELLE BANNO, JAKE SIMMANCE, LIAM HEAD, JESSE HYDE, ANTHONY HAYES U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Echt jetzt? Jetzt schon ein Biopic über Robbie Williams? Um die Werbetrommel zu rühren für eine neue Scheibe, eine neue Tournee? Oder nur, um sich wichtigzumachen? Oder gar nur, um sich selbst zu bemitleiden? Und dann noch das: Der Sänger stellt sich selbst als Affe dar. Klingt nach Klamauk, nach mutwilliger Exzentrik. Muss ich nicht sehen, dachte ich mir, zu dem Zeitpunkt, als ich in den Film-News von einem Projekt gelesen hatte, das sich Better Man nennt. So eine Ankündigung muss aber erst mal sickern. Denn Musiker-Biopics gibt es mittlerweile zuhauf. So richtig begonnen hat das mit Bohemian Rhapsody, dann haben Studios Blut geleckt. Dann gab es Elton John, Amy Winehouse, Aretha Franklin, Miles Davis, Bob Marley, Whitney Houston und noch viele andere dazwischen. Muss sich einer wie Robbie Williams tatsächlich so derart in den Vordergrund rücken? Hat er denn das Format all dieser genannten Ikonen?

Meine Skepsis gegenüber Better Man und gegenüber Robbie Williams Idee, seine Memoiren auf eine Weise zu erzählen, die an Planet der Affen erinnert, sollen sich letzten Endes bis auf das letzte Molekül zerstreuen. Denn das Beste, was einem Filmfreund passieren kann, ist, im Kino überrascht zu werden. Überrumpelt, eines Besseren belehrt und von einem Experiment, das so noch nicht erprobt wurde, überzeugt. Better Man ist so ein Film, der das alles zusammenbringt. Und das liegt an diversen Parametern, die dafür sorgen, wie noch nie zuvor einer Berühmtheit aus dem Showbiz über das Medium Film so sehr nahezukommen wie in Michael Graceys fulminantem Geniestreich, der viel mehr psychologisches Drama als simple Biografie sein darf.

Robbie Williams erzählt in Better Man erstens, und das lässt schon mal einiges an Nähe zu, auf selbstkritische und ironische Weise über sich selbst. Das ist Autobiografie in seiner reinsten Form. Und nicht nur das: Williams hat den Mut, über sein Tun und sein Leben in einer Ehrlichkeit zu reflektieren, die fast schon zu intim, dadurch aber umso aufrichtiger erscheint. Er macht keinen Hehl daraus, sich als besten Entertainer überhaupt zu sehen. Das ist das, was er anstrebt und angestrebt hat. Er macht aber auch kein Hehl daraus, zuzugeben, mit einer ganzen Reihe psychischer Probleme zu hadern. Die da unter anderem wären, sich selbst als dismorph wahrzunehmen. Das führt dazu, dass sich Williams selbst als etwas sieht, das einem Menschenaffen gleicht. Als eine Außenseiterfigur, einen Nonkonformisten, als niederes Wesen voller Minderwertigkeitskomplexe und mangelndem Selbstwert. Michael Gracey (Greatest Showman) wagt daher den Clou des Jahres: Dem Star kein schauspielerisches Lookalike zu verpassen, sondern ihn vollends jedweder Identifikation zu berauben. Das Gesicht des Affen könnte eine Maske sein, ist aber das innewohnende, zerrissene und entfremdete Ich einer berühmten Persönlichkeit, die in den Momenten des Films nicht als solche gesehen werden will, sondern als rein abstrakte Impression eines Charakters, der sich offenbart.

Doch weder mit aufgesetztem Zynismus noch mit allürenhafter Wehleidigkeit will Williams sich selbst auf den Grund gehen. Seine Lebensgeschichte passiert zwar allerlei Stationen des Entertainment-Lebens, blickt aber genauso vehement zwischen den Ankerpunkten eines Curriculum Vitae, um begrifflich zu machen, wie wenig sich das Seelenleben einer Berühmtheit von jenen anderer Menschen, die in der urbanen Anonymität verschwinden, unterscheidet. Williams sieht und empfindet sich selbst als Affe. Mit frechem Charme und einer gewissen Erdung blickt der Einzelgänger, der er ist, zurück auf ein Schlachtfeld an Fehlentscheidungen, abgemurksten Dämonen und in Koks und Alkohol ertrunkener Zweifel. Gracey findet dafür grobkörnige, erdige Bilder, mal geschnitten in schnellem Stakkato, manchmal ruhend. Kongenial eingeflochten sind dabei Williams bekannteste Songs, dabei zeigt der Mann nicht nur, woran er scheitert, sondern auch, woran er wächst. Das Talent zum Entertainment, sein Gespür fürs Songwriting sind die Skills eines ambivalenten Helden, dem so vieles zu schaffen macht und der so vieles schafft.

Better Man ist großes, überwältigendes Kino. Eine Neuordnung des Biopic-Genres in Richtung Psycho-Allegorie. Ansatzweise war diese Methode bereits in Rocketman vorhanden, doch so vehement avantgardistisch und revolutionär wie in diesem Film gab es das noch nicht. Als spätes Filmhighlight des Jahres 2024 bleibt Better Man als WOW-Erlebnis so sehr in Erinnerung, als hätte man Robbie Williams tatsächlich nicht nur kennengelernt, sondern wäre auch sein Freund geworden.

Better Man – Die Robbie Williams Story (2024)

MaXXXine (2024)

VOM STAR, DER ÜBER LEICHEN GEHT

6,5/10


maxxxine© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: TI WEST

CAST: MIA GOTH, ELIZABETH DEBICKI, KEVIN BACON, MOSES SUMNEY, MICHELLE MONAGHAN, BOBBY CANNAVALE, GIANCARLO ESPOSITO, HALSEY, LILY COLLINS, SOPHIE THATCHER, CHLOE FARNWORTH, SIMON PRAST U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Jetzt, nachdem die letzten Takte von Kim Carnes Klassiker Bette Davis Eyes verklungen sind und die Kameradrohne die an den Hills angebrachten hollywoodgleichen Lettern, welche den Namen Maxxxine bilden, umrundet hat, lässt sich rückblickend feststellen, dass Ti Wests ironisch-blutige Starruhm-Trilogie sehr wohl eine Klasse für sich darstellt. Das Gesamtkonzept rund um die nach Starruhm gierende Maxine Minx, vormals Miller, hätte jedoch raffinierter ausfallen können. Es hat den Anschein, als hätte West den Bogen, den er spannt, nicht auf einmal erdacht. Als wäre er erst nach dem Erfolg von X dazu bewogen worden, das Schicksal seiner Muse namens Mia Goth weiterzuspinnen. Dazu zählt auch der Blick zurück in die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, um die Biografie der mordenden Alten aus X überhaupt erst zu erzählen. Der Mittelteil dieses Gesamtkunstwerks ist dann auch narrativer wie filmischer Höhepunkt. Zwischen Judy Garland-Technicolor-Satire und psychopathisch-sympathischem Killerinnenportrait gelingt West ein liebevoll ausgestattetes, wildes Gemetzel mit einer manisch grinsenden Hauptdarstellerin, deren Lieblingswerkzeug, die Mistgabel, gerne zweckentfremdet wird, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Oder einfach nur, um zu töten, weil es Spaß macht. Diese kranke Figur der Pearl ist erfrischend anders, was nicht heißen soll, dass Maxine, die sowohl in X als auch eben im Finale Grande ihrer Frau steht, nicht auch genug wehrhaftes Verhalten besitzt, um lästige Sexualstraftäter oder verquere Familienmitglieder zur Rechenschaft zu ziehen. Das tut sie auf höchst schmerzhafte Weise. Und es wäre nicht Ti West, wenn das Ex-Porno-Starlet, welches sich zu Höherem, Größerem und Glamouröserem berufen sieht, den toxischen Mann im wahrsten Sinne des Wortes an den Eiern hat.

Mit diesem patriarchalen, gewalttätigen Wahnsinn und dem Wahnsinn an sich, der ja nicht erst seit David Lynchs Mulholland Drive und Quentin Tarantinos Once Upon a Time … in Hollywood längst zu den Charakteristika dieser realen Traumwelt gehört, setzt sich MaXXXine mit schillerndem Detailreichtum auseinander und gönnt sich im Vergleich zu den anderen beiden Teilen die größte Leichtigkeit. Das funktioniert auch formschön durch das Einbeziehen sämtlicher Filmzitate wie Hitchcocks Psycho oder Polanskis Chinatown, womit wir – Apropos Polanski – wieder auf Tarantinos Aufarbeitung der Manson-Morde zuzrückkommen. Nicht nur von ungefähr gibt es zwischen Wests MaXXXine und Tarantinos Zeitportrait etliche Gemeinsamkeiten. Wests Versuch, das Once Upon a Time … der Achtziger aus dem Ärmel zu schütteln, gelingt phasenweise ganz gut, hinkt aber letztlich aufgrund der Tatsache hinterher, mit dem „Night Stalker“ und einer Prise Satanismus keinen ernstzunehmenden und auch nicht relevanten Unterbau einer latenten Bedrohung zu schaffen. West kann die Killer-Komponente nur schwer greifen, am besten gelingt sein Film dann, wenn Maxine trotz ihres Traumas aus Teil eins beharrlich versucht, die Gunst von Regie-Göttin Elizabeth Debicki zu gewinnen. Da braucht es gar nicht mal einen Killer von außen, denn der scheint das Szenario tatsächlich zu verwässern.

Richtig gut wird MaXXXine auch dann, wenn der kongeniale Kevin Bacon als alptraumhafte Mixtur aus Jack Nicholsons Privatdetektiv Jake Gittes und Helge Schneider die Szene betritt. Wenn Goth und Bacon aufeinandertreffen, schenken sie sich nichts, dann wird das Ganze geradezu von sarkastisch-komödiantischen Momenten durchzogen. Was aber ungenutzt auf dem heißen Asphalt des Mulholland Drive verdünstet, sind die Möglichkeiten, gewisser Horror-Banalitäten zu entgehen, indem West wohl lieber den Fokus auf Mia Goth behalten hätte, statt stilistische Versatzstücke aufzuwärmen. So prickelt der Film dann weniger nach als erhofft, doch was bleibt, ist Goths Paraderolle, die sowieso und in allen drei Episoden mit Inbrunst die Ellbogen-Leidenschaft eines ehrgeizigen Ruhmesmonsters lebt. Bette Davis hatte recht mit ihrem im Film eingangs erwähnten Zitat: In this business, until you’re known as a monster you’re not a star. Keine Trilogie bringt es letztlich geschmackvoller (und blutiger) auf den Punkt. Killer und Satanisten sind dabei nur reine Dekoration.

MaXXXine (2024)

Still: A Michael J. Fox Movie (2023)

HALLO MCFLY, JEMAND ZU HAUSE?

7/10


stillmichaeljfox© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: DAVIS GUGGENHEIM

IM INTERVIEW MIT: MICHAEL J. FOX

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Als ob es ihm wichtig wäre angesichts seiner Popularität: Dieser Mann genießt ohne Ablaufdatum mein Wohlwollen. Selten hat ein Sympathieträger wie er das Film- und Fernsehgeschehen so aufgemischt wie der ewige Junge aus der Nachbarschaft – und damit ist nicht Spiderman gemeint, denn Tom Holland punktet zwar ebenfalls mit einer gewissen Natürlichkeit, kommt aber an den one and only Michael J. Fox einfach nicht heran. Ehrlich gesagt: Das tut niemand. Hätte ich die Chance, mit einem Hollywood-Star befreundet zu sein, dann wüsste ich, es wäre er. Ich wüsste, er wäre es auch, wäre er nicht berühmt. Und auch wenn diese fiese Krankheit genannt Parkinson ab den Neunzigern sein Leben und seine Präsenz auf der Leinwand maßgeblich eingeschränkt hat: Unterkriegen lässt er sich davon bis heute nicht.

Diese Lust am Leben vermittelt interessierten Zusehern das exklusiv auf Apple TV+ erschienene, abendfüllende und dokumentarische Portrait eines aufgeweckten „Marty McFly“, der sein ganzes zurückliegendes Leben mit Staunen und ironischem Humor betrachtet. Natürlich bleibt bei Filmen wie diesem die Frage offen: Will Michael J. Fox nur so gesehen werden, wie ihn alle kennen, um ein für alle Mal mit Mutmaßungen und pressetauglichen Fehlinformationen reinen Tisch zu machen – oder lebt er dieses Jetzt-erst-recht-Motto tatsächlich?

Die besondere Kunst des Michael J. Fox lag immer darin, sein sich für ihn begeisterndes Publikum wissen zu lassen, dass das, was er vor die Kamera bringt, ungefähr jener Mentalität gleichkommt, die der Mann auch im Privatleben anwendet. Schließlich gibt es auch Koryphäen des Unterhaltungsfachs wie zum Beispiel Robin Williams, der die Komödien der Achtziger und Neunziger prägte, der aber auch ernst konnte – und tatsächlich aber, und vor allem in den späteren Jahren, wohl ein zutiefst unglücklicher Mensch gewesen sein muss, der seinem Leben durch die eigene Hand ein Ende setzte. Hier in Österreich brachte in den 60er und 70er-Jahren einer wie Maxi Böhm ganze Auditorien durch humorvolle Improvisation zum Brüllen – letztendlich starb er an gebrochenem Herzen. Michael J. Fox macht deutlich, dass gerade seine Authentizität in diesen Dingen, die Mitnahme seines Weltempfindes auf die Leinwand und ins Fernsehen, ihn deshalb so resilient gegenüber allen Widrigkeiten des Lebens werden ließ – und sei es auch das Handicap einer schweren Schüttellähmung, die eisernes physiotherapeutisches Training erfordert und einen unbändigen Willen, so zu bleiben, wie er immer war, zu sich zu stehen und es auszuhalten bis zum Ende, das noch lange nicht kommen muss. Schließlich ist Michael J. Fox nicht allein, hat er doch, und das zeigt Davis Guggenheim auf fast schon idealisierte Weise, die Beständigkeit einer treuherzigen Familie hinter sich.

Unter solchen Bedingungen lässt sich der Blick zurück auf eine Zeit, als alles noch wirklich richtig gut war und der eigene Körper das machte, was er tun soll, auch aushalten. So nimmt sich Dokufilmer und Serienmacher Davis Guggenheim, dessen von Al Gore moderierte Warnung Eine unbequeme Wahrheit 2006 schon in weiser Voraussicht den Klimawandel thematisierte, genug Zeit, um mit den im Geiste junggebliebenen und scharfsinnigen Kultschauspieler über Gewesenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu philosophieren. Der Werdegang, die ganze Karriere und der Ruhm, der ihm auch nie zu Kopf gestiegen war, erzählt sich schließlich wie das Soll eines Hollywood-Traums, angefangen von der Sitcom Family Ties (hierzulande bekannt unter Familienbande) bis zu den legendären Auftritten zu den Jahrestagen von Zurück in die Zukunft, gemeinsam mit Freund Christopher Lloyd. Solche Momente rühren dann doch, und zur Gänze schönreden lässt sich die missliche Lage eines gequälten Körpers dann auch nicht mehr. Michael J. Fox nimmt sie hin, er zeigt, was Sache ist, er zeigt auch, dass Parkinson nicht mit Alzheimer zu verwechseln ist. Er zeigt, dass er will, und meistens sogar kann. Er macht auch klar, dass das, was die Habenseite ausmacht, viel mit Zufriedenheit zu tun hat. Immer noch mehr zu wollen wäre fatal, also wählt Fox den Weg der Akzeptanz und des Stolzes. In Still: A Michael J. Fox Movie müssen Taschentücher nicht griffbereit liegen, niemals ergeht sich dieser sich selbst so achtende Öffentlichkeitsmensch in Selbstmitleid. Man könnte Guggenheims Film auch als Suche nach einer Form des Glücks betrachten – nach jenem der Fülle. Die Pro- und Contra-Liste von Fox‘ Leben ist lang, doch nur in einer der beiden Spalten häufen sich lebensbejahende Argumente, die ihm keiner mehr nehmen kann. Nicht mal Parkinson.

Still: A Michael J. Fox Movie (2023)

Back to Black (2024)

VOM WERT DES WELTRUHMS

6,5/10


backtoblack2© 2024 Dean Rogers, STUDIOCANAL SAS


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: SAM TAYLOR-JOHNSON

DREHBUCH: MATT GREENHALGH

CAST: MARISA ABELA, LESLEY MANVILLE, EDDIE MARSAN, JACK O’CONNELL, JULIET COWAN, BRONSON WEBB, ANSU KABIA, SAM BUCHANAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Janis Joplin, Jim Morrisson, Jimi Hendrix – und Amy Winehouse. Sie alle gehören, mit einem gewissen Zynismus betrachtet, zum Klub 27. Sie haben ein Leben gelebt, das nicht mal drei Dekaden gedauert hat. Sie wurden weltberühmt, Fans lagen ihnen zu Füßen, Türen und Tore waren geöffnet, und dennoch scheiterten sie daran, das, worauf es ankam, halten zu können. Im Juni 2011 starb Amy Winehouse aufgrund einer Alkoholvergiftung nach einer längeren Phase der Enthaltsamkeit, wie uns am Ende des nun in den Kinos angelaufenen Biopics letzte Zeilen informieren. Eine große Stimme, unverwechselbare Musik, und dennoch ist das, was Menschen wie Winehouse in die Geschichte eingehen lässt, eben nicht das, was ein gutes Leben wohl ausmachen würde. Ein gutes Leben, das wäre Beständigkeit, Geborgenheit und Zusammenhalt, Liebe und Treue. Back to Black sieht sich als Künstlerinnendrama weniger in der Pflicht, eine Chronik des jähen Erfolgs abzuliefern als vielmehr, den Alltagsmenschen Amy Winehouse losgelöst von all diesem Tamtam rund um ihre Person darzustellen, in der Erzählform einer Charakterstudie, die ankommt.

Back to Black setzt da an, wo alle Welt beginnt, die Stimme von Amy Winehouse zu bewundern. Manager werden hellhörig und handeln Deals mit dem Label Island Records aus, es dauert nicht lange, da schwappt der Erfolg nach dem ersten Albums Frank mit titelgebendem Meisterwerk auch nach Übersee in die Staaten über. Und wer mal, das wissen wir seit Falco, dort die Nummer Eins in den Charts erklommen hat, kann höher nicht mehr steigen. Die Talfahrt muss irgendwann folgen, denn Wundernummern, die auf der ganzen Welt gleichermaßen ins Ohr gehen, lassen sich auch nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Was Amy Winehouse aber an diesem Punkt von allen anderen Künstlern unterscheidet, die am Leistungsdruck, den Erwartungen und all der Öffentlichkeit letztlich scheiterten, sind die gänzlich anderen Prioritäten, die Winehouse gesetzt hat. So platt und pseudoromantisch es auch klingen mag, hinter all dem Tun und den Treiben von Winehouse stand am Ende nur noch ein einziger Motor. Und dieser hieß: Lover Blake Fielder-Civil (Jack O’Connell). Diese nicht gerade hellste Kerze auf der Torte und ein Freund aller Substanzen, die man illegal inhalieren kann, sollte zur großen und einzig wahren Liebe des stimmmächtigen Soulstars werden. Und auch zu dessen größter Prüfung. Mit einem wie Blake lassen sich genussvoll toxische Beziehungen leben, und es ist ja nicht so, als wäre Winehouse ein einfacher Mensch gewesen. Newcomerin Marisa Abela scheint dafür bestens geeignet, dieser komplexen, stark nach Perfektion im Lebensglück fixierten jungen Frau mit all ihren Stärken und Schwächen gerecht zu werden. Und nicht nur das: Alle Musikstücke von Amy Winehouse hat Abela selbst eingesungen, und bewundernswerterweise kommt ihre Interpretation der Lieder der Originalstimme deutlich nah.

Sam Taylor-Johnson, die mit Nowhere Boy über die Anfänge der Kultband The Beatles bereits Musikgeschichte adaptiert hat, beißt sich zum Glück nicht daran fest, Winehouses Biographie klar zu strukturieren. Die Jahre ihres Erfolges und ihres privaten Unglücks fließen ineinander, niemals ist klar, wann was wo gerade stattfindet, es sind Szenen aus einem Leben, von welchem es Bilderalben voll von Paparazzi-Fotografien geben muss, so sehr rückte die Presse Winehouse auf die Pelle. Doch selbst das, und gerade das – Ruhm, Erfolg, Geld – blieb ihr zeit ihres kurzen Lebens egal. Stand by your Woman könnte man sagen, und dazu gehört auch, sich nicht mal in für andere womöglich peinlichen Situationen aus Suff und impulsivem Verhalten zu verstellen. So gesehen war diese Musikerin, wenn man Johnsons Portrait Glauben schenken will, ein Mensch der Extreme, der lieber Pech im Spiel und dafür Glück in der Liebe gehabt hätte.

Back to Black setzt Marisa Abela, mit Turmfrisur und Augenschminke, bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit ikonisch in Szene, es ist eine Hommage an eine Jahrhundertstimme, die Lieder für die Ewigkeit intonierte und noch so viel zustande hätte bringen können, wäre die Liebe ihres Lebens jemand anderer gewesen, jemand mit Beständigkeit. Vielleicht mag man dem Film vorhalten, sich zu sehr auf seine Hauptdarstellerin verlassen zu haben, und wenn nicht auf die Hauptdarstellerin, dann auf die Musik. Rechnet man diese Faktoren weg, bleibt eine handwerklich routinierte Regie übrig, und ein Film, über den man nicht reden wird, denn worüber man einzig und allein reden wird, ist Amy Winehouse – so, als hätte man einen Nachruf gelesen, dessen sprachliche Wucht vor dem emotional aufgeladenen biografischen Notizen wohl niemals verlangt werden wird.

Back to Black (2024)

Dream Scenario (2023)

ÜBER NACHT ZUM STAR

7/10


dreamscenraio© 2023 Metropolitan FilmExport


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: KRISTOFFER BORGLI

CAST: NICOLAS CAGE, JULIANNE NICHOLSON, JESSICA CLEMENT, MICHAEL CERA, STAR SLADE, PAULA BOUDREAU, KALEB HORN, LILY BIRD, TIM MEADOWS, LIZ ADJEI U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


In der längst zum popkulturellen Erbe zählenden Fantasy-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen gibt es eine Episode, da träumen Sarah Michelle Gellar und ihre Clique jeweils eigene, schicksalsspezifische Träume, die eines gemeinsam haben: Einen Mann, der Käse serviert. Niemals wird aufgeklärt werden, wer das gewesen sein mag, und ungefähr ähnlich wird es wohl der breiten Masse in Kristoffer Borglis reflektierender Satire Dream Scenario ergehen, die, sie wissen nicht warum, plötzlich von einem Mann mit Bart, Glatze und langweiligem Casual Outfit träumen, der, egal wie geartet der jeweilige Traum auch sein mag, in diesen mehr oder weniger zufällig vorbeikommt und nichts tut außer das: einfach die Szenerie ergänzen, vielleicht mit ein paar Worten auf den Lippen, Laub kehrend oder an fremdartigen Pilzen schnuppernd. Kaum jemand – bis auf jene, die Paul Matthews, seines Zeichens Biologieprofessor an der Uni, persönlich kennen – würden jemals herausfinden, was es mit diesem fremden Mann auf sich hat. Und niemand würde sich als Teil einer großen Gemeinschaft ansehen, die dasselbe träumen, gäbe es nicht das Wunder der weltumspannenden Medien, die aus diesem Mysterium schnell einen Hype kreieren. Paul Matthews, Vater zweier Kinder und glücklich verheiratet, wird im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht berühmt. Diese Berühmtheit beginnt im Kleinen. Erst tauschen sich nur ein paar der Leute aus, die Teil dieses Phänomens sind, dann sind es plötzlich mehrere und dann ganz viele und dann, ja dann riechen jene den Braten, die das große Geld scheffeln wollen, sind es nun Zuschauerquoten, Likes oder Produkte, die Paul Matthews dank seiner Bekanntheit gegen gutes Geld bewerben könnte. Er wird zum größten Influencer aller Zeiten, weil er als Pionier eine Bühne betritt, die noch keiner für sich und seine Zwecke erschlossen hat. Mit dem Unterschied: Matthews will das gar nicht, Er tut nichts und wird trotzdem zum Star. Doch wie lange? Und wie sehr kann er beeinflussen, dass der Spuk vorbeigeht? Gar nicht, denn letzten Endes kommt es anders, und schlimmer, als man glauben will.

In Woody Allens zum Schenkelklopfen humoristischem Episodenfilm To Rome with Love widerfährt in einer der kuriosen Geschichten Roberto Benigni ein ähnliches Schicksal: Zuvor noch ein Niemand, der die Anonymität der Großstadt genießt, wird er eines Tages zum wohl begehrtesten Menschen auf Gottes Erden. Warum, weiß keiner. Das genaue Gegenteil bietet die französische Psycho-Dystopie Vincent Must Die. Hier passiert ähnliches, von einem Moment auf den anderen, und besagter Normalbürger muss um sein Leben rennen, egal wo er auftaucht. Hype und Shitstorm, Hofierung und Verbannung: Dream Szenario bringt beides zusammen und beobachtet dabei genau die Eigendynamik, die dabei entsteht, wenn die breite Masse die Macht hat, Personen des öffentlichen Lebens zu dem werden zu lassen, was ihren Befindlichkeiten entspricht, ohne Rücksicht auf Verluste oder kollaterale Schäden, die das Pushen und Schmähen mit sich bringen.

Soziale Anomalien waren für Kristofer Borgli schon Stoff genug für sein bizarres Drama Sick of Myself, welches die Gier nach Aufmerksamkeit zum Thema hatte. In dieser nicht minder klugen Tragikomödie wie Dream Scenario fügt sich eine mit schwachem Selbstwert ausgestattete junge Frau körperliche Schäden zu, um diese als sonderbare Krankheit zu verkaufen und in den Medien bekannt zu werden. Während hier der Drang zum Ruhm pathologische Züge annimmt, ist in Dream Scenario der Ruhm ein ungewollter Zustand, der sich nicht mal kanalisieren lässt, weil von der Masse bestimmt wird, wie er aussehen soll. In dieser Ohnmacht rudert Nicolas Cage haltsuchend mit den Armen, seine Performance ist wohlüberlegt und fern seiner üblichen Manierismen. Er gefällt sich in diesem seinem Stereotyp zuwiderlaufenden Normalo, dabei packt ihn, dem Verlauf der Geschichte entsprechend, auf skurrile Weise die Verzweiflung eines Menschen, der den Meinungen der anderen ausgesetzt ist wie ein Zebra den Raubtieren fern seiner Herde.

Zwischen gespenstischen Traumsequenzen und einer mysteriösen Wirklichkeit, in der das Unerklärliche zum Spiegel der Gesellschaft wird, hebt Dream Scenario am Ende gar an zu einer Science-Fiction-Vision – eine Richtung, die der Film gar nicht nötig gehabt hätte. Die Welt der Träume ist schon Nährboden genug, um Reales mit dem Irrealen einen Ringkampf austragen zu lassen, der klar macht, wie die Welt von der Schwemme an falschen Wahrheiten manipuliert wird. Leidtragender ist nur ein Einzelner, verursacht durch viele, die sich, ihren Impulsen folgend, davor hüten, ihren Opportunismus zu hinterfragen.

Dream Scenario (2023)

Paint (2023)

DIE BERGE DES PROPHETEN

5/10


paint© 2023 AMC+


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: BRIT MCADAMS

CAST: OWEN WILSON, MICHAELA WATKINS, WENDI MCLENDON-COVEY, CIARA RENÉE, STEPHEN ROOT, LUSIA STRUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Bob Ross, der legendäre Fernsehmaler, wurde zum Superstar des entschleunigten Entspannungs-TV, zum Vorreiter des Hobby-Manierismus und Verfechter simpler Maltechniken, anhand derer so manche Landschaften in fröhlich-pittoresker Kitschigkeit die Leinwände eroberten. Mit Lockenkopf und graurot meliertem Bart plauderte er während des Malens stets vor sich hin, in einschläfernder Monotonie, sehr leise und pinselnd, als wären Freunde zu Besuch und längst kein Millionenpublikum vor den Schirmen, die mit The Joy of Painting das Fernsehschlafen zelebrieren konnten, wenn die Space Night gerade mal nicht zur Verfügung stand. Owen Wilson hat sich ebenfalls Mähne und Bart zugelegt. Doch er ist nicht Bob Ross, sondern Carl Nargle, eine Alternativversion des bekannten Popkultur-Quotenkaisers, der einem Fernsehsender in Vermont die besten Zuschauerzahlen beschert, mit Pfeife im Mundwinkel und streichelweich gespülter Stimme. Niemand kann sich diesem Sog an einlullender Harmlosigkeit entziehen. Und niemand würde dabei jemals beanstanden, dass Carl Nargle immer den gleichen Berg malt, einmal bei Sonnenauf-, dann wieder bei Sonnenuntergang. Schneebedeckt, im Nebel oder bei Regen. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und dennoch ist der Mann ein Hit, und das fast schon drei Jahrzehnte lang.

Dass Zeiten sich ändern und frischer Wind den TV-Sender aus seinem Erfolgstief holen soll, ist der Lauf der Dinge. Es können sich zwar Diktatoren ganze Menschenleben lang an die Macht binden – bei Medienstars sieht das anders aus. Also muss sich Nargle bald mit einer weitaus pfiffigeren und künstlerisch deutlich begabteren Konkurrentin herumschlagen, die nicht nur Berge, sondern auch anderes Zeug malt. Die Vorzüge, die Nargle bislang genießen durfte, werden weniger, die Sendungen auf ein Minimum reduziert und dann ganz gestrichen. Der Yoga-Maler muss sich behaupten, um wieder im Rennen zu sein. Kein leichtes Unterfangen, da dieser streng nach den binsenweisen Lehrsprüchen „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ und „Alte Besen kehren gut“ alle möglichen Züge abfahren ließ, die ihn an den Zeitgeist angepasst hätten. So bleibt Nargle ein lebendes Fossil in einer Welt der Kurzlebigkeit und der schnellen Trends. Die Kontinuität seiner stets kontanten Masche wird ihm zum Verhängnis. Wie ein prähistorischer Exot, der dem Wandel seines ihn umgebenden Ökosystems nur kommentieren kann, ohne proaktiv Zeichen zu setzen.

Tatsächlich fand sich das Skript, verfasst und folglich auch inszeniert von Brit McAdams, der manches, was er selbst erlebt hatte, in seine Arbeit einbrachte, seit längerer Zeit schon auf der sogenannten Hollywood Black List, die die besten, noch nicht verfilmten Drehbücher enthält. Letztlich verwundert es dann doch, dass einem Film wie Paint die Bravour gelang, dort überhaupt aufzuscheinen, denn so richtig die Post geht hier nicht ab. Owen Wilson als Bob Ross-Imitat, das sich auf seinen Lorbeeren so lange ausruht, bis ihm jemand diesen Ruhmeskranz unter dem Hintern wegschnappt, ist in seiner gemächlichen Liebenswürdigkeit wie Klaustrophobie vertreibende Fahrstuhlmusik im Smooth-Jazz der Siebziger. McAdams entwirft für seine Schnurre das aus der Zeit gefallene Setting eines kleinen Fernsehsenders in einer aus der Zeit gefallenen Kleinstadt als angestaubte Hinterhof- und Joint-Analogie. Viel tut sich nicht in dieser schlendernden Komödie, die in ihrer Motorik aber vor allem ein höchst eigenwilliges Flair erzeugt, so wie Bob Ross‘ Fernsehshow. Paint ist nostalgisch und dann wieder nicht, zwischendurch treibt einen Owen Wilsons wortreiche Lethargie in eine Unruhe, die aber nur darüber Aufschluss gibt, wie wenig das Charakterdrama seine Ansprüche erfüllen kann. Gleichzeitig aber kann man davon nicht lassen, denn wie Ross selbst in immer gleicher Technik die immer gleichen, generischen Landschaften aus dem Ärmel schüttelte, so probt Paint genau das gleiche. Nichts davon ist wirklich gut, nichts von Wilsons Filmcharakter lässt sich greifen, und dennoch staunt man über dieses obskure Gesamtbildnis, das so manche Gedanken über verlorenen Zeitgeist, Fankult und Stagnation wie gedeckte Farbakzente über das zugrundeliegende Indie-Filmchen kleckert.

Paint (2023)

Nyad (2023)

ICH SCHWIMME, ALSO BIN ICH

6/10


NYAD© 2023 Netflix


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ELIZABETH CHAI VASARHELYI, JIMMY CHIN

DREHBUCH: ANN BIEDERMAN, JULIA COX

CAST: ANNETTE BENING, JODIE FOSTER, RHYS IFANS, ANNA HARRIETTE PITTMAN, LUKE COSGROVE, KARLY ROTHENBERG, ERIC T. MILLER, GARLAND SCOTT, JEENA YI, JOHNNY SOLO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Ich bin schon stolz, wenn ich den burgenländischen Neufelder See durchschwimmen kann, und dabei nehme ich mir nicht mal die Länge, sondern die Breite vor, die deutlich geringer ausfällt. Erschwerend hinzu kommt hier natürlich die Tatsache, dass ich dieses Vorhaben allein durchziehen muss – und ganz ohne Entourage aus Bootscrew, Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und des persönlichen Coachs. Dann würde die Strecke deutlich länger ausfallen, aber natürlich nicht so lang wie jene, die Diana Nyad (Nomen est Omen, denn Nyaden sind Wassernymphen) bewältigen will. Eines gleich vorweg: Sie wird es schaffen. Und das ist kein Spoiler. 2013 ist sie von Kuba nach Florida geschwommen, wobei mit Florida natürlich Key West gemeint ist, die südlichste der Inselkette der Florida Keys. Somit rückt die Entfernung auch wieder ein kleines Stück zusammen, doch nicht so weit, dass daraus eine Lappalie wird. Immerhin werden es 177 km gewesen sein, zurückgelegt in 53 Stunden und ohne Haikäfig, dafür aber mit anderen Mitteln, die verhindern sollen, dass Nyad nicht zum Frühstück für Knorpler wurde. Diese wiederum sind auch nicht das einzige Problem in der Floridastraße. Quallen sind ein noch viel größeres Übel. Und Strömungen. Und sowieso das ganze Salz, das die Haut aufschwemmt. 53 Stunden durchschwimmen – es ist schier unvorstellbar. Aber machbar. Wie so vieles, wenn Menschen wie Nyad in geradezu fanatischer Verbissenheit unbedingt Pioniere sein wollen, koste es, was es wolle, und vielleicht sogar das eigene Leben.

Tu es – oder stirb: Anders lässt sich dieser egomanische Drang kaum beschreiben. Die Welt rundherum, all die anderen, die einen umgeben, die vielleicht wichtig sind oder Teil einer intakten Familie – sie verblassen, werden unwichtig, einzig das Ziel zählt, und nicht mal der Weg. Erste(r) sein, Beste(r) sein, einzigartig sein: ist das wirklich das Credo, das die Menschheit in ihrer Entwicklung vorantreibt? Welchen Mehrwert hat diese Schwimmerei? Beweisen, dass es möglich ist. Beweisen, wozu Homo sapiens imstande ist, wie nah er dem Mythos eines Superhelden kommen kann. Was der Geist mit dem Körper alles anstellen kann, wenn man ihn nur lässt.

Das sind immerhin Gründe genug, Diana Nyads Vorhaben fasziniert und mit Interesse zu verfolgen. Und dann ertappt man sich wieder dabei, nichts von dieser Geisteshaltung verstanden zu haben. Diesen Raubbau am eigenen Körper nicht gutzuheißen, diese Verbissenheit und radikale Obsession abzulehnen, den bezahlten Preis für das eine Ziel niemals selbst zahlen zu wollen, denn wozu? Was muss die Psyche mitbringen, welche Erfahrungen aus der Kindheit, und wer hat diese Einstellung gelehrt? Auch darauf wären die Antworten aufschlussreich – und keine Sorge, sie finden ihren Platz, wenn auch nur in subtiler Andeutung. Die Drehbuchautorinnen Ann Biederman und Julia Cox hatten als Grundlage immerhin Diana Nyads Autobiografie Find a Way zur Hand, das Dokufilmer-Paar Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin haben das Abenteuer über die Überwältigung der eigenen psychischen wie physischen Grenzen schließlich umgesetzt.

Mit Extremen hatten die beiden bereits zu tun: Ihre Kletter-Doku Free Solo über die ungesicherte Besteigung des El Capitain kassierte 2019 den Oscar als bester Dokumentarfilm. Von der faktenbasierten Berichterstattung bis zum Sportlerinnen-Biopic Nyad ist vielleicht nicht so ein breiter Weg zurückzulegen wie von Kuba nach Florida, immerhin aber wechselt das Genre seine Mechanismen und die grundlegende Machart eines Films, der, mit Drehbuch, dramatisierten Szenen und Schauspielerinnen, die ganz andere, reale Personen verkörpern, durch ganz andere Gewässer pflügt. Können Vasarhelyi und Chin auch diese Art von Film meistern?

Im Grunde ja. Wobei: Der Drang zur Doku ist offensichtlich. Nyad ist die recht brave Chronik eines Selbstversuchs, dessen Zweckmäßigkeit, wie bereist erläutert, entweder nachvollziehbar wird oder eben nicht. Darüber lässt sich streiten – genauso wie über ihre errungene Leistung, über die so manche Kritik laut wurde, doch vielleicht ist das nur das Motzen der Neider, die sich womöglich niemals dazu durchringen könnten, so beharrlich ein Ziel zu verfolgen. Die zum Triumph führenden Eckpunkte abhakend, ereifert sich die souveräne Annette Bening mit sonnengebräuntem Teint und burschikosem Kurzhaarschnitt, bis der Arzt kommen könnte. Mit aufgeschwemmtem Gesicht, jedoch noch keinen Schwimmhäuten zwischen Zehen und Fingern, krault sie tage- und nächtelang, nebenher das Boot, obendrauf ihr untergebener Support. Die selten gesehene Jodie Foster tut als Nyads Freundin Bennie Stoll alles, was ihre Rolle verlangt – aber nicht mehr. Seltsamerweise bleibt ihr Schauspiel schon seit geraumer Zeit verhalten und sichtlich erprobt, von den Höchstleistungen zwischen den schweigenden Lämmern und Nell ist nichts mehr geblieben. Das schadet dem Film sowieso kaum, liegt doch der Fokus wie gebannt auf Trial und Error eines geradezu verzweifelten Drangs, durchs Meer zu pflügen. Berauscht von dieser Machbarkeit des Unmöglichen, könnte ich mich vielleicht dazu durchringen, nächstes Jahr das Längenmaß des burgenländischen Neufelder Sees gründlicher in Augenschein zu nehmen. Vielleicht mit Tretboot nebenher.

Nyad (2023)

Rimini (2022)

ENTERTAINMENT FÜR DIE AUSRANGIERTEN

6,5/10


rimini© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

REGIE: ULRICH SEIDL

BUCH: ULRICH SEIDL, VERONIKA FRANZ

CAST: MICHAEL THOMAS, TESSA GÖTTLICHER, HANS-MICHAEL REHBERG, CLAUDIA MARTINI, INGE MAUX, GEORG FRIEDRICH U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Ungefähr so könnten die Karrieren von Roy Black oder Gildo Rex zu Ende gegangen sein, bevor sie sich selbst ein Ende setzten. Mit Auftritten bei Möbelhauseröffnungen, Kaffeefahrten oder Tombolas irgendwo in der Mehrzweckhalle eines Pensionistenheims (nichts für ungut). Dass jeder Mensch, der sich dafür begeistern kann, es wert ist, vor ihm zu singen, sollte Performance-Künstlern wie Musikern und Sängern eigentlich klar sein, doch ist die Diskrepanz zwischen verschwenderischen Ruhmeszeiten und dem Zustand, wo sich kaum jemand noch nach dem Star von einst umdreht, viel zu groß, um resilient genug dafür zu sein. Der wohl polarisierendste Filmemacher Österreichs, Ulrich Seidl, hat sich mit Rimini dieser verhaltenen Götterdämmerung eines ehemaligen Bauchbinden-Toreros angenommen, um einen Blick auf die ausleiernden Mechanismen von Erfolg und einem damit einhergehenden Lebensglück zu werfen.

Glücklich sind seine Figuren meistens nicht. Ganz im Gegenteil. Doch es kann leicht sein, dass diese sich selbst zu einer Zwangsbeglückung verhelfen, die aus unbefriedigendem Sex, viel Alkohol und einem Seehundfellmantel bestehen, den zumindest Richie Bravo stehts über seinem Feinripp trägt, um in der Kälte von Italiens Badeort Rimini nicht zu erfrieren. Da fragt man sich natürlich: Wie jetzt? Bella Italia und Frost? Natürlich existieren diese beliebten Destinationen für Frau und Herr Österreicher auch außerhalb der Saison. Da die Hotels alle leer stehen, bieten zumindest manche Reiseveranstalter für die Zielgruppe 60+ spottbillige Ausflüge an, deren Highlights sich zur Vorabendzeit auf die Bühne des Speisesaals wuchten. Diese personifizierte Sternstunde der Schlagermusik ist Michael Thomas, stimmgewaltig und aufgesetzt charmant. Als nicht von allen vergessener Reserve-Udo Jürgens lässt er die Herzen reiferer Damen hoher schlagen und sich für manchen weiblichen Groupie auch bezahlen, der ihn gerne textilfrei sehen möchte. Ja, es gibt sie noch, die wirklichen Fans, unter anderem Inge Maux als promiskuitive Wuchtbrumme, die sich für Richie Bravo sogar zu einem Blow Job hinreissen lässt.

Womit wir wieder bei Seidls Vorliebe für ungeschönten Amateur-Sex wären, die sich in seinen Werken mal mehr, mal weniger bizarr präsentiert. Diesmal haben seine Intimitäten gar etwas Verletzliches, weniger Brutales, obwohl gefällige Schönheitsideale bewusst konterkariert werden, um dem Reality-Charakter zu entsprechen, der zumindest Rimini den Anschein verleiht, wir hätten es mit einer Wahrheit ohne Knautschzone zu tun. Das aber könnte ein Trugschluss sein. Die Geschichte spinnt sich zwar weiter, indem Richie Bravos verschollene Tochter auftaucht und Wiedergutmachung verlangt für alle die Jahre, in denen der Schnulzenkönig kein Geld hat springen lassen – dennoch verharrt Seidl in einer subjektiv empfundenen Zeitlosigkeit und beobachtet seinen immer wieder auf- und abgeisternden Vagabunden im Pelz, der unter einem Glassturz eine Welt auf dem Abstellgleis erkundet und an Orte gelangt, die er zwar kennt, die ihm aber Vertrautes aus früheren Zeiten zurückgeben.

Rimini ist längst impressionistisches Erwachsenenkino mit symbolischem Installationscharakter. Wenn Michael Thomas eiligen Schrittes in akkuraten Tableaus, die eine Art Endzeit imitieren, an Wind und Wetter ausgesetzten, afrikanischen Flüchtlingen vorbeiläuft, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ist es so, als wären diese Menschen zu Stein erstarrt, als wären sie Skulpturen des Erinnerns, wie sehr hier Bedürfnisse ihren Wert verlieren. Das hat eine ganze eigene Atmosphäre, da gelingt Seidl tatsächlich so etwas wie eine ironische, selten sarkastische Sicht auf einen irreparablen Status Quo, der ganz am Ende auf tragikomische Weise wieder (und vielleicht gar eine neue) Ordnung schafft, nicht ohne ernüchternde Resignation.

Rimini (2022)