Reflection in a Dead Diamond (2025)

DER MUSTERAGENT UND SEINE NEMESIS

5,5/10


© 2025 Kozak Films


ORIGINALTITEL: REFLET DANS UN DIAMANT MORT

LAND / JAHR: BELGIEN, LUXEMBURG, ITALIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: HÉLÈNE CATTET, BRUNO FORZANI

CAST: FABIO TESTI, YANNICK RENIER, KOEN DE BOUW, MARIA DE MEDEIROS, THI MAI NGUYEN, CÉLINE CAMARA, KEZIA QUENTAL, SYLVIA CAMARDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 27 MIN


Agenten sterben einsam? Letztendlich legen sie sich mit all ihren Widersachern ins Grab, ganz besonders mit jenen, die Zeit ihres Lebens so viel Größenwahn verspürt haben, um sich die ganze Welt unter den Nagel zu reißen, ob mit oder ohne weißer Katze am Schoß, am liebsten aber mit Vorliebe für kuriose Todesarten und völlig unverständlichem Zögern, wenn es darum ging, den Superspion von der Landkarte zu tilgen. Diese Naturgesetze funktionieren nur im Kino, von diesen Naturgesetzen sind die Filmemacher Hélène Cattet und Bruno Forzani so sehr entzückt, dass sie Lust dazu hatten, eine Collage anzufertigen, die all diese Stilmuster miteinander vereinen soll. In homogener Koexistenz lassen sich diese Puzzleteile aber nicht verorten. Vielmehr könnte sich diese Anordnung mit einer prall gefüllten Piñata vergleichen lassen, die auf einer grob skizzierten Storyline ihren Inhalt entlädt. Die zufällige Verteilung der Versatzstücke gibt in Reflection in a Dead Diamond den Rhythmus vor. Als sechster und letzter Beitrag im Rahmen meiner Exkursion in die fantastische Filmwelten des Slash 1/2-Festivals ist dieser experimentelle Avantgardefilm wohl weniger Vorreiter für Neues, sondern wehmütiger Zitatenschatz, der die visuelle und vor allem kinematographische Sprache wie totes Latein neu erlernen und erklingen lassen will.

Zurück sind die Sechzigerjahre, der grobkörnige Analogfilm, die ebenfalls analogen Bildmontagen und psychedelisch irrlichternden Sequenzen surrealer Vorspänne, welche längst ein Markenzeichen sind für das Franchise rund um James Bond, oft unterlegt mit dem Best Of stimmgewaltiger Soul-Diven, während die Schattenrisse nackter Frauenkörper mit den maskulinen Formen diverser Schießgeräte verschmelzen. Der Erfolg rund um James Bond ließ ganze Subgenres aus dem Boden wachsen wie großzügig gedüngter Bambus. Neben dem britischen Serienerfolg Cobra, übernehmen Sie (als Grundlage für den Stunt-Wahnsinn von Tom Cruise) wucherte vor allem im europäischen Festlandkino, vorwiegend Italien und Frankreich, billig produzierte Massenware als glamouröse Eurospy-Agentenfilme in gern besuchte Spätvorstellungen. Aus dem Pulk der Machwerke stechen die familienfreundlichen parodistischen Fantomas-Komödien mit Louis de Funès hervor, die das Geheimagenten-Milieu so weit überhöhten, bis nichts davon noch realitätsbezogen blieb. Und dennoch ist das Ganze nicht dem Genre des Fantastischen zuzuordnen. Agenten und Spione gibt es tatsächlich, interessant wird es aber erst, wenn das Unmögliche als kaum zu bezwingbare Nemesis Masken trägt, an mehreren Orten gleichzeitig auftaucht, Geld wie Heu hat, High-Tech neu erfindet und nebenher die Weltverschwörung hostet. Marvel- und DC-Comics waren dabei seit jeher Inspiration.

Reflection in a Dead Diamond ist fraglos ein bunter, auf das Publikum niederregnender Bilderreigen: erratisch, fragmentarisch, zersplittert. Es gibt Zeit- und Traumdimensionen, Realität und Fiktion, einen dem guten alten 007 nachempfundenen männlichen Stereotyp mit der Lizenz zum Töten, in jungen Jahren ein Schönling, im Alter ein geiler Specht. Es gibt die knallharte Superagentin, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, und nie wird ganz klar, ob sie ihrem männlichen, vergleichsweise biederen Kollegen den Rang ablaufen will oder die Gegenseite verkörpert, die der Agent nicht müde wird zu bekämpfen.

Am Anfang einer nur grob skizzierten Geschichte gibt Altstar Fabio Testi, der in so pikanten Machwerken wie Sklaven der Hölle und Orgie des Todes mitgewirkt hat und auch in Klassikern wie Nachtblende neben Romy Schneider zu finden ist, den Spion a. D., der seinen einsamen Lebensabend irgendwo an der Cote d‘Azur verbringt und die Zeit damit verbringt, die Zimmernachbarin des Hotels lustvoll zu betrachten. Diese jedoch verschwindet recht bald, und John – so nennt sich Testis Figur – wittert bald schon eine offene Rechnung, die aus seinen vergangenen Dienstzeiten in die Jetztzeit segelt. Mit ihr rückt eine Femme Fatale an die Front, die den Helden über Jahre an seinem Verstand zweifeln hat lassen.

Wirklich spannend ist Reflection in a Dead Diamond nicht. Das ist auch nicht die Absicht des Films, der lieber gerne retrospektive Installation als sonst was wäre. Quentin Tarantino hätte diese in schwarzem Lack und Leder gezwängten Schöne, deren Gesicht niemals das echte ist, wohl gerne in einem seiner Filme wiedergefunden – Katana-schwingend und mit abstrusen Schlitzwerkzeugen ausgestattet, lässt sie ihre Gegner bluten – womit wir beim Giallo wären, den Cattet und Forzani auch noch liebgewonnen haben. Vor lauter Glitzer, Glamour und dem satten, überbelichteten Funkeln titelgebender Diamanten, die nicht alle unbedingt echt sein müssen, lässt sich die schrumpfige Geschichte nur noch schwer ausmachen. Die Attraktion der überhöhten Stilbilder mag als Kuriosität verblüffen, für die Dauer eines Spielfilms aber irgendwann nicht reichen, da das Gefühl, letztlich nur filmischen Tand zu betrachten, einen leeren Magen hinterlässt.

Reflection in a Dead Diamond (2025)

U Are the Universe (2024)

DAS LETZTE DATE DER MENSCHHEIT

8/10


© 2025 Drop Out Cinema


ORIGINALTITEL: TI-KOSMOS

LAND / JAHR: UKRAINE, BELGIEN 2024

REGIE / DREHBUCH: PAVLO OSTRIKOV

CAST: VOLODYMYR KRAVCHUK, ALEXIA DEPICKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Nein, man verhört sich dabei nicht, wenn der Film in manchen Szenen seine Hommage an einen ganz großen, wenn nicht den größten Klassiker der Science-Fiction erhobenen Armes vor sich herträgt: Die Klänge von Also sprach Zarathustra erklingen nicht im eigenen Kopf, sondern tatsächlich – während einer ausgesucht augenzwinkernden Weltraumszene, die sich angesichts des Endes der Menschheit eines Humors bedient, der so heilend wirkt wie der Trost eines guten Freundes. Dabei wären wir, das eingeschworene Publikum des Slash ½-Festivals, fast gar nicht in den Genuss dieser Szene gekommen. U Are the Universe war noch nicht ganz fertiggestellt, als Russland über die Ukraine herfiel. Und dennoch, trotzdem sich seit damals das Land im Kriegszustand befindet und einige aus der Filmcrew an die Front mussten, vollbrachte der Filmemacher Pavlo Ostrikov das Unmögliche. Das Ergebnis ist ein handwerklich ausgefeilter, top ausgestatteter Weltraumfilm, der höher budgetierten Genrefilmen um nichts nachsteht, und der gleichermaßen eine Geschichte erzählt, die so viel Sehnsucht und Empfindung in sich trägt, dass niemals zum Pathos wird, was der einsame Kosmonaut auf dem Weg zum Jupiter alles durchmachen muss.

Diese Odyssee, die sich tief vor Stanley Kubricks 2001 verbeugt und sich Klassikern wie Lautlos im Weltraum, Dark Star oder Moon freundschaftlich anschließt, setzt sich erst nach einem im wahrsten Sinne des Wortes vernichtenden Paukenschlag in Gang. Kein geringerer Himmelskörper als die Erde setzt Ostrikov auf die Abschussliste. Wie eiternde Pusteln entzünden sich brennende Herde auf der Erdoberfläche, ein vernichtendes Feuer breitet sich aus, und dann der große Knall. Andriy Melnyk, einziges Personal auf einem Atommülltransporter in Richtung des Jupitermonds Callisto, dürfte nun, wenn man eins und eins zusammenrechnet, der letzte Mensch des gesamten bekannten Universums sein. Wie fühlt sich das an? Erstmal gar nicht, denn so ein Ereignis muss ein menschlicher Geist erst einmal akzeptieren. Zum Glück muss Andriy nicht alleine mit diesen neuen Parametern klarkommen – eine künstliche Intelligenz namens Maxim, ein klobiger Roboter mit Greifarm und Bordcomputer des Schiffes (HAL 2000 lässt grüßen) versucht, genug Empathie zu simulieren, um den Trost eines guten Freundes zu spenden. Während des Manövers, den rasend heranfliegenden Trümmern der Erde auszuweichen, bekommt Melnyk tatsächlich nochmal Post – von Catherine, die in einem Forschungsraumschiff nahe des Saturns festhängt. Auch wenn die beiden Planeten beim Aufzählen des Sonnensystems nebeneinanderliegen – der Weg von Jupiter zu Saturn ist weit, die Funkübertragung sehr lang, so geht der Dialog eher schleppend vor sich. Im Grunde aber ist es das narrative Prinzip romantischer Filme wie Schlaflos in Seattle, die wiederum die antike Sehnsucht nach Zweisamkeit zwar nicht auf so ein dramatisches Level hochschrauben wie bei Orpheus oder Odysseus, dafür aber den alltäglichen Gebrauch davon abbilden. In U Are the Universe geht es dramatisch genug einher, ohne aber das Drama aufzubauschen.

Jene, die Kinoromantik eher skeptisch gegenüberstehen, seien aber entwarnt. Dieser entschleunigte und gleichsam beschleunigende Solo-Trip in die Ewigkeit eruiert zwar das Grundbedürfnis des Menschen, seiner Einsamkeit zu entgehen, füttert den Plot aber mit geschickt platzierten Wendungen, die den geradlinigen Trip durchs Dunkel zumindest im Kopf mäandern lassen. Mit viel Mut zur Stille, zur Reduktion und zu einer Ironie, die angesichts einer Endzeit so rettend wie wohltuend erscheint, verlässt sich Ostrikov im sicheren Vertrauen auf seinen Hauptdarsteller, der wahrscheinlich nur rein zufällig dem leidgeprüften Präsidenten Selenskyj ein bisschen ähnlich sieht. Fast könnte man in manchen Szenen meinen, er selbst wäre isoliert von allem, stets unterwegs, ein Ziel zu finden, dass nicht mehr sein kann als ein schicksalsentscheidendes Blind Date, weil es das letzte ist, das die Menschheit jemals eingehen wird.

Europäisches Kino wie dieses, das obendrein atemberaubende Bilder liefert und sich in stilsicherem Setting wie daheim fühlt, wagt auch die geschwungenen Drehbuchzeilen einer tief empfundenen, tragisch-schönen Poesie, die sich das US-Kino wohl kaum getraut hätte und wenn doch, auf der eigenen Seife ausgerutscht wäre. Bei U Are the Universe ist es das aufrichtige Statement eines Versprechens, einer Vision, geformt mit Lehm, als Botschaft gegen den technologischen Fortschritt, die besagt, dass man nur mit den eigenen Händen wirklich begreifen kann, worauf es ankommt. Nach all der Technik, den Errungenschaften, der Dystopie, bleibt am Ende immer und irgendwo der Mensch, im Kreis des Leonardo Da Vinci, allein und sich selbst einem uneigennützigen Zweck empfehlend.

U Are the Universe (2024)

The Ugly Stepsister (2025)

RUCKE DI GU, BLUT IST IM SCHUH

7,5/10


© 2025 capelight pictures / Marcel Zyskind


ORIGINALTITEL: DEN STYGGE STESØSTEREN

LAND / JAHR: NORWEGEN 2025

REGIE / DREHBUCH: EMILIE BLICHFELDT

CAST: LEA MYREN, THEA SOFIE LOCH NÆSS, ANE DAHL TORP, FLO FAGERLI, ISAC CALMROTH, MALTE GÅRDINGER, RALPH CARLSSON, ADAM LUNDGREN, KATARZYNA HERMAN, CEILIA FORSS U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Sorry, falsches Märchen. Obschon allerdings sowohl bei Schneewittchen als auch bei Cinderella (oder Aschenputtel oder Aschenbrödel) ein über die Jahrhunderte kolportierter Glaubenssatz im Vordergrund steht: Eine Frau muss schön sein, im besten Falle die Schönste im ganzen Land, schöner noch als die böse Königin, am besten tausendmal schöner. Der Prinz muss nicht wirklich über das Wesen seiner Zukünftigen Bescheid wissen, es interessiert ihn gar nicht, es reicht hier der Male Gaze, um das weibliche Geschlecht in die sexistische Schublade zu werfen, in welcher sich auch Schneeweißchen und Rosenrot und all die anderen atemberaubenden Schönheiten wiederfinden, nicht aber Cinderellas Stiefschwestern, denn die sind laut den Gebrüdern Grimm hässlich, und diese Hässlichkeit spiegelt sich auch in ihrem Verhalten wieder. Wer nicht schön sein kann, der leidet, weil die Gesellschaft nun mal eine ist, die sich an Äußerlichkeiten orientiert. Wer schön sein will, leidet auch, und weiß dabei gar nicht mehr so recht, ob der Prozess zur Vervollkommnung nicht auch Tücken mit sich bringt.

In der sehr freien Märcheninterpretation The Ugly Stepsister, einer opulent ausgestatteten und explizit bebilderten Groteske, übt die Norwegerin Emilie Blichfeldt unverhohlene Kritik an die viel zu selten hinterfragten gesellschaftlichen Standards, die eine Frau notgedrungen erfüllen muss. Frausein wird hier zum unrühmlichen, schmerzlichen Wettbewerb, zum schrillen Manifest gegen Gefallsucht und Körperdiktat. Statt Schneewittchen sonnt sich die fesche Cinderella im Licht ihrer Schönheit, während sie heimlich den Stallburschen liebt. Wenn der Prinz allerdings zum Stelldichein winkt, zum Ball der Bälle, an welchem er bekanntlich zur späten Stunde den für andere viel zu kleinen Schuh aufsammeln wird, zählt nur das Prestige und der Zwang, als Frau gut einzuheiraten. Betrachtet man die Grimm’schen Märchen an dieser Stelle noch einmal, sind sie auch nicht besser als Hatschi Pratschi Luftballon. Die transportierten Rollenbilder, die jede Selbstbestimmung ausräumen, lassen sich kaum mehr kommentarlos vorlesen. Aus diesem Grund ändert Blichfeldt ihre Perspektive und schubst nicht das erniedrigte, aber schöne Stiefkind ins Rampenlicht, sondern ihre Stiefschwester.

In diesem Film hier nennt sie sich Elvira, hat eine krumme Nase, schiefe Zähne, Glupschaugen und eine unvorteilhafte Frisur. Sie ist pummelig, unbeholfen, doch bei Weitem kein schlechter Mensch. Sie liebt die Gedichte des Prinzen, insofern schmachtet auch sie und schafft es gar, sich auf die Einladungsliste des gar nicht so edelmütigen Königssohns zu setzen. Bis zum höfischen Event ist es ein weiter Weg, und den wird Elvira gehen müssen, will sie als Frau etwas zählen. Dass dieser Pfad ein dorniger werden wird und letztlich dazu führt, dass, um was auch immer in der Welt und egal um welchen Preis, der eine Schuh auch passen muss, zeigt Blichfeldt mit entfesselter Liebe zum ekligen Detail.

Dabei ist die Ausstattung so prächtig wie bei Yorgos Lanthimos (bestes Beispiel: The Favourite), die Antithese zum Schönheitswahn wie schon bei Coralie Fargeats futuristischer Body-Horror-Ekstase The Substance ein blubberndes Becken malträtierter Körperteile, die dank Blichfeldts Lust an der physischen Zerstörung die Kinoleinwand füllen. Ob unreine Haut, gehackter Nasenrücken oder eingenähte Wimpern: Lea Myren als die hässliche Stiefschwester gibt sich die volle Dröhnung des Gipfelsturms zur Vollkommenheit, und wo bei manchem Bezwinger eiskalter Achttausender die Zehen das Zeitliche segnen, fällt hier wie das Beil einer Guillotine im furios-blutigen Höhepunkt die grimm’sche Lektion zu Neid und Niedertracht. Doch den märchenbedingten Moralfinger zu defizitären Wesenheiten lässt The Ugly Stepsister außen vor. Was bleibt, ist die ungeschönte Wahrheit hinter all diesem Kitsch: Das psychosoziale Portrait einer Gemarterten und Verlachten. Die Kränkung sitzt tief wie manche Wunde. Das Rollenbild allerdings auch.

The Ugly Stepsister (2025)

The Rule of Jenny Pen (2024)

DIE PUPPENTRICKS ÄLTERER HERREN

7/10


© 2024 Shudder


LAND / JAHR: NEUSEELAND 2024

REGIE: JAMES ASHCROFT

DREHBUCH: ELI KENT, JAMES ASHCROFT, NACH DER KURZGESCHICHTE VON OWEN MARSHALL

CAST: JOHN LITHGOW, GEOFFREY RUSH, GEORGE HENARE, IAN MUNE, THOMAS SAINBURY, MAAKA POHATU, HOLLY SHANAHAN, PAOLO ROTONDO, GINETTE MCDONALD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Geoffrey Rush hat man schon länger nicht mehr auf großer Leinwand gesehen. Der Oscarpreisträger (für die David Helfgott-Biopic Shine) und langjährige Piratenkapitän Barbossa, der Johnny Jack Sparrow Depp nicht nur einmal herausgefordert hat, erleidet als Richter Stefan Mortensen in vorliegendem Psychothriller während des Ausübens seiner juristischen Pflicht einen Schlaganfall. Geistig noch komplett bei Sinnen, körperlich jedoch schwer eingeschränkt, fristet er von nun an seinen unterfordernden Lebensabend in einer stinklangweiligen, biederen Altersresidenz, in der geistiger und körperlicher Verfall in jeder Ecke daran erinnern, dass man, um länger zu leben, einfach nur auf irgendeine Weise alt werden muss. Wäre die tägliche Routine, in der sich Mortensen so ausgeliefert fühlt wie seinerzeit Jack Nicholson in Einer flog über das Kuckucksnest, nicht ohnehin schon Strafe genug für ein Leben, würzt die ganze umnachtete Idylle noch das psychopathische Verhalten eines ewig lästigen Mitbewohners, der schon eine Ewigkeit an diesem Ort sein Dasein fristet, und von dem man nicht weiß, ob er tatsächlich nichts in der Birne hat oder nur so tut, als wäre er verrückt. Dieser Jemand ist John Lithgow als Dave Crealy, der untertags wie Todd Philipps Joker gackernd durch die Gegend lacht, das Mittagessen in sich reinschaufelt und des Nächtens in die Zimmer anderer Leute schleicht, um sie zu schikanieren – und um sie daran zu erinnern, wer hier das Sagen hat. Es ist Jenny Pen, eine Handpuppe, die entfernte Verwandte von Annabel, mit leeren Augenhöhlen und einem Dauergrinsen im Gesicht, das schon mal einer grimmigen Mimik weicht. Diese Puppe ist die Geißel des Altersheims. Umso unverständlicher und rätselhafter ist es, dass das Pflegepersonal niemals auch nur die geringsten Anstalten macht, Crealy zu maßregeln. Ganz besonders auf dem Kieker hat er Mortensen, denn der lässt sich, sofern seine Physis es ihm erlaubt, den Psychoterror des alten Aggressors nicht gefallen.

Filme, in denen alte Menschen austicken, gibt es zur Genüge. Da müsste man nur Ti Wests X hernehmen, The Owners mit Game of Thrones-Star Maisie Williams oder Old People. Was hierbei auffällt: Der Terror der Alten richtet sich hierbei stets gegen die Jugend. Hier, in James Ashcrofts bitterböser Komödie, steigen diesmal Alt gegen Alt in den Ring, und wer noch halbwegs atmen kann oder die Motorik seiner Extremitäten beherrscht, hat die Pole Position. Wäre ich selbst Geoffrey Rush, dem Diktat des Pflegesystems ausgeliefert und würde ich nicht für voll genommen werden, wenn des Gegners Intrigen mich der vermeintlichen Inkontinenz überführen – vor einem wie John Lithgow hätte ich eine Heidenangst.

Der Mann weiß das Handwerk des Bösen nicht von Ungefähr zu beherrschen. Ich kann mich noch gut an Russel Mulcahys düsteren Actionthriller aus den Neunzigern erinnern: Ricochet – Der Aufprall. Selbst ein blutjunger Denzel Washington konnte dem diabolischen Treiben Lithgows kaum etwas entgegensetzen. Und so, wie der Mime schon damals für Unwohlsein gesorgt hat (und als Hannibal Lecter wohl auch eine gute Figur gemacht hätte), tut er es wieder: Als alter, böser, manipulativer Irrer, dessen Wesen sich niemals ergründen lässt, dessen Beweggründe für seine Taten ein Mysterium bleiben, der wie ein sinistrer Geist die bedürftige Gesellschaft unterjocht.

Es wäre nur das halbe Vergnügen, würde ihm Geoffrey Rush als ebenbürtiges Schauspielschwergewicht nicht ordentlich Paroli bieten. Beide schenken sich nichts, machen in Worten und Taten keine Gefangenen. The Rule of Jenny Pen ist ein perfider Psychokrieg der alten Schule, um sich schlagend, sadistisch und gespenstisch. Er erklärt und ergründet nichts, sondern setzt sich mit einer destillierten Niederträchtigkeit auseinander, die in der zeitlosen Stasis eines betreuten Lebensabends ihre Saat keimen lässt.

The Rule of Jenny Pen (2024)

The Surfer (2024)

KEIN PLATZ AN DER SONNE
7/10


© 2024 Lionsgate


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, IRLAND 2024

REGIE: LORCAN FINNEGAN

DREHBUCH: THOMAS MARTIN

CAST: NICOLAS CAGE, JULIAN MCMAHON, NICHOLAS CASSIM, MIRANDA TAPSELL, ALEXANDER BERTRAND, JUSTIN ROSNIAK, RAHEL ROMAHN, FINN LITTLE, CHARLOTTE MAGGI U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Die schönsten Strände der Welt finden sich wohl auch in Australien. Inmitten einer üppigen Natur, begleitet von den gackernden Lauten eines Kookaburra, die das Kreischen der Sittiche noch übertönen, begleitet vom Rauschen der Wellen und eingebettet in sattes Grün. Ein wahres Elysium für einen wie Nicolas Cage, der diese Gegend gut kennt, ist sie doch Teil seiner Kindheit – zumindest im Film. In The Surfer, dem neuen, perfiden Mindfuck-Streich von Lorcan Finnegan, der bereits schon mit seiner nihilistischen Lovecraft-Hommage Vivarium sein Publikum an nichts mehr glauben hat lassen, ist der im rötlichblonden Haar- und Bart-Look erstrahlende Superstar des bizarren Genrekinos einer, der am Strand seiner Träume auf Ausgrenzung stößt. Gerade dort, auf diesem Fleckchen Erde, an welchem Wellen brechen, auf denen man wie nirgendwo sonst dahinschippern kann. Dieses Damals, in welchem die Figur des namenlosen Mannes schwelgt, soll auch Teil von dessen Sohn werden – also bringt der Vater seinen Filius hierher, um ihm zu zeigen, wie ein Sport wie dieser gelebt werden kann. Allerdings: „You don’t live here. You don’t surf here.“ Dieser Strand ist in fester Hand einer lokalen Männerrunde, die niemanden sonst hier aufs Meer lässt, der nicht auch hier wohnt. Cage tut das nicht, also wird er aufs Gröbste vertrieben. Kann einer wie er so eine Abfuhr auf sich sitzen lassen? Ist diese Diskriminierung etwas, die man ganz einfach wegsteckt?

Vor allem, wenn Papa ohnehin plant, das Haus seiner Kindheit hier oben am Hang zurückzukaufen, um wieder so zu tun, als wären alle eine intakte Familie, als würde auch die Ehefrau reumütig wieder zurückkehren, um am Balkon mit Blick aufs Meer Feste zu feiern. Diese Vision hat Cage im Kopf, und dieser Vision opfert er schließlich auch jegliches rationale Empfinden, jegliche Vernunft und jegliche Planung. Als er den gedemütigten Sohn daheim absetzt, kehrt der Surfer zurück. Er will alles versuchen, um seinen Platz an der Sonne zu erstreiten. Auch wenn es ihm alles kostet. Seinen Besitz, seine Würde, seine Selbstachtung.

Das mag vielleicht alles nach einem hoffnungslosen Grenzgang klingen, den seinerzeit schon Michael Douglas in Falling Down unternommen hat – und ja: tauscht man die urbanen Gefilde gegen den Busch, gibt es Parallelen hinsichtlich dessen, wie Nicolas Cage immer mehr verfällt, immer mehr von Instinkten getrieben wird und in einer schier verzweifelten Hoffnungslosigkeit gegen Windmühlen ankämpfen muss, die aus mobbenden Youngsters und halbstarken Machos bestehen, die sekkanter nicht sein können. Immer schmerzlicher wird es, dabei zuzusehen, wie der zähneknirschende Cage die Kontrolle verliert und all die anderen mit ihm tun können, wonach es sie gelüstet. Die psychosoziale Schikane nimmt die grotesken Ausmaße einer Verschwörung an, und so gnadenlos der Abstieg auch anmutet, so kurioser wird Nicolas Cages exaltierte Performance. Was soll man anderes tun, als sich daran zu ergötzen, wie sich die existenzverlustierende Figur des Gescheiterten in hysterischer Verzweiflung suhlt. Versifft, verschwitzt, verwundet, verdurstend – und doch hat alles einen Grund. Womit wir bei Lorcan Finnegans perfider Erzählweise von Geschichten wären, die mysteriöser kaum sein können.

Zwischen reaktionärem Männerkult und traumatischer Bewältigung quält sich Cage in genüsslichem Overacting bis zum Gipfel der Selbstaufgabe. Weder ist The Surfer dabei Rachedrama, Action oder Thriller – Finnegan rührt in einem mysteriösen Potpourri, stört die Wahrnehmung und hinterfragt Identitäten. Das Unklare in dieser erfrischend kurzweiligen Studie der Beharrlichkeit weckt an den Haaren herbeigezogene Mutmaßungen. Man staunt, man spekuliert, man ekelt sich. Und obwohl Cage auch noch so leidet: Das, was kein anderer Akteur eigentlich sonst darf, reicht zur Etablierung eines tragikomischen Wutbürgers, der um sein Recht auf Erfüllung fuchtelt. Die gallige Schadenfreude Finnegans unter tropisch heißer Sonne, die alles Denken ausdörrt, während die Tierwelt von Down Under in ignoranter Langeweile ihre Integrität in einem toxischen Ökosystem feiert, lässt den Surfer wie einen modernen Tantalus ungern an die gedeckte Tafel. So hell die Sonne dabei strahlt, so dunkler sind die Schatten in diesem hämischen Lamento um verpasste Träume, das sich gewöhnlichem Plot-Denken entzieht.

The Surfer (2024)

The Black Hole (2024)

EXKURS IN DIE BALTISCHE TWILIGHT ZONE

8/10


© 2024 Amrion


ORIGINALTITEL: MUST AUK

LAND / JAHR: ESTLAND, FINNLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: MOONIKA SIIMETS

CAST: URSEL TILK, LINNA TENNOSAAR, REA LEST, DORIS TISLAR, ANNE REEMANN, EVA KOLDITS, KRISTO VIIDING, JEKATERINA LINNAMÄE, LAINE MÄGI, HANNU-PEKKA BJÖRKMAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Erst kürzlich wurde bestätigt, dass in 124 Lichtjahren Entfernung der Planet K2-18b konkrete Anzeichen von Leben birgt. Ihn dafür als einen Ort zu betrachten, um auszusteigen, neu anzufangen und ein besseres Leben zu führen, mag noch etwas verfrüht sein. Vielleicht aber liegt das späte Lebensglück ja im Andromeda-Nebel. Obwohl deutlich weiter weg als K2-18b, wäre diese Vorstellung noch realistischer. Warum? Weil nicht wir dorthin müssen, sondern weil jene, die dort leben, zu uns kommen. Mag ja sein, dass sich dafür eine Mitfahrgelegenheit ergibt, ganz so wie beim jungen Peter Quill, dem späteren Star Lord der Guardians of the Galaxy. Doch von Marvel ist der kuriose Episodenfilm The Black Hole dann doch weiter entfernt als gedacht. Hier kommen ausnahmsweise mal nicht die Amerikaner in den Genuss einer Begegnung der dritten Art, sondern ganz normale Leute aus dem schönen Estland.

Ehrlich gesagt: Wie oft hat unsereins schon einen estnischen Film gesehen? Die Anzahl dieser Produktionen lässt sich an einer halben Hand erfassen. Doch was sich rar macht, kann, wenn es entdeckt wird, ungeahnt gut werden. Ausfindig machen lässt sich The Black Hole im Rahmen des frühlingshaften Slash ½ Filmfestivals, einer dreitägigen Vergnügungsreise in die Tiefen des fantastischen Genres, zu welchem auch Perlen aus dem Festival Crossing Europe, das jährlich in Linz abgehalten wird, dazustoßen können. The Black Hole ist so eine, und Regisseurin Moonika Siimets lässt dabei scheinbar verlorene Seelen des tristen estnischen Alltags dem Übernatürlichen, Paranormalen, Fremdartigen begegnen, wovon aber am Absonderlichsten gar nicht mal das Auftauchen tentakelbewährter, schleimiger Intelligenzbestien im wahrsten Sinne des Wortes ist, sondern vielleicht ein in krachlederne Tracht gezwängter Ur-Österreicher, der den Staubsauger des Jahrtausends an die nichtsahnende Mama bringen will, die daheim ihren introvertierten Sohn verköstigt, der wiederum eine sinnliche Femme fatale vergöttert, die ihr eigenes Süppchen kocht.

Derlei Dinge passieren, und auch die beiden reiferen Damen, die sich, so wie alle anderen hier auch, einfach nur danach sehnen, gebraucht zu werden, willigen gar ein, sich physikalisch scheinbar unmöglicher Experimenten zu unterziehen, die den Aliens hoffentlich die richtigen Erkenntnisse zur Spezies Homo sapiens bringen. Siimets bedient sich dabei den literarischen Vorlagen aus der Kurzgeschichtensammlung von Armin Kõomägi and Andrus Kivirähk. Ihr Film vermengt dabei drei dieser Stories miteinander, die jeweils inhaltlich aber nur wenig miteinander zu tun haben, dafür aber auf kluge Weise von einer Erzählung zur anderen überleiten – das muss auch chronologisch gar nicht akkurat sein, und genau durch diese zeitliche Aufhebung bekommt The Black Hole noch einen zusätzlichen dramaturgischen Drall, der dieses Filmerlebnis zu etwas Besonderem macht. Diese Wertschätzung erlangt die baltische Twilight Zone aber ganz alleine durch einen ungehemmt skurrilen, lakonischen Humor, der finnische Urstände feiert – gerade als Österreicher muss man sich mehrmals auf die gar nicht ledernen Schenkel klopfen, wenn das eigene Land so karikiert wird. Zwischen diesem schrägen Irrsinn gibt es aber immer wieder zarte Nuancen von Sehnsucht, Liebe und dem angenehm warmen Gefühl der Zugehörigkeit, und obwohl The Black Hole auch seine düsteren, gewalttätigen Seiten hat – die makabre Komik im Stile alter Jack Arnold-Filme, schmerzfreier Body-Horror, Portalreisende und kuschelige Arachniden, die nur begrenzt Spinnenangst hervorrufen, sind auf liebevolle, herzblutende Weise mit- und untereinander arrangiert.

Im Subtext lässt sich herauslesen, wie sehr Siimets ihre Gestalten gar nicht mehr so gerne in eine ungewisse Zukunft entlassen will, doch auch hier muss irgendwann Schluss sein, wie bei jedem kinematographischen Werk. Und The Black Hole weiß genau, wo das urbane Märchen sein Ende findet, und das nicht, ohne überall eine durch und durch und betont feministische Zuversicht zu streuen. Die Welt scheint nur darauf zu warten, dass das Paranormale über sie hereinbricht. Und wenn es nur ein Apfelkuchen ist, der den Andromeda-Nebel ein bisschen näher heranrücken lässt.

The Black Hole (2024)

Suitable Flesh (2024)

BODYSWITCH IM CTHULHUVERSE

7/10


SuitableFlesh© 2023 Shudder


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JOE LYNCH

DREHBUCH: DENNIS PAOLI, NACH DER KURZGESCHICHTE VON H. P. LOVECRAFT

CAST: HEATHER GRAHAM, JUDAH LEWIS, BRUCE DAVISON, JOHNATHON SCHAECH, BARBARA CRAMPTON, CHRIS MCKENNA, J. D. EVERMORE, ANN MAHONEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Obwohl der Begriff im Film nicht namentlich erwähnt wird, muss man dennoch die Frage stellen: Wer oder was ist Cthulhu? Kenner des Gesamtwerks von H. P. Lovecraft wissen: dieser Mann hat einen Mythos herbeifantasiert, welcher sich durch viele, um nicht zu sagen fast alle seine Werke zieht. Dieses uralte Geheimnis birgt die Tatsache, dass dieser unserer Planet Äonen noch vor dem Auftauchen des Menschen durch die sogenannten großen Alten besiedelt wurde. Diese haben sich dann mehr oder weniger von der Bildfläche verabschiedet, manche davon haben sich in die Tiefe der Meere zurückgezogen, manche tarnen sich und leben unter uns, was gerne zu paranoiden Visionen führen kann. Seit den Bergen des Wahnsinns hat sich Cthulhu und alles, was dazugehört, zu einem Verschwörungsmythos hochstilisiert, der das Genre des Kosmischen Horrors durchdringt und unter anderem auch in der Kurzgeschichte Das Ding an der Schwelle zu finden ist. Dass sich Lovecraft durchaus verfilmen lässt, hat zuletzt eine der Episoden aus Guillermo del Toros Cabinet of Curiosities bewiesen: Pickman’s Model mit Ben Barnes. Horror wie ein Schlag in die Magengrube. Keine Erlösung, stattdessen nur der Wahnsinn.

Die Farbe aus dem All ist auch so ein Lovecraft-Vehikel. Nicolas Cage verfällt da samt Familie einem violetten Leuchten – Dinge, Körper und ganze Landschaften verändern sich. Kann man ansehen, wenn man auf Body Horror-Rambazamba steht. Das Ding an der Schwelle hat sich Joe Lynch zu Herzen genommen und daraus den mit Heather Graham prominent besetzten Suitable Flesh inszeniert: einem Bodyswitch-Schocker, der es faustdick hinter den Ohren hat. Der sich anfangs jedoch so anfühlt, als hätten wir es hier mit Dutzendware aus der Mindfuck-Billigschiene zu tun, für welchen Heather Graham vielleicht angesichts mangelnder Angebote dann doch eingewilligt hat, nur, um wieder mal vor der Kamera zu stehen. Allerdings ist es nicht so, als ob Graham hier nur ihre Zeit absitzt und brav die Regieanweisungen Lynchs befolgt. Es scheint etwas an dem Film zu sein, wofür die mit Paul Thomas Andersons Boogie Nights bekannt gewordene Schauspielerin so etwas wie Herzblut investiert. Sie gibt die Psychiaterin Elizabeth Derby, Expertin auf dem Gebiet außerkörperlicher Erfahrungen, die eines Tages mit einem Fall konfrontiert wird, der sie an ihre Grenzen bringt. Ein junger Mann taucht auf und behauptet, von einem Bewusstsein temporär gesteuert zu werden. So wie es aussieht, könnte der eigene Vater dahinterstecken. Derby geht der Sache nach, stößt auf das schmucke Anwesen von Vater und Sohn, allerdings auch auf mittelalterliche Schwarten, in denen der Cthulhu-Mythos schlummert. Dumm nur, dass zu ebendieser Stunde ihr Patient gar nicht mehr Herr seiner Sinne ist, als er aufschlägt und seine Psychologin zu einem sexuellen Ex temporae verführt. Mit nachhaltigen Folgen.

Natürlich klingt Suitable Flesh nach ordentlichem B-Movie. Nach Sex und Ekel, Bodyhorror, Körpertausch und nackten Brüsten. Nach Monsterkino und Kellerhorror. In Joe Lynchs aufgekratzter, allerdings auch düsterer Horrorkomödie hält sich permanent eine undurchdringliche, kryptische Metaebene, die ganz dem verqueren Gedankengut von Lovecraft entspricht. Das Wie und Weshalb wird ohnehin niemals erklärt, manche Szenen enthalten Andeutungen für Insider. Details, die seltsam anmuten, die näher erforscht werden wollen, verschwinden auf Nebenspuren der Handlung, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. In lustvoller Gier nach Blut und multiplen Identitäten schraubt sich der hyperaktive Streifen in lächerlich absurde Höhen, die so lächerlich nicht sind, weil sie in Lovecraft’scher Konsequenz den maximalen Fall zelebrieren. Immer noch haben wir das billige B-Movie als Fassade, dahinter ein Freaky Friday mit alten Mächten, deren wahre Gestalt ein Geheimnis bleibt. Den rotierenden, sich selbst einholenden Wahnsinn verewigt Lynch formschön mit trudelnder Kamera, die keinen Halt mehr findet.

Suitable Flesh (2024)

Cuckoo (2024)

ALPTRAUM IM ALPENRAUM

4/10


cuckoo© 2024 Neon


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: TILMAN SINGER

CAST: HUNTER SCHAFER, DAN STEVENS, JESSICA HENWICK, MARTON CSÓKÁS, JAN BLUTHARDT, MILA LIEU, PROSCHAT MADANI, ÀSTRID BERGÈS-FRISBEY, GRETA FERNÁNDEZ, KONRAD SINGER U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Der Tourismusverband des Bundeslandes Bayern hat seinen Beitrag für die Alpen-Mystery Cuckoo lediglich aus seiner Portokassa bestritten, entsprechend nichtssagend und austauschbar rückt hier die süddeutsche Landschaft ins Bild, die genauso gut irgendwo hätte sein können, nur nicht eben hier. Im Nirgendwo steht dort die seit den frühen Achtzigern im Dämmerschlaf befindliche Hotelanlage Alpschatten, dessen Namen das Albtraumhafte nicht abzusprechen ist und eigentlich längst aus Mangel an begeisterten Gästen längst hätte zusperren müssen. Alles sieht so danach aus, als wären wir am Rande der Kleinstadt Twin Peaks gelandet. Hotelmanager König (Dan Stevens, u. a. Ich bin dein Mensch) weiß darüber sicher mehr, doch er behält die meiste Zeit alles für sich. Zumindest kann Teenie Gretchen (Hunter Schafer) im wenig einladenden Sommer als Assistenz an der Rezeption ihre Zeit totschlagen, während die Eltern – Papa und Stiefmutter – für König eine neue Anlage errichten sollen. So weit so seltsam, wenn man bedenkt, welch schaumgebremstes Verhalten mancher Gast hier an den Tag legt. Gekotzt wird nicht später, sondern gleich. Und nach 22 Uhr sollte sowieso niemand mehr draußen unterwegs sein. Verstörende Geräusche dringen aus dem Wald, und als Gretchen, alle Warnungen in den Wind schlagend, des Nächtens den Drahtesel bemüht, heftet sich eine schauerliche Gestalt an ihre Fersen, mit rotglühenden Augen hinter Sonnenbrillen und einem Outfit, als käme sie vom Set der Lindenstraße.

Natürlich war das keine Einbildung, obwohl Gretchen niemand glaubt. Als Halbschwester Alma ganz plötzlich epileptische Anfälle erleidet und ein verdeckter Ermittler namens Henry auftaucht, der dieser bebrillten Horror-Dame auf der Spur scheint, kommt Cuckoo endlich, nach zähem Start, ins Rollen. Nur, um dann festzustellen, dass all die losen Elemente, die augenscheinlich keinerlei Sinn ergeben, nur schwer aufeinander einzuspielen sind. Der deutsche Regisseur Tilman Singer (Luz) bringt sie alle nicht mehr unter einen Hut.

Mystery-Horror mit verschwörungstheoretischem Unterbau, der im Genre der Science-Fiction andockt, hat in jüngster Zeit unter der Aufsicht von zum Beispiel Jordan Peele durchaus einige Sternstunden erlebt. Man muss dabei aber wissen, wie man das zugrundeliegende Konstrukt eines organisierten Schreckens, welches dann natürlich auch und meistens gegen Ende Schrödingers Katze aus dem Sack lassen muss, auf Schiene bringt, ohne das Interesse seines Publikums zu verlieren. Hält man die losen Indizien zu lange voneinander entfernt, ohne sie verknüpfen zu wollen, wird das nichts mehr. So gesehen bei Cuckoo. Irgendwann erschöpfen sich die vagen Vermutungen, die keinen Sinn ergeben. Wenn dann sämtliche Geheimniskrämerei lüftender Erkenntnis weicht, ist die Spannung versiegt, die Neugier gewichen. Der herbeigezimmerte Aha-Moment eine krude Angelegenheit, die immer noch nicht viel erklären will. Die Unordnung erzählerischer Prioritäten erweckt den Eindruck, Singer würde seiner fantastischen Wahrheit relativ ratlos gegenüberstehen. Wohin mit dem gelüfteten Schrecken? Und was ist eigentlich die Ursache, der Ursprung des Ganzen?

So ratlos wie die dünne Story bleibe auch ich zurück. Zumindest Hunter Schafer (Euphoria) als widerborstiges Mädel, das ihrer Familie gerne entkommen möchte und gar nicht hier sein will, manche Szene dreimal erlebt (Warum?) und das gutturale Kreischen grotesker Damen schon nicht mehr hören kann, spielt ordentlich auf, reißt das bisschen Energie im Film an sich, während Dan Stevens nur noch um die Ecke ballern kann. Die vielfach gepriesene Originalität von Cuckoo suche ich vergebens, was bleibt ist die übertriebene Künstlichkeit einer konfusen Mystery, die auf Akkuratesse keinen Wert legt.

Cuckoo (2024)

Love Lies Bleeding (2024)

DIE HARTE UND DIE ZARTE

6,5/10


Love-Lies-Bleeding© 2024 Courtesy of A24


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: ROSE GLASS

DREHBUCH: ROSE GLASS, WERONIKA TOFILSKA

CAST: KRISTEN STEWART, KATY O’BRIAN, ED HARRIS, DAVE FRANCO, JENA MALONE, ANNA BARYSHNIKOV U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Würde Ex-Landeshauptmann Erwin Pröll seinen silbernen Haarkranz so ungeniert wie ungehemmt wuchern lassen, hätte er nicht nur eine stattliche Mähne wie Guildo Horn, sondern würde auch so aussehen wie Ed Harris in Love Lies Bleeding, nur vielleicht etwas faltenfreier. Harris, gern gesehener Charakterdarsteller schon seit Jahrzehnten, gibt in diesem sozialpornografisch angehauchten Thrillerstück den mit einem ordentlichen Pensum an väterlichen Ratschlägen ausgestatteten Projektil-Zampano, dem auf diesem wüstenstaubigen Eck in New Mexiko scheinbar alles gehört – von der Muckibude bis zum Schießstand, auf welchem waffengeile Sozialfälle ihr Aiming checken. Dabei ist Harris ja gar nicht mal die wichtigste Figur in diesem Film, obwohl sich letztlich jedwede weibliche Aggression gegen ihn richten wird.

Wichtiger noch als das fiese Patriarchat sind die beiden jungen Frauen Kristen Stewart als Lesbe Lou und die durchtrainierte Martial Arts-Sportlerin Katy O’Brian als heimatlose Jackie, die durch die Gegend treibt wie herrenloses Gut auf bewegtem Gewässer. Zumindest aber hat letztere ein Ziel: Ein Contest im Bodybuilding, welches unweit in Las Vegas bald schon über die Bühne geht. Dafür trainiert sie in jenem Gym, welches nicht nur Lous Vater gehört – eben Ed Harris – sondern Lou selbst auch angestellt ist, um als Mädchen für alles auch mal verstopfte WC-Anlagen zu säubern. Mit einem geschmackvoll bebilderten Ringen um intakte Sanitäranlagen findet Regisseurin Rose Glass auch jene stilistische Bildsprache, die sich zwischen Gekotze, Blut und Garbage-Close-Ups durch den ganzen Film zieht. Man muss wissen, wie man solche Motive immerhin doch noch so in Szene setzt, damit sie einen gewissen anti-ästhetischen Wert haben. Überdies macht das Visuelle mehr als deutlich, auf welchen Niederungen der Gesellschaft wir uns eigentlich befinden. Lou und Jackie sind beide nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen. Die Sozialen Defizite lassen sich im besten Fall durch eine Romanze schönreden, die alsbald auch eintreten wird. Welch ein Glück, dass Jackie auf Lou genauso abfährt wie umgekehrt. Dem hitzigen Liebesleben würde nichts im Wege stehen, wäre da nicht Lous ekelhafter Schwager, der scheinbar nichts anderes verdient hat als endlich von der Bildfläche zu verschwinden. Ein Umstand, den Jackie letztlich herbeiführt – auf die brutale, gewalttätige Art, einschließlich explizitem Kieferbruch. Was folgt, sind Schwierigkeiten, die man sich eintritt, wenn man Kapitalverbrechen begeht. Und wenn man zu viel Steroide spritzt.

Rose Glass eklig-bunte Thriller-Romanze hat ihre besten Momente, wenn sie abtaucht in eine bizarre Welt aus surrealen Visionen und düsteren Erinnerungen. Katy O’Brians durchtrainierter Körper, gepaart mit dem Blähen ihrer Muskeln, lässt sie zum She-Hulk für die Übervorteilten, Zurückgelassenen und Ausgestoßenen werden, an ihrer Seite Kristen Stewarts introvertierte Verletzlichkeit und die verzweifelte Suche nach Ordnung und Gerechtigkeit in einer Welt, in der das provinzielle Faustrecht regiert. Und auch wenn das aus Schweiß, Blut und Tränen vermengte tragische Märchen ihre verzweifelten Kämpferinnen durch einen waffen- und gewaltstarrenden Parkour treibt, setzt sich Rose Glass nur unwillig mit den Biografien ihrer Protagonistinnen auseinander. Beide bleiben vom Schicksal hin- und her gestoßene, jedoch flache Gestalten, die stereotype Eigenschaften besitzen und deren Motivation für ihre Taten sich nicht immer erschließt. Dahinter als drohende Gefahr ein traniger Ed Harris, wie der gottgleiche Schurke aus Panos Cosmatos‘ Psychedelic-Oper Mandy. Wohin die Flucht letztlich gelingt – in der Vorstellung oder auch tatsächlich – hängt davon ab, welche Ambitionen Rose Glass antreibt. Es sind jene einer schillernden Verliererballade mit vertrauten Lyrics, bekannten Phrasen – und manchmal komplett quergedachten Impulsen, die Love Lies Bleeding immer wieder mal das gewisse Etwas verleihen.

Love Lies Bleeding (2024)

Sting (2024)

WENN DER KAMMERJÄGER ZWEIMAL KLINGELT

6/10


sting© 2024 SP Sting Productions / Emma Bjorndahl


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: KIAH ROACHE-TURNER

CAST: ALYLA BROWNE, RYAN CORR, PENELOPE MITCHELL, ROBYN NEVIN, NONI HAZELHURST, JERMAINE FOWLER, DANNY KIM, SILVIA COLLOCA U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Nein, hier geht es nicht um Gordon Matthew Davis Sumner, Kultsänger und gelegentlich Schauspieler (siehe David Lynch’s Der Wüstenplanet). Mit Sting ist hier etwas ganz anderes gemeint, nämlich eine Spinne, die ihren Namen der bleu leuchtenden Ork-Klinge aus J. R. R. Tolkiens Der kleine Hobbit verdankt. Diese Arachnide landet auf sternenstaubigen Schleifspuren, verpackt in einem Gesteinskügelchen, direkt im Kinderzimmer der zwölfjährigen Charlotte (Alyla Browne, die junge Furiosa in gleichnamigem Film), die sich des possierlichen Tierchens und gänzlich frei von Spinnenangst liebevoll annimmt. Dass das extraterrestrische Wesen aber gerne den Ausreißer spielt und andere Hausparteien quält, davon ahnt sie nichts. Was Charlotte aber merkt, ist der unersättliche Hunger des Achtbeiners und dessen rasantes Wachstum. Bis die Eltern davon Wind bekommen, dauert es ein Weilchen, währenddessen verschwindet schon mal die eine oder andere Person. Oder wird ganz einfach angenagt, während das Gift die Extremitäten lähmt.

Sting hat im Grunde alles, was ein launiger Tierhorrorfilm vor allem der alten Schule benötigt. Noch dazu das Quäntchen Familiendrama. Einen Genremix wie diesen zauberte schon vor Jahren Bong  Joon-Ho mit The Host auf die Leinwand, einem koreanischen Fantasy-Hit mit Hang zum nach Abwasser müffelnden Monsterhorror. Nun gibt’s statt Only Murders in the Building „Only Spiders in the Building“: Schauplatz ist New York im Tiefwinter – eine wohltuende Abwechslung zu den flirrenden Sommertemparaturen, die draussen gerade herrschen. Das markante Wetter sorgt für die entsprechende Isolation, die ein Film nach diesem Konzept gewährleisten muss. In Alien waren es die unendlichen luftleeren Weiten, hier ist es der Schneesturm. Und ganz so wie Ridley Scotts Klassiker bietet auch Sting dem Untier jede Menge Zwischenräume, Schächte und doppelte Böden, um je nach Belieben herumzumarodieren. Dabei sorgen wie bei Joon-Ho augenzwinkernde, ironische Stilbrüche für das richtige Gemüt, um an Schauergeschichten wie diesen trotz ihrer offensichtlichen Trivialität dranzubleiben. Die verschrobenen Alten könnten fast schon Nachbarn von Jean-Pierre Jeunets Amélie sein, zum Glück aber wird das Groteske nicht allzu sehr überhöht. Es reicht, dass die demente und unverwüstliche Oma zumindest zweimal den Kammerjäger herbeizitiert, während Papa sich bemüht, mit seiner Stieftochter klarzukommen, die mit ihrer altklugen Art ordentlich nervt. Für Sting ist also das familiäre Süppchen, dass da gekocht wird, eine angedeutete Side Story, die durch den unbekannten Aggressor erst die Bereitschaft zur Lösung eines lange schwelenden Konflikts erlangt.

So groß wie im tricktechnisch fast zeitlosen Klassiker Tarantula wird die Spinne hier aber nie. Sie bleibt eben eine Hausspinne und muss sich im wahrsten Sinne des Wortes nach der Decke strecken. Auch der Film selbst muss dies tun, er muss mit all dem arbeiten, was ihm an begrenztem Raum zur Verfügung steht. Das gerät manchmal ins Stocken, trotz oder gerade wegen einer dekorativen humoristischen Tonalität. Im großen Showdown lassen sich zudem so einige auffallende Parallelen zu anderen Filmklassikern ziehen – nicht nur zum bereits erwähnten Alien-Franchise.

Für Arachnophobiker ist Sting aber wirklich nichts. So, wie das zugegeben gekonnt in Szene gesetzte Monster durch den Luftschacht trippelt oder seine Opfer mal vorab in die Speisekammer verfrachtet, könnte sensiblen Gemüter schon mal in die Nähe der Ohnmacht verfrachten.

Sting (2024)