Colonos (2023)

LEICHEN PFLASTERN IHREN WEG

6,5/10


colonos© 2023 MUBI


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, CHILE, DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, SCHWEDEN, TAIWAN, GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE: FELIPE GÁLVEZ HABERLE

DREHBUCH: FELIPE GÁLVEZ HABERLE, ANTONIA GIRARDI

CAST: CAMILO ARANCIBIA, MARK STANLEY, BENJAMIN WESTFALL, SAM SPRUELL, MISHELL GUAÑA, ALFREDO CASTRO, MARCELO ALONSO, LUIS MACHIN, MARIANO LLINÁS, AUGUSTÍN RITTANO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Selbst in den entlegensten Winkeln am Ende der Welt, oder eben gerade dort, wo sonst keiner hinkommt, regiert gut und gerne das, was Homo sapiens zu einem fürchterlichen Monster werden lässt. An diesen entlegensten Winkeln regiert in selbem Zug genau das nicht, was den Menschen menschlich bleiben lässt: Kontrolle. Am südlichsten Zipfel Südamerikas, in einer unwirtlichen, windumtosten, braungrünen Wildnis aus Nässe, Düsternis und büscheligem Gras, ist der Indigene Mensch genauso viel wert wie auch überall sonst wo auf der Welt: nämlich gar nichts. Eine gewisse Arbeitstauglichkeit lässt Gnade vor Unrecht ergehen. Nutzen sie nicht mal dazu, oder stören gar den Frieden der Schafherden, die der Großgrundbesitzer José Menéndez (ja, den gab es wirklich) in gewisser Weise über ganz Feuerland weiden lässt, geht‘s ans große ethnische Reinemachen. Um das Gebiet bis an die Atlantikküste zu sichern, beauftragt der König von Patagonien, wie er genannt wird, einen ausrangierten Leutnant der britischen Armee, verstört durch den Krieg, gewalttätig, grausam, böse. Allein reitet das „rote Schwein“, wie man ihn später nennen wird, allerdings nicht los – im Schlepptau hat er einen Texas-Ranger, der die Eingeborenen mehrere Kilometer gegen den Wind riechen kann. Und das Halbblut Segundo, der das Glück hat, dem Großgrundbesitzer als tauglich zu erscheinen und darüber hinaus ganz gut schießen kann. Ihr Ritt zieht eine Schneise der Verwüstung durchs Land, Unschuldige müssen dran glauben. Kinder werden getötet, Frauen vergewaltigt. Misstrauen befällt das Trio, Segundo muss die Gräuel an seinen Landsleuten mitansehen, wehrt sich gegen dieses Übermaß an Verbrechen, sinnt nach Rache, bleibt jedoch ohnmächtig angesichts dieser Aggression, die von den Weißen ausgeht. Dem Wahnsinn nicht genug, soll es noch schlimmer kommen.

Und als Zuseher fragt man sich natürlich das eine oder andere Mal: Warum in aller Welt suche ich Zerstreuung nicht lieber in einem weniger belastenden Film, in einer Komödie oder abgehobener Fantasy? Andererseits: Filme wie diese bedienen mehrere Genres. Sie sind lebendige Geschichte, sie tragen den Mythos des knochentrockenen, beinharten Italowesterns mit sich herum, sie erzählen ein Abenteuer, dass seinen Reiz dadurch ausspielt, den unberechenbaren Schrecken einer Terra incognita zu entfesseln – und den Menschen darzustellen als einer, der destruktive Weltbilder erschafft. Colonos, zu deutsch Die Siedler, wäre Stoff für Werner Herzog gewesen. Würde Klaus Kinski noch leben, er wäre prädestiniert dafür.

Ähnlich wortkarg und grimmig trottet der raue Thriller durch die abweisende Landschaft. Über den Hügeln finstere Wolken, kalte Luft, karges Feuer. Gehässiger und finsterer als all die Weisen blicken nur noch die Indigenen, die nichts haben, womit sie sich wehren können, außer ihren Stolz und ihre Zähigkeit, das Schlimmste zu überleben. Colonos von Felipe Gálvez Haberle ist harter Stoff, gibt sich in einer Art Agonie einem eiskalten Kolonial-Nihilismus hin, dem man so zuletzt in Lars Kraumes Vermessenen Mensch gesehen hat. Wo dort aber der Genozid an die Herero und Nama als pittoreskes Bilderbuch ein vertrautes Vokabular bedient, wird die grausame Behandlung der Ona zu einem erbarmungslosen Albtraum, der an die finsteren Illustrationen Goyas erinnert, angereichert mit dampfendem Naturalismus und defätistischer Hoffnungslosigkeit. Colonos besticht zwar durch seine visuelle Pracht, durch seine unmittelbare Wahrnehmung der Gegend, behält aber durch seine verschlossenen, abweisenden Figuren die nötige Distanz und schafft zu keiner Zeit irgendeine Identifikation. Neben dieser Ablehnung, dieser Furcht vor der Begegnung, dieser immerwährende Bedrohung lässt sich obendrein noch ein stampfender, theatralischer Score erlauschen, der, komponiert von Harry Allouche, so klingt, als wäre er von Morricone, was dem Szenario noch einmal mehr die Aura eines lebens- und weltverneinenden Grunge-Westerns verleiht. Schließlich muss man eine Reise wie jene, die in Colonos angetreten wird, erfahren – und aushalten wollen. Die rare Thematik wäre ein Grund dafür, den Blick zu riskieren. Für jene, die nicht wegsehen wollen, was die Geschichte alles angerichtet hat, bietet Haberles Regiedebüt einen zynischen Rückblick im Stile unheilbringender Abenteuergeschichten.

Colonos (2023)

Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

The Beekeeper (2024)

DIE AKTIVISTISCHE ADER EINER WUTBIENE

7/10


beekeeper© 2023 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: DAVID AYER

DREHBUCH: KURT WIMMER

CAST: JASON STATHAM, EMMY RAVER-LAMPMAN, JOSH HUTCHERSON, JEREMY IRONS, BOBBY NADERI, MINNIE DRIVER, PHYLICIA RASHAD, DAVID WITTS, TAYLOR JAMES, JEMMA REDGRAVE, MICHAEL EPP U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wenn die Königin eines Bienenstocks, so werden wir uns im Laufe des Films erklären lassen müssen, unzureichenden Nachwuchs erzeugt, könnte diese durch den Eifer eines einzelnen Individuums entthront werden, einzig und allein aus dem Grund – und es ist ein driftiger –, das ganze System zu retten. Die aufgebrachte Wutbiene würde die Matriarchin töten. Ob jemand anderes ihren Platz einnimmt, ist fraglich. Ob sich der Bienenstock dann demokratisch verwaltet? Wohl kaum. Zumindest faule Erben folgen keine nach. Nach diesem Prinzip schaltet und waltet in David Ayers Genugtuungs-Actionthriller eine allen Gesetzen, nicht aber allen Werten erhabene Geheimorganisation namens The Beekeeper, die dort ansetzen, wo das System versagt. Und das tut es. Sonst würde einer wie Jason Statham nicht notgedrungen aus dem Ruhestand zurückkehren und die Sache selbst in die Hand nehmen, um den Missstand auszumerzen. Wie würde man sich nicht so jemanden wie ihn gleich in mehrfacher Ausführung wünschen, um gefühlt überall auf dem Globus für eine Ordnung zu sorgen, die mit bewährten Mitteln derzeit nicht erreicht werden kann.

Im Laufe der Geschichte sind es oftmals die Guten, die über die Klinge springen müssen, denn das Böse findet seine Handlanger. Umgekehrt mag so ein Vorhaben zwar geplant gewesen sein – am Beispiel Adolf Hitler zeigt sich aber, wie gut sich Diabolisches wegducken, wie gut es sich schützen kann. Und wie sehr das Weltoffene, positiv Progressive durch seinen Idealismus mitten ins Fadenkreuz gerät. All diese Gedanken kommen hoch, wenn das Ausüben von Gewalt für eine bessere Welt in David Ayers gelungenem Actionfilm das effektivste Mittel bleibt, um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Da der rechtschaffene Weg nicht funktioniert, kommt jener von Statham zum Zug. Zumindest im Kino lässt sich daran erfreuen, wie gierige, korrupte, arrogante Herrenmenschen, die ich weiß nicht wie auf die Butterseite des Lebens gefallen sind, die Leviten gelesen bekommen. Von einem, der längst schon das Erbe von Chuck Norris angetreten hat. Der Bienen isst, statt sich Honig aufs Brot zu schmieren. Unter dessen Füßen die Erde hinwegrollt, der nicht schläft, sondern wartet. Statham-Witze könnten bald in Mode kommen, so unkaputtbar pflügt sich der stoische Glatzenkrieger durch den Sündenpfuhl eines Machtgefüges, das an jenes von Donald Trump erinnert. Das das Volk für dumm verkauft und sich an dessen Reichtum labt. Das es sogar geschafft hat, ins Weiße Haus zu gelangen. Wie, weiß keiner so genau.

Einen Beekeeper aufzuscheuchen, ist das Schlimmste, was Verbrechern passieren kann. Es ist ungefähr so schlimm, wie John Wicks Hund zu erschießen und sein Auto zu klauen. Keanu Reeves‘ Schlipsträger-Nemesis treibt persönliche Rache um, er ist für sich und sonst niemanden bereits vier Teile lang unterwegs, um die Königin irgendwann am Schlafittchen zu fassen. Jason Statham hingegen tut das zwar wohl auch für persönliche Schmach, hat aber eine deutlich sozialere Agenda im Rücken: Das Allgemeinwohl. Das macht ihn, obwohl in kühler Akkuratesse unnahbar, sympathischer als manch andere Ein-Mann-Armee. Und noch etwas: Während bei anderen, ähnlichen Filmen kaum andere Instanzen mitmischen außer jene, die sich frontal ans Leder wollen, bringt David Ayer die Instanz der rechtlich abgesicherten Exekutive ins Spiel, die verzweifelt versucht, Gerechtigkeit ins vorherrschende System zu integrieren. Natürlich geht dieser Diskurs nicht sonderlich in die Tiefe. Natürlich ist The Beekeeper vorrangig ein glatter, aber nicht aalglatter Actionfilm, der den überirdisch widerstandsfähigen Tausendsassa auch mit bis an die Zähne bewaffneten Kleinarmeen umspringen lässt wie eine Katze mit ihrem Wollknäuel. Dass in der realen Welt einer wie Statham nicht weiterkommen würde als bis vor seine Haustür, ist eine Tatsache, die Kinogeher allerdings nicht wissen wollen. Zu sehen, was in einer Welt, in der Gerechtigkeit und Genugtuung Teil eines Evolutionsgedankens sind, alles passieren kann, ist wohltuend und beglückend wie ein Espresso am Morgen.

The Beekeeper (2024)

Eineinhalb Tage (2023)

ROADMOVIE AUS DEM SETZKASTEN

4/10


eineinhalbtage© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SCHWEDEN 2023

REGIE: FARES FARES

DREHBUCH: FARES FARES, PETER SMIRNAKOS

CAST: FARES FARES, ALMA PÖYSTI, ALEXEJ MANVELOV, ANNIKA HALLIN, STINA EKBLAD, ANNICA LILJEBLAD, RICHARD FORSGREN, BENGT C. W. CARLSSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Was haben Aki Kaurismäkis lakonisches, vielfach ausgezeichnetes Sozialmärchen Fallende Blätter und das Regiedebüt des schwedischen Schauspielers Fares Fares gemeinsam? Die Schauspielerin Alma Pyösti, die 2020 mit Tove, der Filmbiografie nämlicher Künstlerin, erstmals einem breiteren Publikum bekannt wurde. Seit September letzten Jahres wird sie auf Netflix als Krankenpflegerin Louise eines schönen Tages von Artan, ihrem Ex-Ehemann, heimgesucht, der, bewaffnet und emotional im Ausnahmezustand, einfach beschließt, die Mutter seiner Tochter als Geisel zu nehmen. Menschen wie Artan werden zum Unsicherheitsfaktor schlechthin, inmitten eines sicheren Europas, wo die Exekutive noch zeitnah heranrückt, wenn irgendwo einer beschließt, anderen den fremden Willen aufzuzwingen. So eine unschöne Situation lässt sich durch geschulte Verhandler entsprechend entschärfen, nur die Zeit drängt, und das Spezialkommando lässt sich bitten. Fares Fares ( u. a. Die Nile Hilton Affäre, Die Kairo Verschwörung) höchstselbst gibt den Exekutivbeamten, der in rechtschaffener Selbstlosigkeit dem aufgelösten Familienvater entgegentritt. Es gelingt ihm gar, das Geiseldrama ins Innere eines Polizeiwagens zu verfrachten, weg von all den Schaulustigen und Betroffenen, weg von möglichen Kollateralschäden, rauf auf die Bundesstraße – es bleiben Louise, Artan und der Polizist, unterwegs zu den Schwiegereltern des Mannes, dessen Tochter dort in deren Obhut weilt. Das Roadmovie kann beginnen.

Wie der Titel schon verrät, sind alle drei einen knappen Tag lang, eine Nacht und wieder einen halben Tag unterwegs. Stets hintendrein: Ein Konvoi an Polizeiwägen. Kommt einem dieses Szenario bekannt vor? Natürlich. Zwar liegt der Klassiker schon einige Jahrzehnte zurück, doch Sugarland Express von Steven Spielberg fasziniert immer noch. Allein schon wegen Goldie Hawns famoser Darstellung der Lou Jane Poplin, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreit, einen Polizeiwagen samt Beamten kapert und diesen zwingt, die Pflegeeltern ihres kleinen Sohnes aufzusuchen. Sowohl Spielbergs Roadmovie-Klassiker als auch Fares Fares‘ Familiendrama auf vier Rädern beruhen auf wahren Begebenheiten – letzterer wohl mehr oder weniger nur sehr vage. Eher diente eine ähnliche Gesamtsituation, die es nicht mal in die internationalen Medien schaffte, als Inspiration für einen Film, bei dem man sich fühlt, als führen Opfer, Täter und Verhandler im Kreisverkehr, ohne abzubiegen. Der gebürtige Russe Alexej Manvelov punktet anfangs zwar mit einer beunruhigend nervösen Art, die aber auf Dauer keine Variationen zulässt und im Laufe des Films, der gottseidank keine eineinhalb Tage dauert, zusehends nervt. Alma Pöysti daneben auf der Rückbank hat wenig Text, gibt die Eingeschüchterte und auch sie kann ihre Figur im Laufe der Handlung kaum durch neue Erkenntnisse bereichern.

Nicht jeder, der schauspielern kann, ist auch im Regiefach bestens aufgehoben, geschweige denn als Drehbuchautor geeignet. Fares Fares hat für Eineinhalb Tage schließlich alles übernommen – und zumindest beim Skript auf vertraute Strukturen gesetzt. Ein Konzept wie dieses, auf engstem Raum und überschaubaren Plot, eignet sich bestimmt für ein Debütprojekt. Da Fares sich aber dramaturgisch nicht weiter aus dem Autofenster lehnt wie nötig, wechseln im braven Rhythmus die Interaktionen unter den dreien wie beim Bällewerfen – einmal mehr, dann wieder weniger emotional. Überraschungsmomente gibt es keine, die Geschichte ist vorhersehbar, und irgendwann ist man froh, diesen Artan losgeworden zu sein und überhaupt diese ganze bleierne Autofahrt hinter sich gebracht zu haben.

Eineinhalb Tage (2023)

Saltburn (2023)

YOUR HOME IS MY CASTLE

7/10


Saltburn© 2023 Amazon Content Services LLC


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: EMERALD FENNELL

CAST: BARRY KEOGHAN, JACOB ELORDI, ROSAMUNDE PIKE, RICHARD E. GRANT, ARCHIE MADEKWE, ALISON OLIVER, CAREY MULLIGAN, PAUL RHYS, EWAN MITCHELL U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Es gibt Schauspieler, die, egal wie klar definiert ihre zu spielenden Charaktere auch sein mögen, stets einen gewissen Zweifel in Anbetracht ihrer Ambitionen hegen. Weil man Unterschwelliges, Durchtriebenes vermutet. Eine psychopathische Komponente, ein unaufgearbeitetes Trauma – schlicht etwas Verstörendes, das irgendwann ans Licht will. Zu diesen Darstellern zählen durchaus Joaquin Phoenix, ganz besonders Joel Edgerton (zuletzt in Master Gardener) und Barry Keoghan, der für seine Rolle des mit schlichtem Gemüt ausgestatteten Dominic Kearney aus The Banshees of Inisherin für den Oscar nominiert wurde. Diese Ehrung verschaffte dem sonst aus Giorgos Lanthimos Thriller The Killing of A Sacred Deer bekannten Iren auch eine Rolle in Emerald Fennells neuen, längst heiss diskutierten Film, der eben auf der Streaming-Plattform amazon prime seine Premiere erlebt: Saltburn.

Das klingt ein bisschen nach Sommer, Sonne und Salzwasser – ist es aber nicht. Saltburn ist das feudale, gigantische Anwesen der Familie Catton – so residieren müsste man mal! Das sind andere Zustände, die wohl kaum jemand von uns Normalbürgern jemals erlebt hat, außer man bucht eine Führung durch die Gemächer irgendeines der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schlosses und kann sich an den edel ausgestatteten und mit sündteuren Wandgemälden behangenen Prunkräumen einfach nicht sattsehen. So ein herrschaftliches Paradies steht und fällt mit einer Entourage an Dienern und Lakaien, anders lässt sich Saltburn schließlich nicht erhalten. In diese Blase platzt Barry Keoghan. Diesmal ist er ein schlichter Student aus Oxford, muss auf eine entbehrungsreiche Kindheit zurückblicken und leidet unter dem höchst problematischen, asozialen Lebenswandel seiner Eltern, die nichts auf die Reihe bekommen, außer ihren Sohnemann Oliver auf die Universität zu schicken. Dort ist der junge Mann ein Außenseiter – bis er durch Zufall den allseits beliebten Felix trifft. Was eine Fahrradpanne so alles bewirken kann – man glaubt es kaum. Das Glück des einen scheint auf das des anderen abzufärben. Bald sind beide gute Freunde, Oliver im Kreise der Elite aufgenommen. Und da das Schicksal diesem Oliver nach wie vor eher bescheiden mitspielt, verstirbt auch noch dessen Vater. Um seinen neuen, vielleicht manchmal etwas nervigen Freund zu trösten, lädt er ihn über die Sommerferien auf besagtes Anwesen ein – nach Saltburn. Dort lernt Oliver Felix‘ Familie kennen: die dem Reichtum und der Langeweile unterworfenen, etwas dekadenten Eltern (realitätsverloren: Rosamunde Pike und Richard E. Grant), die promiskuitive Schwester und andere Nutznießern wie Oliver – dem ein Leben in Saus und Braus und im fast schon blaublütigen Wohlstand plötzlich offen steht. Alles ist möglich, alles ist zu haben. Man muss nur wissen, wie.

Dass während dieses Sommers alles eitel Wonne bleibt und der in den Tag hineinlebenden Gesellschaft bis zum Herbst hin die Sonne aus dem Allerwertesten scheint – davon kann man mal getrost ausgehen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein kann. Schließlich hat Emerald Fennell in Promising Young Woman Carey Mulligan als emanzipatorischen Racheengel auf die Männerwelt losgelassen. Man darf erwarten, dass Saltburn in eine Richtung geht, die in die Dunkelheit führt – in der Intrigen, Manipulation und gute Miene zu bösem Spiel bald zur Tagesordnung gehören. In diesen zwielichtigen Dunstkreis passt Barry Keoghan wie die Made im Speck. Sein Counterpart auf Augenhöhe: Jacob Elordi, der eben als Elvis Presley in Sofia Coppolas Priscilla so richtig brilliert.

Es scheint fast so, als wäre Saltburn die Geschichte einer verbotenen Liebe – in die Richtung gehend, die etwa Guadagninos Call Me By Your Name einschlägt. Weit gefehlt. Fennell zelebriert, obwohl ihr Film in den Nuller Jahren spielt, den modernen Zeitgeist, die perfide Methodik egomanischer Ich-Gesellschaften, die, permanent um sich selbst rotierend, das höchste Gut darin sehen, aller sozialer Interaktion entledigt, das Elysium einzig im erstickenden Reichtum zu erfahren. Materialismus und Soziopathie, obsessive Liebe für den eigenen Zweck. Das gegenseitige Ausspielen aller Figuren in diesem Reigen gibt sich der Zentrifugalkraft einer Eskalationsspirale hin, und je weiter Saltburn voranschreitet, umso mehr lässt der Film eine präzise durchdachte Realität zurück, um sich einer tiefschwarzen, geradezu galligen Groteske hinzugeben, die wir zuletzt ungefähr ähnlich scharf gewetzt in Bong Joon-hos Parasite gesehen haben. Von der Immer-mehr- und Noch-besser-Gesellschaft erzählt Fennell, von den Talenten eines Mr. Ripley, der in Patricia Highsmiths Büchern alle und jeden so weit abrichten konnte, um auf den Schultern jener emporzusteigen. Die Symbolik ist bei Saltburn aber noch intensiver. Das Parasitäre, das In-Sich-Einverleiben der beneideten Elite findet seinen Ausdruck im Vampirismus, im sexuellen Fetisch. Die Blicke Barry Keoghans, meistens wie die eines Unschuldslamms, lassen ganz plötzlich das Blut in den Adern gefrieren. Seine Performance ist so unberechenbar wie subversiv – und doch weiß man bald, sehr bald schon, und zwar ganz genau, wie der Hase wohl weiterlaufen wird.

Vielleicht gerät Saltburn letzten Endes zu plakativ, wird die feine Klinge dann doch noch schartig und arbeitet den humorigen, fiesen Thriller entsprechend ab, ohne sich und andere noch überraschen zu wollen. So homogen alles begonnen hat, so derb endet es. Filme wie diese, die sich immer mehr steigern, müssen mit diesem Manko klarkommen. Saltburn gelingt es trotzdem, als verfluchte Immobilie, als vom Unglück heimgesuchtes Gemäuer, zum verlockenden Verweilen einzuladen. Solange, bis es zu spät ist. Denn den Absprung verpasst man garantiert.

Saltburn (2023)

Silent Night – Stumme Rache (2023)

EIN MANN SIEHT WEIHNACHTSROT

4/10


silent-night-2023© 2023 Leonine


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JOHN WOO

DREHBUCH: ROBERT ARCHER LYNN

CAST: JOEL KINNAMAN, KID CUDI, CATALINA SANDINO MORENO, HAROLD TORRES, VINNY O´BRIEN, YOKO HAMAMURA, ANTHONY GIULIETTI U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Freunde der abseitigen Seasons Greetings auf der Leinwand werden sich noch erinnern können, wie Stranger Things-Star David Harbour vorletztes Jahr als martialischer Weihnachtsmann in Violent Night ungeladene Gäste der Reihe nach und auch blutig genug ins Jenseits beförderte. Violent Night – ein keckes, gar silbentreues Wortspiel. Der Weihnachts-Faktor, sofern sich dieser bemessen ließ, war hoch genug und deutlich höher als bei Stirb langsam, an welchem sich die Geister scheiden, ob er nun in dieses spezielle Genre passt oder nicht. Santa Claus mochte in Tommy Wirkolas actiongeladener Zuckerstange viel Gutes im Schilde geführt haben – allerdings war der Umstand, böse Jungs zu bestrafen, nichts, was der Allmächtige tadeln hätte wollen. Der Equalizer würde das genauso sehen.

Nach Wirkola folgt nun Altmeister John Woo. Die im Jahreskalender der Kinos pflichtmarkierte Actionhülse durfte schließlich auch 2023 nicht fehlen. Diesmal aber ganz ohne Wortspiel. Schlicht und ergreifend als Silent Night – Stumme Rache betitelt, liegt der Clou dieses Streifens darin, gänzlich auf Dialoge zu verzichten. Fast wie Mel Brooks‘ Silent Movie, nur mit Geräuschkulisse. Ein Kniff, der zuletzt im Alienhorror No One Will Save You seine Anwendung fand (zu sehen auf Disney+). Das Donnern von Explosionen, fauchende Projektile und die akkurat gesetzte Handkante muss natürlich den Ton angeben, denn was ist ein Actionfilm ohne Sound Design. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Joel Kinnaman als trauernder Familienvater, der im sonnigen Süden der USA das Weihnachtsfest 2022 im Garten seines Anwesens verbringt. Da liefern sich rivalisierende Banden, wohl kaum im Bewusstsein, welcher Tag heute ist, jenseits des Gartenzauns einen Shootout. Eines dieser Projektile trifft den siebenjährigen Sohnemann tödlich. Kinnaman läuft den Gangstern hinterher, durchschwitzt dabei seinen blutverschmierten Rentierpulli, kann nicht mehr klar denken, denn sonst würde er wohl abschätzen können, dass die Wut in dessen Bauch niemanden der bösen Jungs davon abhalten würde, auch ihm den Rest zu geben. Letztlich wird auch er erschossen. Die Kugel tötet ihn zwar nicht, lässt ihn aber verstummen. So plant der finstere, trauernde und wortlose Normalo ein Jahr lang seine Rache – ganz zum Leidwesen der verzweifelten Ehefrau und Mutter, die nicht zu ihrem Gatten durchdringt.

Mehr gibt der Plot von Silent Night – Stumme Rache dann auch nicht her. Das alles ist ein klarer Fall für ein Sequel von Ein Mann sieht rot, Death Wish oder überhaupt eine Neuinterpretation des ganzen trivialen Musters, unbedingt und fast schon erzwungenermaßen getrimmt auf saisonalen Charakter, wie sie Weihnachtsfilme eben haben. Nur spürt man davon nichts. Silent Night – Stumme Rache kann, noch viel mehr als Stirb langsam, überall und irgendwann spielen. Das Übrige ist die Routine eines Rache-Plots, angereichert mit pathetischen Sequenzen, wie sie John Woo gerne inszeniert. Es fliegt viel Blei durch die Gegend, es spritzt das Blut in mehr oder weniger expliziter Martial Art. Es ist ein Film, der allein schon durch das durchschnittliche Spiel von Joel Kinnaman den Moment verpasst, am Zuschauer anzudocken. Die Schlachtplatte am Heiligen Abend zieht vorbei wie der Rentierschlitten am Firmament, weder gelingt die emotionale noch die Thrillerschiene. John Woo lässt es krachen, keine Frage. Für den Moment vielleicht befriedigend, darüber hinaus aber viel zu simpel und schmerzlich vorhersehbar.

Silent Night – Stumme Rache (2023)

The Dive (2023)

LUFT NACH OBEN

6,5/10


thedive© 2023 Protagonist Pictures


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, MALTA 2023

REGIE: MAXIMILIAN ERLENWEIN

DREHBUCH: MAXIMILIAN ERLENWEIN, NACH DEM FILM BREAKING SURFACE VON JOACHIM HEDÉN

CAST: LOUISA KRAUSE, SOPHIE LOWE, DVID SCICLUNA U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Oberstes Gebot beim Tauchen: Immer mit Buddy. Der gegenseitige Check von Ausrüstung und Atemluft ist aber, je weiter man als Tauchprofi voranschreitet, nur noch vernachlässigbare Nebensache. Leicht kann es passieren, und der Übermut, der selten guttut, führt zu Situationen, die sich gerne als irreversibel herausstellen. Diesen Leichtsinn aber sucht man bei The Dive – Arbeitstitel machen Mode – auf den ersten Blick vergeblich. Musste man bei Adrenalinkick-Horrorfilmen wie 47 Meters Down bzw., Uncaged oder dem höhenluftschnuppernden Fall noch dabei zusehen, wie eine der beiden jungen Frauen die andere zur knackigen Mutprobe überreden muss, zum Leidwesen zuversichtlicher Lebensaussichten, bleibt der Hochmut bei diesem Thriller außen vor. Diese zwei Mittzwanzigerinnen  – mental recht unterschiedlich gelagerte Schwestern – machen sich nach längerer Zeit wieder mal gemeinsam zu einem Tauchgang auf, irgendwo an der Küste Maltas. Klar beginnen solche Filme stets mit einem psychosozialen Epilog, meistens auf der Fahrt im Auto zum Ort des Geschehens oder überhaupt nur via Smartphone (siehe The Shallows). Wir erfahren nicht viel von den beiden: Anscheinend hat die eine – May – ein viel angespannteres Verhältnis zur gemeinsamen Familie als die andere – Drew. Irgendetwas hat das Ganze auch mit einem womöglich verunglückten Vater zu tun, der die beiden Töchter wohl schon Zeit ihres Lebens mit dem nassen Element vertraut gemacht hat. Das Tauchen scheint also Routine zu sein, beide sind Vollprofis und dürfen auch legitimerweise irgendwo an einem geeigneten, aber wilden Tauchspot ins Wasser gehen.

Gesagt getan, Drew und May springen ins tiefe Blau, finden eine spektakuläre Höhle inmitten aufgetürmter Felsen und können Unterwasser gar kommunizieren, dank der technikaffigen May, die gleich mit zwei Interkom-Tauchmasken Eindruck schindet. Somit haben wir auch jede Menge Dialog, je tiefer beide sinken, und dann passiert das: Ein Felssturz an der Küste zieht die submarine Landschaft in Mitleidenschaft. Und nicht nur die: May wird in rund 28 Metern Tiefe zwischen zwei Gesteinsbrocken eingeklemmt. Ein Szenario, dass an Danny Boyles Verzweiflungsdrama 127 Hours erinnert. Doch keine Sorge, hier säbelt niemand irgendwem etwas ab. Es kommt ganz anders. Und dieses Andere dreht sich um ein wichtiges Element, dass beide einem Physiktest unterzieht, der sich gewaschen hat: Luft. Sei es komprimierte Atemluft aus der Flasche, sei es Stickstoff im Blut oder die frische Brise oberhalb der Wellen. Sauerstoff wird zum Feind auf Zeit, zum perfiden Stoppuhr-Drillmeister. Denn um überhaupt irgendwelche Überlegungen anzustellen, wie man Schwesterherz retten kann, muss Frau mal durchatmen können.

Stets entweicht die Luft in Maximilian Erlenweins spannendem Tauchsportthriller nach oben. Entweder, um das atembare Gemisch innerhalb natürlicher Taucherglocken auszugleichen oder wenn das Tarier-Jacket undicht wird. Irgendwo steigen immer irgendwelche Bläschen auf, und das ist in den meisten Fällen gar nicht gut. Erlenwein, der mit den Filmen Schwerkraft und Stereo vor allem das Genre des Buddyfilms gerne als Psychothriller inszeniert, findet hier, in der Neuverfilmung des schwedischen Streifens Breaking Surface aus dem Jahr 2020, nicht immer die richtige Balance zwischen Spannung und Drama. Die Backgroundstory der beiden Schwestern ist vernachlässigbar – so wirklich gerne will sich Erlenwein damit nicht auseinandersetzen. Einige romantisch-verklärte Rückblenden im Gegenlicht der Nachmittagssonne sollten reichen, um die Vergangenheit mit ins Spiel zu bringen – was den Film aber kaum bereichert. Erlenwein weiß aber, worauf er sich konzentrieren muss: Erstens auf das Ringen um Atemluft, und zweitens auf Sophia Lowe als die draufgängerische Schwester Drew, die formidabel widerspiegelt, wie man unter Zeitdruck, emotionalem Stress und Panik eine Lösung für ein schwieriges Problem finden muss. Dabei ist verblüffend, festzustellen, dass es kaum eine Aktion gegeben hätte innerhalb einer ganzen Reihe von Versuchen, die man nicht selbst probiert hätte. Das Gefühl, gehetzt zu sein; die extreme Verantwortung, um ein Leben zu retten – das ist das, was The Dive zelebriert. Zwar ist das schauspielerisch nicht das Gelbe vom Ei, denn da gibt es, um mit den Worten zu spielen, ordentlich Luft nach oben – die verzwickte, dicht gepackte Handlung und das psychische Dilemma wird aber zum spannenden, völlig plausiblen Survivaltrip.

The Dive (2023)

Sympathy for the Devil (2023)

IM OVERACTING DURCH DIE NACHT

5/10


sympathyforthedevil© 2023 Leonine


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: YUVAL ADLER

DREHBUCH: LUKE PARADISE

CAST: NICHOLAS CAGE, JOEL KINNAMAN, KAIWI LYMAN, CAMERON LEE PRICE, BURNS BURNS, ALEXIS ZOLLICOFFER, RICH HOPKINS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Was habe ich da unlängst gelesen? Nicholas Cage hat beschlossen, weniger Filme zu machen? Würde dieser Vorsatz für 2024 tatsächlich Gestalt annehmen, blieben immer noch genug Werke übers Jahr verteilt übrig, um den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht wird er ja wählerischer, und nicht jedes dahergelaufene Drehbuch wird von ihm vor der Rundablage bewahrt. Man merkt auch: die Wahl seiner Filme ist längst eine durchdachtere. Mehr Abwechslung heisst es längst. Demnächst wird er in Dram Scenario einen Mann geben, der in den Träumen anderer auftaucht und folglich für Unordnung sorgt. Diesmal allerdings, in Sympathy for the Devil (dabei muss ich unweigerlich an den Song der Rolling Stones denken), sorgt er für Trouble am Rücksitz eines Privat-PKWs, der von Joel Kinnaman gelenkt wird. Dieser gibt einen erschreckend farblosen Durchschnittstypen, der in Kürz nochmals Papa werden wird. Auf dem Weg ins Krankenhaus – oder genauer gesagt: bereits dort angekommen, wird dessen restliche Agenda so ziemlich über den Haufen geworfen. Ein rotmähniger Typ mit Glitzersakko, quasi aufgedonnert fürs Casino, zwängt sich ins Auto und hält dem verstörten Bürger eine Waffe unter die Nase. Entbindung ist also nicht, viel eher begeben sich die beiden wieder auf die Straße, quer durch Las Vegas und darüber hinaus. Dieser scheinbar vom Wahnsinn anheim geholte Typ hat irgendeine Rechnung offen. Oder er will einfach nur von A nach B. Irgendetwas scheint da nicht auserzählt, da lauern Geheimnisse am Fahrbahnrand, die nach und nach in den Schein der Straßenlampen kommen, wenn nicht gar ins heimelige Licht eines Diners im Nirgendwo, ganz klassisch im Sechzigerlook und mit kaum fluktuierender Kundschaft, denn es ist mitten in der Nacht, und vielleicht ist Cage gar einer, der aus dem Reich des Unerklärlichen kommt.

Lange hält uns Yuval Adler (u. a. Die Agentin, The Secrets wie Keep – ebenfalls mit Joel Kinnaman) im Unklaren darüber, was die beiden eigentlich verbindet oder nicht verbindet. Und eigentlich ist es auch ziemlich egal. Denn das Einzige, was an diesem Film wirklich fasziniert, ist Nicholas Cage. Zweifelsohne ist der Mann immer noch eine einzigartige Nummer. Sein Overacting ist Markenzeichen, und in vielen anderen Fällen ist dieses Outrieren, wie man in Fachkreisen auch noch sagt, ein Manko. Beim Coppola-Neffen allerdings nicht. Selbst Overacting muss man mal können – dabei ist die Darstellung seiner Figur, wenn man mal die schauspielerischen Spitzen wegnimmt, souverän angelegt, zeugt von Können und bleibt auch glaubhaft. Schwer hingegen hat es da Joel Kinnaman. Gegen Cage hat dieser keine Chance, auch wenn seine Figur vieles zu verbergen scheint und lange Zeit so tut, als wäre nichts. Wenn der für diese Art Film unvermeidliche Storytwist uns Zusehern dann die Gnade erweist, aus seinem Drehbuchloch hervorzukommen, entgleitet die Rolle. Doch Cage schert das nicht. Er weiß, dass er seinen Filmpartner platt macht, auch wenn das Kräftemessen zwischen den beiden ab und an die Seite des Siegers wechselt. Auch das ist vorhersehbar, denn wie sonst soll man Spannung in einem Film halten, der sich mit einigen Ausnahmen als Zweipersonen-Thriller durch die Nacht kämpfen muss. Filme dieser Art gibt es viele, anderen fällt dabei gerne Collateral mit Tom Cruise und Jamie Foxx ein. Doch dieser Film ist, was er ist, und betrachtet seinen Plot maximal aus sozialphilosophischer Distanz. Adler zieht in seinem Film aber eine gewichtige Background-Ebene ein, die das ganze Dilemma letztlich erklären soll. Nun, es bleiben wenige Worte für eine dünne Story, die, sobald man sie gehört hat, schnell wieder in Vergessenheit gerät. Die Courage zum Psychothriller als perfides Spiel mit Identitäten reicht leider nicht ganz, um in seiner Prämisse zu überzeugen. Cage als manisch grinsender Rotschopf hingegen kann noch einige Zeit länger in Erinnerung bleiben. Sympathy for the Devil ist kaum der Rede wert, die Sympathy for Nicholas Cage jedoch schon.

Sympathy for the Devil (2023)

Fair Play (2023)

MANN HAT ES – FRAU AUCH

7,5/10


fairplay© 2023 MRC II Distribution Company, L.P.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: CHLOE DOMONT

CAST: PHOEBE DYNEVOR, ALDEN EHRENREICH, EDDIE MARSAN, RICH SOMMER, GERALDINE SOMMERVILLE, SEBASTIAN DE SOUZA, BRANDON BASSIR, SIA ALIPOUR U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Sie sind jung, sie sind ehrgeizig und aufstrebend, sie sind… von gestern. Zumindest einer der beiden, und zwar er, der ach so verständnisvolle Mann im Haus, genannt Luke. Als Analyst in einem Investmentunternehmen teilt er sich den Arbeitsplatz mit seiner Geliebten und alsbald Verlobten, der nicht minder karriereorientierten Emily. Noch ist alles eitel Wonne, beide sind beruflich auf Augenhöhe, beide müssen sich vom CEO Mr. Campbell (fies: Eddie Marsan), einem sardonischen Kapitalhai, der keinen Respekt vor Untergebenen hat, Beleidigungen jedweder Art gefallen lassen und dürfen ganz sicher nichts Privates mit in die Firma nehmen. Daher ist auch die Liaison der beiden streng geheim. Beide tun so, als wäre nichts. Daheim aber ist die Liebe am Lodern, die Leidenschaft ebenso, und die Männlichkeit drauf und dran, ins stereotype Heldenhafte zu wachsen, geht doch das Gerücht um, das Luke alsbald den Preis für seine Zielstrebigkeit kassieren wird: als neuer Portfoliomanager (was immer das auch ist) soll er den ins Off gekickten Vorgänger, der schon mal Nerven schmeißend die Elektronik seines Büros zertrümmert hat, bevor er gehen hat müssen, ersetzen.

Normalerweise könnte man meinen: Natürlich bekommt der Mann den Zuschlag, wir leben schließlich und leider Gottes in einer diskriminierenden Welt. Doch es kommt anders. Emily gerät in den Fokus der Chefetage – nicht, weil Frauenquoten erfüllt werden müssen, sondern weil sie genau das leistet, was Campbell als vielversprechend für die Erfolgskurve seiner gnadenlosen Diktatur betrachtet. Und nun stellt sich die Frage: Ist Luke als Mann von Morgen bereits so weit in der neuen und gerechten Ordnung einer Gesellschaft angekommen, die akzeptiert, wenn das „schwache Geschlecht“ plötzlich mehr Macht und Geld hat als jenes angeblich starke, das immer noch glaubt, Frauen beschützen zu müssen?

An diese Umkehrrechnung macht sich Langfilmdebütantin Chloe Domont heran, ohne auf Klammern, Plus- und Minuszeichen zu vergessen. Diese Gleichung geht auf, ihr selbst verfasstes Karrieredrama ist spannend und aufwühlend wie ein Thriller, bissig wie eine Satire und so beobachtend wie ein Psychodrama. Netflix holt sich Fair Play – ein Titel, der recht austauschbar anmutet, aber man sollte sich nicht davon abschrecken lassen – als eines seiner Highlights des diesjährigen Streaming-Jahres ins Programm. Wer hätte das gedacht, dass ein Werk, von dem man glauben hätte können, es wäre ein regressiver Schmachtfetzen mit Liebe, Intrigen und wilder Romantik im Stile der 50 Shades of Grey, letztendlich eine Schärfe an den Tag legt, die gesellschaftlichen Machtkämpfen wie Michael Crichtons Enthüllung längst das Wasser reichen kann. Prickelnde Erotik, erwartbares Hickhack im Rahmen eines zu erwartenden Rosenkrieges – ganz so einfach macht es sich Chloe Domont in ihrem selbst verfassten Skript zum Glück nicht.

Dankenswerterweise darf Alden Ehrenreich, der junge und zu Unrecht verschmähte Han Solo, seinen normativen Gentleman raushängen lassen – verständnisvoll, scheinbar aufgeschlossen dafür, Paradigmenwechsel gutzuheißen und liberal bis dorthinaus, um seiner besseren Hälfte jenen Erfolg zu gönnen, den wohl er selbst gerne gehabt hätte. Zugegeben, das ist nicht leicht, die eigene Niederlage wegzustecken. Doch wo hört da die in Fleisch und Blut übergegangene Erziehung von vorgestern auf, als wir alle noch die alten und unfairen Rollenbilder gelehrt bekamen? Wo fängt die Loslösung davon eigentlich an? Und ist sie überhaupt schon im Gange? Oder sind das alles nur Lippenbekenntnisse? Dieser Analyse muss sich Ehrenreich stellen, während Phoebe Dynevor (bekannt aus Bridgerton) die neue Ordnung dankend annimmt, ohne dabei aber in einen ähnlichen Chauvinismus zu verfallen, wie ihn Männer manchmal haben. Dieses Ungleichgewicht und der stets scheiternde Versuch, berufliche Neuordnung nicht gleich als Entmannung anzusehen, machen Fair Play zu einer stets aufgeräumten und niemals allzu dreckigen, aber intelligenten Nabelschau, die, noch viel stärker oder zumindest gleich stark wie Greta Gerwigs Satire Barbie, gerade jene Versatzstücke seziert, die urbanes Mann-Sein öffentlich ausmacht. In der erbarmungslosen Welt des Geldes und des Erfolges, die keinerlei Werte kennt, außer den der Gewinnmarge, sind noble Vorsätze wie Fürze im Wind.

Es tut fast körperlich weh, Ehrenreich bei seiner Entmannung zuzusehen. Erschreckend dabei ist: Nichts davon scheint so sehr überzeichnet, um lachhaft zu wirken. Die Verzweiflung, die masochistische Lust an der Erniedrigung, die eruptive Gewalt als letztes Machtinstrument, das einem Mann wohl bleibt: Selten war ein Film über das Ringen der Geschlechter so glasklar.

Fair Play (2023)

Der Killer (2023)

TAGESGESCHÄFT EINES ZYNIKERS

5,5/10


derkiller© 2023 Netflix


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: DAVID FINCHER

DREHBUCH: ANDREW KEVIN WALKER, NACH DER GLEICHNAMIGEN COMICSERIE VON MATZ

CAST: MICHAEL FASSBENDER, TILDA SWINTON, SOPHIE CHARLOTTE, CHARLES PARNELL, KERRY O’MALLEY, SALA BAKER, ARLISS HOWARD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Gewerkschaften gibt’s für diese Branche keine. Auch die Hotline für den Kundendienst sucht man vergebens. Denn Auftragsmörder müssen alles selber machen. Naja, fast alles. Zumindest erhalten sie ihre Aufträge über getarnte Mittelsmänner und -frauen, die im Falle eines Deals ordentlich mitschneiden. Doch mehr ist da nicht. Und ist der Kunde mal unzufrieden, kann er sich seine Beschwerde sonst wohin stecken. Das wäre im regulären und auch legalen Dienstleistungsgewerbe eine vielleicht zwar ärgerliche, aber nicht so große Sache. Doch wenn es darum geht, eine Zielperson zu liquidieren, die dem Kunden sauer aufstößt, und diese Liquidation dann so richtig versemmelt wird, würde man als unzufriedener Auftraggeber dann doch gerne sein Herz ausschütten wollen.

Da der Killer aber den Beschwerden kein Ohr schenken kann, weil er ausschließlich damit beschäftigt ist, unterzutauchen, bleibt nur noch die Möglichkeit, den Auftrag zu annullieren. Was dabei im Notfallplan ganz oben steht, ist das Einschläfern des Killers selbst, denn nicht erbrachte Leistung kann für jene, die sich die Finger nicht schmutzig machen wollen, unschöne Folgen haben. Bei so einer Zero Tolerance-Arbeitsphilosophie hätte ich als asketischer Perfektionist, wie Michael Fassbender ihn darstellt, längst auf ein anders Pferd gesetzt. Anscheinend aber ist der Mammon wieder mal alles, und der Rest, wie er selbst sagt, scheißegal. Dieser Killer also, der so viele Namen trägt, wie der Film Minuten hat, „gschaftlhubert“ sich, wie man in Österreich sagen würde, durch einen durchgestalteten Notfallplan, der zum Tragen kommt, wenn der Schuss danebengeht. Stets ist uns der Mann mit dem Hut in seinen Gedanken einen Schritt voraus – ehe das Publikum begreift, was er vorhat, sitzt Fassbender wieder irgendwo im Flieger, völlig unverdächtig mit Sonnenbrille und scheelem Blick, denn es könnte der Verbraucherschutz hinter ihm her sein.

Basierend auf der Comicserie von Matz, hat David Fincher einen Finsterling erschaffen, der weder Moral- noch Wertvorstellungen besitzt. Will man so einer Person zwei Stunden lang durch einen Film folgen? Warum nicht, schließlich kann es ja sein, dass diese im Laufe ihrer Tätigkeit an Grenzen stößt, die das Spektrum erweitern oder die Sicht auf die Dinge vielleicht verändern. Doch mit irgendwelchen moralischen Zeigefingern fuchtelt Fincher nicht herum – im Gegenteil. Für diesen Killer, dessen Motivation keinerlei Erwähnung findet, auch wenn er langmächtig herumphilosophiert, gibt es kein Zurück. Auf irreversible Weise hat er sich selbst definiert, und unter dieser Überzeugung übt er auch Vergeltung. Womit wir wieder bei Schema F jener Sorte von Thriller wären, die Auftragskiller gerne gegen ihre Kundschaft losschickt, aus Rache oder persönlicher Kränkung; weil sie endlich frei sein wollen (siehe John Wick oder Kate) oder weil sie doch noch sowas wie ein Herz haben (siehe Leon, der Profi).

Etwas allerdings ist dann doch anders als sonst. Fernab jeglicher hieb-, stich- und schussfester Akrobatik probt Fincher die pragmatische Reduktion im Zwielicht, als Schattenriss unter Straßenlaternen oder im verwaschenen Halo indirekter Lichtverschmutzung. Fassbender rezitiert sein abgedroschenes Mantra, das unter anderem beinhaltet, niemanden zu trauen und sich nicht ablenken zu lassen. Binsenweisheiten eines Überheblichen, bei dem man sich wünscht, dass er damit nicht durchkommt. Im Grunde sehen wir einem Verbrecher bei seiner Arbeit zu, der, vom Tagesgeschäft überrumpelt, wie einst Alain Delon Schadensbegrenzung übt, indem er, unter anderem im Zuge knochenharten Hickhacks mit Kollegen, Schaden verursacht. Eiskalt und ohne Mitgefühl, dadurch aber unsagbar zynisch und arrogant, gewinnt der Killer niemanden für sich. Finchers Charakterstudie hat somit keinerlei Mehrwert. Und anders als in Formaten wie Breaking Bad, wo die moralisch Verkommenen immerhin noch ein bisschen was an ihrer schwarzen Weste weiß halten, weil sie gewissen Werten folgen, bleibt diesem hier nicht mal das. Wie ernüchternd.

Der Killer (2023)