Anemone (2025)

EIN FILM ÜBER WOLKEN

6/10


© 2025 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: RONAN DAY-LEWIS

DREHBUCH: RONAN DAY-LEWIS, DANIEL DAY-LEWIS

KAMERA: BEN FORDESMAN

CAST: DANIEL DAY-LEWIS, SEAN BEAN, SAMANTHA MORTON, SAMUEL BOTTOMLEY, SAFIA OAKLEY-GREEN, ADAM FOGERTY, KARL CAM, MATTY LUMSDEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Der König des Method Actings ist zurück: Daniel Day-Lewis. Was ihn wohl bewogen hat, wieder vor die Kamera zu treten? Natürlich der eigene Sohnemann, Ronan Day-Lewis, der angesichts dieses vielfach oscarprämierten Einflusses gar nicht anders kann, als nicht im Filmbiz seine berufliche Zukunft zu verorten. Nach Kurzfilmen und einem Musikvideo geht der Mittdreißiger nun seinen ersten abendfüllenden Spielfilm an, in den er alles mögliche hineinsteckt, was auch nur irgendwie dramatisches Gewicht hat. Wer könnte das alles nicht besser stemmen als der eigene erfahrene Schauspielvater, der sich vielleicht sogar hat lange bitten lassen, sogar vom Nachwuchs. Doch nun ist es geschafft, die Hürde genommen, Day-Lewis ist wieder da, mit grauem Haar, partiellem Vollbart und argwöhnischem Blick. Der Vater spielt einen Vater, doch einen, der den eigenen Sohn gar nicht mal kennt. Day-Lewis Senior und Junior haben dieses Projekt gemeinsam durchgezogen, zumindest das Drehbuch, während Freund Brad Pitt mit seiner Firma Plan B das Ganze produziert hat. Anemone nennt sich dieses düstere Wetterpanorama von Psychodrama, in dem sich die Wolken türmen und alles andere erdrücken.

Der Papa wird’s schon richten?

Zugegeben, einem Wetter wie diesem hier im Film kann ich einiges abgewinnen, ist gefühlt zehntausendmal besser als blauer Himmel. Der Sturm knechtet den düsteren, feuchtnassen Wald irgendwo im Norden Englands, regenschwere Drohkulissen schieben sich übers Meer, die Witterung nimmt die gepeinigte Seele eines Aussteigers in die Mangel, der, fernab der Zivilisation in der Wildnis sein restliches Dasein fristet. Dieser knorrige und grimmige Mann ist Ray – eine dankbare Rolle für Day-Lewis, mit der er improvisieren kann wie es ihm gefällt. Alles hat er hinter sich gelassen: den nordirischen Krieg gegen die IRA, ein ihm angelastetes Kriegsverbrechen, die Desertierung aus dem Militär, die Partnerin, den Sohn, das ganze bisherige Leben. Als ob die Verfolgung durch all die Dämonen nicht reicht, steht eines natürlich düsteren Tages Bruder Jem (Sean Bean) vor der Tür. Ebenso wortkarg, ebenso skeptisch, und vielleicht gar viel zu viel fordernd. Denn Rays unbekannter Sohn steckt in einer Krise. Niemanden dringender würde er nun an seiner Seite brauchen als den eigenen Vater. Tja, warum auch immer. Doch womöglich sind es ähnliche Dämonen, die Stoker Junior verfolgen wie die, die dem Senior Albträume bescheren.

Reden wir nicht übers Wetter

Betrachtet man Anemone aus einiger Entfernung, schrumpft das auf Spielfilmlänge gedehnte, bitterernste und kantige Superdrama, das sich mit dunklen, schweren, gesättigten Bildern schmückt, von denen man am liebsten kosten möchte und jeden Moment darauf wartet, dass der Regen von der Leinwand tröpfelt, auf eine Momentaufnahme zusammen. Viel Handlung hat Ronan Day-Lewis‘ Film daher keine. Wettgemacht wird der Umstand durch Kontemplation und Entschleunigung – und Wolken. Ganz vielen Wolken. Das Wetter ist in Anemone das Um und Auf, entspricht es doch den Gefühlszuständen eines ganze seitenlange Textblöcke rezitierenden Daniel Day-Lewis, der sowas womöglich schon immer machen wollte: Reden, reden, reden. Und er redet, redet, redet, anfangs zwar nicht, aber dann sprudelt es aus ihm heraus. Was man so hört, sind keine schönen Sachen, sie handeln von Missbrauch und Gnadenschüssen, von ewiger Reue und einem gequälten Gewissen. Sean Bean hört zu, bekümmert und mitfühlend. Beide halten ihre Gesichter in das Zwielicht des Tages, zerfurcht, verbraucht, versteinert.

Entspannung durch Niederschlag

Ronan Day-Lewis hatte für seinen ersten Langfilm ganz sicherlich eine Vision. Sein Handwerk versteht er, vor allem dann, wenn die schwer vom Fleck kommende Story mit dem Mysteriösen, Metaphysischen, Allegorischen kokettiert. Schöne Bilder sind da, abgelöst von einem irren Naturschauspiel, in dem es zum Glück keine Frösche regnet wie in Magnolia. Dann endlich entlädt sich die ganze aufgestaute, gravitative Energie, um einen wie ein Tornado um sich selbst kreisenden reumutigen Daniel Day-Lewis zurück auf den Boden eines kollektiven Neuanfangs zu bringen. Anemone ist wagnerische Katharsis und Schauspielvehikel für einen gern gesehenen Wiederkehrer, sich selbst aber immer wieder erdrückend und manchmal scheint es, als würde man keine Luft holen können.

Anemone (2025)

Mein Sohn, der Soldat (2022)

VÄTERLICHE PFLICHTEN IM SCHÜTZENGRABEN

3,5/10


© 2022 – UNITÉ – KOROKORO – GAUMONT – FRANCE 3 CINÉMA – MILLE SOLEILS – SYPOSSIBLE AFRICA


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL 2022

REGIE: MATHIEU VADEPIED

DREHBUCH: OLIVIER DEMANGEL, MATHIEU VADEPIED

CAST: OMAR SY, ALASSANE DIONG, JONAS BLOQUET, BAMAR KANE, OUMAR SEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Es gibt Weltkriegsfilme, die sind so außerordentlich kraftvoll inszeniert, da fühlt man sich unweigerlich am Kragen gepackt und mitgezerrt auf einen Trip voller Angst, Schmerz und Hoffnung. Ein solcher Film ist Sam Mendes scheinbar in einem Take gefilmte Odyssee 1917. Dadurch, dass Mendes nicht nur die Memoiren seines Großvaters verarbeitet hat, sondern eben auch seinen Fokus enorm stark auf das Individuum setzt, lässt das Drama keinerlei Distanz zu. Der Zuseher, in diesem Fall ich, hängt am Rüstzeug des Soldaten, folgt ihm durch den Schützengraben, springt dem Tod immer wieder von der Schippe, wühlt sich durch Trümmer hindurch ans rettende Tageslicht. Dann gibt es Filme, die meinen, noch persönlicher werden zu können, noch mehr aufzuwühlen als „nur“ anhand eines gnadenlosen Einzelschicksals. Filme wie Mein Sohn, der Soldat.

Allein vom Titel her treibt es einem schon im Vorfeld die Tränen in die Augen. Verstärkt wird die Vorschuss-Wehmut dadurch, wenn man selbst eine Vater-Sohn-Beziehung lebt. Dieser Film verspricht hier etwas Schmerzvolles, noch dazu mit Hinblick auf die entbehrungsreiche französische Kolonialgeschichte des Landes Senegal. In der Hauptrolle findet sich Omar Sy wieder, der seit Ziemlich beste Freunde, einem modernen Meilenstein des europäischen Kinos, gut gebucht von einem Set zum anderen hetzt und ganz vorne mitspielt, sogar im Marvel-Franchise (siehe X-Men). Der französische Weltstar dürfte sich am Set von Ziemlich beste Freunde wohl mit Mathieu Vadepied angefreundet haben, dem Kameramann. Der wiederum hat nun, für Mein Sohn, der Soldat, ins Regiefach gewechselt, die Kamera hat dann jemand anderer übernommen. Nach einigen Kurzfilmen war das hier Vadepieds erster Langfilm, noch dazu ein schwieriges, hochemotionales Thema um Selbstbehauptung, Identität und Patriarchat. Um Autorität, Verantwortung anderen gegenüber und sich selbst. Wie all diese inhaltliche Schwere stemmen? Vielleicht gar nicht.

1917 lief es in den Kolonien ungefähr so, als wären Sklavenjäger zugange. Damals, um den Ertrag an den Baumwollplantagen in Übersee zu steigern. Diesmal aber, um den Nachschub an der französischen Front zu sichern, das Rauben von Menschen vom Fleck weg aus ihren Dörfern war zu damaligen Zeit nur legitim, schließlich muss der Unterworfene seinem Herrn dienen. Es wäre aber nicht der Hirte Bakary (Omar Sy) gewesen, den sie zwangsrekrutiert hätten, sondern dessen Sohn Thierno (Alassane Diong). Kann ein Vater dabei zusehen, wie das eigen Fleisch und Blut als Kanonenfutter herhalten muss? Nein, ein Vater darf den Sohn nicht im Stich lassen – also meldet er sich freiwillig. Nur, um später festzustellen, wie sehr er sich darin getäuscht hat, noch von Nutzen zu sein für jemanden, der längst aus dem Nest hätte fallen sollen. Im Zuge des militärischen Einsatzes schließlich wird klar, dass Thierno im Wahrnehmen seiner Pflicht an Selbstwert gewinnt und plötzlich wichtiger ist als er jemals hätte sein können, daheim in der Sahelzone.

Der Plot ist gut, der Konflikt hochinteressant – die Umsetzung ist es leider nicht. Omar Sy und Alassane Diong spielen selbst wie Zwangsverpflichtete, die Dramaturgie ist zäh und bruchstückhaft. Die Emotionen spießen sich am lieblos ausgearbeiteten Skript, das dem Seelenleben seiner Protagonisten partout nicht auf den Grund gehen will. Hier spürt man und erfährt man nichts, lediglich die kolportierte Oberfläche eines Macht- und Gesinnungswechsels. Prinzipiell würde Mein Sohn, der Soldat einen Blickwinkel auf die Kriegsgeschichte gewähren, den man so noch nicht gesehen haben könnte. Doch am Ende war die Chance auf eine Innovation im Genre nur ein leeres Versprechen. Dieser Krieg bleibt ein mut- wie wutloses Stück schale Aufarbeitung. Die spektakulären Bilder zwischen Kugelhagel und aufgewühltem Schutt lassen sich dabei problemlos verdrängen.

Mein Sohn, der Soldat (2022)

The Village Next to Paradise (2024)

WIE TRÄUMT MAN AM HORN VON AFRIKA?

6,5/10


thevillagenexttoparadise© 2024 Freibeuter Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SOMALIA 2024

REGIE / DREHBUCH: MO HARAWE

CAST: AHMED ALI FARAH, ANAB AHMED IBRAHIM, AHMED MOHAMUD SALEBAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


„Erzählst du mir wieder von deinen Träumen?“, fragt der eine Junge seinen ehemaligen Schulkollegen, und zwar deswegen ehemalig, da die Bildungseinrichtung im Dorf namens Paradies mangels Lehrkräfte dicht machen musste. „An die kann ich mich nicht mehr erinnern“, entgegnet Cigaal. Vielleicht, weil Träume mit Aussicht auf eine bessere Zukunft Teil der Realität geworden sind. Sein Vater Mamamrgrade hat ihn schließlich aufs Internat geschickt. Damit irgendetwas wird aus ihm, wenn schon die Erwachsenen an den wenigen Möglichkeiten, die es braucht, um im Leben weiterzukommen, ihre ganze Motivation verbrauchen. Eine gute Ausbildung ist alles, genauso wie die Bereitschaft, sich für alles anzubieten. Denn Mamamrgrade ist nicht nur Lieferant für heiße Ware, sondern vor allem auch Totengräber, der vermehrt Opfer von Terroranschlägen und Drohnenangriffen in der knochentrockenen Erde Somalias verscharrt. Seine Schwester Araweelo hat indes mit einer gescheiterten Ehe zu kämpfen und mit dem Traum einer eigenen Schneiderei. Dafür gelingt es ihr zumindest, einer Nähmaschine habhaft zu werden. Der Rest solle dann folgen. Und dafür braucht es Geld, einen ganzen Haufen dieser ausgefransten, abgegriffenen, speckigen Scheine, welche die inflationäre Währung am Horn von Afrika verkörpern.

Wenn man von Somalia etwas mitbekommt, dann sind es von Piraten in ihren Schlauchbooten aufgebrachte Frachtschiffe wie in Captain Phillips von Paul Greengrass. Oder katastrophal danebengegangene Missionen des US-Militärs, wie sie Ridley Scott in Black Hawk Down so fühlbar vor Augen führt. Von Gewalt, Krieg und religiösem Fanatismus ist in The Village Next to Paradise nichts oder nur sehr wenig zu sehen. Jene Anarchie eines Landes, die es in die Schlagzeilen bringt, schwelt am glutheißen Horizont, während die Anarchie einer Gesellschaft, in der jede und jeder selbst improvisieren muss, um nicht unterzugehen, Erwähnungen im Auslandsfernsehen kaum wert sind. Am Horn von Afrika findet, man möchte es kaum glauben, sogar so etwas wie Alltag statt. Werte, Würde und Beharrlichkeit sind selten etwas, wofür die Erziehung Ressourcen übrighat. Die Not bringt Tugenden – oder manchmal auch die falsche Entscheidung.

Der aus Somalia nach Österreich immigrierte Autorenfilmer und Kurzfilmkünstler Mo Harawe hat mit The Village Next to Paradise seinen ersten Langfilm inszeniert und diesen ins Programm der diesjährigen Viennale gebracht. Man könnte jetzt davon ausgehen, dass Harawe wohl kaum jene Mühsal auf sich genommen hat, um tatsächlich vor Ort am Schauplatz der Geschichte zu filmen. Doch das hat er getan – und verleiht damit seinen Alltagsbeobachtungen eine intensive dokumentarische Authentizität, die es schafft, die fremde Realität für kurze Zeit als die eigene wahrzunehmen. Das liegt vielleicht daran, dass es Harawe nicht darum geht, poetische Verklärungen aus einem exotisch anmutenden Land auf gefällige Weise einem Weltpublikum näherzubringen, um vielleicht die Werbetrommel im Tourismus Somalias zu rühren. Der ist faktisch nicht vorhanden, und während dieser im Eigenantrieb voranschlurfenden Tagen wird klar, wie sehr Harawe einerseits seine Heimat vermissen muss, andererseits, wie sehr es ihm wohl auch daran gelegen hat, dem Unzulänglichkeiten eines Staates, der seine Bürger weitestgehend ihrem Schicksal überlässt, ins Auge zu sehen. Und das Leben, welches so ganz anders abläuft, als wir es gewohnt sind in den luxuriösen europäisch-westlichen Breiten, folgt dabei der Begrifflichkeit von Zeit, die uns womöglich wahnsinnig machen würde, da Schnelllebigkeit nichts ist, womit sich Somalier herumschlagen müssen.

Vieles, wenn nicht alles, verläuft mit angezogener Handbremse. Mit lakonischem Phlegma ringen Menschen mit ihrer Existenz, doch nicht, wie man erwarten würde, schicksalsergeben. Hier in Somalia ist der Rhythmus der eines träge schlagenden Herzens. Und was andernorts auf eine Filmlänge von knapp 90 Minuten heruntergebrochen werden könnte, füllt in The Village Next to Paradise eine satte Überlänge, und zwar so, als gäbe es kein filmisches Ende, als würde Harawe gar nicht daran denken, einen Schlusspunkt zu setzen. Ich beobachte ihn, wie er einen nach dem anderen verpasst, immer weiter zieht das Schicksal, der Zufall und die Gunst ihre Kreise, das Sitzfleisch wird mürbe. The Village Next to Paradise gerät fast ein Drittel seiner Spielzeit zu lang, Geduldige können sich glücklich schätzen, diese Eigenschaft zu besitzen. Alle anderen winden sich in den Sitzen, und irgendwann endet der immersive Ausflug in eine Vergessene Welt dann doch und lässt ein bisschen Hoffnung über. Ein bisschen Zuversicht, und lobt nebenher des Menschen Drang zur Erfüllung der eigenen Wünsche.

The Village Next to Paradise (2024)

The Road (2009)

WAS WERT IST, DAFÜR ZU ÜBERLEBEN

8/10


theroad© 2009 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA 2009

REGIE: JOHN HILLCOAT

BUCH: JOE PENHALL, NACH DEM ROMAN VON CORMAC MCCARTHY

CAST: VIGGO MORTENSEN, KODI SMIT-MCPHEE, CHARLIZE THERON, ROBERT DUVALL, GUY PEARCE, MOLLY PARKER, MICHAEL K. WILLIAMS, GARRET DILLAHUNT U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Einige Jahre bevor die Spiele-Schmiede Naughty Dog den modernen Playstation-Klassiker The Last of Us auf die zockende Menschheit losließ, streiften schon ganz andere Gestalten durch eine zerstörte Erde: Ein namenloser Vater mit seinem Sohn zum Beispiel als universelle Personifikationen zweier Generationen, wovon die eine den Untergang miterlebt und die andere in den Untergang hineingeboren wurde. Sie sind das letzte bisschen Menschlichkeit in einer Welt, die kaum mehr Leben auf sich trägt und unter einer fahlgrauen Wolkendecke dahindämmert, während schneegleiche Asche das Land wie ein Leichentuch bedeckt. Joel und Ellie aus The Last of Us hingegen streifen da noch durch halbwegs intakte Biomasse, während die urbanen Gefilde verrotten oder deren Bewohner in Anarchie versinken. Das Land gehört dort den von Pilzen Infizierten. In The Road aber streunen weder blutdürstende Zombies durch die Gegend, noch klicken Pilzköpfe, noch haben Aliens wie in A Quiet Place die globale Infrastruktur lahmgelegt. Diese Dystopie liefert den rationalen Kahlschlag des Untergangs: Keine Monster, keine Roboter wie in Terminator, rein gar nichts. Die Welt als Friedhof – pur, unmissverständlich und radikal. Michael Haneke hatte mit seinem Endzeitdrama Wolfzeit anno 2003 ein ähnliches Szenario heraufbeschworen, nur ohne Graufilter wie in Hohn Hillcoats Werk, das diesmal nicht oder kaum auf Horror oder Action setzt, dafür aber durch seine Reduktion und die Konzentration auf das Wesentliche zu den sensibelsten oder empfindsamsten Genre-Beiträgen zählt, die mir bekannt sind.   

Was das Wesentliche ist? Das kleinste gemeinsame Menschenmögliche, das Duo aus Fürsorger und zu Beschützenden. Das Einzige, was wir in diesem Film über das Schicksal von Terra heraushören können, ist, dass es sich um die Art der Apokalypse womöglich um einen Asteroiden gehandelt haben könnte. Doch so genau weiß man das nicht, und es interessiert Hillcoat bzw. Autor Cormac McCarthy herzlich wenig, was die Ursache hätte sein können. Worauf es ankommt, ist die bedingungslose Liebe zwischen den beiden, die nach dem Fortgang der Mutter (Charlize Theron) jahrelang durch die Gegend streifen, um Nahrung zu finden. Ziel ist die südliche Küste des Kontinents. Und sie sind nicht die einzigen, die da herumirren. Marodierende Gangs, die sich notgedrungen auf Menschenfleisch spezialisiert haben, machen das Vorwärtskommen unsicher. Immer wieder kommen die beiden in brenzlige Situationen, manchmal ist ihnen das Glück hold, dann wieder folgen Tage der Entbehrung und der Traurigkeit.

Wer will schon leben, in so einer Welt? Doch der Mensch ist auf Survival programmiert, da hilft alles nichts. Es treibt ihn an, weiterzumachen, und die stetige Flamme des Ansporns ist besagte Aufgabe, zu schützen und zuzulassen, beschützt zu werden. Als Roadmovie braucht The Road längst keine komplexe Geschichte zu erzählen, ganz im Gegenteil. Was Hillcoat schildert, sind Stationen eines inneren Kampfes und das Bezwingen eines Weges, an dessen Ende es heller sein könnte als in den Momenten der Hoffnungslosigkeit, die wie Meilensteine die Route säumen. Und derer gibt es viele. Doch sie sind voller Gnade und Respekt vor denen, die alles verloren haben. Viggo Mortensen lässt als Vater, der den radikalen Wandel immer noch nicht hinnehmen kann, tief in seine Psyche blicken. Er trägt Verantwortung, sucht aber selbst nach Geborgenheit. Der junge Kodi Smit-McPhee kennt nur die Postapokalypse – er ist der Träger der Hoffnung, während der Vater an nichts mehr glaubt außer an seinen Sohn.

Natürlich ist The Road beklemmend genug und nichts für depressiv verstimmte Gemüter. Doch allein im Handeln der beiden Protagonisten glüht das Feuer eines unerschütterlichen Willens, einer seltsam entrückten Zuversicht und der Möglichkeit, in Erinnerungen Erholung zu finden. Das läuft ganz im Verborgenen ab. Vereint mit der natürlichen Gabe der Verantwortung ist das die Essenz, um aus dem Ende einen Neuanfang zu machen. The Road bringt diese Essenz auf den Punkt und strahlt aufgrund seiner Genügsamkeit eine seltsam düsteres, aber faszinierendes Licht aus.

The Road (2009)

Nowhere Special

BEREIT MACHEN ZUM LOSLASSEN

7/10


nowherespecial© 2021 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, RUMÄNIEN, GROSSBRITANNIEN 2020

BUCH / REGIE: UBERTO PASOLINI

CAST: JAMES NORTON, DANIEL LAMONT, BERNADETTE BROWN, CHRIS CORRIGAN, VALENE KANE U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Mit der Einsamkeitselegie Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit hat mich der gebürtige Römer Uberto Pasolini nachhaltig beeindruckt. In diesem Meisterwerk – und das ist nicht übertrieben – lässt er Eddie Marsan nach Hinterbliebenen einsam Verstorbener suchen, während das Schicksal der Toten ihn selbst ereilt. Starker Tobak, kein erbauliches Thema, und trotz dieser Widmung für ein Tabu gelingt Pasolini eine wunderbar poetische, formvollendete Ode an die Nächstenliebe, die keineswegs für Trübsinn sorgt, sondern einfach nur enorm berührt, bewegt und erstaunt. Pasolini scheint einer jener Filmemacher zu sein, die sich dem gefälligen Trend an Themen auch nicht hingeben wollen. Er will vor allem einen Umstand betrachten, der es in Zeiten wie diesen mehr wert ist als viele andere, betrachtet zu werden: Das Füreinander.

Mit diesem Imperativ des Füreinander will Pasolini auch in seinem neuen Werk rund 8 Jahre später dem Dilemma des Allein- und Verlassenseins erneut die Stirn bieten. Diesmal aber aus einer ganz anderen Perspektive und einem ganz anderen Existenzbereich – nämlich jenem eines noch intakten familiären Gefüges aus Vater und Sohn. Zumindest sind hier zwei versammelt, die durch eine starke Bindung aus Liebe, Verantwortung und Vertrauen so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Dabei sei gesagt: Sohn Michael ist gerade mal 4 Jahre alt, ein süßer kleiner, recht introvertierter Bub, oftmals vor sich hin sinnierend und bei Papa all die Geborgenheit auskostend, die so ein kleiner Mensch tatsächlich braucht. Der Vater, John, gibt alles – doch wie lange noch? Wie es das Schicksal oft will, ist dieser an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Natürlich erfährt der kleine Michael davon nichts, doch diesem entgeht natürlich auch nicht, dass da irgendwas im Busch ist, wenn Papa immer mal wieder fremde Familien besucht. Warum tut er das, wird sich der Kleine wohl fragen. Ganz klar: Michael braucht neue Eltern, denn wenn John mal tot ist, hat der Kleine niemanden mehr.

Normalerweise schnürt es einem bei so etwas die Kehle zu und man bekommt kein Wort mehr heraus, weil der Frosch im Hals so groß ist. Noch dazu sieht Jungschauspieler Daniel Lamont dermaßen zum Steinerweichen aus, dass man am liebsten in den Film steigen und das Kind einfach an sich drücken will. Sich so vielen traurigen Aussichten auszusetzen – wer will das schon? Doch Pasolini ergeht sich nicht in Sentimentalitäten und hat auch überhaupt nicht vor, irgendwelche Tränendrüsen leerzudrücken. Er entwickelt einen Stil, wie ihn schon Ken Loach, der Meister des Sozialkinos, die längste Zeit souverän umsetzt – den nicht ganz nüchternen, aber objektiven Alltagsrealismus, die Draufsicht auf zwei Leben und deren Geschick, sich dem Unausweichlichen anzupassen. Die Chemie zwischen James Norton und dem kleinen Lamont stimmt, die letzten Tage und Wochen des Miteinanders verharren in einer unbekümmerten Gegenwart, anstatt sich in einer furchtvollen und verlustreichen Zukunft zu suhlen. Das macht Nowhere Special erträglich, wenngleich das gefühlvolle Drama dennoch seinen Weg findet, auf bescheidenem Wege das Herz zu berühren. Verblüffend aber, dass die Traurigkeit bei Pasolini tatsächlich von jener Art ist, die als schön empfunden werden kann. Der Schmerz eines Abschieds, verbunden mit dem Hallo eines Neuanfangs.

Nowhere Special

Falling

DEM VATER VERPFLICHTET

7/10


falling© 2021 Filmladen

LAND / JAHR: KANADA, GROSSBRITANNIEN 2020

BUCH / REGIE: VIGGO MORTENSEN

CAST: VIGGO MORTENSEN, LANCE HENRIKSEN, TERRY CHEN, LAURA LINNEY, SVERRIR GUDNASON, HANNAH GROSS, DAVID CRONENBERG U. A. 

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Wenn das nicht autobiographisch ist – ein Autorenfilm ist es auf jeden Fall. Viggo Mortensen hat bei seinem Regiedebüt nicht nur eben inszeniert – er spielt auch selbst, hat die Musik komponiert und natürlich auch das Budget bereichert. Wo Viggo Mortensen eben draufsteht, ist Mortensen auch drin. Und sein Drama – das ist nicht von schlechten Eltern. Oder eben doch. Denn diese Eltern, vorzugsweise dieser Vater, und eigentlich nur dieser Vater, hat sich so einiges anschauen lassen. Ein verbissener, zynischer, in seinem Ego sehr leicht zu kränkender Mann, ein Chauvinist durch und durch. Einer, der gerne auf die Jagd geht und dabei seinen kleinen Sohn mitnimmt, auf dass er eine Wildente vom Himmel holt – pures Glück natürlich, aber der Papa ist stolz. Dennoch sieht eine glückliche Kindheit anders aus, und das glückliche Verhältnis zu seinem Erzeuger ebenso. Die Zeitebene wechselt in die Gegenwart, wir lernen Willis, den Vater von Viggo aka John, in seinem derzeitigen Zustand kennen. Im Alter wird der Charakter nicht besser, das Weltbild zerfahrener, der Wille immer sturer. Der alte Farmer leidet mitunter an anfänglicher Demenz, wütet und zetert, schimpft, dass sich die Balken biegen. Ein Prolet unter dem Herrn, ganz tief aus der untersten Schublade jaulend – mit sich selbst verkracht, unzufrieden und misanthropisch. Noch dazu ist John mit einem Mann verheiratet – wieder ein Thema, das dem Alten gehörig stinkt. Der Sohn aber nimmt sich zusammen, legt eine geradezu buddhistische Gelassenheit an den Tag, und ist auch nicht bereit, der Provokation Zunder zu geben. Dennoch kommt der Vater auf Besuch, muss zum Arzt, will sich in Kalifornien ein Haus ansehen. Trifft die Familie, schimpft dabei, beleidigt und erniedrigt. Irgendwann allerdings reißt auch so einem gebildeten, versierten und friedliebenden Menschen wie John die Hutschnur – denn warum um alles in der Welt hat ein Kind so einen Vater verdient?

Vater-Sohn-Geschichten gibt es viele. Meistens gibt’s Streit, dann folgt die Einsicht, die Versöhnung. Im realen Leben ist das selten der Fall. Alte Menschen von etwas zu überzeugen, was ihr Weltbild erneuern könnte – kommt vielleicht alle heiligen Zeiten vor. Die Sturheit ist eine Mauer aus Stahl. Falling erzählt eine ähnliche Geschichte, einen Generationenkonflikt, wie er zu erwarten war. Der Nebencast ist etwas konfus angeordnet, die dankbar ausgestalteten Hauptfiguren jedoch überdehnen mit Eifer familiäre Bindungen bis zu den Grenzen der Belastbarkeit. Und doch entlockt Falling ganz andere, sozialphilosophische Gedanken: Ist Blut wirklich so viel dicker als Wasser? Wie weit können Eltern gehen, indem sie sich ihren Kindern gegenüber alles erlauben – bis die tributzollende Liebe zu Mutter oder Vater nicht mehr reicht? Mortensen stellt die Frage in den Raum – oder besser gesagt, er hat sie für sich längst beantwortet: es scheint fast, als hätte man als Kind eine gewisse Erziehungsschuld zu tilgen. Wie traurig, dass dabei die paar Momente familiärer Idylle eine ganze Epoche der menschlichen Entwicklung tragen sollen. Übrig bleiben Entbehrung, Scham und psychosoziale Defizite. Das macht Falling nicht gerade zu einem zuversichtlichen Drama – aus der Versenkung gehoben wird, was lange im Argen lag. Dabei kommt die Symbolik der Wildente nicht von irgendwo – Mortensen orientiert sich an den dunkelgrauen Theaterstücken eines Henrik Ibsen, in denen ebenfalls das Konstrukt der Familie durch Bohren in der Vergangenheit immer poröser wird.

Dabei hat Mortensen mit der Wahl von Lance Henriksen, den ich sonst nur als Android aus Aliens und anderen phantastischen B-Movies in Erinnerung habe, keinen besseren Berserker finden können. Mit über 80 Jahren zeigt der Schauspieler, was er eigentlich draufhat. Dabei ist sein wütender Einzelgänger mit Familienanschluss die kramzerfressene Version eines – die Österreicher kennen ihn – Edmund „Mundl“ Sackbauer (Echte Wiener), nur ohne das Herz am rechten Fleck, und ohne eine Spur von Selbsterkenntnis.

Falling ist eine intensive, in ihren aufgeladenen Konfrontationen packende und nicht minder aufwühlende Vision einer familiären Endzeit. Analogien im echten Leben sind da nicht schwer zu finden.

Falling

Kodachrome

EIN ANALOGES LEBEN

7,5/10


kodachrome© 2018 Netflix


LAND / JAHR: USA 2017

REGIE: MARK RASO

CAST: ED HARRIS, JASON SUDEIKIS, ELIZABETH OLSEN, DENNIS HAYSBERT, BRUCE GREENWOOD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Den Ploppverschluss öffnen, den Film aus dem kleinen schwarzen Plastikzylinder holen, in die Kamera rückseitig einlegen, mit der Spule verzahnen, die Kamera schließen, dann zweimal aufziehen – schon lassen sich wieder rund 36 Fotos schießen. Zu sehen waren diese natürlich noch nicht – dazu musste das ganze ins Labor. Aber wem erzähl ich das. Die meisten meiner Leser werden noch wissen, wie das funktioniert hat. Doch diese Zeiten sind so gut wie vorbei – bis auf einige wenige Enklaven der analogen Fotografie werden Bilder nur noch digital gebannt. Und da lässt sich knipsen was geht, und was die Speicherkarte von mehr als einem Dutzend Gigabyte hergibt. Das Ende einer Ära? Das Ende der liebevoll gerahmten Dias? Allerdings. Das Ende für manche Fotografen? Womöglich auch. In diesem Fall ist es das bevorstehende Ableben des berühmten, allerdings fiktiven Bildermachers Ben Ryder, der Zeit seines Lebens in der Weltgeschichte unterwegs gewesen war, mit Unmengen an Filmen in der Tasche.

Der alte Mann leidet an Krebs im Endstadium, hat aber noch vier unentwickelte Filme zu Hause, Kodachrome wohlgemerkt, die noch rechtzeitig ins letzte noch offene Fotolabor nach Kansas müssen, genauer gesagt in Dwayne’s Photoladen (den es tatsächlich gab und der auch die Grundlage war für den New York Times-Artikel For Kodachrome Fans, Road Ends at Photo Lab in Kansas aus dem Jahr 2010). Sein Sohn soll ihn dort hinfahren. Das Problem: der Sohn kann den Vater nicht riechen. Warum sollte er auch: letzterer war ein Draufgänger, wie er im Buche steht. Erziehungsauftrag? Was für ein Erziehungsauftrag? Aber sei’s drum – Sohn Matt willigt dann doch ein. Und zu dritt – inklusive Bens persönlicher Pflegerin – sind sie im Cabrio unterwegs durch die Provinz.

Netflix hat hier eine ganz spezielle und wirklich erfahrenswerte kleine Filmperle versteckt gehalten. Und die ist nicht nur für Foto-Nostalgiker sehenswert, die spätestens gegen Ende dann einen Kloß im Hals spüren. Danach werden sie vermutlich nach verbliebenen Filmspulen suchen, die noch zu entwickeln wären. Kodachrome ist ein Vater-Sohn-Melodram der alten Schule, was ja auch passend scheint – überdies zelebriert Ed Harris als knorriger, verlebter und von Krankheit gezeichneter Ex-Abenteurer ein versöhnliches Psychogramm des Endes einer ganzen Ära, eines gelebten Ideals und eines ganz anderen Handwerks. Das Gestern gebärdet sich hier in einer überraschend friedfertigen Agonie, will nur aufräumen und in guter Erinnerung bleiben. Wehmut macht sich breit, später auch bei Jason Sudeikis als Sohn mit Ehrgeiz und Prinzipien, der das bisschen Kindheit wiederfindet, das ihn mit der nur in assoziativen Resten übriggebliebenen Vaterfigur verbindet. Sonst vorwiegend in Komödien zu sehen, gibt der Kill the Boss-Spezi eine durchaus achtbare Performance ab, auch Elizabeth Olsen agiert fernab ihres exaltierten Wanda-Franchise angenehm ungekünstelt. Und Harris? Der ist nicht umsonst einer jener charismatischen Schauspieler, bei denen man, findet man ihren Namen im Cast, kurz mal freudig jauchzt. Die Rolle des alten Fotografen passt gut zu seinem unrasierten Konterfei, obendrauf ein breitkrempiger Hut und stets die Kamera geschultert. Wenn er dann mit zitternden Fingern seinen letzten Film einlegt, bewegt das nicht nur eingefleischte Fotografen und Nostalgiker, sondern auch jene, die Wert legen auf handwerklich erlesenes, mit feiner Musik unterlegtes Besinnungskino.

Kodachrome

Honey Boy

OH MEIN PAPA…

6,5/10


honeyboy© 2020 Amazon Studios

LAND: USA 2020

REGIE: ALMA HA’REL

DREHBUCH: SHIA LABEOUF

CAST: SHIA LABEOUF, NOAH JUPE, LUCAS HEDGES, CLIFTON COLLINS JR., FKA TWIGS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


…war eine wunderbare Clown“. Nicht nur Freddy Quinn, sondern auch Shia LaBeouf können davon ein Liedchen singen. Letzterer beruft sich dabei aber auf seine eigene Art von entbehrungsreicher Kindheit, aus der es sich nicht unbeschadet hervorgehen lässt, sowas bringt je nach Intensität eine posttraumatische Belastungsstörung mit sich. Erstens ist einem Kind mit gerade mal zwölf Jahren der Status eines Kinderstars auch nicht egal, und zweitens übernimmt man als Kind mit gerade mal zwölf Jahren auch nicht gerne die Verantwortung über eine Vaterfigur, die nicht von sich behaupten kann, für den eigenen Nachwuchs ein gutes Vorbild zu sein. Im Film heißt der Junge Otis, und Oh mein Papa deswegen, weil nämlicher tatsächlich mit clownesken Nummern inklusive Theaterhuhn sein Geld verdient hat. Aber wie so oft im Showbiz: die rote Nase kommt dann eher vom Hochprozentigen. Um den Altvorderen wieder auf die Spur zu holen, gibt´s einen neuen Job. Auftraggeber: der eigene Sohn, der aufgrund seines Engagements ein gutes Einkommen hat und der seinen Vater somit aus der Gosse holt. Was nicht heißt, dass Otis nicht auch noch einen väterlichen Support vom Jugendamt beigesteuert bekommt – der aber für den leiblichen Vater ein rotes Tuch zu sein scheint. Bei so einem Durcheinander erzieherischer Parameter sind Konflikte und Abstürze vorprogrammiert.

Und daher verwundert es nicht, dass Honey Boy auf zwei Zeitebenen fährt, um Symptom und Ursache gegenüberzustellen. Als erwachsener Otis (also eigentlich Shia LaBeouf) gibt Lucas Hedges den rastlosen Set-Tiger, der im 24Stunden-Takt und mit allerlei unterstützenden Drogen andauernd auf hundert Sachen fährt und mitunter auch so manchen Schaden verursacht. Was folgt, ist eine Zwangseinweisung in ein Therapiezentrum, um der Psyche Herr zu werden. Im Zuge dessen erzählt Hedges aus seiner Vergangenheit – in der wir Noah Jupe (bekannt aus Wunder oder A Quiet Place) und natürlich einem verfremdeten Shia LaBeouf begegnen, mit Halbglatze und schulterlangem Haar, was irgendwie widerlich aussieht. Ungefähr genauso gibt sich der Filmvater, zeigt sich von einer sagenhaft herablassenden Seite und meint, auf diese Weise die Abhängigkeit von seinem Sohn kompensieren zu können. Honey Boy wird zu einem familiären Krankheitsbild, zu einer kleinen, konzentrierten Studie über Abhängigkeiten und dem Hinterfragen von hierarchischer Ordnung innerhalb eines Familiensystems. Unterm Strich wird klar, dass die Hilflosigkeit der eigenen Eltern zu einer Bürde der Verantwortung für den Nachwuchs wird, der diesen Brocken einfach niemals stemmen kann – und auch niemals sollte.

Shia LaBeouf sieht man vermutlich mit anderen Augen. Und nicht nur ihn, vielleicht auch so manch eine andere exaltierte Rampensau, die womöglich niemals jemanden hatte, der in der Erziehung die so wichtigen Grenzen gezogen hat. Eine intime, persönliche Arbeit ist Honey Boy geworden – nichts fürs große Kino. Aber ganz bestimmt für den Ex-Transformers-Star – als erklärendes Statement für sein eigenes Verhalten.

Honey Boy

Uncle Frank

… AND WHAT I AM NEEDS NO EXCUSES

7/10


unclefrank© 2020 Amazon Studios

LAND: USA

DREHBUCH & REGIE: ALAN BALL

CAST: PAUL BETTANY, SOPHIA LILLIS, PETER MACDISSI, JUDY GREER, STEVE ZAHN, MARGO MARTINDALE, STEPHEN ROOT U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Erst diesen Herbst lud „Sheldon“ Jim Parsons alle seine Freunde zu einer Geburtstagsparty. Je später der Abend, desto mehr wurde das Ganze zur Gruppentherapie einer ganzen Schar Homosexueller (und einem Heterosexuellen), die sich ihrer schwierigen sozialen Lage mehr als bewusst wurden. The Boys in the Band ist übrigens ein ausgesprochen sehenswerter und berührender Film. Nicht weniger berührt Paul Bettany, der bei Jim Parsons nicht geladen war, der allerdings wunderbar diese Gruppe ergänzt hätte. Paul Bettany, bekannt als Vision aus den Marvel-Filmen und als Dryden Vos aus Solo – A Star Wars Story, gibt in diesem auf amazon prime veröffentlichten Drama eben jenen titelgebenden Uncle Frank, der sich Anfang der Siebzigerjahre mehr oder weniger von seiner Familie distanziert hat, da keiner wissen soll, dass auch er mehr auf Männer als auf Frauen steht. Der Vater, ein forscher Patriarch, dürfte schon so was geahnt haben, da er sich Frank gegenüber distanziert verhält. Als dieser stirbt, entschließt sich Frank, im Rahmen des Begräbnisses und inmitten seiner Familie sein Coming Out einzuplanen. An seiner Seite: Nichte Sophia Lillis (u. a. Es, Hänsel und Gretel), die in Frank so etwas wie ihren Seelenverwandten sieht und das ganze sensible Drama auch aus ihrer Sicht schildert.

Paul Bettany war nie besser. Wirklich nicht. Als New Yorker Literaturprofessor mit stilsicherem Oberlippenbart und gewinnendem Lächeln, der sich in urbanen Gefilden auch nicht davor scheut, sich zu seiner Beziehung mit einem Mann zu bekennen, mit der übermächtigen Figur seines Vaters allerdings zu kämpfen hat, entwickelt der Schauspieler ein nuanciertes Arrangement an Gefühlen, zeigt sich verletzlich und erschüttert. Tatsächlich lässt sich die Gefühlswelt von Uncle Frank lesen wie in einem offenen Buch, lässt sich die vernichtende Ablehnung der Vaterfigur nachspüren wie ein Amboss auf den eigenen Schultern. Gegen diese Ablehnung, gegen diese Mauer der Verachtung kämpft sich Bettany tränenreich und seine Scheu überwindend vor Richtung Akzeptanz, Toleranz und vielleicht auch Wohlwollen. Dazu braucht es Mut, gerade angesichts des fehlenden elterlichen Vertrauens ins eigene Kind. Alan Ball hat hier mit sehr viel Sorgfalt dieses emotionale Coming Out umschrieben und auch inszeniert, dank des gewinnenden und engagierten Casts ist das eine schöne, menschliche und nur in wenigen Momenten auch sentimentale Geschichte geworden, die letzten Endes manches dann vielleicht zu glatt zeichnet. Man könnte auch Zuversicht dazu sagen, und was wäre da dann verkehrt daran?

Uncle Frank

The Lego Ninjago Movie

ANOTHER BRICKS IN THE WALL

6,5/10

 

Ninjago© 2017 Warner Bros. Entertainment Inc.

 

LAND: USA 2017

REGIE: CHARLIE BEAN

MIT DEN STIMMEN VON Dave Franco, Zach Woods, Jackie Chan

 

Eine Kindheit ohne LEGO geht fast gar nicht. Und ich kann diese Review auch nicht wirklich schreiben, ohne zwangsläufig Werbung für LEGO zu machen. LEGO ist allgegenwärtig. Keine Ahnung, ob ich hier die Wortmarke LEGO überhaupt ohne ® oder TM-Vermerk hier mit einbeziehen darf. Allerdings denke ich – LEGO ist in seiner Art und Weise so konkurrenzlos, dass ich mit der im Folgenden dauerhaften Produktbenennung ohnehin offene Türen einrenne. Da kann Cobi oder wie sie alle heißen seit dem Ablauf der Lizenz für das Patent des Legosteins sowieso nicht mithalten – geschweige denn all die chinesischen Plagiate, die gern so qualitativ sein wollen wie das Original. LEGO – das ist unverwüstlich. Und motiviert auch den weltweiten Ideenreichtum im Kinderzimmer. Am besten sind ohnehin die puren Steine, Achter oder Vierer oder wie sie alle heißen. Von den Spezialsteinen rede ich gar nicht, die lizenztypischen Steine bremsen wiederum die Kreativität. Wie auch immer – es war ja nur eine Frage der Zeit, bis das Spielzeug seinen Weg auf die Leinwand findet. Mit LEGO können Filmemacher einiges anstellen – oder alles auf einmal, wie in The LEGO Movie. Eine wüste Bausteinorgie, schwindelerregend überdreht, hysterisch und knallbunt. Nach zwanzig Minuten kollabierender Reizverarbeitung kam dann bei mir das errettende selbstinitiierte Time-Out. Über The LEGO Batman Movie habe ich mir nur sagen lassen, dass dieser in seiner wüsten Chaosmanier sogar noch eines draufgelegt hat. Gut, das will ich lieber nicht so genau wissen. Viel lieber kauere ich mich im Schneidersitz ins Kinderzimmer und schlichte Steinchen für Steinchen und schaffe so eine gewisse Ordnung. Aber: Projekt incompleted. Das kann ich wohl erst machen, wenn ich in Pension oder arbeitslos bin. Es kann sich ja keiner vorstellen, wie zeit- und platzaufwändig das ist, das Projekt „Ordnung ist das halbe Lego“ durchzuziehen. Dann vielleicht doch lieber den nächsten LEGO-Film. Und wenn, dann gleich im Kino, volle Dröhnung. The Lego Ninjago Movie bietet sich an, weil LEGO Ninjago etwas ist, womit mein Sohn so einiges anfangen kann.

Also erwühlen wir uns einen der Ninjago-Helden aus der Steinchenschütte, denn die müssen neben uns auf der gepolsterten Sessellehne im Kinosaal sitzen, und ziehen los. Damit sich das Ganze gleich interaktiv anfühlen kann. Und siehe da – womit mich der dritte Lego-Film gleich zu Beginn abgeholt hat, das war die Illusion des Stop-Motion. Spielsteine täuschend echt zu animieren ist im Grunde keine Kunst, jedenfalls nicht für Professionisten. Es aber so aussehen zu lassen, als hätte Nick Park anstatt seiner Plastilin-Figuren Wallace & Gromit diesmal die knapp 4cm hohen Legofiguren in menschenverachtender, mühsamer Kleinarbeit Bild für Bild animiert, ist entweder eine feine Art des Hinters-Licht-Führens oder die große Kunst bildlastiger Fake-News. Wobei – die Katze, die Ninjago City heimsucht, muss aber ein Live-Act-Element gewesen sein! Oder doch nicht? Tatsächlich wandern meine Gedanken während des Betrachtens dieses launigen LEGO-Films in Richtung Quantenphilosophie. Ist die Katze echt, oder ist sie es nicht? Diese absichtlich kindlich-plumpe Art des Animierens und das Placebo von Schrödingers Katze, die sich anstatt in einer Kiste im zweidimensionalen Rechteck einer Leinwand befindet und mit der 3D-Brille sogar noch mit der dritten Dimension liebäugelt, ist aber allerdings nur ein Bonus, der den Spaß am Aufbauen und Umhauen von LEGO-Konstruktionen noch versüßt.

Denn die quirlige Brick-Action mit zahlreichen USP-Momenten ist längst nicht so ein Zudröhner wie erwartet. Ganz im Gegenteil – die augenzwinkernde Vater-Sohn-Geschichte zwischen dem grünen Ninjago Lloyd (das L ist bitte zweimal zu betonen) und dem vierarmigen, schwarzen Mutantenpapa Garmadon bietet schlagfertigen Witz, liebevoll überzeichnete Emotionen und pfiffige Action, die an Abenteuer wie Indiana Jones oder Tomb Raider erinnert. Dazwischen geizt man nicht mit allerlei ironischen Zitaten auf das Kaju-Filmgenre des Fernen Ostens. Aus The LEGO Ninjago Movie ist so etwas wie ein Merchandise-Eastern geworden, der unerwartet unterhält, Spaß macht und, daheim angekommen, die Ninjago-Sets wieder aus der Schublade holen lässt.

The Lego Ninjago Movie