Azrael – Angel of Death (2024)

DER WALD ALS KREIS DER HÖLLE

7/10


Azrael© 2024 IFC Films

LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: E. L. KATZ

DREHBUCH: SIMON BARRETT

CAST: SAMARA WEAVING, VIC CARMEN SONNE, NATHAN STEWART-JARRETT, SEBASTIAN BULL SARNING, EERO MILNOFF, VINCENT WILLESTRAND, PHONG GIANG U. A.

LÄNGE: 1 STD 25 MIN


Was sich in den Wäldern alles abspielt, das will man gar nicht wissen. Ähnlich wie im Weltraum hört dich dort genauso wenig jemand schreien, der nicht gerade Holz fällt, Pilze sammelt, mit dem Bike durchs Gelände radelt oder forstliche Pflichten erfüllt. In den Tiefen der Wälder herrscht Anarchie, da gibt es kein Gesetz, nur jenes der Botanik, doch das tangiert den Menschen nicht, es sei denn, er verfängt sich im tropischen Dickicht, denn dort kann es deutlich gefährlicher werden als in den gemäßigten Breiten, wo sich vielleicht Bären und Wölfe an Menschen vergreifen, was wiederum seltener vorkommt als kolportiert. Es kann aber auch sein, dass, und da nehme ich mal an, deutlich häufiger, der Mensch des Menschen Wolf verkörpert – so gesehen im teuflischen Survivalschocker Azrael, der in einer unbestimmten, vielleicht postapokalyptischen Zukunft spielt, doch da legt sich der Film keinesfalls fest.

Wer Erklärungen und Ursachen für all das hier erwartet, was in knapp 80 Minuten erlebbar wird, muss sich darauf einstellen, den Symptomen eines Mysteriums zu folgen, in dessen Zentrum ein bekanntes Gesicht ums Überleben kämpft. Wir wissen, Samara Weaving hat längst Erfahrung darin, mordlüsternen Verfolgern zu entwischen. Sie hat sogar Erfahrung darin, wenn es sich dabei um die angeheiratete Familie handelt. Ready Or Not von Tyler Gillett und Matt Bettinelli-Olpin bläst zum Halali auf die Braut, und dabei geht es mit augenzwinkernd schwarzem Humor und einem Quäntchen charmantem Zynismus zur Sache. Dieser Humor, diese überzogene Leichtigkeit, lässt sich in Azrael nicht finden. Wie denn auch. Azrael selbst gilt zumindest im Islam als Engel des Todes, im Film ist es der Name einer wortlosen Protagonistin, die in einer wortlosen Welt kreuz und quer durch die Wildnis hirscht, auf der Flucht vor den Mitgliedern einer ebenfalls dem Schweigegelübde unterworfenen Gemeinschaft, die in der jungen Frau das ideale Opfer sieht für etwas ganz anderes, was den Wald beherrscht: Dunklen, ekelhaften, hässlichen Kreaturen, beurlaubt aus Dantes Hölle oder von Hieronymus Boschs gewalttätig-gotischen Bibelgemälden suspendiert. Sie sehen aus, als wären sie tatsächlich dem Feuer entstiegen, verbrannt, verkohlt und dürstend nach Menschenfleisch. Der Wald ist ihre Spielwiese, und wenn man sie nicht besänftigt, läutet die Mittagsglocke.

Wem der Plot nun zu dünn erscheint, mag mit seiner Kritik daran bald genauso verstummen wie (fast) alle, die in diesem Horror mitwirken. Auf dem Drehbuch von Simon Barrett (u. a. V/H/S) basierend, entwickelt Regisseur E. L. Katz einen zügellosen, ungemein archaischen Spießrutenlauf, der auf jegliche Dialoge verzichtet und die wilde Welt des Waldes als Vorhölle darstellt, in der die Bedrohlichkeit einer obskuren Esoterik-Sekte den gierigen Kohlemännchen, die da zwischen den Bäumen umherflitzen, um nichts nachsteht. Was die Anarchie noch verstärkt, ist die explizite Gewalt, literweise Blut und radikaler Naturalismus. Azrael ist eine Art Experiment, ein deftiges rohes Steak, ungewürzt und blutig, mit den Händen verschlungen und mit der Lust, noch mehr von dieser rohen Kraft zu vertilgen. 

Konsequent bis zum Ende, bietet Azrael allerdings nicht viel Abwechslung. Dafür aber auch keinerlei Langeweile oder Leerlauf. Das Phantastische ist stets das Böse, am Ende gibt’s den großen Twist wie bei M. Night Shyamalan. Die Welt erfährt dabei aber keinerlei Absolution. Vielleicht ist das ganze nur das Vorspiel für den Anfang vom Ende. Ein apokalyptischer Genuss, den man fast schon fühlt. Als würde man nackt durch dorniges Dickicht laufen.

Azrael – Angel of Death (2024)

In A Violent Nature (2024)

SCHWEIGEN IM WALDE

6/10


InAViolentNature© 2024 capelight pictures


LAND / JAHR: KANADA 2024

REGIE / DREHBUCH: CHRIS NASH

CAST: RY BARRETT, ANDREA PAVLOVIC, CAMERON LOVE, REECE PRESLEY, LIAM LEONE, CHARLOTTE CREAGHAN, LEA ROSE SEBASTIANIS, LAUREN-MARIE TAYLOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Anderswo, zum Beispiel in Mittelerde, würde eine armselige und durch die Sünde der Gier ins Monströse verzerrte Figur nach einem Schmuckstück suchen, das man am Finger trägt: Die Rede ist von Gollum und seinem Ring, seinem – wie er selbst nicht müde wird zu betonen – Schaaaatz, den später Frodo Beutlin um den Hals baumeln lässt. Jemanden sein liebstes Kleinod zu entwenden geht gar nicht. Und tatsächlich haben diese Kreatur des Gollum und die Kreatur eines Untoten, geistig zurückgebliebenen Riesenbabys mit historischem Feuerwehrhelm auf dem Kopf abgesehen von ihrer leidvollen Lebensgeschichte, die beide Wesen letztlich korrumpiert hat, gemeinsam: Diese seltsamen Existenzen kreisen jeweils um ein Artefakt, sie stehen und fallen mit ihm, es provoziert sie oder hält sie in Stasis. In letztere befindet sich die Ausgeburt eines untoten Psychopathen, Zeit seines Lebens jemand mit besonderen Bedürfnissen, dem in einer wenig aufgeschlossenen Kleinstadtgesellschaft übel mitgespielt wurde. Und zwar so sehr, dass diese diesen Johnny tödlich verunfallen ließ. Der Sturz vom Feuerwehrturm war der Anfang vom Ende, was danach kommt, der blanke Horror. Den so wie Gollum will Johnny nur sein Artefakt zurück, koste es was es wolle. Anders als der verkorkste Hobbit treibt ihn aber noch etwas anderes an: Vergeltung und eine daraus resultierende Blutgier.

So gräbt sich das humanoide und stets schweigsame Monstrum aus dem Waldboden und macht sich im Trott eines Spaziergängers auf die Jagd nach neureichen Bobo-Erwachsenen der Smartphone-Generation, die wenig Achtsamkeit kennen und wenn es darauf ankommt, bereitwillig das Opfer spielen. Das Ungewöhnliche an Chris Nashs Naturpark-Slasher ganz ohne Hütte im Wald ist die sorgsam eingepflegte Meta-Ebene eines gefahrvollen Ökosystems, getarnt als natürliche Idylle, in der für den urbanen Fortschrittsmenschen, der sich zunehmend von der Natur zu distanzieren scheint, unberechenbare Gefahren lauern. Die volatile, schwer verortbare Existenz eines Unheils in Gestalt des Schlächters Johnny lässt ihn vollends im entschleunigten, stillen Grün des Waldes aufgehen, wie das Alien in der mechanischen Düsternis der Eingeweide eines Raumschiffs. Diese Gefahr einer bösen Natur entspräche der Conclusio aus John Boormans Beim Sterben ist jeder der Erste. Nur statt den Rednex, die in einer greifbaren Realität das Unheil säen, schlendert in In a Violent Nature etwas Metaphysisches und nicht Reales durch den Forst, bestückt mit zentnerschweren Ketten, an deren Enden wuchtige Haken baumeln. Was Johnny damit letztlich anstellt, lässt Nash in so deftigen wie bizarren Gewaltspitzen münden. Und eines muss dabei klar sein: In a Violent Nature mag anmuten wie die Neuordnung eines längst etablierten Subgenres des Horrorfilms, sucht sich letzten Endes aber genau jene bewährten Versatzstücke zusammen, die Fans an diesen Filmen so lieben.

Anfangs sieht es auch so aus, als hätte der Film die Ambition, aus der Sicht des Antagonisten erzählt zu werden. Eine Idee, die aber nicht aufgeht. Und wenn, dann nur szenenweise, wie John Carpenter es getan hat, um Kultfigur Michael Myers in Halloween ins Spiel zu bringen. Später aber wechselt auch dort der Blickwinkel, um das Böse nicht zu entmystifizieren und auch um Identifikationsfiguren zu schaffen, die Johnny partout nicht darstellt. Aus diesem Grund muss Chris Nash umdenken, aus einem konsequent geplanten Experiment wird nichts. Letztlich bleibt In A Violent Nature ein Slasher wie alle anderen – blutrünstig und bedrohlich, dafür aber auch langsamer, in sich ruhender.

Der Kontrapunkt einer von wärmenden Sonnenstrahlen begünstigten, lieblichen Natur, akustisch begleitet durch das Gezwitscher zahlreicher Vögel, lässt den einsamen Killer als modernen Waldschrat oder wilden Mann in einer mystischen Anthologie der schweigenden, aber archaischen Schrecken noch ausgefuchster erscheinen.

In A Violent Nature (2024)

Blair Witch Project (1999)

DER HORROR DES VERIRRENS

8/10


the-blair-witch-project©1999 Lionsgate

ORIGINALTITEL: THE BLAIR WITCH PROJECT

LAND / JAHR: USA 1999

REGIE / DREHBUCH: DANIEL MYRICK, EDUARDO SÁNCHEZ

CAST: HEATHER DONAHUE, JOSHUA LEONARD, MICHAEL C. WILLIAMS U. A.

LÄNGE: 1 STD 18 MIN


Zum 25 Jahre-Jubiläum zeigt Markus Keuschnigg im Rahmen seines diesjährigen Slash Filmfestivals abermals die Mutter aller Found Footage Filme auf großer Leinwand. Es wäre die Gelegenheit für jene, die den Hype von damals verpasst haben. Ich selbst kam vor Kurzem erst in den Genuss dieses Kultfilms mit einer der wohl besten Marketingstrategien aller Zeiten. Ist ein Film schließlich Pionier in einem eigens gegründeten Genre, welches es vorher so noch nicht gegeben hat, lässt sich das Publikum auch so behandeln, als setze es ihren Fuß auf eine Terra incognita, die wohl so einige Überraschungen und vor allem das Unerwartete bereithalten kann. Mit Blair Witch Project ließen sich schließlich Millionen an der Nase herumführen. Warum? Weil bis dahin Fake News noch etwas waren, was man maximal in der Zeitung las. Weil Dokumentationen – und nicht Propaganda – einfach nur dazu da waren, das interessierte Volk aufzuklären und nicht für dumm zu verkaufen. Für dumm verkauft wurde es zumindest anfangs doch – nach diesem PR-Gag wurde dann langsam klar: Dieser Film tut nur so als ob. Doch wie er das macht, ist so erschreckend glaubwürdig, dass man beim Zusehen darauf vergisst, sowieso schon längst des Besseren belehrt worden zu sein. Sieht man Blair Witch Project, will man um alles in der Welt daran glauben. Found Footage macht’s möglich.

Dieses Genre rund um random liegengelassene oder aufgefundene Beweismittel von verschollenen Forschern, Wissenschaftlern oder Studenten avancierte zu einer Unmenge an Geld lukrierenden, weil günstig produzierbaren Methode, vorzugsweise den Horrorfilm zu bedienen. Grobkörnige, schlecht gefilmte und verwackelte Videos, die den alten Aufnahmen von Geistern, Ufos und kryptozoologischen Phänomenen wie dem Bigfoot ähneln, wurden auf Spielfilmlänge gestreckt. Blair Witch Project schafft es auf knapp 80 Minuten, einzig und allein bestehend aus den Aufnahmen einer Handkamera, die das Unmögliche festgehalten hat: Die vermeintliche Evidenz einer unerklärlichen, bedrohlichen Macht in Form hexischer Zauberei. Drei Studenten, die den Beweis erbrachten, bleiben verschwunden. Ihre letzten Tage lassen sich einsehen. Und da erblicken wir im Grunde nicht viel außer den tiefen, unendlichen Herbstwald, rasch errichtete Camps, einen Flusslauf, keine geographisch markanten Anhaltspunkte, um wieder den Weg zurückzufinden und des Nächtens die alles verschluckende Finsternis. Als wären Hänsel und Gretel in den Forst unterwegs und hätten darauf vergessen, Brotkrumen zu streuen, setzen Daniel Myrick und Eduardo Sánchez auf den expliziten Horror des Verirrens und der Panik, die dann aufkommt, wenn langsam sickert, inmitten irrlichternder Botanik elendiglich zugrunde gehen zu müssen. Das Spiel mit den Urängsten als Blinde-Kuh-Horror hat begonnen.

Blair Witch Project ist, so simpel der rote Faden dieser Fake-Doku auch gestrickt scheint, äußerst klug fabriziert. Die Kreativlinge hinter dem Projekt setzen weder auf bekannte Horror-Versatzstücke noch auf Jump Scares noch auf Monster, die sich aus dem Dunkel schälen. Statt Geheimnissen auf den Grund zu gehen, schürt der Footage-Film das Unheimliche durch die Unmöglichkeit, jemals das Paranormale erklären zu können. In präzisen, ich will nicht sagen in homöopathischen, aber punktgenauen Dosen etabliert sich das Mysteriöse in gruseliger Akustik, seltsamen Geräuschen und bizarren Gebilden, die das Territorium als ein Verbotenes ausweisen. Wo Myrick und Sánchez aber in die Vollen gehen, ist, den emotionalen Notstand zu dokumentieren, welchem die Verirrten ausgesetzt sind. In ihrer Verzweiflung spiegelt sich all die Bedrohung von Seiten einer Natur, die so gnadenlos perfide manipuliert zu sein scheint.

Auch nach so vielen Jahren hat Blair Witch Project nichts von seiner Wirkung und seiner kreativen Genialität eingebüßt. Wie man sieht, ist es immer wieder mal möglich, in der Welt des Films weiße Flecken zu erwischen, die das bisher Dagewesene um Inspirierendes ergänzen. Nicht umsonst hält das Genre bis heute, auch nach schwächelnden Phasen. Paranormal Activity, Cloverfield oder André Øvredals Trollhunter sind Beispiele dafür, wie spielerisch sich dieses Konzept variieren lässt.

Blair Witch Project (1999)

They See You (2024)

STEGREIFBÜHNE DER VERDAMMTEN

4,5/10


theyseeyou© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


ORIGINALTITEL: THE WATCHERS

LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ISHANA SHYAMALAN

CAST: DAKOTA FANNING, OLWEN FOUÉRÉ, GEORGINA CAMPBELL, OLIVER FINNEGAN, ALISTAIR BRAMMER, JOHN LYNCH, SIOBHAN HEWLETT U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Ein eifriger Filmemacher ist er, dieser M. Night Shyamalan – alle zwei Jahre gibt’s einen neuen Film, der letzte war sogar erst 2023 zu sehen: Knock at the Cabin, was allein schon vom Titel ein bisschen an The Cabin in the Woods erinnert und mit diesem zumindest auch inhaltlich das Setting einer einsamen Hütte im Wald gemeinsam hat. Ein Jahr später gleich der nächste – und noch im Kino zu sehen: der Serienkiller-Thriller Trap: No Way Out mit Josh Hartnett. Ist einer wie Shyamalan mal so berühmt, verwundert es oft nicht, dass der Nachwuchs gefeierter Künstlerinnen und Künstler, um nicht unter der Dominanz ihrer Eltern zu verschwinden, ebenfalls nach dem Erfolg eifern, was sich schließlich leichter bewerkstelligen lässt als bei Otto Normalverbraucher, der nicht schon aufgrund seiner Verwandtschaft den Fuß in der Tür weiß und mit Vitamin B auf die große Leinwand gelangt. Der Anfang ist gemacht – der Rest wäre dann wohl wirklich eine Frage des Könnens. Ob Shyamalans Töchterchen Ishana ihre eigene künstlerische Identität gefunden hat, mag angesichts ihres Regiedebüts They See You (im Original: The Watchers) dahingestellt sein. Sie tut schließlich genau das, was ihr Vater tut. Gruselige Mystery mit Story-Twist(s) in Szene setzen, das Ganze natürlich auch selbst verfasst, um ihrem Vorbild in nichts nachzustehen.

Zum Schaffen seltsamer Welten gehört allerdings auch die Handhabung einer eigenen Handschrift. Ishana Shyamalan hat sie nicht. Der Einfluss ihres Vaters ist augenscheinlich, das Setting natürlich ein Vertrautes, verirrt sich doch Dakota Fanning im zwielichtigen Dickicht, aus dem es kein Entkommen gibt. Und Wälder, die sind nicht erst seit The Blair Witch Project spooky genug, um gleich für eine ganze Latte an Filmen herhalten zu können. Was dann noch ans Set gehört, ist eine Zuflucht – ein Haus, ein Tunnel, ein Bunker, was auch immer. Da, sobald sich die Nacht senkt, Fannings Figur im düsteren Tann nicht mehr allein zu sein scheint, läuft sie um ihr Leben – und landet per Zufall in den Armen einer höchst seltsamen Community, die schon jahrelang hier festsitzt und allnächtlich showgeilen Monstren das Fernsehprogramm gestaltetn. Eine Seite des bunkerähnlichen Gebäudes, in dem sich alle einfinden, ist schließlich verspiegeltes Glas – und so präsentieren sie sich, aufgereiht wie beim Da Capo-Applaus in einem Theater, einer unbekannten Macht, die tagsüber in Lächern im Waldboden haust.

Ishana Shyamalan quält sich durch einen verworrenen Pulk an unausgegorenen Mystery-Elementen und Motiven aus folkloristischen Legenden. Dabei misslingt es, das mit allerlei Bedrohlichkeiten aufgebauschte Geheimnis hinter diesem Spuk nicht mit der tatsächlichen Wahrheit, die natürlich ans Licht kommen muss (weil Papa das auch immer tut), zu vereinbaren. Eine biedere Harmlosigkeit erobert das Szenario, die Geschicklichkeit mit den Twists, die, sollten sie gelingen, auf unerwartbare Weise hereinbrechen sollten, erlangt man schließlich nicht mit einem Fingerschnippen. Letztlich enttäuscht der zumindest atmosphärische Versuch eines archaischen Schreckens aufgrund einer gewissen Ratlosigkeit, wie ein Plot wie dieser auf geniale Weise zu Ende gebracht werden könnte. Shyamalan Senior, zumindest Produzent, hat da auch keine knackfrischen Ideen in petto, die benötigt er schließlich selbst, denn aus dem Ärmel schütteln lassen sich narrative Pointen schließlich niemals. Da viel Bekanntes in They See You lediglich variiert wird, ist das Ergebnis dieser Kalkulation kein überraschendes.

They See You (2024)

Wolfsnächte (2018)

SO FINSTER DIE WILDNIS

6,5/10


wolfsnaechte© 2018 A24 / Netflix


ORIGINALTITEL: HOLD THE DARK

LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: JEREMY SAULNIER

DREHBUCH: MACON BLAIR, NACH DEM ROMAN VON WILLIAM GIRALDI

CAST: JEFFREY WRIGHT, RILEY KEOUGH, ALEXANDER SKARSGÅRD, JAMES BADGE DALE, MACON BLAIR, JONATHAN WHITESELL, JULIAN BLACK ANTELOPE, ERIC KEENLEYSIDE, SAVONNA SPRACLIN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Dass in den Wäldern Nordamerikas längst finstere Mächte ihre Spiele spielen und den vulnerablen Geist der den Gesetzen der Natur unterworfenen Bewohnern ordentlich zusetzen, ist nicht erst seit dem Mystery-Serienjuwel Twin Peaks bekannt. Dass Homo sapiens in der Einschicht des Waldes und der Wildnis zu Entsetzlichem fähig ist, durfte Burt Reynolds am eigenen Leib erfahren, da er unter John Boormans Regie beim Sterben der erste war. Im Fahrwasser dieser finsteren Backwood-Ausgeburten ächzen mittlerweile jede Menge geistige wie körperliche Missgeburten seelenquälend durchs Gehölz, auch das Necronomicon findet sich in einer Hütte im Wald. Es zu lesen, entfesselt nichts Gutes. In dieser Finsternis aus allerlei Abgründen und bedrohlicher Waldesruh darf man als Wanderer durch den Tann natürlich nicht vergessen, dass auch die lokale Tierwelt gerne mal zu Eskapaden neigt. In diesem Fall sind es Wölfe, und ja, Isegrim ist auch in Österreich wieder auf dem Vormarsch, sehr zum Leidwesen diverser Viehhöfe, die gar nicht mehr damit nachkommen, ihre Schafe und Lämmer zu Grabe zu tragen. Der Wolf tut dabei nur das, was er tun muss. Ihn abzuschießen, ist längerfristig wohl keine gute Lösung – es wäre wegen dem Arterhalt. Wenn sich dann aber – wie in Jeremy Saulniers Horrorthriller Wolfsnächte – der Wolf an einem Menschen vergreift, ist es Schluss mit lustig. Ein kleiner Junge wird vermisst, der Spross der sonderbaren Medora Sloane, die den Wolf-Experten Russel Core (Jeffrey Wright) inständig darum bittet, der Sache nachzugehen und ihren Jungen wiederzufinden, wurde er doch zuletzt beim Spielen am Fluss gesehen, um kurz darauf vom Erdboden verschluckt zu werden. Für Core ein sonderbarer Umstand, doch er erklärt sich bereit, den „Maneater“ aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Was er dabei entfesselt, sind eingangs erwähnte archaische Mächte, das Öffnen eines Tores in eine metaphysische Welt, in der Mensch und Tier plötzlich gar nicht mehr so verschieden sind, in welcher der Instinkt und nicht der Verstand über Taten entscheidet. Die überdies erschreckend sind.

Im Gegensatz zu Wolfsnächte sind The Grey mit Liam Neeson oder Mörderischer Vorsprung mit dem legendären Sidney Poitier ja fast schon wie winterliche Pauschalabenteuer. Jeremy Saulniers Verfilmung des Thrillers von William Giraldi ist zwar längst nicht so verspielt albtraumartig wie das, was in David Lynchs Kleinstädtchen Twin Peaks passiert, dafür aber sind die Bandagen um einiges fester angelegt – und konkreter. Alexander Skarsgård will dabei ähnlichen Schrecken verbreiten wie sein Bruder Bill als Pennywise. Dieser Vernon Sloane ist zwar nicht das Böse höchstselbst, dafür aber besessen von archaischen Dämonen. Und nicht nur er: Riley Keough, Enkelin von Elvis und Priscilla Presley, begegnet der feuchtkalten Winterstimmung Alaskas mit unheilvollen Maskenmotiven aus uralten indianischen Mythologien. Vieles ist finster und bedrohlich in dieser vollmundigen, phantastisch angehauchten Mystery. Und dennoch lässt die manische Überlegenheit – wenn nicht gar Überheblichkeit – der mit den Schattenseiten der Natur im Bunde stehenden Figuren eine gewisse Unzufriedenheit hochkommen. Demgegenüber steht die bedauernswerte Ohnmacht einer desillusionierten, mit allen Mitteln eine gewisse Ordnung gewährleistenden Provinz-Gesellschaft, die dem verheerenden Zynismus krimineller Ausgeburten wenig entgegensetzen kann. Man selbst als Zuseher fände das eine oder andere Mal weitaus effizientere Lösungen mit weniger Kollateralschäden, und die Gewissheit, es letztlich besser gemacht haben zu können, und verbunden mit der Wut auf diese Arroganz der Bösen, die glauben, mehr zu wissen als der Rest der Welt, bleibt die Faszination für diesen durchaus nihilistischen Düsterthriller endenwollend. Man würde sich wünschen, die Finsternis eines besseren zu belehren. Eine Sehnsucht, die leider nicht gestillt wird.

Wolfsnächte (2018)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)

The Animal Kingdom (2023)

VERLOREN AN DIE WILDNIS

6,5/10


animal-kingdom© 2023 StudioCanal


ORIGINAl: LA RÈGNE ANIMAL

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: THOMAS CAILLEY

CAST: ROMAIN DURIS, PAUL KIRCHER, ADÈLE EXARCHOPOULOS, TOM MERCIER, BILLIE BLAIN, NATHALIE RICHARD, SAADIA BENTAÏEB U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Tiere sind auch nur Menschen – und umgekehrt: Dass wir alle durch Zellteilung entstanden sind und es so überhaupt erst erreicht haben, als höheres Wesen Teil eines Vorgangs zu werden, der als Makro-Evolution bekannt ist, müsste man sich immer wieder mal in Erinnerung rufen, um nicht als überheblicher Gierschlund auf Planet Terra herumzutrampeln. Leider machen das gerade die, auf die es ankommt und die genug Einfluss hätten, am wenigsten. Tiere sind nicht Menschen und die Erde ist der Untertan. Ein verhängnisvolles Zitat aus der Bibel, womöglich falsch übersetzt und zu Gunsten der Eroberer, aber was solls: Es ist Zeit, nicht nur das Klima zu bekleben, sondern sich auch rückzubesinnen auf die genetischen Mechanismen unserer Existenz. Die natürliche Ordnung sieht somit vor, dass Homo Sapiens nicht aussieht wie ein Gorilla und ein Gorilla nicht aussieht wie ein Fisch. Die Zellen wissen, was zu tun ist, sie haben ihren genetischen Code, also eben ihren Bauplan, und so gehen sie auch vor: Akkurat, mathematisch und logisch. Wenn diesen Bauplan aber niemand mehr lesen kann, auch Zellen nicht, könnte es zu einem Chaos kommen, und jene Lebewesen, die am Ende der Nahrungskette stehen, ihre Position verlieren. Der Sturz vom Podest in die Niederungen der Kriechtiere ist zum Greifen nah, der genetische Code eines Reptils vermischt sich mit dem eines Menschen, wir haben neue Baupläne, alles wird anders.

In The Animal Kingdom, einem hochbudgetierten und verdammt gutaussehenden Science-Fiction-Drama, passiert genau das: Otto Normalverbraucher von nebenan mutiert zum Tier, die Palette der Arten ist umfangreich, man könnte alles sein: Wolf, Bär, Katze, gar ein Insekt oder ein Vogel, denn fliegen wollte der Mensch schon immer. Eine genetische Pandemie macht sich breit, überall auf der Welt, insbesondere in Frankreich, denn dort bekommen wir Einblick ins Geschehen. Filmstar Romain Duris gibt den besorgten Vater namens François, der mit Teenager Émile (souverän und sensibel: Paul Kircher) gerade unterwegs ist, um Ehefrau und Mutter zu besuchen, die im Krankenhaus mit ihrer Mutation klarkommen muss – einer Mutation in ein Säugetier unbestimmter Art, mittlerweile hat sie bereits das Sprechen verlernt und kann sich gerade noch an ihre Liebsten erinnern. Zur Behandlung dieser Phänomene fehlt das rechte Kraut, allerdings gibt es spezifische Einrichtungen, und in ein solches soll Mama/Gattin auch hin. Doch auf dem Weg in Frankreichs Süden, während eines heftigen Unwetters, überschlägt sich der Mutanten-Transport und einige der Individuen können in die Wälder fliehen. François macht sich auf die Suche, denn auch wenn die Liebe seines Lebens ausssieht wie ein Bär, ist sie immer noch die Ehefrau. Émile hingegen macht währenddessen seine eigene, gänzlich andere Erfahrung mit einer wie wild herumpanschenden Biologie.

Dabei erinnert mich das Szenario an ein ein aus zwei Staffeln bestehendes, dystopisches Serienformat namens Sweet Tooth, in welchem die Menschheit mal grundlegend von einem recht letalen Virus dahingerafft wurde, die Zivilisation darniederliegt und, wie das bei Endzeitszenarien nun mal so ist, neue, soziale Gruppierungen erstarkt sind. Jene, die immun zu sein scheinen gegen das Virus, sind Hybride aus Tier und Mensch – und werden gejagt. Nur sehen die Mischlinge allerdings so aus, als hätte die- oder derjenige, der diese Kreaturen geschaffen hat, keine Ahnung von Anatomie. Das sieht in The Animal Kingdom schon ganz anders aus. Da flattern fluguntaugliche Harpyien durch den Forst, da schleimt ein menschlicher Oktopode im Supermarkt die Fischtheke voll. Da klammert sich ein kindliches Chamäleon an den Baumstamm und hofft, nicht gefunden zu werden, indem es Mimikry macht. All die täuschend echt kreierten Entwürfe erinnern mitunter an die Kunstwerke der Künstlerin Patricia Piccinini, die mit ihren hyperrealistischen Skulpturen aus Silikon, Plastik und Echthaar den evolutionären Richtungswechsel, angereichert mit sozialphilosophischen Gedanken, vorwegnahm.

Thomas Cailley, der mit seiner Romanze Liebe auf den ersten Schlag 2015 so einige Preise abräumen konnte, bettet die gar nicht so absurde Vision einer genetischen Vereinigung aus Menschen und Tier in ein moderates Katastrophenszenario, in welchem die Weltordnung noch nicht ganz aus den Angeln gehoben wurde. Die Infrastruktur funktioniert noch, die „Erkrankten“ lassen sich im Grunde noch an einer Hand abzählen. Mit dem Fokus auf den jungen Émile und der Metamorphose vom Menschen zum Tier sowie den einhergehenden Verlusten der Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, trifft Cailley so manches Mal den Nerv der Zeit und den Stolz einer Herrenrasse, die, schnell kann es gehen, ihren Status verliert. Der ökologische Gedanke ist dabei sekundär, die Besinnung darauf, dass wir immer noch Tiere sind, der eigentliche Anspruch. Doch so prachtvoll The Animal Kingdom sein zutiefst berührendes und überraschend melancholisches Familiendrama auch erzählt, so konventionell kommt es daher. Neben all den Schauwerten ist jener Film, der zur Closing Night des Wiener Slash Festivals erstmals in Österreich präsentiert wurde, eine zwar emotionale, aber kaum wagemutige Fantasy, die sich am Rande der Science-Fiction bewegt. Überraschung ist The Animal Kingdom keine, dafür ein gefälliges Szenario, das sich weniger naiv präsentiert als Sweet Tooth, das Abenteuer rund um den Jungen mit dem Hirschgeweih.

The Animal Kingdom (2023)

Der Fuchs (2022)

DIE SCHWACHEN BESCHÜTZEN

7/10


derfuchs© 2023 Alamode Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2022

BUCH / REGIE: ADRIAN GOIGINGER

CAST: SIMON MORZÉ, KARL MARKOVICS, PIT BUKOWSKI, ALEXANDER BEYER, ADRIANE GRADZIEL, STAN STEINBICHLER, CORNELIUS OBONYA, KAROLA MARIA NIEDERHUBER U. A.

LÄNGE: 2 STD


Wenn die eigene Familie genug Stoff für gleich mehrere Filme hergibt, dann kann es sich hierbei nur um den Österreicher Adrian Goiginger handeln, der mit seinem Regiedebüt Die beste aller Welten völlig zu Recht sämtliches Kritikerlob für sich beanspruchen durfte. Und nicht nur Journalisten vom Fach fanden da Gefallen: Auch das Publikum hat sich vom dicht erzählten Mutter-Sohn-Drama, in welchem es um Drogen, Abhängigkeit und Verantwortung ging, so ziemlich vereinnahmen lassen. Diesem grandios aufgespielten Sog in einen sozialen Mikrokosmos hinein konnte sich keiner so recht entziehen.

Die Urheimat seines familiären Ursprungs, nämlich das westliche Salzburgerland, wurde letztes Jahr erstmals zum Schauplatz einer Literaturverfilmung, die niemand geringerer als Felix Mitterer schrieb: Märzengrund, die Geschichte eines Aussteigers, der sich in die Isolation der Alpen zurückzieht, auch aufgrund einer unglücklichen Liebe und der Lust am Ausbruch aus einem starren Konformismus. Dabei blieb Terrence Malick als inszenatorisches Vorbild schon mal nicht ganz unbemerkt. Satte Bilder vom Landleben, meist in Weitwinkel und ganz nah am Geschehen – Naturalismus pur, inmitten dieser schmerzlich-schönen Idylle Johannes Krisch. Das Jahr darauf hält gleich den nächsten Film Goigingers parat: Der Fuchs. Und diesmal ist es kein Literat, der die Vorlage liefert, sondern der eigene Urgroßvater Franz Streitberger. Welch ein Glück, dass Goiginger Zeit seines Lebens die Möglichkeit gehabt hat, Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg aus erster Hand zu erfahren. Die meisten, die das Ende der Welt am Kriegsschauplatz Europa erlebt hatten – und da schließe ich meine eigenen Großeltern mit ein – konnten und wollten nicht viel darüber berichten, was Ihnen widerfahren war. Womöglich würde es einem selbst nicht anders gehen. Doch in manchen Fällen saß die Zunge lockerer als das versteinerte Trauma in den Köpfen – und so hat dieser Franz Streitberger vieles preisgegeben. Vielleicht war dieser Umstand einem ganz besonderen Wesen geschuldet, eben dem titelgebenden Waldtier, das, als hilfloser Welpe mit gebrochener Pfote, in Motorradkurier Franz seine Bestimmung fand.

Wie es dazu kam? In der Antwort auf diese Frage setzt Goiginger bereits in den Zwanzigerjahren an, an einem Hof irgendwo im Pinzgau, bewohnt von einer bitterarmen Großfamilie, die längst nicht mehr alle Mäuler stopfen kann, die da im Herrgottswinkel um den Tisch sitzen. So wird Franz im Volksschulalter an einen Großbauern verkauft – ein prägendes Erlebnis für ein Kind, dass seine Zukunft als Erwachsener immer danach richten wird müssen. Zehn Jahre später ist aus diesem Buben, für den eine ganze Welt zusammenbrach, ein wortkarger und introvertierter junger Mann geworden, der in der Wehrmacht sein Glück zu finden hofft. Und dann, als der Krieg losbricht, sitzt im Beiwagen des Motorradkuriers ein Tier, das ungefähr so viel Schutz benötigt wie Franz in jungen Jahren wohl auch verdient hätte. Diesmal aber will dieser  jene Verantwortung zeigen, die seine eigenen Eltern nicht wahrnehmen konnten.

Die Bewältigung einer enormen Kränkung ist Thema eines modernen, aber doch retrospektiven Heimatfilms, der die Elemente aus dem Genre eines schonenden Kriegsfilms mit nostalgischem Pathos verknüpft. Simon Morzé (u. a. Der Trafikant) gibt den in sich gekehrten jungen Mann in keinem Moment so, als hätte er diese Schmach aus seiner Kindheit nie erlebt. Sein psychosozialer Steckbrief, sein ungelenkes Verhalten lässt sich in aller Klarheit auf das Erlebte zurückführen – das Psychogramm des Urgroßvaters ist Goiginger wunderbar gelungen. Die Sache mit dem verwaisten Jungtier ist natürlich ein besonderes Erlebnis, doch nur ein Symptom für eben diese ganz andere Geschichte am Hof der Eltern. Der Fuchs gerät zur inneren Wiedergutmachung oder zur Probe aufs Exempel, ob es überhaupt möglich sein kann, angesichts quälender und entbehrungsreicher Umstände die Obhut schutzbedürftigen Lebens gewährleisten zu können. An dieser Prüfung wird sich Franz abmühen und immer wieder knapp scheitern. Wie schwer es ist, Sorge zu tragen, bringt das sehr persönliche Historiendrama auf den Punkt, natürlich wieder in filmtechnischer Perfektion wie schon in Märzengrund. Die Kamera unter Yoshi Heimrath und Paul Sprinz findet formschönen Zugang zur pittoresken Landschaft Österreichs und der niemals prätentiösen Darstellung historischen ländlichen Lebens. Die Szene, in der die Familie des Abends ums Herdfeuer sitzt, und Karl Markovics (wieder mal genial als vom harten Bauernleben Gezeichneter) ein altes Volkslied anstimmt, gehört zu den besten des Films. Selten war Heimatfilm so intensiv.

Unter dem Aspekt des Kriegsfilms verliert Goiginger dann etwas seine Stärken. Obwohl mit reichlich Aufwand ausgestattet und professionell inszeniert, genießt Goigingers Stil hier eine Art nüchterne Auszeit vom Naturalismus. Die Szenen wirken routiniert, die Romanze in Frankreich etwas bemüht, wenn nicht gar arg oberflächlich. Doch sie ist nun mal Teil der Erlebnisse – und da hier vieles, was Urgroßvater Streitberger erzählt hat, zusammenkommt, ist auch Der Fuchs nicht mehr so aus einem Guss. Das Kernstück aber – das unausgesprochene Leid zwischen Vater und Sohn, symbolisiert durch eine Fabel vom Fuchs und dem Soldaten – findet trotz manchmal etwas überhöhtem Tränendrüsen-Score, der aber seine Wirkung nicht verfehlt, zu einer rührenden, kleinen Vollkommenheit.

Der Fuchs (2022)

Abseits des Lebens

ÜBERLEBEN ALS THERAPIE

6,5/10


abseitsdeslebens© 2021 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA, KANADA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: ROBIN WRIGHT

CAST: ROBIN WRIGHT, DEMIÁN BICHIR, WARREN CHRISTIE, MIA MCDONALD, KIM DICKENS U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Rüdiger Nehberg oder heutzutage Bear Grylls wissen, wie es geht: in der Wildnis überleben. Sie machen das, weil sie es können. Andere machen das, weil sie es zwar nicht können, aber zumindest wollen. Weil sie den einzigen Weg darin sehen, mit sich selbst ins Reine zu kommen. So eine Challenge kann gefährlich werden, wenn man nicht genau weiß, worauf zu achten ist. Doch Edee ist das ziemlich egal. Sie hat alles verloren, was ihr jemals lieb und teuer war. Und das ist ein Schmerz, der durch nichts gelindert werden kann. Außer vielleicht durch das Wagnis, den Grundregeln des Lebens selbst so nahe zu kommen, damit dieses wieder einen Sinn hat. Bewusst ist das Edee allerdings nicht. Vielleicht kann die Wildnis einen anderen, neuen Menschen aus ihr machen, wer weiß. Der Blick nach vorne gelingt vielleicht nur unter der Bedingung, niemals mehr zurückzusehen.

Also bezieht Edee eine Hütte im Wald – mit Konserven, Klamotten – und sonst eigentlich nichts. Das Auto lässt sie abholen, Handy hat sie auch keins dabei. Läuft irgendwas schief, ist das ihr Ende. Und es dauert nicht lange, bis der nächste Winter kommt, und Edee bemerkt, dass sie weder ein Rüdiger Nehberg noch ein Bear Grylls ist und kurz davor steht, entweder zu erfrieren oder zu verhungern. Das Schicksal will es anders und schickt gerade zur rechten Zeit einen Jäger an ihrer Hütte vorbei.

Abseits des Lebens (im Original nur: Land) birgt ein Skript, um welches sich wohl eine Menge Schauspielerinnen gerissen hätten. So gut wie eine One-Woman-Show, erfährt hier die Protagonistin die gesamte Klaviatur des Lebens, vorzugsweise die tiefen, schweren Töne. Doch Robin Wright findet da gut hinein. Vor allem auch, weil sie sich selbst inszeniert hat. Da kann man Empfindungen in die Rolle legen, wie man es für richtig hält. Wright lässt sich dennoch nicht zum Melodramatischen hinreissen. Und die Trauer ist eine, die selten im Selbstmitleid versinkt. Wenn, dann sind das Momente, die wir beim Verlust eines geliebten Menschen sowieso alle kennen. Die Natur zeigt sich dabei unbeeindruckt. Zieht das durch, was sie in all den Äonen immer tut, vom Frühling bis zum Winter und wieder von vorne. Genau das ist das Tröstende an Wald, Wiese und Berg. Wright ist begeistert davon und bringt dies mit pittoresken Kalenderbildern sehr wildromantisch zum Ausdruck. Dieses Beständige, Erwartbare, Kompromisslose scheint ein Leitsystem, dem man in schwierigen Zeiten folgen kann.

Vergleichbar ist Wrights Film zumindest anfangs und auch dazwischen mit Julian Roman Pölslers Haushofer-Verfilmung Die Wand. Während dort die Isolation eine aufgezwungene ist, sucht sich die Figur der Edee selbige freiwillig aus. Letzten Endes aber birgt sowohl in Die Wand als auch in Abseits des Lebens der Umstand des Alleinseins in einer atemberaubend schönen, wilden Welt genau das nicht, was der Mensch zum Weiterleben braucht: andere Menschen.

Abseits des Lebens

Prey (2021)

MÄNNER ALLEIN IM WALD

5/10


prey© 2021 Netflix


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: THOMAS SIEBEN

CAST: DAVID KROSS, HANNO KOFFLER, ROBERT FINSTER, KLAUS STEINBACHER, YUNG NGO, MARIA EHRICH, LIVIA MATTHES U. A. 

LÄNGE: 1 STD 27 MIN


Der Herbst ist die schönste Jahreszeit, um durch den Forst zu schlendern. Alles ist goldbraun, die Sonne goldgelb. Könnte schöner nicht sein, finden Roman, sein Bruder Albert und seine drei Kumpels, die sich tags darauf zum feuchtfröhlichen Junggesellenabschied eingefunden haben. Am nächsten Tag dann verkaterten Survival im Kajak und am Lagerfeuer, bevor es heimwärts geht. Doch soweit wird es nicht kommen, denn sonst wäre ein recht langweiliger Film zu Ende und wir hätten es auch nicht mit einem brandneuen, ins Netflix-Programm aufgenommenen Outdoor-Thriller zu tun, der sehr geheimnisvoll tut, dabei aber keinerlei Anstalten macht, den Fortgang der Ereignisse zu verheimlichen.

Die fünf Männer in den besten Jahren, die da so ganz allein auf weiter Flur plötzlich den Sucher eines hartnäckigen Snipers queren, nehmen für die folgenden eineinhalb Stunden ihre Beine in die Hand – stolpern, verletzen und streiten sich. Wissen nicht wie ihnen geschieht, rechnen aber damit, dass es sich nur um einen Irrtum handeln kann. Regisseur Thomas Sieben (Kidnapping Stella) erklärt nicht viel, probiert aber auch nichts Neues aus. Das Konzept erinnert an den propagierten Skandalfilm The Hunt mit einer famosen Betty Gilpin, die sich als Freiwild nicht lumpen lässt. Oder an den ebenfalls zuletzt auf Netflix gesichteten skandinavischen Survival-Reißer Red Dot. Klar kommt einem auch der wahrlich verstörende Ausflugsschocker Beim Sterben ist jeder der Erste in den Sinn – nihilistisches Kino der Extraklasse. The Hunt schlägt sie in Sachen Laune, Spannung und Qualität so ziemlich alle – und hinterlässt auch nicht so ein Unwohlsein in der Magengegend wie Boormans Klassiker aus den Siebzigern. Schlusslicht ist Prey, der sich an längst verbrauchten Mustern bedient und auch nicht wirklich die Muße hat, stereotype Charaktere in der Mottenkiste zu lassen, sondern adrett in die Landschaft zu setzen, mit Marken-Outdoorklamotten als Product-Placement und einer Portion Wehleidigkeit, über die man sich nicht selten wundert. Was Thomas Sieben in seinem Script aber ganz gut gelingt, ist die effiziente Einflechtung der Hintergründe für diesen Waidmanns-Terror – ohne viel Worte, dafür in knappen, erhellenden Szenen. Auch bietet die Landschaft des Nationalparks Sächsische Schweiz pittoreske Kalenderblätter.

Prey (nicht zu verwechseln mit dem Löwen-Slasher aus 2007) ist szenenweise tatsächlich nicht unspannend, bietet aber im Ganzen zu wenig eigene Ideen, um als selbstbewusster Beitrag zum deutschen Thrillergenre Spuren zu hinterlassen. Doch kann’s passieren, dass die Lust am Waldspaziergang dennoch etwas gedämpft wird.

Prey (2021)