Last Contact (2023)

NAH AM WASSER GEBAUT

4/10


lastcontact© 2023 Weltkino


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ESTLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: TANEL TOOM

DREHBUCH: MALACHI SMYTH

CAST: KATE BOSWORTH, THOMAS KRETSCHMANN, LUCIEN LAVISCOUNT, MARTIN MCCANN U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Natürlich ist im Kino unsere Welt längst aus dem Gleichgewicht geraten. Aus dem Schneeball Erde ist dank unseres Zutuns und eines rasanten Klimawandels ein dampfender Wasserball geworden, der um die Sonne seine Runden dreht. Filmtechnisch hat man so ein radikales Szenario längst aufgegriffen: Für Kevin Reynolds war Waterworld allerdings ein Sprung in unbekannte Gewässer, und selten entwickelte sich ein Monumentalprojekt wie dieses, das, anstatt CGI einzusetzen, alles per Hand geschnitzt hat, so derart zum finanziellen Debakel, dass der Film mit Kevin Costner allein dadurch zum Kult wurde. Eine Katastrophe wie diese, inhaltlich wie produktionstechnisch, musste man irgendwann mal gesehen haben. Wer das noch nicht getan hat: Bitte nachholen. Denn qualitativ gesehen hat der dystopische Mad Max-Streifen zu Wasser durchaus seine Guilty Pleasure-Momente.

Filme mit ganz viel Wasser drumherum sind also ganz sicher nicht leicht auf die Beine zu stellen – es sei denn, man begnügt sich damit, das ganze Abenteuer in seiner Spielfläche erheblich einzuschränken. Statt ganze Wasserdörfer und rostige Öltankern wie die Exxon Valdez, auf der Dennis Hopper als einäugiger Smoker-Pirat sein Unwesen treibt, ragt in der postapokalyptischen Sci-Fi des estnischen Regisseurs Tanel Toom lediglich eine auf drei mächtigen Pfeilern errichtete, an ein Baumhaus erinnernde Plattform aus dem Wasser, die bewacht werden muss. Oder anders formuliert: nicht die Plattform selbst wird bewacht, sondern das, was im Inneren wohnt. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um eine Kernwaffe handeln könnte und ja, richtig – genau das ist es. Eine Bombe, die nur darauf wartet, gezündet zu werden, wenn die Chancen jener Partei, die seit gefühlten Ewigkeiten einen Krieg um die letzten Reste trockenen Bodens führt, zu schlecht stehen, um sie auf andere Weise wieder aufzubessern. Zu diesem Zweck sind eine Frau und drei Männer als militärische Sondereinheit dazu verdonnert, Wache zu schieben, den Außenposten zu warten und der baldigen Ablöse entgegenzuharren, denn je länger hier ein menschliches Gemüt der Monotonie eines wenig erquickenden Alltags ausgesetzt sein muss, je eher droht der Lagerkoller. Als der heiß ersehnte Stichtag zur Abreise endlich schwarz auf weiß am Kalender steht – tut sich nichts. Kein Schiff holt sie ab, keine Meldung gibt’s von jenseits der weiten Wasserwüste. Was tun angesichts einer wohl ewig andauernden Hölle des Wartens und Nichtstuns? Ein Disput scheint vorprogrammiert, und Kommandant Thomas Kretschmann einer, der sich dem militärischen Gehorsam verpflichtet hat, komme, was wolle. Eine Einstellung, die sonst niemand hier teilt, einsam und verlassen auf hoher See.

Ein Gefühl der Verlassenheit bemächtigt sich auch beim Betrachten eines Waterworld für Arme, der das psychologisch hochinteressante Dilemma der Ungewissheit einfach nicht nutzen will, um vielleicht eine wendungsreiche Geschichte zu erzählen. Was fehlt, sind nicht nur von außerhalb einwirkend höhere Mächte, wenn man mal von einer perfekten Welle absieht, die gleich zu Beginn des Films hereinbricht. Was fehlt, ist auch die Lust daran, sich angesichts dieses klaustrophobischen Settings soweit auszutoben, um vielleicht gar einen Psychothriller daraus entstehen zu lassen, der mehr zustande bringt als Maschinenöl, raue Seeluft, einen herrischen Machtmenschen und einem an der Tagesordnung stehenden Misstrauen gegen alles und jeden und überhaupt gegen eine Gesamtsituation, die sich schwertut, einer auf der Hand liegenden Initiative, die jeder noch bei Sinnen befindliche Mensch wohl ergriffen hätte, aus dem Weg zu gehen. Um diese Möglichkeit, die den Film wohl nach einer halben Stunde beendet hätte, zu vereiteln, konstruiert Tanel Toom einen unempfundenen Konflikt, dem sich der Zuseher stellen muss.

Die Gefahr eines Atomsprengkopfes erscheint vernachlässigbar angesichts einer globalen Katastrophe, so weit draußen im Nirgendwo. Die Gewichtung der Prioritäten schlägt fehl, und die Zuspitzung auf einen erwartbaren Showdown birgt die freudvolle Vermutung, die auf der Stelle tretende Gesamtsituation neu zu würfeln. Last Contact – oder im Original: Last Sentinel (eigentlich passt beides irgendwie) – mag handwerklich sauber inszeniert sein, und auch das stahlgraue Gesamtbild eines verlorenen Postens mag Freunde technisch-utopischer Soldatenfilme milde stimmen. Ein bisschen etwas versucht Toom aus dem Endzeit-Klassiker Das letzte Ufer zu übernehmen, diese strapazierte Hoffnung auf Erlösung und einen besseren Ort. Allein: Das Zusammenspiel von Bosworth, Kretschmann und Konsorten birgt keinerlei Zwischentöne, sondern lediglich formelhaftes Spiel.

Last Contact (2023)

Never Let Go (2024)

WENN ALLE STRICKE REISSEN

7/10


NEVER LET GO - LASS NIEMALS LOS / Ab 26. September 2024© 2024 Lionsgate


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ALEXANDRE AJA

DREHBUCH: KC COUGHLIN, RYAN GRASSBY

CAST: HALLE BERRY, PERCY DAGGS IV, ANTHONY B. JENKINS, WILL CATLETT, MATTHEW KEVIN ANDERSON, STEPHANIE LAVIGNE U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Hütten und Häuser im Wald gibt es viele. Dort auszuharren bedeutet oft nichts Gutes. Entweder ist die Welt bereits den Bach runter, die Menschheit ausgelöscht oder ein Fluch hindert die darin Lebenden, ihre Existenzblase zu verlassen. Ob Evil Dead, The Cabin in the Woods oder Knock at the Cabin – irgendwo ist dabei immer das Böse einen Steinwurf entfernt und nur das bedächtige Verhalten einer Handvoll Überlebender entscheidet über Leben und Tod. Horror-Spezialist Alexandre Aja (u. a. Crawl, Oxygen) will Raimi oder Shyamalan weder kopieren noch parodieren noch sich gar vor ihnen verbeugen. Er schafft es, dank einer literarischen Vorlage, die den bekannten Versatzstücken entgeht, eine völlig anders geartete Variation des Haunted Cabin-Genres vorzulegen. Wir befinden uns dabei inmitten eines Waldes irgendwo in den Vereinigten Staaten, dort steht eine relativ alte Immobilie, die noch den Großeltern von Halle Berry gehört hat, die in Never Let Go eine traumatisierte Mutter gibt, die nichts mehr anderes in ihrem entbehrlichen Überleben antreibt als auf ihre beiden Söhne aufzupassen. Denn eines weiß sie: Eine niederträchtige Entität lauert jenseits des Grundstücks. Sie kann jedwede Gestalt annehmen und ihre Opfer zum Wahnsinn treiben, sobald diese berührt werden. Allerdings gibt es da eine Methode, um der Belagerung zu entgehen: Alle drei, Mutter und Söhne, müssen mit einem Strick stets mit dem Haus verbunden bleiben. Solange keine Abnabelung stattfindet, kann das Böse den Überlebenden nichts anhaben. Die Kinder zeigen sich, je älter sie werden, zunehmend skeptisch: Wie kann es sein, dass nur Mama das Böse sieht? Warum wir nicht? Und was, wenn alles gar nicht wahr ist und Mama längst in die Geschlossene gehört, weil sie was auch immer aus ihrer Vergangenheit nicht verarbeiten kann? Ist das Ende der Welt wirklich passiert oder liegt eine gänzlich andere Wahrheit irgendwo da draußen?

Wenn sich der Nachwuchs aus der elterlichen Fürsorge entwindet, um auf eigene Faust die Welt, in der er lebt, zu erforschen, mag das sehr viel mit Trial und Error zu tun haben, aber auch mit dem Erlernen notwendiger Selbstständigkeit. Es gibt Mütter und Väter, die das nur schwer zulassen können. Die sich viel zu sehr mit ihren Kindern identifizieren, ohne diese als autarke Persönlichkeiten zu betrachten. Wie monströs können Eltern werden, wie fanatisch, wenn juveniles Reifen nichts ist, was sich entwickeln darf. So sitzt Halle Berrys Figur wie eine Glucke auf den Brüdern Nolan und Samuel, lehrt sie, ihr Zuhause zu lieben und lehrt sie, niemals loszulassen. Der Titel ist dabei maßgeblich Programm. Und sagt vielleicht schon viel zu viel darüber aus, ob der Schutz vor der Außenwelt wirklich berechtigt ist oder nicht.

Dennoch belässt Aja die meiste Zeit des Films sein Publikum im Dunkeln, um nicht zu sagen: Fast die gesamte Laufzeit. Dieses Spiel mit Vertrauen, Misstrauen, Glaube und Aberglaube gerät zum dichten Reigen eines familiären Albtraums zwischen Einbildung, Angst und der klaren Sicht auf die Dinge, wie sie vermutlich sind. Never Let Go entwickelt dort noch Suspense, wo andere Filme längst aufgegeben haben und zur Tagesordnung eines Showdowns übergegangen sind. Mit The Village gelang Shyamalan – um einen Vergleich mit dem Regiekollegen dennoch zu bemühen – ähnliches. Dort konzentrierte sich dieser auf das fatale Dilemma rund um Verschwörung und Aberglaube, womit der Film mit Never Let Go einiges gemeinsam hat. Letzterer nimmt sich aber auch noch der Problematik elterlicher Erziehung an. Mag sein, dass Never Let Go letzten Endes zu viel will. Und ja, Aja stopft hier einiges in seine hundert Minuten, vor allem allerlei Symbolträchtiges und Allegorisches und verliert dabei vollends eine gewisse inhärente Logik aus den Augen, die den Nebel aus Halluzinationen, Tatsachen und Phantastischem teilen könnte.

Festhalten kann sich das Publikum nirgendwo. Was Never Let Go dann auch so beklemmend macht. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, schwindet der Boden unter den Füßen. Immer wilder wird der Ritt, wer hätte gedacht, dass Berry und zwei Jungdarsteller so ein Inferno entfesseln? Den rettenden Strohhalm gewährt Aja dann doch, aber erst dann, wenn jedwede Zuversicht schon aufgegeben scheint.

Never Let Go (2024)

Rumours (2024)

AM GIPFEL DER HOHLEN PHRASEN

6,5/10


rumours© 2024 Viennale


LAND / JAHR: KANADA, DEUTSCHLAND 2024

REGIE: GUY MADDIN, EVAN & GALEN JOHNSON

DREHBUCH: EVAN JOHNSON

CAST: CATE BLANCHETT, CHARLES DANCE, NIKKI AMUKA-BIRD, DENIS MÉNOCHET, ROY DUPUIS, ROLANDO RAVELLO, TAKEHIRO HIRA, ALICIA VIKANDER, ZLATKO BURIĆ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Politik ist in erster Linie eines: Zugang zu Macht. Hat man sich diese mal für eine Legislaturperiode gesichert, gibt es die Wahl zwischen dem Agieren fürs Allgemeinwohl, um die Lebenssituation derer zu verbessern, für die man sich verantwortlich zeichnet. Und der Verfolgung ganz persönlicher Agenden zur Umsetzung idealistischer und völlig am Begehren des Volkes vorbeigehender Ziele. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Die Bereicherung an Wohlstand und Ansehen, sonst nichts. Welchen Weg wohl diese sieben Kapazunder gewählt haben, die anlässlich eines G7-Gipfels im deutschen Dankerode zusammengekommen sind? Vielleicht sind sie ja auch nur des Regierens müde geworden. Und haben sich frei nach dem Peter-Prinzip so sehr an die oberste Kante gelebter Menschheitsgeschichte gepusht, dass sie, angekommen am Ende der Nahrungskette, ihr Politprogramm längst ausgehöhlt haben.

Die lieben Sieben sind: Deutschlands Kanzlerin Hilda Ortmann, in welcher Cate Blanchett wohl weniger eine Reminiszenz an Angela Merkel sieht als vielmehr die ganz offensichtliche parodistische Verzerrung einer Ursula van der Leyen. Die britische, reicht eifrige Premierministerin Cardosa Dewinth (Nikki Amuka-Bird), der viel zu alte amerikanische Präsident Edison Wolcott (Charles Dance), dauermüde, neben der Spur und ganz klar Joe Biden imitierend, der sich beim letzten Schlagabtausch mit Donald Trump im Fernsehen ähnlich präsentiert hat. Wer sich hier noch eingefunden hat: Der italienische Premier, ein Schnorrer unter dem Herrn. Der französische Präsident (Denis Ménochet), der über Sonnenuhren philosophieren wird. Und Japans Polit-Oberhaupt als die farbloseste Gestalt in diesem tolldreisten Reigen der Phrasendrescher, die sich im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens einer globalen Krise stellen müssen. Welcher Natur diese sein mag, darüber lässt sich nur mutmaßen. Doch vielleicht hat sie mit den Moorleichen zu tun, die in der Nähe des Anwesens gefunden wurden. Vielleicht ist bereits jetzt schon das Ende der Menschheit nahe. So genau weiß man das nicht. So genau wissen es nicht mal die G7, denn was sie auszeichnet, ist ihre erschreckende Inkompetenz darin, konstruktive Strategien zu erarbeiten. Ehrlich: Wer will das schon an einem lauen, alkoholreichen Abend mit gutem Essen? Wer will das schon, wenn die amourösen Sorgen des labilen, kanadischen Premierministers viel interessanter scheinen? Der wird schließlich verkörpert von Roy Dupuis. Mit langer grauer Mähne und dem Auftreten als Frauenheld und Schwerenöter, stets an der Kippe zur romantisch motivierten Weinerlichkeit, lenkt er die liebevoll-sarkastische Weltuntergangs-Satire Rumours in eine Richtung, die schon Stanley Kubrick mit Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben eingeschlagen hat. In dieser Nacht der lebenden Toten oder der zum Tode verurteilten Lebenden ist die Symphonie der leeren Worte das Requiem auf einen kolportierten Fortschritt, der nur so tut, als ob er die Dauerprobleme der Menschheit in den Griff bekommt.

Das Regie-Trio Guy Maddin (bislang wohl eher bekannt für experimentelles Kino wie The Green Fog) sowie Evan und Galen Johnson haben eine diebische Freude daran, den Mächtigen dieser Welt Grips und Wort zu stehlen. Oder aber: die Politik dahinter als das zu entlarven, was sie stets zu sein scheint: Die Liebesmühe pflichtbewusst verfasster Schulaufgaben unwilliger Unterstufler.

Doch das Wortspiel, die privaten Befindlichkeiten, das Geplänkel allein – das alles reicht nicht. Rumours lässt die Oberen durch den deutschen Wald irren, lässt sie Hirn finden und Alicia Vikander, die nur schwedisch spricht. Das Ensemble der Sieben wird dabei zusehends entindividualisiert und zum Sinnbild ihrer Staaten, die sie vertreten. Immer abstrakter wird das Spiel, zur satirischen Karikatur eines Landes mit all seinen Klischees werden Blanchett, Charles Dance und Co. Diese Klischees aber haben einen erschreckend wahren Kern. Und wenn sich dieser ganz offenbart, ist es längst zu spät. Für sie und für uns alle.

Ein schneidend spaßiger Film ist Rumours geworden, das Endzeitabenteuer der Wichtigen, die ihre Prioritäten nicht mehr erkennen, mit Hang zum Genre des Phantastischen.

Rumours (2024)

Acid (2023)

AM TAG, ALS DER REGEN KAM

6/10


acid© 2023 Plaion Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: JUST PHILIPPOT

DREHBUCH: JUST PHILIPPOT, YACINE BADDAY

CAST: GUILLAUME CANET, LAETITIA DOSCH, PATIENCE MUNCHENBACH, MARIE JUNG, MARTIN VERSET, VALENTIJN DHAENENS, NICOLAS DELYS U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme brauchen wirklich eine kleine Ewigkeit, um nach ihrer Festivalpremiere irgendwo einsehbar zu sein, findet das nun On Demand, auf DVD oder im Programm eines anderen Festivals statt. Der französische Wetterhorror Acid hat sich seit den Filmfestspielen in Cannes letzten Jahres knapp einen Sonnenumlauf lang durch die Untiefen filmischer Verwertungswelten gequält, um letztlich noch einmal einen Termin auf großer Leinwand zu ergattern, in diesem Fall im Rahmen der frühsommerlichen Slash ½ Festspieltage, die schon ordentlich Gusto machen sollten auf das große Rambazamba im kommenden September, wo für zehn Tage wieder mal alles Phantastische, Schräge und Bizarre fröhliche Urstände feiern darf. Acid wird, so ein Verdacht, ohne rechte Auswertung vom Kultursender Arte stiefmütterlich aufgenommen werden und im Nachtprogramm verschwinden – dabei bohrt das Werk in den offenen Wunden eines Klimawahnsinns, der uns Stürme, Dürren, Überschwemmungen und Gletscherschmelzen beschert. Gerade eben versinken Teile Brasiliens und Afghanistans im Regen, in Sumatra brechen Schlammlawinen sämtliche Türen ein. Wie es scheint, steht uns wieder ein bahnbrechend heißer Sommer bevor, in dem man nur schwer atmen kann, wenn man vor die Tür geht. Von so einer Affenhitze ist auch in Acid die Rede, und das Erschreckende dabei: Diese Temperaturen versengen bereits den knackfrischen Frühlingsmonat März. Das ganze Szenario wäre ohnehin schrecklich genug, wäre der im wahrsten Sinne des Wortes heiß ersehnte kühlende Niederschlag nicht einer, der alles vernichtet.

Wir erinnern uns gerne noch an Ridley Scotts Weltraumhorror Alien und den auf dem Raumfrachter Nostromo befindlichen Wüterich, dessen Blut sich als Säure durch die Ebenen des Schiffes frisst. Nimmt man diese toxische Anomalie und potenziert sie auf die Größe eines kontinentalen Wetterphänomens, wird das hierzulande gern verwendete geflügelte Wort „I bin ja nicht aus Zucker“, welches eigentlich den Mut des Kleinbürgers veranschaulichen sollte, völlig schirmlos in den Regen hinauszugehen, nochmal gründlich hinterfragt. Denn in Acid läuft alles Organische und Anorganische plötzlich Gefahr, auf Nullkommanichts zersetzt zu werden, so sauer scheint der bedrohlich dunkelgraue Himmel auf all das zu sein, was darunter um sein Leben rennt. Als wäre das alles ein gebündelter Zorn der Götter, eine letzte biblische Plage, so lässt der Niederschlag nichts und niemanden unberührt. Inmitten dieser landesweiten Katastrophe suchen Guillaume Canet und seine Familie Schutz vor den gefräßigen Zombietropfen, die Mauerwerk zerbröckeln und Karosserien blitzartig erodieren lassen. Es zischt und dampft und zersetzt sich der Boden, die nachvollziehbare Wirksamkeit der tödlichen Säure für all jene, die im geschützten Auditorium im Trockenen sitzen, garantiert Regisseur und Drehbuchautor Just Philippot mit dezent eingesetzter CGI.

Von einem Desastermovie, wie sie Roland Emmerich zum Beispiel mit seinem winterharten The Day After Tomorrow gerne auf die breite Leinwand wuchtet, ist Acid aber weit entfernt. Während Emmerich den unkaputtbaren Glauben an familiären Zusammenhalt und das Überleben der idealisierten Familie hochhält, liegt Philippot nichts daran, seinen Survivalhorror einer geschmeidigen Zuversicht unterzuordnen. Acid gerät zum ernüchternden und weitestgehend recht resignierenden Niederschlags-Nihilismus. Opfer werden gebracht, die, legt man Wert auf unantastbare Gesetzmäßigkeiten, gar nicht passieren dürften. Zumindest nicht so, wie sie Philippot in recht explizierter Schrecklichkeit den verheerenden Unwirtlichkeiten aussetzt. Vielleicht liegt in dieser wenig zimperlichen Radikalität, in welcher Mama, Papa und Tochter ins Trockene hechten, gar so etwas wie die Lust an der bleischweren Überzeichnung. Ob Niederschlag jemals einen derartigen Säuregrad erreichen könnte, um einen ganzen Kontinent wegzuätzen, mag diskussionswürdig sein. Doch wie bei Emmerich, der sich um zeitlich akkurate Abfolgen von Wetterumschwüngen auch nicht recht geschert hat, mag Philippot lieber den völlig unplausiblen Worst Case als gegeben hinnehmen wollen. Denn nur mit überspitzten Darstellungen einer hoffnungslos ruinierten Welt lässt sich die kinoaffine Menschheit vielleicht wachrütteln. Andererseits: Auf diese Weise muss sich Acid die Kritik gefallen lassen, in einer gewissen Monotonie zu schwelgen. Das allein schon das Kolorit des Films stets in ermüdendem regennassen Grau für kraftlose Längen sorgt, wird nur noch bestärkt durch einen wie bei Katastrophenfilmen eben so üblichen dünnen Plot, der nichts anderes im Sinn hat, als seine Protagonisten von Pontius zu Pilatus zu schicken. Wirklich raffiniert wird Acid nie, der Film zeigt lediglich und völlig aus der Luft gegriffen, wie schlimm es werden kann. Lustig ist das nicht, spektakulär eigentlich auch nicht, und nicht mal das Bröckeln ganzer Betonbrücken feiert das Genre eines europäischen Blockbusterkino. Der Kampf ums Überleben geht im deprimierenden Prasseln eines kataklystischen Regens unter, Schlechtwetter sorgt für schlechte Stimmung, der erfrischende Wind, der den Film in eine andere Richtung geblasen hätte, bleibt aus.

Acid ist schwarzseherischer Ökohorror, radikal und ungefällig, was man dem Film zugutehalten kann. Andererseits tritt der Trübsinn auf der Stelle, das Drama bläht sich auf, und zieht der Regen mal weiter, freut sich niemand auf den Sonnenschein, der stets danach folgt.

Acid (2023)

Civil War (2024)

MAKE AMERICA BREAK AGAIN

8,5/10


civilwar© 2024 A24 / DCM


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ALEX GARLAND

CAST: KIRSTEN DUNST, WAGNER MOURA, CAILEE SPAENY, STEPHEN MCKINLEY HENDERSON, JESSE PLEMONS, NICK OFFERMAN, SONOYA MIZUNO, JEFFERSON WHITE, NELSON LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Der Sturm aufs Kapitol hätte der Anfang werden können für etwas, dass wohl die ganze Weltordnung neu geschrieben hätte. Denn wir wissen längst: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben diese immer schon mitbestimmt, war es nun der Erste oder der Zweite Weltkrieg, Operation Wüstensturm, der Sturz Saddam Husseins oder die Bereitschaft, die Ukraine gegen den russischen Aggressor mit allerhand Kriegsmaterial zu unterstützen. Das US-Amerika ist nicht nur Entscheidungskraft im weltpolitischen Handel, auch die Lebenswelt in Übersee ist uns dank des übereifrigen Outputs an Hollywood-Filmen so dermaßen vertraut, als würde man selbst dort drüben leben. Keine andere Staatengemeinschaft wie diese hat dermaßen viel Einfluss. Umso erschreckender muss es also sein, wenn die selbsternannte Weltpolizei, die geschlossen gegen die Achsen des Bösen angekämpft hat, plötzlich und im eigenen Land nicht mehr Herr der Lage ist und von innen heraus zerbricht. Es wäre eine Katastrophe langen Atems und alles umstürzend, was die Wohlstandswelt wertschätzt.

Als Anfang von etwas Neuem und zweifelhaft Gutem hätte der 6. Januar 2021 zwar nicht sogleich einen Krieg, dafür aber einen weitaus größeren Erdrutsch verursachen können, der Folgen nach sich ziehen hätte können, die Alex Garland nun in die existenzgefährdenden Albträume der US-amerikanischen Bevölkerung als böse Saat einpflanzt. Der Umbruch ist in Civil War längst nicht mehr aufhaltbar, die Ordnung ist dahin, der Notstand ein Euphemismus. Dieser Film ist nichts, was uns Europäer nicht angeht. Er bedient die größte Angst der westlichen Welt, ihre prachtvolle Convenience-Blase platzen zu sehen. Weil plötzlich ist, was nicht sein darf. Weil die Welt nur immer woanders zugrunde geht, nur nicht hier, wo der Überfluss alles richtet.

Civil War ist weniger ein politischer Film. Alex Garland ist es sowas von egal, wer nun wen bekämpft, welche politischen Agenden dahinterstecken, welche Ideale nun kolportiert werden und was sich der noch amtierende Präsident der Vereinigten Staaten eigentlich hat zuschulden kommen lassen, um jetzt um sein Leben zu bangen. Denn schließlich ist es ja so, dass jene Recht behalten, die dieses Gemetzel gewinnen. Kriege verlieren hingegen sehr schnell ihren Sinn, der Ausnahmezustand schafft ein Vakuum, in dem sich nur schwer ein gewisser Alltag leben lässt. Und wenn doch, erscheint er grotesker als alles andere. So einen Zustand müssen die vier Journalistinnen und Journalisten Lee, Jessie, Joel und Sammy erstmal verdauen und als gegeben akzeptieren. Sie sind unterwegs quer durchs Land, um zur rechten Zeit am richtigen Ort den schwindenden Präsidenten zu einigen letzten Worten zu bewegen, denn alles sieht danach aus, als stünden die Western Forces kurz davor, auch die letzte Bastion der alten Paradigmen niederzureissen. Es ist wie die Schlacht um Berlin, die Schlacht um Bagdad, die Schlacht um eine heile falsche Welt, die bald entbrennen wird. Das Quartett möchte vor allen anderen ins Weiße Haus gelangen, der Ehrgeiz des Reporters ruft, und die Versuchung, zu selbigem des Satans zu werden, lockt wie schnöder Mammon. Sie versuchen, Würde zu wahren und so zu tun, als würde sie der jeweils andere interessieren. Eine Zweckgemeinschaft, die während einer über 800 km langen Fahrt Zeuge einer Zombieapokalypse nur ohne Zombies wird, in der rechtsextreme Republikaner die Gelegenheit am Schopf packen, ihre Welt von allem Fremden zu säubern, Scharfschützen ohne Fraktion einander die Birne wegschießen und Lynchjustiz an der Tagesordnung steht. Es sind Bilder, die man von woanders kennt.

Endlich sieht man mal wieder Kirsten Dunst in einer Rolle, die ihr auf den Leib geschneidert scheint. In längst abgestumpfter Professionalität einer Kriegsreporterin hat sie alles schon gesehen, nur sie selbst war noch nie wirklich Teil davon. Wagner Moura als jovialer Cowboy, Stephen Henderson als der amerikanische Christian Wehrschütz, der schon längst in den Ruhestand hätte treten sollen, es aber nicht lassen kann, und zuletzt Cailee Spaeny (Priscilla) als kindlicher Ehrgeizling, der zum einen eine Scheißangst vor dem Krieg hat, zum anderen aber bald die Gefahr als Droge missbraucht, um noch bessere Bilder zu machen als Lee Smith aka Kirsten Dunst, die es anfangs für keine Gute Idee hält, dieses Greenhorn mitzunehmen. Garland schafft mit diesen „Vieren im Jeep“ neben all der Kriegsstimmung und des Notstands ein Ensemblespiel in kunstvoller Effizienz, was das Portraitieren von Charakteren angeht. Civil War ist Kriegsreporter-Kino allererster Güte, so eindringlich wie Salvador oder The Killing Fields – und dann das: Anders als all die besten aus der Hochzeit des Politkinos Ende der Achtziger fühlt sich Civil War aufgrund seiner Nähe zu einer uns wohlbekannten Welt und einem unmittelbarem Zeitgeist tatsächlich so an, als sähe man das, worüber Garland berichtet, in den hauseigenen Nachrichten. Civil War ist das schweißtreibende Imitat einer nahen, möglichen Realität, die scheinbar Unzerstörbares aushebelt und niederringt. Immer wieder findet Garland Bilder von weltvergessener Schönheit und konterkariert seinen Krieg mit einer Compilation aus Countrysongs, Hip Hop- und Space Rock, die das Gesehene so irreal erscheinen lassen wie Napalmbomben am Morgen unter den Klängen von The Doors. Coppolas Antikriegs-Meisterwerk Apocalypse Now wirft Garland auch verstohlene Blicke zu – so manche Szene ist zu bizarr, um ihm Glauben zu schenken. Der Boden unter den Füßen findet kaum Halt.

Gegen Ende uns Zusehern vor die Füße geworfen, ist die Schlacht um Washington D.C ein Brocken selten gesehener, moderner Kriegsführung, sie gerät weder prätentiös noch pathetisch, sondern so authentisch wie der Lockdown oder Flüchtlingsströme vor der Haustür. Auf diesen Zug, in welchem Good News Bad News sind und Bad News irgendwann vielleicht Good News werden, springt Civil War auf und fährt die Achterschleife. Garland bringt seinen Plot dramaturgisch auf den Punkt, lässt weg, was den Höllenritt nur ausbremst, lässt manches im Geiste seines Publikums weiterspinnen, redet auch nicht lang drum herum. Als klar wird, dass die Härte und Arroganz der Kriegsführung im eigenen Land auch jener entspricht, mit der die USA bereits allerorts auf dieser Welt einfielen, wird einem so richtig mulmig. Die Zivilisation zeigt sich als Camouflage, der Altruismus in Krisenzeiten als Lippenbekenntnis. Wo es die Menschheit hinbringt, lässt Garland im Ungewissen. Was sie anstachelt, ist weniger der Mut zur Veränderung als lediglich die Gier nach einem wie auch immer gearteten Sieg.

Civil War (2024)

Leave the World Behind (2023)

DA IST WAS FAUL IM BUNDESSTAAT

8/10


leavetheworldbehind© 2023 Netflix


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: SAM ESMAIL

CAST: JULIA ROBERTS, ETHAN HAWKE, MAHERSHALA ALI, MYHA’LA HERROLD, FARRAH MACKENZIE, CHARLIE EVANS, KEVIN BACON, ERICA CHO, VANESSA ASPILLAGA U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Wochenend‘ und Sonnenschein und mit dem Notstand ganz allein. Irgendwas ist da faul im Staat, nur könnte die Familie rund um Julia Roberts, wenn’s hart auf hart geht, auch noch dumm sterben. In Zeiten wie diesen, wenn die Elektronik nicht mehr rund läuft, das Smartphone keine Verbindung aufbauen und Töchterchen ihre Friends-Folge nicht mehr zu Ende gucken kann, ist ein ganz anderes Ende nah. Zumindest fühlt es sich so an. Und es fühlt sich auch danach an, als würde uns M. Night Shyamalan wieder in die Irre führen. Denselben Stoff aber nochmal zu verbraten, den er schon mit Knock at the Cabin mehr recht als schlecht hingefriemelt hat, das würde er wohl nicht wagen.

Ganz genau. Von Shyamalan ist Leave the World Behind erstens mal nicht. Und zweitens auch nicht von Jordan Peele. Man könnte es anders formulieren und behaupten, auf gewisse Weise steht hinter dieser Mystery niemand geringerer als das Ehepaar Obama. Die beiden haben den Netflix-Streifen schließlich mitproduziert, doch inszeniert hat das Ganze Sam Esmail (Mr. Robot). Der hat auch gleich das Skript geliefert und ein bisschen was an Geld auch noch hineingebuttert. Gut war’s, und gelohnt hat sich’s obendrein. Das atmosphärische Kammerspiel mit Starbesetzung schlägt in der fiebernden Erwartung auf die Katastrophe, die alles auslöschen wird, sämtliche Filme des Genres in die Flucht. Leave the World Behind hat den Mut zum Innehalten, legt den Fokus auf soziale Interaktion und schürt mit seltsamen Vorkommnissen und manchmal albtraumhaften Zuständen die Furcht vor dem Kollaps, der irgendwann eintreten wird. Für welchen Bunker gebaut, Notfallboxen herangeschafft und vielerorts gebetet wird. In diesem Film treffen irrlichternde Covid-Fieberträume auf die hart erworbene Geduld quälenden Wartens, trifft das Trauma der Capitol-Stürmung auf die mutmaßliche Unterwanderung ganzer Brigaden, die von der Weltenachse des Bösen abgezogen wurden. Da sich keiner einen Reim darauf machen kann anhand dessen, was passiert; da die akute Ahnungslosigkeit folglich alle auf einen Nenner bringt, gelingt Esmails Szenario die tapfere Komprimierung auf ein Kammerspiel ohne Wände, in der die dreidimensionale Skizzierung der Charaktere fast schon mehr im Vordergrund steht als das kontinentale Dilemma.

Je länger Julia Roberts im Filmbiz mitmischt, umso besser wird sie. Schön, sie diesmal in einer ganz anderen, geradezu hemdsärmeligen Rolle zu bewundern, die an ihre Erin Brokovich erinnert, nur diesmal ist sie die Mutter zweier Kinder und verheiratet mit dem charmant-lässigen Ethan Hawke, dem das Bedürfnis nach Harmonie ins Gesicht geschrieben steht. Diese vierköpfige Familie also fährt übers Wochenende an die Küste und mietet über Airbnb das Haus des wohlhabenden Mahershala Ali, der, als die ersten Anzeichen aufpoppen, das irgendetwas nicht stimmt, gemeinsam mit seiner Tochter ebendort aufschlägt. Natürlich ist Mama Roberts angepisst, denn das ist schließlich ihre Zuflucht, zumindest für die gebuchten paar Tage. Da in den Städten nichts mehr zu funktionieren scheint und Vater und Tochter nirgendwo anders hinkönnen, müssen sich beide Familien irgendwie arrangieren. Während das geschieht, während das Misstrauen zwischen den Fremden wächst und selbst für den Zuseher alles möglich scheint, erfährt die Welt um sie herum einen Paradigmenwechsel der ganz anderen Art. Die Tierwelt scheint sich plötzlich abnormal zu verhalten, Schiffe fahren auf die Küste zu und immer mal wieder treiben schrille Geräusche das Ensemble in den Wahnsinn.

Sam Esmail weiß dabei ganz genau, worauf er in seinem unterschwelligen Katastrophenszenario achten muss. Er zeigt dabei nicht nur, was den urbanen Menschen in seiner Blase so abhängig hat werden lassen, er entzieht ihm auch die Grundlage dafür, sich sicher und geborgen zu fühlen. Das geht langsam vonstatten, dazu braucht es keine Eile, und während der Schrecken so langsam aber doch durch die Ritzen der Türen ins sichere Heim sickert, reagiert jeder Einzelne der Betroffenen ganz unterschiedlich auf diesen Ausnahmezustand. Wie Esmail die Reaktionen derer dafür verwendet, griffige Charaktere zu formen, ist das besondere Herzstück dieser Home Cinema-Überraschung. Leave the World Behind überzeichnet nichts, hält sich zurück, setzt Akzente, die zwischendurch mehr aufs Gas treten als in anderen Momenten, in denen man meinen könnte, nichts davon, was da draußen geschieht, könnte relevant sein. Ist es allerdings doch, und dann kommt noch Kevin Bacon ins Spiel, der so seine Ahnungen hat, und auch die sind nur Futter für Verschwörungstheorien, die vielleicht wahr sind oder auch nicht.

Schön ist, und das macht der Film ganz ausgezeichnet: Ein Perspektivwechsel findet nie statt. Der Story-Twist bleibt aus, schon allein deswegen ist das Ganze kein Shyamalan. Statt solcher erwartbaren Mechanismen geht Esmail dabei ordentlich in die Tiefe und rührt in der selbstverständlichen Auffassung der Wohlhabenden herum, niemals um die gesellschaftliche Ordnung bangen zu müssen. Hervor kommen Verhaltensweisen, die den Verzweifelten die Schamesröte ins Gesicht treibt. Entkommen kann man ihnen nicht, und letztlich liegt das Heil in der Zerstreuung. Wofür Esmail ein rundes, in seinem leisen Zynismus pointiertes Ende findet. Leave the World Behind ist mehr als eine Dystopie – es ist vor allem äußerst kluge Gesellschaftskritik.

Leave the World Behind (2023)

Knock at the Cabin (2023)

DIE REITER DER APOKALYPSE

6/10


knockatthecabin© 2023 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: M. NIGHT SHYAMALAN

CAST: DAVE BAUTISTA, BEN ALDRIDGE, JONATHAN GROFF, NIKKI AMUKA-BIRD, RUPERT GRINT, ABBY QUINN, KRISTEN CUI U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Wer klopfet an? Nein, es sind nicht die Zeugen Jehovas, obwohl sie vom Ende der Welt predigen. Vielleicht verleitet ja ein unwesentliches Detail dazu, nicht unbedingt anzunehmen, die Sekte mit dem Leuchtturm vor der Türschwelle zu haben. Dieses Detail sind archaische Waffen, die aussehen wie Dreschflegel, Morgensterne oder Hellebarden. Sowas tragen die Jehovas nicht mit sich, das ist mal klar. Zumindest noch nicht. Wer sind also diese vier Auserwählten hier, dass sie es besser wissen als der Rest der Welt? Dave Bautista, der Einbauschrank unter den Schauspielern, hat eine Vision gehabt, die er nicht nur nicht mehr loswird. Die drei, die ihn begleiten, hatten dieselben Bilder vor Augen. Kann kein Zufall sein. Man kann nicht einfach dasselbe träumen. Und die Welt kann genauso wenig von heute auf morgen den Bach runtergehen.

Ich wäre genauso skeptisch wie das schwule Pärchen Eric und Andrew samt ihrer kleinen Tochter Wen, die da plötzlich, mitten am Wochenende in der reinsten Idylle, überfallen werden. Wieso sollte ich jemandem glauben, die Welt gehe unter, nur aufgrund seltsamer Koinzidenzen? Ich würde ihnen einen Kaffee anbieten und sie dann schön brav nach Hause schicken, nachdem ich vielleicht ihre Annahmen zerstreut hätte, die argumentell unmöglich zu untermauern sind. Leichter gesagt als getan. Denn die vier seltsamen und nicht minder bedrohlichen Gestalten, die zwar vorgeben, niemandem etwas tun zu wollen, was aber genauso schwer zu glauben ist wie der Weltuntergang, fordern einen selbstlosen Einsatz. Einer der drei aus der Familie Andrew, Eric und Wen müssen geopfert werden. Dies müssen sie allerdings untereinander klären, und zwar schnell, da die Zeit drängt, denn da draußen, jenseits der Hütte im Wald, braut sich bereits was zusammen. Es sind Plagen wie seinerseits Gott über Ägypten gebracht hat, nur globaler. Einer für alle ist also die Devise. Nur wer? Und es stellt sich immer noch die Frage: Warum?

Man möchte meinen, dass all die Schwurbler und Querdenker, die in den letzten drei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, beim Master of Mystery längst einen Stein im Brett haben. Nicht alles, was so scheint, als könnte zwischen den obskursten Begebenheiten kausale Zusammenhänge bestehen, ist nichts als Zufall. Auf diesem Gedankenspiel baut Shyamalan seinen neuen Home-Invasion-Thriller auf, der sich trotz einiger gewalttätiger Zuspitzungen deutlich friedfertiger gibt als seine paranoide Alien-Invasion Signs – Zeichen, der zumindest bei mir für schlaflose Nächte gesorgt hat. Wie in so einigen seiner Filme gibt es weder Gut noch Böse. All die Figuren und der paranormale Stoff, mit dem sich Shyamalan umgibt, passen selten in gewohnte Schubladen. Und das macht so einiges mit der Wirkung seiner Filme. Weil es irgendwo und irgendwann etwas viel Größeres geben muss und gibt, was der herumirrende Mensch nicht versteht und am Ende auch nicht zu verstehen braucht, da die Wissenschaft ohnehin Ausgang hat.

In Knock at the Cabin geht es einzig und allein darum, die guten alten Riten der Opfergabe, deren Bekannteste wohl jene ist, wenn Abraham auf Geheiß des Allmächtigen seinen Sohn zur Schlachtbank führt, einem neuzeitlichen Praxistest zu unterziehen. Was heißt das für uns? Sind wir den Mythen trotz allen Fortschritts und trotz all der Aufklärung und der Erkenntnis immer noch hilflos ausgeliefert? Und ist die Besinnung auf das Archaische der einzige Weg, unsere Welt zu retten? Das ist viel an philosophischem Gedankengut, das Shyamalan komprimiert hat auf einen mit genretypischen Versatzstücken ausgestatteten Thriller, der viel öfter ins selbstmitleidige Endzeitdrama kippt als vielleicht angestrebt. Dafür eignet sich Ex-Wrestler Bautista wirklich gut, der, gegen sein Image gebürstet, den selbstlosen Lehrer gibt, der meint, auserwählt zu sein. In dieser persönlichen Diskrepanz zwischen Auftreten und Erscheinung liegt die Tiefe seines Charakters als Zugpferd des Films. Und weniger in den Schreckensszenarien, die dieser indirekt über den Fernseher schickt. Anscheinend dürfte Shyamalan nichts mehr erschrecken als Found Footage in den Nachrichten – dieses Ausleben der Angst findet sich auch in Signs wieder, wenn Augenzeugen, die irgendwo anders sind, nur nicht am Schauplatz des Films, das Undenkbare nicht fassen können. Auf diese Weise sammelt der Mysterythriller Bedrohung in kleinen Happen – um am Ende ganz andere Saiten aufzuziehen als wie es sonst bei Shyamalans Filmen üblich ist. Vielleicht liegt das daran, dass Knock at the Cabin auf keinem Originaldrehbuch beruht. Und daher überraschend überraschungslos bleibt, obwohl die Wahrheit hinter all dem sowohl das eine als auch das andere sein kann. Ob Schwurbler oder wahrer Prophet – anscheinend steckt beides im Menschen, und die Chance, was zum Zug kommt, ist Fifty-fifty. Damit arrangiert sich der irrationale Film sehr bald, sehr willig und recht leidenschaftslos, womit er sein eigenes Licht unter den Scheffel stellt.

Knock at the Cabin (2023)

How It Ends

MIT SCHWIEGERPAPA UNTERWEGS

6/10


howitends© 2019 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: DAVID ROSENTHAL

CAST: THEO JAMES, FOREST WHITAKER, KAT GRAHAM, KERRY BISHE, MARK O’BRIEN, NANCY SORRELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang. Das wusste schon Johann Nestroy, als er für seine moralische Komödie Der böse Geist Lumpazivagabundus das sogenannte Kometenlied erdichtet hat. Wenn man wenigstens wüsste, aus welchem Grund die Erde untergeht, wäre ja das ganze Schicksal vielleicht besser zu ertragen, als wenn man im Dunkeln tappt. So wie Theo James in dem 2019 auf Netflix veröffentlichten endzeitlichen Roadmovie How it Ends. Das Problem an Titel und dazugehörigem Film: Man weiß eben nicht, wie es endet. Und schon gar nicht wodurch. Nur so viel: Irgendetwas ist passiert. Etwas ganz Schlimmes. Vielleicht der endgültige Kollaps aufgrund zu hoher Energiepreise? Margin Calls überall? Alles reine Spekulation. Was das amerikanische Volk im Osten des Kontinents, genauer gesagt in New York, als erstes zu spüren bekommt, sind Flugausfälle und eine gekappte Verbindung in den Westen. Für Theo James als werdender Vater Will eine schreckliche Sache, weilt doch die werdende Mutter in der eigentlichen Heimat Seattle, während Will geschäftlich nach New York hat fliegen müssen und dort auch gleich seine Schwiegereltern besucht. Mit Schwiegervater Tom, dargestellt von einem rollenbedingt etwas angriffslustigen Forest Whitaker, hat der Mittdreißiger so gut wie gar nichts gemeinsam, doch die angeheiratete Familie kann man sich eben nicht aussuchen. Als Vater Tom sich anschickt, mit dem Auto gen Westen aufzubrechen, um nach dem Rechten zu sehen, muss Will sich anschließen. Wie in einem Roadmovie dieser Art zu erwarten: Je weiter und je länger beide unterwegs sind, desto apokalyptischer wird die ganze Situation. Und je apokalyptischer diese wird, desto näher rücken die beiden Sturköpfe zusammen, um ihr Ziel zu erreichen.

Während man im Kometenkatastrophendrama Greenland längst wusste, was auf einen zukommt, konnte sich Ric Roman Waugh vollkommen auf das Bewältigen sämtlicher Probleme zum Überleben der Spezies konzentrieren. How it Ends fährt die kontinentale Angelegenheit auf eine Tour of Duty hinunter, die mit den üblichen Komplikationen aufwartet, denen Durchreisende eben mal so begegnen, greift die Anarchie langsam um sich. Whitaker verleiht dem Abenteuer so etwas wie Würde, seine gönnerhaft-resolute Erscheinung als Ex-Marine (was man ihm allerdings nicht so ganz glauben mag) weckt Interesse, und ja, man würde den Mann, würde er am Straßenrand stehen, einfach aufgrund seines Charismas mitnehmen, damit die Fahrt nicht so langweilig wird.

Für Langeweile sorgt die Dystopie dankenswerterweise nicht. Denn David Rosenthal, dessen 2019 gedrehtes Remake von Adrian Lynes Jacob‘s Ladder sang und klanglos in der Versenkung verschwand, lässt die Karotte für den hinterherhoppelnden Hasen – in diesem Fall wir Zuseher – lange genug vom Heck seines staubaufwirbelnden Fahrzeuges baumeln. Diese Karotte: sie ist der wahre Grund für das Desaster. Und Rosenthal, er schweigt. Lässt Rauchsäulen in den Himmel steigen, lässt gar nicht mal wissen, ob sich das ganze nur als nationale oder gar globale Tragödie ausgestaltet. Lässt Straßen sperren und vertröstende Worte von einem selbst recht ratlosen Militär spenden und manch vertrauten Bekannten aufgrund der Extremsituation zu einem psychisch labilen Verbrecher mutieren. Das wiederum scheint wenig glaubhaft, gönnt uns am Ende aber endlich den Thriller, den How it Ends die ganze Zeit auf der Straße vor sich hertrieb, während hinten eben das Gemüse lockt. Was zu spät kommt, bezahlt man im Film mit Kreativität. Leider auch in diesem Fall, denn die Fahrt von Schwiegervater und -sohn hätte auch ein ganz normales, aber gelungenes Generationendrama sein können.

How It Ends

28 Weeks Later

DIE NÄCHSTE WELLE KOMMT BESTIMMT

6,5/10


28-weeks-later© 2007 Twentieth Century Fox


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, SPANIEN 2007

REGIE: JUAN CARLOS FRESNADILLO

CAST: ROBERT CARLYLE, IMOGEN POOTS, MACKINTOSH MUGGLETON, JEREMY RENNER, ROSE BYRNE, IDRIS ELBA, CATHERINE MCCORMACK, EMILY BEECHAM U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Vermutlich ist’s verlorene Liebesmüh, tatsächlich 28 Wochen zu warten, um die Fortsetzung von Danny Boyles 28 Days Later zu besprechen. Von dieser Anspielung hab womöglich nur ich was davon, also verliere ich keine Zeit, 28 Weeks Later gleich jetzt in den Filmgenuss-Pool zu werfen. 28 Wochen, da wäre noch eine lange Zeit bis dahin. Das wäre irgendwann Ende September und die Erinnerungen an das brachiale Sequel wohl nicht mehr so taufrisch wie gerade eben. Nach 28 Wochen könnte man aber meinen, eine Endemie durchgestanden zu haben. In diesem gottseidank fiktiven Fall hat sich das Virus vorbehaltlich selbst aufgezehrt. Sprich: die Befallenen sind verhungert. Und jene, die den Kelch an sich vorübergehen ließen, sind evakuiert worden, darunter womöglich auch Cillian Murphys Figur des Jim, von dem wir aber niemals wissen werden, was aus ihm geworden ist. Eigentlich hätte dieser, wenn es nach Alex Garland und Danny Boyle gegangen wäre, gar nicht mal überleben dürfen. Doch das war dem Publikum des Test-Screenings zu düster. Woraufhin jetzt, fünf Jahre danach, Regisseur Juan Carlos Fresnadillo womöglich gar niemanden mehr zu einer Vorabsichtung eingeladen hat. Anders lässt sich der vehemente Nihilismus in diesem knüppeldicken Zombie-Actioner nämlich gar nicht erklären. Vielleicht ist Twentieth Century Fox in den wenigen Jahren dazwischen mutiger geworden.

Beschert hat uns das Studio schlussendlich dieses Worst Case-Szenario, das ganz gut beschreibt, was passieren kann, wenn verhängte Restriktionen zur Eindämmung lebensbedrohlicher Seuchen einfach missachtet werden. Und ehrlich: Robert Carlyle’s Filmkinder könnte man durch Sonne und Mond schießen, in Anbetracht dessen, was sie angerichtet haben. Gut, das war keine Absicht – aber genau das ist das Problem: Mit Absicht verursachen wohl die wenigsten irgendeinen Kollateralschaden. Sie nehmen diesen aber in Kauf, wenn es um eigene Interessen geht. So auch diese Kids (was heisst Kids: Imogen Poots geht da schon als junge Frau durch), die gemeinsam mit dem wiedergefundenen Papa (eben Robert Carlyle aus Ganz oder gar nicht) das Zentrum Londons rückbesiedeln. Weil sie unbedingt in ihr altes Haus wollen, um persönliche Dinge abzuholen, umgehen sie die Sperrzone – und stoßen auf Mama, die wider Erwarten gar nicht tot ist, aber auch kein Zombie. Was denn dann? Ein superimmuner Zwischenwirt, weitestgehend symptomfrei (deswegen ist testen ab und an mal gar nicht schlecht), aber Hölle ansteckend.

Omikron braucht längst nicht so viel Bewegungsenergie wie diese Wutviren, verbreitet sich durch diese Ersparnis aber auch nicht effizienter. Dafür agieren jene, die zum Zivilschutz das virenfreie Gelände sichern, umso wütender. Die neue Welle schwappt über die Insel der Seligen wie ein alles vernichtender Tsunami. Gesunde und Infizierte sind in panischer und tobsüchtiger Raserei nicht mehr voneinander zu unterscheiden. 28 Weeks Later macht keine Gefangene mehr, und das bisschen Menschlichkeit schrumpft und schrumpft und schrumpft. Fresnadillo führt den Film kaum noch mit feiner Hand, sondern viel lieber mit Brecheisen und Schlagring: in schnellen Schnitten und hektischer, teilweise völlig orientierungsloser Kamera findet Kameramann Enrique Chediak bluttriefende Abbilder eines finsteren Infernos nah am Trash, dazwischen versuchen eine ganze Menge bekannter Gesichter wie Jeremy Renner, Rose Byrne oder Iris Elba den Überblick zu bewahren. Feingeistiges Horrorkino ist also etwas anderes, und wir haben hier auch keine psychosozialen Spannungen wie im Original. Dafür aber weicht das bislang ungute Gefühl im Bauch spätestens ganz am Ende einer garstig um den Latz geknallten Hoffnungslosigkeit.

28 Weeks Later

28 Days Later

DAS VIRUS IST EINE INSEL

7/10


28-days-later© 2002 Twentieth Century Fox


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2002

REGIE: DANNY BOYLE

SCRIPT: ALEX GARLAND

CAST: CILLIAN MURPHY, NAOMIE HARRIS, BRENDAN GLEESON, MEGAN BURNS, CHRISTOPHER ECCLESTON, NOAH HUNTLEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Wir können wirklich froh sein, dass uns „lediglich“ Corona in der Mangel hat, und nicht sowas wie das hier: ein künstliches Virus, das den Homo sapiens bis zur Weißglut treibt und dabei auch noch darauf schaut, dass dieser genug Sport macht. Da hilft kein Lockdown für Ungeimpfte mehr, weil diese Sorte Querdenker würde jede Bude stürmen, gäbe es dort noch Zweibeiner, die man beißen kann. Diese aufgrund menschlicher Dummheit entfachte Endemie hat das Pech, in Großbritannien ausgebrochen zu sein. Das Vereinigte Königreich ist schließlich eine Insel, und übers Meer kommt das Killervirus auch nicht, da dieser nur – Gott sei Dank – über Blut und Speichel übertragen werden kann. Die Aerosole lachen sich dabei ins Fäustchen, die haben’s mit Corona besser erwischt. Aber gut: der Rest der Welt muss nun zusehen, wie die Briten vor die Hunde gehen.

Einer, der noch keine Ahnung davon hat, was Sache ist, erwacht eines Tages in einem leergefegten Krankenhaus, am Tropf hängend und splitternackt. Im Ärztekittel steht Jim dann alsbald auf den leergefegten Straßen Londons und ruft seine Hallos in die Runde – niemand antwortet. Ein Bild, das mittlerweile in die Filmgeschichte eingegangen ist. Vor einiger Zeit hätte man noch sagen können: Ein Bild, das den Lockdown ganz gut skizziert. Aber das hier ist Endzeit pur – von der Sorte, die niemand seinem schlimmsten Feind wünschen würde. Denn richtig verquer wird die Lage erst, als Jim die Beine in die Hand nehmen muss. Die Zombies aus 28 Days Later sind nämlich keine torkelnden traurigen Gestalten mit halb verwesenden Leibern, sondern instinktgetriebene Aggro-Bürger, die im Urban Running wohl Bestzeiten schreiben würden.

Nach zwei Jahren Corona, wo wir alle schon etwas pandemiemüde geworden sind, ist Danny Boyles zackig geschnittener und manchmal sehr chaotisch herumfuchtelnder Videoclip-Horror genau der richtige Absacker. Wie es aussieht, haben wir das Schlimmste vielleicht hinter uns, also könnte diese Schreckensvision aus den frühen 2000er Jahren nicht mehr zwingend für schlaflose Nächte sorgen. Düster ist der apokalyptische Entwurf aber dennoch. Und das deswegen, weil der aus dem menschlichen Verhalten herausdestillierte blanke Hass das Zeug zum lähmenden Schreckgespenst hat. Wer bisher Zombies stets belächelt hat, lernt bei diesen ausrastenden Normalbürgern ein bisschen das Fürchten. Die unkontrollierte Wut und die Gewalt im Affekt ist im Grunde auch das, was uns Abstand halten lässt vor verhakltensauffälligen Fremden. Mit diesen Instinkten probieren Boyle und Drehbuchautor Alex Garland (u.a. Auslöschung) freudig herum, zumindest anfangs – um dann mit bizarrer Endzeit-Logik aufzuräumen. Mag sein, dass 28 Days Later Robert Kirkman und Tony Moore für ihre 2003 gestartete Graphic Novel The Walking Dead inspiriert haben. Auch hier droht die Gefahr nicht nur von außerhalb, sondern auch an der eigenen Front, die keinen Schulterschluss mehr zulässt, weil jeder so seinen eigenen Entwurf von der Rettung der Menschheit hat. Das macht Boyles Film psychologisch interessant und Cillian Murphy in seiner großen Erfolgsrolle zum schlaksigen, stets am Rande der Erschöpfung befindlichen Helden, der bereits erlernte humane Werte nicht einfach so über Bord wirft.

Über Bord wirft Danny Boyle aber manchmal so einige plausible Wendungen, die für das Andrehen so mancher Spannungsschraube geopfert werden. Hätte gar nicht mal sein müssen, da 28 Days Later seine Qualitäten nicht aus dem Suspense bezieht, sondern aus dem von einem unheilvollen Score unterlegten, hilfeschreienden Panorama einer sich selbst aufzehrenden Anarchie.

28 Days Later