LOLA (2022)

DAS VERSCHWINDEN DES DAVID BOWIE

7,5/10


LOLA© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE: ANDREW LEGGE

DREHBUCH: ANDREW LEGGE, ANGELI MACFARLANE

CAST: STEFANIE MARTINI, EMMA APPLETON, RORY FLECK-BYRNE, HUGH O’CONOR, AYVIANNA SNOW, AARON MONAGHAN, NICK DUNNING U. A.

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


Gerade sieht es so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. Überall auf dem Planeten erstarren die rechten Lager, in Spanien wird bereits Kunst und Kultur zensiert, Europas Möchtegern-Faschisten werfen mit Begriffen wie Remigration um sich und nutzen die beschränkte Weltsicht der Bevölkerung, um diese mit Schlüsselwörtern zu ködern. Sind sie mal an der Macht, ist es zu spät. Die Anzeichen will keiner so recht bemerken, also währet den Anfängen, kann man an dieser Stelle nur sagen, wenn Freiheit und Menschenrechte die eigenen Werte anführen.

Wie immer bleibt zu wundern, wie sehr man sich täuschen kann. Und was alles möglich ist. Um Freiheit geht es im Ringen ums Dasein immer, und wären die Parameter nicht so gesetzt gewesen, wie sie letztlich zum Einsatz kamen, hätten wir eine Welt, die sich einer wie Phillip K. Dick bereits in seinem als Serie verfilmten Roman Das Orakel vom Berge zwischen Drogen und Paranoia ausgemalt hat: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten rund um den Erdball, insbesondere der Vereinigten Staaten. Eine Horrorvorstellung, die beklemmender nicht sein könnte. Ist die USA einmal unter der Fuchtel faschistoider Regenten, wäre Europa dies ebenso. Das Gefühl, jene Orte, an denen noch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit praktische Anwendung finden, immer mehr zusammenschrumpfen zu sehen, wird durch das irisch-britische Was-wäre-wenn-Szenario LOLA noch extra unterstützt. Als ob dies dringend nötig wäre, um die Hände vors Gesicht zu schlagen. Andererseits ist Andrew Legges Found Footage-Juwel eine deutliche Warnung davor, die entsprechenden Signale zu übersehen. Und die Aufforderung, sich selbst mal zu fragen, ob eine totalitäre Welt aus Strafen, Zensur und Unterdrückung wirklich das ist, was es zu wählen gilt.

Einen Film wie LOLA, den haben leider Gottes ohnehin nur Zuseher auf dem Radar, die bereits aufgeschlossen und tolerant genug sind für alles, was sie umgibt. Die innovative Zugänge zu brisanten Themen ebenso schätzen wie Nonkonformismus. Und die mit Philipp K. Dick, Science-Fiction und alternativen Realitäten so einiges anfangen können. Als Zeitreisefilm geht LOLA nur bedingt durch – viel mehr gewährt das nach der Mutter der beiden Schwestern Martha und Thomasina Hanbury benannte Orakel einen Blick in die mediale Zukunft der Welt. Mit diesem obskuren Konstrukt, das beide für den guten Zweck einzusetzen gedenken, lässt sich während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1941, als die deutsche Luftwaffe England heimsucht, etliche Leben retten. Als Engel von Portobello gehen die Schwestern in die alternative Geschichte ein. Und die Geschichte selbst erfährt ihre Veränderung, weicht ab von dem, so wie wir es kennen. Und führt dazu, dass das britische Militär Wind davon bekommt.

Klar lässt sich so ein Ding wie LOLA dazu nutzen, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. All die Offiziere, Generäle und sonstigen Rangträger hätten wohl gut daran getan, sich zuallererst den Ausgang des Krieges vorhersagen zu lassen. Dann hätten sie gewusst, dass sich der Widerstand gelohnt haben, dass die Welt nicht dem Faschismus anheimfallen und eine liberale Ordnung Einzug halten wird. Doch der Wille, den Krieg gewinnbringend im Fokus zu behalten, führt letztlich zum Gegenteil. Was dann passiert, schnürt einem die Kehle zu. Wenn über den Dächern Londons  Hakenkreuzfahnen wehen und Hitler durch die Straßen der Stadt fährt. Wenn plötzlich David Bowie nicht mehr existiert, kein Bob Dylan oder Stanley Kubrick die Musik- und Filmwelt der kommenden Dekaden bereichern, stattdessen aber faschistoide Popmusik wummert, die so klingt, als wäre sie doch irgendwie von Bowie oder Elton John, es aber nicht ist, und wenn man genauer hinhört, in ihren Lyrics das Grauen heraufbeschwört, ist der Orwell‘sche Albtraum komplett.

Andrew Legge nutzt dabei die bereits etwas abgenutzte Stilmittel des Found Footage und schafft etwas vollkommen Neues. Das genreübergreifende, experimentelle Stückwerk aus Super 8-Tonfilmfragmenten, Standbildern und Archivmaterial, das eine alternative Wahrheit täuschend echt nachahmt, ist längst nicht nur eine Mockumentary, die das Spiel mit dem Determinismus variiert, sondern dazu noch eine glaubhaft dargebotene Dreiecksgeschichte mit einbezieht – und das, obwohl LOLA nur knappe 80 Minuten dauert. Trotz dieser Laufzeit entfaltet sich ein geradezu episches Drama voller Wendungen und lässt als prophetischer Thriller das Prinzip Verantwortung als Schlüssel zum Guten erkennen.

LOLA (2022)

The Old Oak (2023)

AM MITTAGSTISCH SIND ALLE GLEICH

6,5/10


theoldoak© 2023 Sixteen Films Limited, Why Not Productions


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: KEN LOACH

DREHBUCH: PAUL LAVERTY

CAST: DAVE TURNER, EBLA MARI, TREVOR FOX, COL TAI, JORDAN LOUIS, CHRISSIE ROBINSON, CHRIS GOTTS, JEN PATTERSON, ARTHUR OXLEY, JOE ARMSTRONG, ANDY DAWSON, AMNA AL ALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Es soll sein letzter Film gewesen sein. Ken Loach, das soziale Gewissen des Vereinigten Königreichs, geht in Pension. Was er hinterlässt, ist eine noch für lange Zeit nachblühende Eiche, deren dicker Stamm fest verwurzelt im Boden ungeschönter Tatsachen vielleicht besseren Zeiten entgegenharrt, in denen Menschen unterschiedlichster Gesinnung und diverser ethnischer Herkunft an einem Tisch Platz finden werden. Wer gemeinsam isst, rückt zusammen. Da gibt es Dialog auf Augenhöhe, doch meist braucht es da nicht mal Worte, um einander zu verstehen. Der Mittagstisch ist für alle da. Wie arm sie auch sein mögen, wie verquer auch deren Lage ist: Ken Loach stillt den Hunger der kleinen Leute, wo es nur geht.

Möglich ist das nur, weil es im ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham ein letztes verbliebenes Pub gibt, das titelgebende Old Oak. Der in sich gekehrte TJ Ballantyne (Big Hugs für Dave Turner!) führt aber nur die Hälfte dieser Gaststätte – das größere Hinterzimmer bleibt verschlossen, warme Speisen gibt es schon lange nicht mehr, lediglich Bier, soweit das Auge der Stammkundschaft reicht: Ein Haufen desillusionierter Männer, die dem genügsamen Wirtschafter seine Existenz ermöglichen, weil sie täglich hier aufschlagen. In dieser Gegend aus alten, leerstehenden Backsteinhäusern, die irgendwann mal in den Achtzigern TJs Kumpel des nun stillgelegten Kohlebergwerks beherbergten, steht die britische Bevölkerung fast schon vor dem Nichts. Und dann passiert das: Eine Busladung syrischer Flüchtlinge nimmt, so die Meinung mancher Alteingesessenen, auch noch die letzten Ressourcen der dahinsiechenden Gemeinde. Wer soll und kann das noch stemmen? Darüber hinaus erreicht der Alltagsrassismus ungeahnte Höhen – Kopftuchfrauen an einem Ort wie diesen? TJ sieht das anders – und befreundet sich mit der jungen Fotografin Yara (berührend: Ebla Mari). Beide inspirieren sich gegenseitig, und Pläne fürs Miteinander nehmen langsam Gestalt an.

Das klingt nicht nur so, als wäre The Old Oak zuversichtlicher als alles von Ken Loach bisher Dagewesene – das ist es auch. Sein Film ist eine Hymne an die Solidarität ganz ohne rotes Parteibuch, sondern aus der Intuition heraus, direkt vom Herzen und dem Gewissen folgend, sofern man noch eines besitzt. Das tut natürlich gut, zu sehen, was hier bald wie aus dem Nichts kommend, für Akzeptanz und gegenseitiges Wohlwollen sorgt. Anfangs sieht es noch so aus, als wäre die Eskalation vorprogrammiert, und klar: Konflikte bleiben dennoch nicht aus. Doch verschwendet man auch nur einen weiteren Gedanken daran, um zu reflektieren, warum diese Art von Ablehnung überhaupt gelebt werden muss, fällt diese in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Mag sein, dass die Realität anders aussieht. Doch Loach will sich dieser Nüchternheit nicht mehr unterwerfen. Sorry We Missed You war zerrüttend genug, der letzte filmische Vorhang soll schließlich sowas wie Hoffnung hinterlassen. Und so wird sein Film zu einem Lehrstück der Nächstenliebe und der Achtsamkeit – geradlinig, wenig komplex und idealistisch. Doch keinesfalls banal.

Seine Schicksalsschläge verteilt Loach dennoch. Und da gibt es einige, schmerzende, tieftraurige. Vielleicht gar ein bisschen zu viel davon, und das nur deshalb, weil The Old Oak seine gebeutelten Existenzen eng beieinanderstehen lässt. Diese entstandene Essenz aus Qual und Trost wird zur dick aufgetragenen Besseren-Welt-Ballade, in welcher jene, die wenig haben, jenen, die nichts haben, unter die Arme greifen. Dann können jene, die zuvor nichts hatten, einiges zurückgeben. Eine Spirale des Guten gerät in Bewegung. Schön ist das. So einleuchtend. In seiner dargebotenen und zuletzt gar irreal überspitzten Reinheit, zu der sich Ken Loach schließlich hinreißen lässt, von rechtschaffener Naivität, die keinen Zynismus mehr verträgt.

The Old Oak (2023)

Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Lawrence von Arabien (1962)

EIN HAUFEN REITENDER MÄNNER

7,5/10


lawrence-of-arabia© 1962 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 1962

REGIE: DAID LEAN

DREHBUCH: ROBERT BOLT, MICHAEL WILSON, NACH DEM AUTOBIOGRAPHISCHEN BERICHT VON T. E. LAWRENCE

CAST: PETER O’TOOLE, ALEC GUINNESS, ANTHONY QUINN, OMAR SHARIF, JACK HAWKINS, CLAUDE RAINS, ANTHONY QUAYLE, ARTHUR KENNEDY, JOSÉ FERRER, DONALD WOLFIT U. A.

LÄNGE: 3 STD 47 MIN


Alte Schinken nochmal neu sichten – das könnte und sollte man als Cineast durchaus immer wieder mal in Betracht ziehen. Auch wenn die eigene Watchlist mit allen Neuerscheinungen schon rammelvoll ist, mag ein Blick zurück auf die Meilensteine einer über hundert Jahre währenden Erfolgsgeschichte eben des Kinos momentane Trends mit Leichtigkeit relativieren. Es lässt sich erkennen, worauf es früher wohl ankam, welche Stilmittel gern gesehen waren, welcher Aufwand nicht zu groß war und wie unterm Strich dem Massengemüt des Publikums zu entsprechen war. Bild, Ton, Dramaturgie, politische Korrektheit und die Handhabung mit Tabus: Alles eine Frage der Zeit, der Weltpolitik, der Geldgeber und der Studios. In den Sechzigern, da herrschte das Genre des Monumental- oder Sandalenfilms nebst dem Genre des Westerns fast schon als Monopol und über ein Jahrzehnt lang über den lokalen Kinospiegel. Gern Gesehenes war also der Gegenwart Unverwandtes, weit Entferntes und Entrücktes und mit den Problemen der Gesellschaft kaum in Berührung kommend. Man saß im Kino und glotzte Quo Vadis (Anfang der 50er), Ben Hur mit seinem christlichen Einschlag. Spartacus, Exodus und El Cid, später Cleopatra und Doktor Schiwago. Mehrere Stunden lang, aber mit Pausen, gab man sich dem Kostüm- und Kulissenrausch hin, mitunter an Originalschaupoltzen gefilmt und ohne Massenszenen aus dem Rechner, sondern analog und wahrhaftig. Gigantische Zweckbauten für nur ein paar Szenen ließen staunen, anschließend verließ man das Kino mit dem Wissen, nicht nur unterhalten worden zu sein, sondern auch, bezüglich der Geschichte der Welt, weitergebildet.

Eines dieser Werke war schließlich auch, im Jahre 1962 Lawrence von Arabien, eine britische Wüstenoper mit Sonne, Sand und Beduinen und die biographischen Eckpunkte eines Mannes erzählend, der die Beduinenstämme aus den Tiefen der Halbinsel Saudi-Arabiens vor die Fronten der Osmanen führte, um den Nahen Osten zurückzugewinnen. Seinen Bericht hat er damals unter dem Titel Die sieben Säulen der Weisheit niedergeschrieben, David Lean, im Kino-Gigantismus bereits mit dem schier zeitlosen Antikriegsdrama Die Brücke am Kwai erfahren und entsprechend ausgezeichnet, hat sich an dessen Erinnerungen angelehnt, um den noch unbekannten Peter O’Toole in Szene zu setzen, der gentlemenlike und auf unverwüstliche Weise sturen Idealen folgend, zum Abenteurer und Geschichtsreformator werden soll. Als ehrgeiziger britischer Offizier Thomas Edward Lawrence (der O’Toole auch verblüffend ähnlich sieht – oder umgekehrt) bekommt er zur Zeit des ersten Weltkriegs den Auftrag, dem Araber-Prinzen Faisal einen Besuch abzustatten und sich über dessen Agenda zu informieren, um gegebenenfalls im Kampf gegen die Osmanen ihre Unterstützung zu erlangen. Logischerweise entspricht die Theorie dieser Mission nicht der Praxis, denn Araber sind das eine, die verfeindeten Beduinenstämme das andere. Unter einen Nenner lassen sich diese Völker alle nicht bringen, zumindest scheint es so. Doch Lawrence gelingt das scheinbar Unmögliche, auch wenn er mitunter über Leichen gehen muss.

Abenteuerliche Geschichtsfilme wie diese gibt es heutzutage wohl keine mehr, es sei denn, Ridley Scott hat wieder mal tief in die Geldkiste gegriffen, um Kreuzzüge, napoleonische Schlachten oder den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu verfilmen. Geht dieser Mann irgendwann einmal den Weg allen Fleisches, wird das Genre, so fürchte ich, aussterben. Erinnern wird man sich nicht nur an seine Werke, sondern auch an jene, die ihm vielleicht als Vorbild dienten. Dieses hier ist so eines: ein unter enormem Aufwand verfilmtes Epos von fast vier Stunden, in dem Frauen keinerlei Rollen spielen und Männer so sind, wie Männer sein wollen. In dem Männer tun, was sie tun müssen. Die Welt ist in David Leans Werk und vielleicht auch aus Lawrences Sicht ein notgedrungenes Patriarchat, dessen Schicksal von Männern gesteuert, entschieden und vereitelt wird. Nun, genau das, diese Mentalität dieser filmischen Monumentalarbeit, erscheint aus der Zeit gefallen und so angestaubt wie ein Beduinenzelt nach dem Wüstensturm. Ein riesiger Haufen reitender Männer prescht über Dünen, säbelschwingend ihrem Ziel entgegen. Irgendwann verfällt auch der scheinbar pazifistische Lawrence, dem bald die Gewalt und der Tod näherkommt als ihm lieb ist, einem Blutrausch und Peter O’Tools irrer Blick prägt sich nachhaltig ins Gedächtnis. Hauptsächlich in Jordanien, Marokko und auch Spanien gedreht, wird die Wüste zum Schminktisch für den Helden. Neben ihm brillieren Anthony Quinn als Beduinenführer Auda Abu Tayi und natürlich der bereits von David Lean erprobte Alex Guinness als charismatischer Prinz Faisal. Ihr schauspielerisches Stelldichein wird zu Kinonostalgie pur, sie zelebrieren weit weg von kultureller Aneignung und wokem Stirnrunzeln die Fähigkeit des Schauspielers, in Rollen zu schlüpfen, die ihrer eigenen Biografie fremd sind. Ein Film wie Lawrence von Arabien ist heutzutage auf diese Weise wohl nicht mehr zu inszenieren. Und doch trägt dieser nur scheinbar wüstenheisse Gewalt-Exkurs jene Wahrheit in sich, die so lange gilt, solange es Menschen gibt: Wer zum Schwert greift, wird nicht durchs Schwert sterben, dafür aber bestimmt er die Weltgeschichte. Leider.

Lawrence von Arabien (1962)

Coup de Chance (2023)

DER ZUFALL GLÜCKLICHERWEISE

6/10


coupdechance© 2023 Metropolitan FilmExport


LAND / JAHR: FRANKREICH, GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: WOODY ALLEN

CAST: LOU DE LAÂGE, MELVIL POUPAUD, NIELS SCHNEIDER, VALÉRIE LEMERCIER, ELSA ZYLBERSTEIN, GRÈGORY GADEBOIS, GUILLAUME DE TONQUÉDEC, SARA MARTINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Den Jazz will Woody Allen einfach nicht loswerden, auch wenn diese Art von Musik so gar nicht zu seinem neuen Film passt. Der spielt nämlich in Paris, in der Stadt der liebe und des leichtfüßigen Chansons. Da hat Cantaloupe Island von Herbie Hancock so gut wie gar nichts verloren, wenngleich die Nummer natürlich weltbekannt und eingängig genug ist, um sie von der grundlegenden Story loszulösen. Und dennoch wollen die Klänge so niemals wirklich das aus Zufällen zusammenkonstruierte Geschehen unterstützend ergänzen. Aus Paris wird schließlich eine generische Großstadt im Herbst, Woody Allen erliegt nicht der Lust eines Städtebesuchers, auch nur irgendwelche Sehenswürdigkeiten dieser Metropole vor die Linse zu wuchten. Es ist irgendwann egal, ob Paris, London, Wien oder New York. Zumindest ist es Herbst – das passt zur tatsächlichen Jahreszeit wunderbar dazu. Und wie so oft beim Meister der Klarinette findet sich in Coup de Chance (was so viel heisst wie Glückstreffer) eine attraktive junge Frau, in diesem Fall Lou de Laâge (u. a. Die Tanzenden von Mélanie Laurent) in den Wirren eines glücklichen Zufalls wieder, indem sie einem alten Studienkollegen über den Weg läuft, der zugeben muss, seit damals, in den wilden Jahren, in denen die Zukunft noch alle Möglichkeiten offenhielt, schon in die schöne Fanny Fournier verliebt gewesen zu sein. Diese fühlt sich geschmeichelt, muss den leidenschaftlichen Schriftsteller aber in die Schranken weisen, ist sie doch glücklich, wie sie sagt, mit einem Finanzberater verheiratet, der die Reichen noch reicher macht und somit auch sie selbst. Doch ob teure Klunker, devote Haushälterin und verschwenderische Restaurantbesuche mit der Haute volée – im Grunde ihres Wesens hält Fanny nicht viel davon. Ganz im Gegenteil. Der Kollege von damals, Alain Aubert (Niels Schneider) weckt das freigeistige Studentenmädchen in ihr, die ungestüme Lust am Künstlerdasein, die Sehnsucht nach Freiheit und die bedingungslose Liebe ohne materielle Unterdrückung und Bindung. Aus der neuen alten Bekanntschaft wird, wir können es ahnen, bald deutlich mehr, und Ehemann Jean (Melvil Poupaud) im Zuge dessen deutlich misstrauischer. Kann es sein, dass Fanny, die ohnehin alles hat und alles bekommt, was ihr vorschwebt, ihm selbst Hörner aufsetzt? Ein Detektiv kommt in Spiel, und der gönnerhafte Machtmensch mit den lockeren Fingern fürs Zwielichtige zieht bald die nötigen Konsequenzen.

Woody Allen freut diese verzwickte Eskalation einer eloquenten, gar manchmal sehr redseligen Boulevardkomödie, die sich langsam, aber doch, zur Krimikomödie wandelt. Doch so vielschichtig und tragisch, wie in seinem Meisterwerk Matchpoint, wird es nie. Was Allen damals geritten hat, einen Film zu inszenieren, der seiner Mentalität so sehr zuwiderläuft, werden wir nie erfahren. Dieses Highlight seines Schaffens bleibt auch bis heute unerreicht, und auch Coup de Chance wird daran nichts ändern. Genau genommen ist sein jüngstes Werk lediglich eine souverän inszenierte Reminiszenz an sein eigenes Schaffen, an seinen gewohnten Themenkreis, an das flatterhafte Glück und den schicksalsschweren Umstand des Zufalls, der Gutes oder Schlechtes mit auf den Weg bringt. Ohne ihn wäre Coup de Chance auffallend banal, eine handwerklich versierte, aber grob geschnitzte Seitensprung-Romanze, wie sie rustikaler wohl kaum sein könnte. Mal gibt es dort ein paar komödiantische, fein zulaufende Spitzen kecker Ironie, anderswo vielleicht süffisanten Wortwitz mit einigen denkwürdigen Zitaten – doch im Grunde ist diese schwarzhumorige Herbstsonate nur eine weitere Fingerübung auf der Beziehungscouch, die diesmal als Parkbank genügen muss, auf die sich die Verliebten, im Dialog versunken, zu setzen haben – mit einem Sandwich in der Hand und das Mobiltelefon auf Laut, damit der Göttergatte keinen Verdacht schöpft.

Dieses Glück für Zwischendurch ist stellvertretend für einen Film, der nicht mehr sein will als er vorgibt. Woody Allens Lust, zu unterhalten und von sich selbst unterhalten zu werden, bringt eine Krimikomödie auf den Weg, die nur darauf wartet, das As im Ärmel des Übergangsmantels auszuspielen. Bis dahin macht das Ganze wirklich Spaß, es ist nicht so, dass man sich langweilt oder alles schon mal gesehen hat. Letzteres mag zwar der Fall sein, doch Allen arrangiert Bekanntes wiederum neu, das ist sein Können, sein großes Talent. Überraschend bleibt nur der Knalleffekt, alles andere war zu erwarten. Was dem Wesen des Zufalls dann doch widerspricht.

Coup de Chance (2023)

The Lost King (2022)

DER KÖNIG UND ICH

8/10


thelostking© 2023 X Verleih


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: STEPHEN FREARS

DREHBUCH: STEVE COOGAN, JEFF POPE

CAST: SALLY HAWKINS, STEVE COOGAN, HARRY LLOYD, JAMES FLEET, MARK ADDY, LEE INGLEBY, LEWIS MACLEOD, BENJAMIN SCANLAN, ADAM ROBB U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd! Es wird wohl kaum jemanden geben, bei dem es da nicht klingelt. Ein Zitat, das bereits die Jahrhunderte überdauert hat und weitere überdauern wird, aus einem Theaterstück, dem es ebenso ergeht: Richard III. William Shakespeare hat den letzten Plantagenet-Monarchen als buckligen, ekelhaften Thronräuber hingestellt, der die Nachkommen seines Bruders – zwei Prinzen – in den Tower schloss. War dem wirklich so? War Richard III. wirklich bucklig, wirklich so grausam zu seinen Neffen, und wirklich ein Thronräuber? Vieles, so denkt sich die in einem Callcenter arbeitende und unter ME leidende Philippa Langley nach dem Besuch einer Aufführung besagten Stückes, könnte auch nur die hetzerische Darstellung der Tudors gewesen sein, die für etwas mehr als ein Jahrhundert den Thron besteigen werden. Vieles mag vielleicht nur eine subjektive Schlussfolgerung ob eines nicht ganz gefälligen Äußeren gewesen sein. So, wie Philippa selbst stets übervorteilt wird, da sie in Stresssituationen Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren oder meist übermüdet zur Arbeit kommt. Dabei steckt so viel mehr in ihr selbst als von allen anderen angenommen. Es steckt die plötzliche Mission in ihr, die sterblichen Überreste eines verunglimpften Herrschers zu finden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Der Ex-Ehemann, Steve Coogan, hält das für einen schlechten Scherz. Die Fangemeinde um King Richard, zu welcher Philippa bald zählen wird, begegnet diesem Enthusiasmus zwar mit Wohlwollen, aber aus der Distanz. Denn so ein irres Vorhaben, das kann niemals Früchte tragen.

Und dennoch ist es so passiert. Im Jahre 2012 wurden auf dem Parkplatz eines Sozialzentrums irgendwo in Leicester der Leichnam des verlorenen Königs gefunden, und das nur, weil Philippa Langley in selten gesehener Beharrlichkeit sämtliche Hürden zu überwinden imstande war. Als Durchschnittskonsument(in) ohne akademischen Abschluss, wenig Einfluss und schon gar keinem elitären Netzwerk bis in die höheren Kreise von Wissenschaft und Politik wird man wohl sehr schnell das Handtuch werfen – oder solch eine Schnapsidee, vernüftig, wie man ist, vom Tisch wischen. Doch wo ein Wille, da ein Weg, das zeigt Stephen Frears in seiner neuen True Story mit erfrischender Begeisterung für seine zerbrechlich scheinende Heldin, die allerdings so viel Power in sich trägt, um die gesellschaftliche Ordnung umzukehren. Akademiker und Universitäts-Kapazunder sehen sich bald in einer Philippa untergeordneten Rolle. Sally Hawkins verkörpert die treibende Kraft hinter dem Abenteuer Archäologie nicht, als wäre sie ein weiblicher Indiana Jones mit der für Harrison Ford so typischen unverhohlenen Dreistigkeit, sondern wie jemand, der sich von seiner Intuition leiten lässt. Demotivierende Niederlagen sind der Nährboden für neue Ideen. Improvisation, Flexibilität und vor allem Ehrlichkeit führen Philippa bis jenseits der Grenzen des Möglichen. Verletzlich und doch unerschütterlich hetzt Sally Hawkins als unscheinbare, kleine Amateurin von Pontius zu Pilatus, strahlt mitunter natürlich so einige Verbissenheit aus, die man ihr am liebsten ausreden würde  – doch dieses Abenteuer eines weiblichen „Bilbo Beutlins“, der auf dieser unerwarteten Reise über sich hinauswächst, ist so packend erzählt und dabei noch so wahrhaftig, dass man am liebsten selbst gleich mit anpacken würde, um den Asphalt schneller aufzureißen als es letztlich geschieht.

Mit dabei und nur für Hawkins Charakter sichtbar: Richard III. himself als junger König, meist wortlos, aber für Fragen offen. Ob diese Visionen Philippa tatsächlich heimgesucht haben, wage ich zu bezweifeln. Um die Gedankenwelt der zweifachen Mutter aber entsprechend zu illustrieren, ist dieses Stilmittel tatsächlich eines, das tiefer in die Materie hineinführt, das den verschollenen König nicht auf einen Haufen Knochen oder Shakespeares Interpretation reduziert, sondern eine die Geschichte beeinflussende Person daraus macht, die vielleicht ganz anders war als in unserer Wahrnehmung verankert.

Mit The Lost King entsteht die völlig unprätentiöse, unkitschige und aus ganzem Herzen rekapitulierende Chronik einer unglaublichen Geschichte. Eine, für die Professor Jones wohl alles geben würde. Eine, die aber kein draufgängerischer Akademiker, sondern die gute Seele aus der Nachbarschaft erzählen darf. Weil die Kraft des Willens zwar schwer, aber doch, so laut nach einem König rufen kann, bis dieser sich bequemt, unter all den Erdschichten hindurch die Hand zu heben. Frears begeistert sich selbst für seinen Film und begeistert auch sein Publikum, indem er zwischen Biografie, hautnaher Geschichte und gelebter Archäologie fürs Volk selbst Shakespeare-Banausen in seinen Bann ziehen kann. Weil es um mehr geht als nur um erdverkrustete Gebeine. Es geht um Respekt, Vorurteile und dem Kampf gegen die Arroganz der Privilegierten.

The Lost King (2022)

Ich sehe was, was du nicht siehst (2023)

WIR BLÄTTERN IM BILDERBUCH

5/10


The Wonderful Story of Henry Sugar© 2023 Netflix Inc.


ORIGINAL: THE WONDERFUL STORY OF HENRY SUGAR

LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2023

REGIE: WES ANDERSON

DREHBUCH: WES ANDERSON, NACH DEN KURZGESCHICHTEN VON ROALD DAHL

CAST: BENEDICT CUMBERBATCH, RALPH FIENNES, DEV PATEL, BEN KINGSLEY, RUPERT FRIEND, RICHARD AYODE U. A.

LÄNGE: 39 MIN

LÄNGE VON DER SCHWAN, DER RATTENFÄNGER & GIFT: 17 MIN


Was diese Werke in der Produktion wohl kosten müssen? Wir alle kennen diese vorzugsweise aus früheren Zeiten stammenden Kinderbücher, die aus kaschierten, dicken Kartonseiten bestanden und nur relativ wenig zum Blättern hatten, die aber, jedes Mal, wenn man das Buch aufschlug, dieses eine dreidimensionale Welt aus ausgestanzten und hintereinander gereihten Kartonkulissen auferstehen ließ. Blickte man dann frontal und in Augenhöhe mit dem Umschlag auf das Kunstwerk aus Falt-, Falz und Kartonkunst, war das Wunderland nicht erst seit der Darbo-Werbung näher als einem lieb ist. Als Sahnehäubchen dienten da noch Kartonstreifen am linken und rechten Rand, die, wenn man sie zog oder schob, filigrane Figuren durch den Forst, durchs Schloss oder durchs Dorf wandeln ließen. Ach, wie herrlich war und ist doch der analoge Büchertrick – und tatsächlich erfährt diese Art der Buchkunst heutzutage wieder ein Revival. Da braucht es nur einen Besuch im einschlägigen Papierfachhandel – der nächste Pop-up-Overkill kann schon der eigene sein.

Mit solchen Werken muss auch Wes Anderson aufgewachsen sein. Und mit den Geschichten von Roald Dahl. Das Wunder des Puppentrickfilms passt da ebenfalls gut dazu, nicht grundlos entstand 2009 Andersons Werk Der fantastische Mr. Fox, natürlich Roald Dahl. Die Begeisterung für den britischen Schreiberling schlägt sich nun in einer Kurzfilmreihe nieder, die im Kino womöglich als Episodenfilm in einem Aufwaschen präsentiert worden wäre: Ich sehe was, was du nicht siehst – und weitere drei Erzählungen des Meisters, aus dessen Feder Charlie und die Schokoladenfabrik, Hexen hexen oder Sophiechen und der Riese stammen. Seine Kurzgeschichten sind da weniger kindertauglich – oder eben auch kindertauglich, nur nicht erste Wahl für eine Gutenachtgeschichte.

In Ich sehe was, was du nicht siehst liest der eitle und geldgierige Henry Sugar, dargestellt von Benedict Cumberbatch, in einem Büchlein über einen wundersamen älteren Herrn namens Imdad Khan (Ben Kingsley), der, ohne seine Augen zu benutzen, sehen kann. Als Attraktion einer Freakshow will dieser seine Performance unter ärztlicher Aufsicht zelebrieren. Und was Imdad Khan konnte, muss Henry Sugar doch auch können. Nun, man kann sich denken, dass dieser in seinem Ehrgeiz, Spielcasinos abzuzocken, diese Skills bald sein Eigen nennen wird. Doch zu welchem Preis? Kein Roald Dahl ohne Pointe. So erfahren wir auch in den weiteren, deutlich kürzeren Schrullen von knapp über jeweils einer Viertelstunde, wie es einem Jungen ergeht, der von vogelmordenden Rabauken malträtiert wird (Der Schwan), wie es in Der Rattenfänger einem Schädlingsbekämpfer gelingt, lästigen Nagern Herr zu werden. Und wir erfahren in Gift, ob Cumberbatch, starr im Bett liegend, letztlich von einer Schlange gebissen wird oder nicht.

Wes Anderson musste für seine geschmackvollen Miniaturen wohl nicht händeringend an die Türen seiner Stars klopfen – womöglich war‘s eher umgekehrt. Also gibt nicht nur Cumberbatch spielfreudig manch Dahl’sche Figure zum Besten, sondern auch Dev Patel (Slumdog Millionaire), Rupert Friend und Ben Kingsley. Als der Schriftsteller himself wetzt Ralph Fiennes im schmuck eingerichteten Autorenstübchen, vollgestopft mit Accessoires, seine Hauspantoffeln und gibt einleitende wie abschließende Worte zum Besten – ein Storyteller par excellence. Da fläzt man sich gern zu dessen Füßen, folgt vielleicht der ersten Geschichte mit genug Aufmerksamkeit, um all die Details aufzunehmen und auszuwerten, doch aufgrund der recht gleichförmig betonten, dichten Wortwolken, die da am künstlichen Firmament aufziehen, in einer Geschwindigkeit, wie man eben Kulissen auf die Bühne schiebt und von dort wieder weg, heften sich Augen und Ohren nicht mehr an die wesentliche Handlung, sondern driften auf nebensächliche, penibel platzierte Details ab. Es bleibt ein einziges Wundern über die obsessive Vorliebe des einstigen Werbefilmers für Setzkastenoptik und pittoresken Puppenstubenpanoramen, über die narrenhafte Vorliebe für 50ties-Gebrauchsgegenstände und einem analogen Damals. Vor diesen Bühnen dann bekannte Gesichter, die das Offensichtliche aussprechen und in direkter Rede sich selbst sprechen hören.

Anderson treibt seinen akribischen Bühnenkitsch endgültig auf die Spitze. Seine Filme werden immer unbeweglicher, statischer und standbildhafter. Natürlich hinterfragt er die Möglichkeiten des Kinos, in dem er diese einfach nicht nutzt, um das Medium der Bedeutung eines mobilen Ersatztheaters zuzuführen. Doch diese Philosophie dahinter haben wir längst verstanden. Es braucht bei Anderson einen frischen Wind, der durch die abgestandene und ausgebleichte Optik weht. Es braucht neue Impulse. Und weniger Schauspieler, die wie Figuren einer Spieluhr ihren exakt getimten Auftritt haben. Das ist, außer repetitiv zu sein, zu viel vom Gleichen, auch wenn Roald Dahls Geschichten als Perpetuum Mobile das Ringelreihe antreiben. Es wäre auch schon egal, ob Dahl oder sonst wer hier als Vorlage gedient hat. Hauptsache, die Bühne bringt‘s.

Ich sehe was, was du nicht siehst (2023)

Femme (2023)

VOM MANN, DER SEINER FRAU STEHT

7,5/10


femme© 2023 BBC / Agile Films


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: SAM H. FREEMAN & NG CHOON PING

CAST: NATHAN STEWART-JARRETT, GEORGE MACKAY, JOHN MCCREA, AARON HEFFERNAN, ANTONIA CLARKE, NIMA TELEGHANI, MOE BAR-EL U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Damit hatten schon Albert und Renato in Ein Käfig voller Narren kämpfen müssen: Mit der gesellschaftlichen Akzeptanz durch alle Schichten, vor allem durch jene, die sich’s längst gerichtet haben und aufgestiegen sind zum Kulturattachée, wie der Vater der jungen Andrea, die ein Auge auf Renatos Sohn geworfen hat. Beide wollen heiraten, und um sich gegenseitig kennenzulernen, muss der schwule Besitzer eines Nachtclubs die versnobten Eltern zum Dinner laden. Liebling Alberto, Dragqueen bar excellence und längst eine Diva, ist gar nicht davon begeistert, ist er doch nicht mal willkommen und muss stattdessen zusehen, wie Renatos Exfrau seinen Platz einnimmt. Es wird klar: Als Dragqueen hatte man schon damals keine Chancen auf Akzeptanz. Und Schwulsein war etwas, das man hinter verschlossenen Türen praktiziert hat, ohne auch nur im Traum daran zu denken, sich irgendwo auf offener Straße zu committen.

Jean Poirets Theaterstück hat diese bedenkliche Inakzeptanz in einen zeitlosen Komödienklassiker verpackt, der zwar vordergründig ordentlich Lacher lukriert, in Wahrheit aber gesellschaftliche Defizite aufzeigt, die auf Kosten von Toleranz, Respekt und sexueller Freiheit ihr Unwesen trieben. Dabei hat der Job einer Dragqueen gar nichts mit sexuellen Präferenzen zu tun. Es können sich auch Hetero-Männer in den Fummel werfen, solange es Spaß macht und Frau die Bühne rockt – Why not? Meistens jedoch, und jedenfalls hier, im immersiven Beziehungsthriller Femme, ist der Star unterm Rampenlicht ein homosexueller Mann namens Jules, der die mit Verve und Stilsicherheit ausgestattete Aphrodite Banks zum Leben erweckt – mit Rasta-Mähne, eleganter Mode und perfekt sitzender Choreografie. Die Besucher toben, und wenn Aphrodite auftritt, gibt’s Glanz und Glamour. Nicht so außerhalb des Clubs. Denn da gibt’s Leute, die Dragqueens nicht mögen. Wie zum Beispiel der aggressive, Gift und Galle spritzende Preston, der anfangs die Gunst von Jules, immer noch gekleidet als Frau, auf sich zieht, was ihm gar nicht behagt. Wenig später, beim Zigarettenholen, passiert das Unausweichliche: Jules wird von Preston und seiner Gang angegangen, zusammengeschlagen und nackt und gebrochen auf der Straße liegengelassen. Ein Akt aus purem Hass. Jules aka Aphrodite wird diese Gesichter niemals vergessen, schon gar nicht das des Rädelsführers. Als Jules diesen in der Schwulensauna Monate später wiedererkennt, plant er, sich ihm anzunähern. Aus Rache, aus Neugier, wer weiß das schon so genau. Vor allem, um diesem Gewalttäter eine Lektion zu erteilen.

Als Revenge-Thriller würde ich Femme nicht unbedingt bezeichnen wollen. Diese Kategorisierung macht es sich zu einfach. Der auf der diesjährigen Berlinale erstmals präsentierte Film von Sam H. Freeman und Ng Choon Ping lässt sich schwer in eine Genre-Schublade stecken. Natürlich trägt er die Anzeichen eines Thrillers, doch diese sind versteckt, subtil, finden sich stets in einer diffusen, von Spannungen aufgeladenen Atmosphäre wieder, aus der sich alles entwickeln kann. Eine weitere gewaltsame Auseinandersetzung zum Beispiel, oder ein gelungenes Vabanquespiel, denn nichts anderes hat Jules im Sinn. Er will in Prestons Leben Platz gewinnen, so erniedrigend dies auch manchmal sein mag, insbesondere beim Sex. Da niemand weiß, dass Preston selbst schwul ist, scheint ein erzwungenes Outing die beste Methode, um ihn dranzukriegen. Wie sich diese Liaison aus Gehorchen und dem Sabotieren von Gefühlen letztlich entwickelt, bleibt fesselnd, nicht zuletzt aufgrund der eindringlichen Performance von Nathan Stewart-Jarrett (Dom Hemingway, Candyman). Ob dieser tatsächlich schwul ist oder nicht, braucht ja niemanden zu interessieren, denn im Gegensatz zu den Meinungen vieler „Wokisten“ ist Schauspielern nun mal die Kunst, in andere Rollen zu schlüpfen, eben auch in jene von Leuten, die sexuell anders orientiert sind. Wie auch immer Stewart-Jarretts Privatleben aussieht: als gekränkter, seelisch verletzter Mann, der wieder zurück zu seinem Selbstwert gelangen möchte und dabei die Ursache seiner Niederlage analysiert, um sie dann auszuquetschen wie eine Zitrone, spielt der charismatische Künstler auf der gesamten emotionalen Klaviatur, und das mit mimischer Akkuratesse, ohne nachzulassen und ohne vielleicht zu dick aufzutragen, mit Ausnahme des Makeups.

Diese Meisterleistung teil sich Stewart-Jarrett mit George McKay, den wir alle schließlich auch Sam Mendes 1917 kennen und der auch mal gerne ambivalente Rollen spielt, wie zum Beispiel diesen Ned Kelly im wüsten Australien-Western Outlaws. Als tätowierter Grenzgänger in steter Gewaltbereitschaft, mit unverhandelbaren Prinzipien und dann plötzlich wieder verletzlichem Charme ist das wohl eine der besten Darbietungen seiner Karriere. Beide ergänzen sich prächtig: beide entwickeln einen Sog aus psychologischer Manipulation, Freiheitskampf und Selbstbehauptung, dabei isolieren Freeman und Ping ihre beiden Akteure von allem anderen Beiwerk, rücken so nah wie möglich heran und bleiben stets so konzentriert, als würden sie durch ein Zielfernrohr blicken.

Doch wenn Femme schon kein klassischer Revenge-Thriller mit Bomben, Granaten und Shootouts ist, so ist er zumindest der Film Noir unter den queeren Filmen – grobkörnig bebildert, direkt und authentisch. Und düster genug, um nicht auf ein Happy End zu hoffen.

Femme (2023)

Der ägyptische Spion, der Israel rettete (2018)

FÜR EIN PAAR HEKTAR MEHR

5/10


aegyptischespion_israel© 2018 Netflix Inc.


ORIGINAL: THE ANGEL

LAND / JAHR: ISRAEL, ÄGYPTEN, GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: ARIEL VROMEN

DREHBUCH: DAVID ARATA, BASIEREND AUF DEM SACHBUCH VON URI-BAR JOSEPH

CAST: MARWAN KENZARI, TOBY KEBBELL, HANNAH WARE, TASHI HALEVI, WALEED ZUAITER, SAPIR AZULAY, ORI PFEFFER, SASSON GABAI U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Man könnte ja meinen, dass die Geschichte des Nahen Ostens, insbesondere jene des jungen Staates Israel – im Grunde eine lange Liste aus Pulverfässern, Anschlägen und Vertreibungen –durchwegs verfilmbar wäre. Nirgendwo sonst ist der Konflikt so verrannt, nirgendwo sonst möge sich ein Staat mitsamt seinem Volk so unwillkommen fühlen wie dort, im sogenannten Heiligen Land, umgeben von arabischen Nachbarn, die es verachten und am liebsten, in ihren wüstesten politischen Fantasien, von der Landkarte tilgen würden. Kleines Problem: Israel hat einen mächtigen Verbündeten, nämlich die USA. Da fängt man nicht so leichtfertig einen weiteren Genozid an, auch wenn es in den Fingern juckt.

Aus Gründen wie diesen musste sich Israel seit jeher zu behaupten wissen – auf eine Weise, die anderen wie ein napoleonischer Expansionsdrang vorkommen muss. Das Westjordanland, die Halbinsel Sinai – von den Israelis beliebäugelte Landstriche als quadratkilometergroßer Fehdehandschuh, den sich alle bemüßigt fühlen aufzuheben. Um letzteres Pflaster, das sich, westlich vom Golf von Suez und östlich vom Golf von Akaba, pfeilförmig zum roten Meer hin verjüngt und als Aktionsfläche des antiken Stammesführers Moses diente, wetzten Israel und Ägypten die Messer. Solche Besetzungsstrategien haben einen komplexen Ursprung – und es wäre ein Geschichts- und kein Filmblog, würde ich hier noch weiter ausholen. Nachzulesen lässt sich das andernorts wesentlich besser, da bin ich für Rückfragen die falsche Quelle. Doch da liegt auch das Problem des Films begraben. Eines Spionagedramas mit jeder Menge Meetings und Schauplatzwechsel, das als purer Faktenlieferant inhaltlich zwar interessant scheint, filmisch jedoch um jedes Quäntchen an dramaturgischer Substanz kämpfen muss, da die zentrale Figur, der sogenannte Engel, so unnahbar bleibt wie sein Eintrag über ihn auf Wikipedia.

Dabei ist Der ägyptische Spion, der Israel rettete (welch sperriger deutscher Titel, im Original schlicht The Angel) die True Story um einen Doppelagenten und hätte somit alles, was Agentenfilme benötigen. Einzig: es fehlt an Überhöhung, an reizgebenden Extras, schlichtweg am Persönlichen. Wie sonst würden James Bond, Jack Ryan oder Jason Bourne auch funktionieren? Weil sie im Grunde völlig unmögliche Geschichten erzählen, weil bei ihnen alles Gute und Böse getrennt bleibt, weil sich die Komplexität der Ereignisse auf den Mainstream konzentriert und dort ansetzen muss, wo das Mitdenken nicht anstrengen darf. Filme der anderen Art wie Dame, König, As, Spion oder A Most Wanted Man von Anton Corbijn sind zwar subtiler und fordender, müssen jedoch ebenfalls die Handlung insofern glattbügeln, um Emotionen hervorzurufen und Charaktere so zu skizzieren, dass sie greifbar bleiben.

Der von Marwan Kenzari dargestellte Ashraf Marwan, Schwiegersohn des damaligen israelischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, steht zwar zwischen den verhärteten Fronten und infiltriert beide Seiten zum Wohle des Friedens, bleibt jedoch, obwohl er als großer Manipulator genau dieses gewisse Charisma hätte mitbringen sollen, um ihn faszinierend zu finden, ein Stand-in-Double inmitten politischer Wirrnisse und Kompromisse, Gefahren und in letzter Sekunde fruchtender Abwehrtaktiken. Das ist Geschichte, wohl war. Spannende, erhellende Geschichte. Aber eben Geschichte, viel zu komplex, um sie von Grund auf zu verstehen. In Nebensätzen gelingt das nicht. Schließlich fällt das Hadern zwischen den Staaten am Sinai nicht mit Eintreten des Vorspanns als erkenntnisreiches Manna vom Himmel. Allein schon die Situation ist eine fremde, darin ein fremder Mann, der wenig von sich preisgibt, zu einer Zeit, die mit ins Bild gerückten Terroristen den Flair eines exotischen Politthrillers kolportieren sollen, dessen immense Fakten und Hintergründe ihn letztlich heillos überfordern.

Der ägyptische Spion, der Israel rettete (2018)

Maurice der Kater (2022)

GARFIELD IN DER SCHEIBENWELT

6/10


maurice© 2023 Praesens Film AG


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: TOBY GENKEL, FLORIAN WESTERMANN

DREHBUCH: TERRY ROSSIO, NACH DEM ROMAN VON TERRY PRATCHETT

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): HUGH LAURIE, EMILIA CLARKE, DAVID THEWLIS, HIMESH PATEL, GEMMA ARTERTON, HUGH BONNEVILLE, DAVID TENNANT, ROB BRYDON U. A.

MIT DEN STIMMEN VON (DEUTSCHE SYNCHRO): BASTIAN PASTEWKA, GABRIELLE PIETERMANN, JERRY HOFFMANN, MURALI PERUMAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Diese Woche war Internationaler Tag der Katze. Obwohl ich selbst kein Riesenfan des Stubentigers bin, allerdings gerne mal die beiden wohlgenährten Mitbewohner meiner Nachbarn hege und pflege, habe ich mich dennoch zu einer abendfüllenden Huldigung hinreissen lassen. Was würde sich dafür nicht besser eignen als der Anfang des Jahres im Kino angelaufene und nun für die eigenen vier Wände verfügbare Animationsfilm Maurice der Kater – ein selbstironisches Märchen aus der Feder des Scheibenwelt-Philosophen Terry Pratchett, der auf dieser gar nicht mal so flachen Erde seine eingeschworene Fangemeinde hat und mit dem Bild einer Welt, die von vier Elefanten getragen wird, die wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehen, die eigene Fantasie verwöhnt. Bei Pratchett, 2015 leider verstorben, lässt sich darüber hinaus eine fast schon fanatische Affinität für nicht nur Grimm’sche Märchen erkennen – dazu zählt auch der ganze Stoff, aus dem Folkloremythen sind. Seine Welten sind bevölkert mit allem, was da so dazugehört: Magiern, Hexen, Zwergen, so richtig präsent ist stets der Sensenmann, zu dessen Gefolgschaft auch der Rattentod zählt – mit Mähutensil, blankem Nagerschädel und darüber die Kapuze. Solche Feinheiten, typisch Pratchett, sind die Highlights einer launigen Komödie, die keinesfalls auf Druck ihre Kalauer durch die Gegend pfeffern will wie so manch anderer hysterischer Trickfilm, dessen Figuren sich des Verdachts der Einnahme illegaler Substanzen nicht erwehren können. Maurice der Kater ist die weniger draufgängerische Version des gestiefelten Katers. Der Sprache ist er zwar mächtig, aber weder Schuhwerk noch ein Federhut zieren seine Gestalt, die ähnlich wie bei Garfield ausgiebig die Schwerkraft nutzt. Was beide noch gemeinsam haben: Sie sind sich selbst genug. Und wählen den Weg des geringsten Widerstands.

Maurice also, durch obskure Magie nun kognitiv auf Augenhöhe mit den Menschen, zieht mit Pseudo-Rattenfänger Keith und einem ganzen Haufen ebenso kognitiv auf Augenhöhe mit den Menschen befindlicher Ratten durch die Lande, um in jedem noch so kleinen Dorf ihre Rattenplage zu inszenieren, damit der lieblich flötende Keith seinen Job erledigen – und die Kassa klingeln lassen kann. Mit des Bürgermeisters Tochter Malicia ändern sich alsbald die Regeln, denn in deren Kleinstadt, welche die kauzigen Hochstapler als nächstes aufsuchen, treibt der Hunger sein Unwesen. Und nicht nur das: ein obskures Rattenfänger-Unternehmen, deren Vorsitz ein geheimnisvoll verhüllter Antagonist innehat, macht Katze, Ratte und Mensch bald die Hölle heiß.

Von der Tonalität her könnte Maurice der Kater genauso gut aus der Feder der Shrek-Macher stammen, allerdings mit weniger parodistischen Zügen oder Stereotype der Märchenwelt durch den Kakao ziehend. Bei der Verfilmung von Pratchetts Roman bleibt die mittelalterliche Märchenwelt mit ihren Fachwerkhaus-Eskapaden und pittoreskem Bilderbuchschick stets eine liebevolle Hommage an all das Beschauliche aus einer Welt, in welcher der Glaube ans Magische inhärent war. Selbst Kater Maurice gibt sich gar nicht mal so sehr seinen katzischen Allüren hin, und die Ratten mit ihren skurrilen Namen wie Pfirsiche, Gefährliche Bohnen oder Sardinen erinnern frappant an die Gefolgschaft des Küchennagers aus Ratatouille, wobei: knuffige Gemeinschaften wie diese lassen sich immer wieder neu auf die Leinwand bringen, von Katzen bekommen manche ja auch nie genug.

Es mag sein, dass Maurice der Kater in Sachen Optik längst nicht so eine stilistische Eigenständigkeit besitzt wie so manche Pixar– oder DreamWorks-Produktion. Auch Pratchetts Geschichte und folglich auch der für den Film adaptierte Plot schlägt nun mal keine Haken oder jongliert mit Klischees herum. Höchst seltsam ist dabei die mit dem roten Faden der Story verwobene Gutenachtgeschichte rund um einen Feldhasen im Anzug, der an Peter Hase erinnert. Dass diese auch als Rattenbibel dient, welches als Sinnbild für die Suche nach einem „Gelobten Land“ stehen könnte, beschert dem Abenteuer eine etwas unglückliche gesellschaftskritische Metaebene, die ihre Wirkung aber verspielt.

Trotz dieser Ausbremsungen bleibt der Film angenehm relaxt und unprätentiös, huldigt dem Understatement und einer gewissen Gelassenheit angesichts einer recht vorhersehbaren wie konventionellen Queste zur Rettung einer kleinen, überschaubaren Welt.

Maurice der Kater (2022)