Eddington (2025)

AMERIKA SCHAFFT SICH AB

5/10


© 2025 Leonine Studios / Constantin Film


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: ARI ASTER

KAMERA: DARIUS KHONDJI

CAST: JOAQUIN PHOENIX, PEDRO PASCAL, EMMA STONE, AUSTIN BUTLER, DEIRDRE O’CONNELL, LUKE GRIMES, CLIFTON COLLINS JR., AMÉLIE HOEFERLE, MICHAEL WARD U. A.

LÄNGE: 2 STD 25 MIN



Am Ende ist Amerika, sind die Vereinigten Staaten am Beispiel der fiktiven Kleinstadt Eddington zwar ein Pflegefall, aber ein regierungsfähiger. Was sagt uns das? Dass dieses Konglomerat an teilautonomen Territorien von Leuten angeführt wird, die man nicht alleine lassen kann. Einen wie Trump, einer wie Musk, sie alle zelebrieren und exekutieren den Wahnsinn, den man längst geglaubt hat hinter sich gelassen zu haben. Nationalismus, Faschismus, brutale Globalisierung – denkt man länger darüber nach, muss man mit Erschrecken feststellen, dass das Pflegepersonal für Egomanen längst Reißaus genommen hat. Was bleibt, ist die Hoffnung auf bessere Zeiten – die laut Ari Aster niemals kommen werden. Denn der hat seine ganz eigene, persönliche Abrechnung mit den USA auf Papier gebracht – als ausladendes, selten gekürztes und impulsives Drehbuch, das gleich noch eine ganz andere Schwierigkeit mit auf die Spielfläche nimmt, nämlich die Corona-Pandemie.

Wie Covid die Gesellschaft spaltet

Drehen wir also ein paar Jahre zurück in die Anfänge der Zwanzigerjahre des neuen Jahrtausends und tauchen ein in den Gesellschaftsspiegel einer Kleinstadt namens Eddington, angeführt von einem korrekten, integren Bürgermeister, gespielt von Pedro Pascal, der ohne zu hinterfragen die Verordnungen der Behörden umsetzen will und daher auch stets die obligate FFP2-Maske trägt, dieses Stück Filterstoff vor dem Riech- und Sprechorgan, von welchem wir noch wissen, wie sehr uns das Tragen selbiger gespalten hat. Die Nerven lagen blank, es gab selbsterklärte Experten, Besserwisser mit Hausverstand und Schwarzseher, Realisten und Schönredner. Alles war da, und so konnten Querdenker noch gleich die ganze Welt als Endprodukt diverser Verschwörungen erklären. Diesen ganzen Wulst an halbgaren Fakten und verbogenen Wahrnehmungen spült Aster in ein schrecklich nebensächliches Wüstenkaff, um auf der vordersten Welle Joaquin Phoenix und dessen neben der Spur befindliche Ehefrau Emma Stone reiten zu lassen. Phoenix gibt als Sheriff die Opposition, da Covid in Eddington gar nicht mal umgeht. Beide, Pascal und Phoenix, gehen sich an die Gurgel, wettern und stänkern und streiten, bis der eine, eben der Sheriff, plötzlich die smarte Hirnidee aufreißt, sich selbst für die bevorstehende Bürgermeisterwahl aufstellen zu lassen.

Viel Aufstand im Nirgendwo

Das wunderbare Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat auch unbegrenzt Probleme, die Aster nicht unter den Tisch kehren will. Da wäre noch die Sache mit der rassistischen Polizeigewalt gegen Schwarze, hier der reale Konnex zu Opfer George Floyd, dessen Tod zu heftigen Unruhen führte. Die schwappen auch nach Eddington, und wenn man da auch noch Covid mitnehmen kann und den ganzen Ekel gegenüber der staatlichen Ordnung, warum nicht? Also wissen Phoenix und Pascal bald gar nicht mehr, wo sie ansetzen müssen, um alles in den Griff zu bekommen. Nichts geht mehr in Eddington, Aster lässt sein Amerika den Bach runtergehen und wendet sich im Laufe des stark ausufernden Szenarios einer Polit-Kasperliade hin, die mitunter manchmal so verschroben wirkt wie ein Film der Coen-Brüder. Tatsächlich ist der schwarze Humor manchmal richtig treffsicher, und würde auch länger nachwirken, würde Aster seine Schwarzseherei nicht so sehr auf die Leinwand erbrechen.

Ein Film mit Schneeball-Effekt

Leicht von der Hand geht ihm der Film nicht. Hält man sich seinen Vorgänger Beau is Afraid vor Augen, ist vor zwei Jahren ähnliches passiert. Der surreale, teils komödiantische, perfide Psychohorror gebärdet sich wie eine schwere Mahlzeit vor dem Schlafengehen. Ähnlich schwerverdaulich ist Eddington, aber nicht, weil das Drama einen mitnimmt. Sondern weil Wut-Regisseur Aster alle dazu bewegt, auf die Straße zu gehen, um den Unmut in eine Welt zu schreien, die jenseits dieser Kleinstadt ohnehin nicht gehört wird. Bis alle ihren Auftritt hatten, erlangt Eddington auch die obligate Überlänge und wird wie ein rollender Schneeball immer erdrückender und voluminöser. Vieles darin wären gelungene Pointen, doch Aster lässt die Köpfe schwirren, indem er den Zusehern nichts vorenthält. Ja, in Amerika, da ist einiges im Argen. Lösen lässt sich das in Eddington nur mit durcheinanderschreiender Polemik.

Eddington (2025)

Der Meister und Margarita (2024)

GESTATTEN, MEPHISTOPHELES!
ODER: IN MOSKAU TUT SICH DIE HÖLLE AUF


EIN GASTKOMMENTAR VON MARLON SCHUHFLECK


© 2024 capelight pictures

LAND / JAHR: RUSSLAND 2024

REGIE: MICHAEL LOCKSHIN

DREHBUCH: MICHAEL LOCKSHIN, ROMAN KANTOR, NACH DEM ROMAN VON MICHAIL BULGAKOW

CAST: AUGUST DIEHL, JEWGENI ZYGANOW, JULIJA SNIGIR, CLAES BANG, JURI KOLOKOLNIKOW, ALEXEI ROSIN, POLINA AUG, JURI BORISSOW U. A.

LÄNGE: 2 STD 37 MIN


Liebe auf den ersten Blick ist eine Metapher für eine Geschichte. Zugegeben, eine zauberhafte. Aber wehe, man findet sich in dieser Geschichte wieder, in dieser phänomenal empfundenen Liebe, dann holt sie einen zwangsläufig ein, die umgebende Welt! Und fordert paradoxerweise, diese Realität sprengende Erfahrung in den allzu alltäglichen Alltag einzuordnen. Es ist nun mal ein narrativ anthroplogisches Gesetz, dass keine Geschichte, kein Leben für sich allein lebt, sondern sich zwangsläufig mit anderen verflechtet. Da mag man sich wie Der Meister und Margarita noch so sehr in die Zweisamkeit eines abgeschiedenen Kellers flüchten. Romantik trifft auf ethische, ökonomische, sozio-kulturelle Hürden und was das Leben sonst noch so alles bereithalten mag. Und dann wird aus Liebe auf den ersten Blick schnell eine ganz andere Geschichte. Unter Umständen eine äußerste tückische. Aus dieser Not gilt es, eine Tugend zu machen. Und sei es die Tugend der poetischen Gerechtigkeit, die den narrativen Fluchtpunkt von Der Meister und Margarita bildet. Einer fulminanten Geschichte, in der der Teufel ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat.

Die Handlung von Der Meister und Margarita ist schnell erzählt. Und doch auch nicht. Zum einen ist da der Meister: ein erfolgloser Schriftsteller, der mit restriktiven UDSSR-Maßnahmen zu kämpfen hat. Und da ist Margarita, die unglücklich verheiratet ist, des Lebens müde. Und dann? Tja, man trifft sich, man verliebt sich. Und alles ist anders, alles ist gleich. Man ist perspektivenlos vereint; wunschlos (un)glücklich, zumindest zu zweit. Aber so wuchtig wie das sehnsüchtig herbei ersehnte Meer, so brandet auch die Emotion am harten Felsen der Realität auf. Was liegt also näher, als sich in die schützende Fiktion zu flüchten? Und sei es eine brennende. Man schlage das Buch auf und begebe sich hinab in die wuchernden Windungen sich kreuzender Geschichten, in denen sich von Pontius zu Pilatus, von Behemoth (Fauch!) bis zum Teufel eine Entourage wunderbar illustrer Persönlichkeiten ein Stelldichein geben. In Der Meister und Margarita betreten wir eine Welt der Phantastik, in der zwar andere Gesetze herrschen, die als Spiegelung jedoch stets ein Licht auf die wirkliche Welt wirft. Ob dieses Licht entlarvender, verklärender oder blendender Natur ist, obliegt der Perspektive des Betrachters.

In seinem erzählerischen Mahlstrom fühlt sich der Film wie ein karnevaleskes Theater an, eine narrative Ballnacht, in dem die schillernde Figuren – entliehen aus einem Jahrtausende alten Fundus und/oder der Wirklichkeit – ihre Kreise ziehen. Figuren, die sich stets wandeln und verschleiern, sich neu erfinden, erfunden werden. Historische Kulissen treffen auf wahrhaften Wahnsinn; Kostümierung und Maskerade auf nackte Tatsachen. Vorsicht, es gilt, die Übersicht zu bewahren: denn der Teufel steckt im Detail. But who cares? Es ist doch nur Fiktion, nicht wahr?, und deshalb umso wahrer. Es wird imaginiert und fabuliert, es wird geschrieben, uMgeschrieben, geschrieben, uNgeschrieben … bis sich die Fiktion in der Wirklichkeit manifestiert, oder umgekehrt. Als ob das einen Unterschied macht. Letztlich bleibt es eine Frage der Geschichte(n). Und Geschichte wird in Der Meister und Margarita erzählt. Eine MEISTERhafte Geschichte des Geschichtenerzählens – in Bildern, in Musik, in Literatur. Wie diese Geschichte ausgeht, ob gut oder schlecht, möge man selbst entscheiden. Unterhaltsam ist sie allemal. Und eine Liebesgeschichte sowieso.

Marlon Schuhfleck, alles.text@gmail.com

Der Meister und Margarita (2024)

Rumours (2024)

AM GIPFEL DER HOHLEN PHRASEN

6,5/10


rumours© 2024 Viennale


LAND / JAHR: KANADA, DEUTSCHLAND 2024

REGIE: GUY MADDIN, EVAN & GALEN JOHNSON

DREHBUCH: EVAN JOHNSON

CAST: CATE BLANCHETT, CHARLES DANCE, NIKKI AMUKA-BIRD, DENIS MÉNOCHET, ROY DUPUIS, ROLANDO RAVELLO, TAKEHIRO HIRA, ALICIA VIKANDER, ZLATKO BURIĆ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Politik ist in erster Linie eines: Zugang zu Macht. Hat man sich diese mal für eine Legislaturperiode gesichert, gibt es die Wahl zwischen dem Agieren fürs Allgemeinwohl, um die Lebenssituation derer zu verbessern, für die man sich verantwortlich zeichnet. Und der Verfolgung ganz persönlicher Agenden zur Umsetzung idealistischer und völlig am Begehren des Volkes vorbeigehender Ziele. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Die Bereicherung an Wohlstand und Ansehen, sonst nichts. Welchen Weg wohl diese sieben Kapazunder gewählt haben, die anlässlich eines G7-Gipfels im deutschen Dankerode zusammengekommen sind? Vielleicht sind sie ja auch nur des Regierens müde geworden. Und haben sich frei nach dem Peter-Prinzip so sehr an die oberste Kante gelebter Menschheitsgeschichte gepusht, dass sie, angekommen am Ende der Nahrungskette, ihr Politprogramm längst ausgehöhlt haben.

Die lieben Sieben sind: Deutschlands Kanzlerin Hilda Ortmann, in welcher Cate Blanchett wohl weniger eine Reminiszenz an Angela Merkel sieht als vielmehr die ganz offensichtliche parodistische Verzerrung einer Ursula van der Leyen. Die britische, reicht eifrige Premierministerin Cardosa Dewinth (Nikki Amuka-Bird), der viel zu alte amerikanische Präsident Edison Wolcott (Charles Dance), dauermüde, neben der Spur und ganz klar Joe Biden imitierend, der sich beim letzten Schlagabtausch mit Donald Trump im Fernsehen ähnlich präsentiert hat. Wer sich hier noch eingefunden hat: Der italienische Premier, ein Schnorrer unter dem Herrn. Der französische Präsident (Denis Ménochet), der über Sonnenuhren philosophieren wird. Und Japans Polit-Oberhaupt als die farbloseste Gestalt in diesem tolldreisten Reigen der Phrasendrescher, die sich im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens einer globalen Krise stellen müssen. Welcher Natur diese sein mag, darüber lässt sich nur mutmaßen. Doch vielleicht hat sie mit den Moorleichen zu tun, die in der Nähe des Anwesens gefunden wurden. Vielleicht ist bereits jetzt schon das Ende der Menschheit nahe. So genau weiß man das nicht. So genau wissen es nicht mal die G7, denn was sie auszeichnet, ist ihre erschreckende Inkompetenz darin, konstruktive Strategien zu erarbeiten. Ehrlich: Wer will das schon an einem lauen, alkoholreichen Abend mit gutem Essen? Wer will das schon, wenn die amourösen Sorgen des labilen, kanadischen Premierministers viel interessanter scheinen? Der wird schließlich verkörpert von Roy Dupuis. Mit langer grauer Mähne und dem Auftreten als Frauenheld und Schwerenöter, stets an der Kippe zur romantisch motivierten Weinerlichkeit, lenkt er die liebevoll-sarkastische Weltuntergangs-Satire Rumours in eine Richtung, die schon Stanley Kubrick mit Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben eingeschlagen hat. In dieser Nacht der lebenden Toten oder der zum Tode verurteilten Lebenden ist die Symphonie der leeren Worte das Requiem auf einen kolportierten Fortschritt, der nur so tut, als ob er die Dauerprobleme der Menschheit in den Griff bekommt.

Das Regie-Trio Guy Maddin (bislang wohl eher bekannt für experimentelles Kino wie The Green Fog) sowie Evan und Galen Johnson haben eine diebische Freude daran, den Mächtigen dieser Welt Grips und Wort zu stehlen. Oder aber: die Politik dahinter als das zu entlarven, was sie stets zu sein scheint: Die Liebesmühe pflichtbewusst verfasster Schulaufgaben unwilliger Unterstufler.

Doch das Wortspiel, die privaten Befindlichkeiten, das Geplänkel allein – das alles reicht nicht. Rumours lässt die Oberen durch den deutschen Wald irren, lässt sie Hirn finden und Alicia Vikander, die nur schwedisch spricht. Das Ensemble der Sieben wird dabei zusehends entindividualisiert und zum Sinnbild ihrer Staaten, die sie vertreten. Immer abstrakter wird das Spiel, zur satirischen Karikatur eines Landes mit all seinen Klischees werden Blanchett, Charles Dance und Co. Diese Klischees aber haben einen erschreckend wahren Kern. Und wenn sich dieser ganz offenbart, ist es längst zu spät. Für sie und für uns alle.

Ein schneidend spaßiger Film ist Rumours geworden, das Endzeitabenteuer der Wichtigen, die ihre Prioritäten nicht mehr erkennen, mit Hang zum Genre des Phantastischen.

Rumours (2024)

El Conde (2023)

DIKTATOR DER HERZEN

3,5/10


elconde© 2023 Netflix Inc. 


LAND / JAHR: CHILE 2023

REGIE: PABLO LARRAÍN

DREHBUCH: GUILLERMO CALDERÓN, PABLO LARRAÍN

CAST: JAIME VADELL, GLORIA MÜNCHMEYER, ALFREDO CASTRO, PAULA LUCHSINGER, STELLA GONET, CATALINA GUERRA, AMPARO NOGUERA, DIEGO MUÑOZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Was habe ich Pablo Larraín nicht dafür verehrt – und tue es immer noch – dafür, dass er mir und allen anderen einen Film wie Spencer vor die Füße gelegt hat. Rückblickend der für mich beste Film des Jahres 2022, der biographische Notizen mit einem frei interpretierten Psychogramm über das Leben und Leiden der allseits geliebten Lady Diana so anspruchsvoll miteinander verwoben hat, dass es einem den Atem raubt. Mir zumindest. Das bewusst wenig akkurate, Fakten weitgehend ignorierende Portrait bietet natürlich genug weite Fläche für Anti- und Sympathie. Für Wohlwollen oder Ablehnung. So zu polarisieren liegt Larraín im Blut. Ganz besonders gelingt ihm das bei seinen Portraits, allerdings auch bei schwer definierbaren, erotisch aufgeladenen, wüsten Liebesgeschichten, wie er sie mit Ema geschaffen hat. Erst kürzlich lief sein neuestes Werk bei den Filmfestspielen von Venedig – kaum ein, zwei Wochen später landet seine wiederum komplett anders geartete Satire auf Netflix.

Diesmal dreht sich sein Film um die ewig währende Diabolik eines berühmten Chilenen, der sein ganzes Land und insbesondere sein Volk ins Verderben gestürzt hat: Augusto Pinochet. Und nein, es ist keine Biografie. Auch keine Geschichtsstunde, kein Psychogramm (nicht wirklich), im Grunde eigentlich nur die sarkastische Verzerrung eines Diktators außer Dienst, der das Schwarzbuch der Menschheit um mehrere Kapiteln dicker gemacht hat. Larraín verformt diesen Diktator nicht etwa zur clownesken Witzfigur wie Charlie Chaplin oder Literat Timur Vermes (Er ist wieder da) es mit Adolf Hitler getan haben, wo einem dennoch das Lachen im Halse stecken bleibt bei so viel Wahrheit über das kollektive Menschsein, dass uns da entgegengeschleudert wird wie ein nasser Lappen. Larraín verformt ihn zu einer Art Christopher Lee; zu einem Vampir, der schon 250 Jahre auf dem Buckel hat und bereits Marie Antoinette im Frankreich der Revolution dabei zugesehen hat, wie sie den Kopf verliert. Diesen klemmt sich der damals noch auf den Rufnamen Claude Pinoche hörende Untote unter den Arm, um fast eineinhalb Jahrhunderte später in Chile beim Militär einzurücken – und vom stinknormalen Gefreiten zum supermächtigen General aufzusteigen, der Präsident Allende später stürzen wird. Dabei ist das Blut durch alle Schichten der Bevölkerung essenziell. Am besten aber sind immer noch die Herzen, die er den Opfern aus der Brust reißt, sie mixt und den Muskelshake dann hinunterkippt.

Dieser nun als Augusto Pinochet bereits offiziell verstorbene Tyrann lebt im Geheimen irgendwo am Arsch von Chile sein nun nicht mehr ganz so prunkvolles Leben weiter – an seiner Seite ein russischer Diener, den man durchaus mit Renfield vergleichen kann, und Gattin Lucia. Irgendwann hat auch ein Vampir genug von dem ganzen Morden, und so versucht er, das Zeitliche zu segnen – gegen den Willen seiner fünf nichtsnutzigen Kinder, die eines Tages antanzen und vor Papa darauf bestehen, doch seine geheimen Ersparnisse offenzulegen. Um diesem Chaos an Unterlagen Herr zu werden, die aus dem Keller befördert werden, betritt die reizende Carmencita die Szene – für alle anderen Buchhalterin, im Geheimen aber Exorzisten-Nonne, die dem Vampir den Garaus machen will.

Trotzdem El Conde (zu Deutsch: Der Graf) mit einer ausgesuchten Kameraführung und bestechenden Schwarzweißbildern punktet, die jeweils als Standbild der Kunstfotografie zuzuordnen wären, gelingt es Larraín weder, die Abrechnung mit dem Polittrauma pointiert in Worte und Bilder zu fassen, noch, sich in seiner Art des Erzählens verständlich zu artikulieren. Am deutlichsten erkennbar ist diese Konfusion genau dort, wenn das gesprochene Wort nicht zur folgenden Handlung passt. Die Figuren verkommen zu stereotypen Annahmen politisch-historischer Gestalten fern ihres Kontextes, der Mythos des Vampirs reduziert sich auf einen Flattermann in Uniform, der sonst keinen vampirischen Eigenschaften mehr unterliegt, außer dass das Kennzeichen als Blutsauger eine kaum originelle Metapher für den Raubbau am Volk darstellt. Nichts in El Conde folgt strikt einem geplanten Vorgehen, die Figuren machen, was sie wollen, insbesondere Paula Luchsinger als „Warrior Nun“ entzieht sich in ihrem Handeln jeglicher Nachvollziehbarkeit und tribt die Handlung wider Erwarten kein bisschen voran.

Die paar brutalen Spitzen, in denen nicht mal das Blutrot zur Geltung kommt, lassen die satirische Abrechnung mit dem Bösen auch nicht wirkungsvoller erscheinen. Genau dieser Umstand des allzu gewollt polemischen Auftretens aller, in dem kaum irgendwelche klugen Erkenntnisse stecken, macht El Conde zu einem der langweiligsten Filme des Jahres; zu einer schwer durchzubringenden Trübsal, für deren Twists ich womöglich nicht intellektuell genug bin, um sie zu verstehen.

El Conde (2023)

Amsterdam

DREI MUSKETIERE GEGEN DEN FASCHISMUS

7/10


AMSTERDAM© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DAVID O. RUSSELL

CAST: CHRISTIAN BALE, JOHN DAVID WASHINGTON, MARGOT ROBBIE, ZOE SALDANA, RAMI MALEK, ANYA TAYLOR-JOY, MICHAEL SHANNON, MIKE MYERS, CHRIS ROCK, ROBERT DE NIRO, MATTHIAS SCHOENAERTS, ANDREA RISEBOROUGH, TAYLOR SWIFT, TIMOTHY OLYPHANT, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Angekündigt war David O. Russells stargespickter Historienfilm bereits diesen Spätsommer in unseren Wiener Kinos. Angesichts der Fülle an bekannten Gesichtern wäre Amsterdam sowieso ein Must-See gewesen. Schon allein Christian Bale als ausgemergelter Veteran des ersten Weltkriegs mit Glasauge hätte ein Kinoticket wert sein sollen. Und dann versprach der knappe Einblick sogar noch Margot Robbie und den für mich einzig wahren James Bond-Nachfolger, nämlich John David Washington. Michael Shannon hätte sich die Ehre gegeben, Anya Taylor-Joy, Zoe Saldana und der wie immer hinter seinem Make Up verborgene Mike Myers. Nicht zu vergessen: Altstar Robert de Niro, diesmal nicht als Dirty Grandpa. Kurzum: Amerikas Stars in einer uramerikanischen Nachkriegssatire rund um eine politische Verschwörung, die in Ansätzen tatsächlich so stattgefunden haben soll. Man möchte sich kaum vorstellen, hätten diese Revoluzzer es geschafft, nach dem Vorbild Nazi-Deutschlands und des faschistoiden Italiens unter Mussolini eine ähnlich radikale Diktatur zu errichten. Doch die Geschichte hat uns gelehrt: So kam es nicht. Genauso wenig wie die Auswertung des epischen, prall ausgestatteten Schinkens für die Leinwand.

Grottenschlecht sollen die Kritiken für Amsterdam vorab gewesen sein. Niemand jenseits des Atlantiks hätte sich daraufhin für den Film interessiert. Da hatten sogar all die bekannten Gesichter den Karren keinen Zoll weit aus dem Schlamm hieven können. Amsterdam wurde zum teuren Murks – und verschwand auf Nimmerwiedersehen von den Programmagenden der europäischen Kinos. Einige Monate später dann das: Russels Streifen erscheint als Streaming-Perle auf Disney+. Für all jene, die sich gerne selbst ein Bild von einem Film machen wollen, der keine Chance aufs Überleben hat und womöglich bei den diesjährigen goldenen Himbeeren abstauben wird müssen, allein schon aufgrund des von der Publicity gesteuerten, wenig schmeichelnden Richtungsdrangs. Die eigene Meinung, die hätte ich mir so oder so bilden wollen. Natürlich auch im Kino. Jetzt eben in den eigenen vier Wänden, mit Ausblick auf ein braun getünchtes Babylon New York der Dreißigerjahre, voller Untergrund, Intrigen und Bündnisse, deren Reichweiten aufgrund bedachter Vernetzung bis in alle Kreise langt. Dabei passiert es, dass der eine oder die andere, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder nachkriegerischer Verschwörungen gerät, wiederum andere, die in ihrer Moral und sozialer Verantwortung dank ihres Korsetts noch aufrecht stehen können, hellhörig werden lässt. Einer dieser Veteranen ist Burt Berendsen, ein knorriger Arzt mit Glasauge und besagter Leibesstütze, der gemeinsam mit seinem Buddy aus dem Krieg, Advokat Harold Woodman, Versehrten sowohl rechtlich als auch medizinisch unter die Arme greift. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Einer dieser Fälle, die Obduktion eines plötzlich verstorbenen Armeegenerals Bill Meekins, wird zutage bringen, dass es sich hierbei um Giftmord gehandelt hat. Als die Tochter des Verblichenen kurz davorsteht, die Sache öffentlich zu machen, stirbt auch sie. Berendsen und Woodman sind von da an auf der Flucht, wird doch ihnen die Straftat in die Schuhe geschoben. Und während sie so durch die dunklen Gassen einer vergangenen Großstadt koffern, versuchen sie gleichermaßen, sich zu rehabilitieren. Dabei kommt ihnen das Auftauchen jener Vertrauten und Freundin gelegen, die sich damals, mit den beiden, in Amsterdam Marke Drei Musketiere auf eine lebenslange Zweckgemeinschaft eingeschworen hat.

Amsterdam ist ein Film, der diesen feisten Abwärtsdaumen nicht verdient hat und maßlos unterschätzt wird. Vielleicht deshalb, weil er seine Story relativ langsam erzählt und seinen Schwerpunkt weniger auf das Aufdecken der faschistoiden Machenschaften legt, sondern vielmehr auf die besondere Freundschaft dreier grundverschiedener Lebenskünstler, die mit Rückblenden aus dem Ersten Weltkrieg auf die Entstehung selbiger eingeht. Die kleinen, feinen Szenen, geschmackvoll ausgestattet und getextet, ufern nie in pathetische Dramatik aus. Es werden selten Leute auf offener Straße erschossen, wie in Sergio Leones Es war einmal in Amerika. Es geht nicht um Rache und Eifersucht und Missgunst, die sich in emotionalen Showdowns entlädt. Amsterdam hat das alles gar nicht. Das originell konzipierte Werk bleibt augenzwinkernd, jovial und ironisch. Und genießt dabei die Performance von Christian Bale in jeder Einstellung, der den hilfsbereiten, selbstlosen und gutmütigen Kriegsheimkehrer mit einnehmender Sympathie verkörpert. Diese Figur hat Tiefe, Licht und Schatten gleichermaßen. Ist so greifbar wie das Absonderliche eines eigenen, verschrobenen Onkels, der aber trotz seines Auftretens scharfsinnig wie kaum ein anderer bleibt. Fast schon wie die Gestalt eines gewitzten Inspektor Columbo, der für Bales Figur ein Bruder im Geiste des Glasauges bleibt. Dabei bieten Washington und Margot eine nicht weniger formidable Rückendeckung.

Amsterdam atmet die Aufbruchsstimmung und die Umbruchsstimmung des frühen 20. Jahrhunderts, wie die Sky-Hitserie Babylon Berlin. Ein neuer Krieg war da kaum noch denkbar, fast unmöglich. In dieser Erschöpfung findet Amsterdam auch seine entspannte, allerdings dialoglastige Kraft, und es mag fast sein, dass dieses an ein posthum entdecktes Werk Billy Wilders erinnernde Schaulaufen den Film über seine Erzählstränge stolpern lässt. Trotz der Wortgewalt und der scheinbar vielen, gedehnten Szenen gelingt O. Russell, die Übersicht zu bewahren. Ist man mal mittendrin, in dieser Amsterdam-Verschwörung, bleibt man gerne dran – bis zum mit Spannung erwarteten Finale, das einen Staatenbund vor dem Sturz in den Abgrund bewahren wird. Andernorts hat man, wie wir längst wissen, weniger Glück gehabt.

Amsterdam

Don’t Look Up

DER BLICK AUF’S WESENTLICHE

6/10


dontlookup© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ADAM MCKAY

CAST: LEONARDO DICAPRIO, JENNIFER LAWRENCE, MERYL STREEP, CATE BLANCHETT, ROB MORGAN, JONAH HILL, MARK RYLANCE, TIMOTHÉE CHALAMET, RON PERLMAN, ARIANA GRANDE, HIMESH PATEL, MELANIE LYNSKEY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Heute, am letzten Tag des Jahres 2021, ist der Titel des auf Netflix veröffentlichten Star-Vehikels wohl der falsche Imperativ. Heute gilt wohl eher die Devise, rund um den Jahreswechsel gen Himmel zu blicken, um das eine oder andere illegal von der Leine gelassene Stadtfeuerwerk aus sicherem Abstand mitzuerleben. Dann, ja dann kann man gerne wieder die Häupter senken, zum Tagesgeschäft übergehen und sich mit Eitelkeiten aufhalten. Der Blick fürs Wesentliche läuft dann zumindest nicht Gefahr, überanstrengt zu werden.

In Don’t Look Up, Adam McKays neuem Film, wäre es allerdings an der Zeit, die eigene Existenz in gesundem Maße zu hinterfragen und herauszufinden, worauf es im Leben wirklich ankommt. Denn in einer alternativen Realität, in welcher ein weiblicher Donald Trump in den USA die Fäden zieht, scheint der Menschheit das zu widerfahren, was den Dinos vor 65 Millionen Jahren passiert ist: die Vernichtung durch einen Kometen. Der ist nach Schätzungen von Astronom Dr. Randall Mindy sogar noch größer als das Exemplar von Yukatan. Was jetzt gilt, ist schnelles Handeln. Das setzt wiederum voraus, diese wirklich schlechte Nachricht an die richtige Frau oder den richtigen Mann zu bringen, damit geschieht, was geschehen muss. Doch das ist gar nicht leicht. Die Menschheit ist mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mit Geld und Gier und sozialen Medien. Mit Ruhm und Trends und Gossips. 

So bequemt sich zumindest das amerikanische Volk (ein anderes bekommen wir nicht zu Gesicht) mit den Verführungen des Technologiezeitalters und der NLP-Message Control einer dekadenten Politik, während die Kacke am Dampfen ist und die Katastrophe alles, nur das nicht ist, was gerade in zu sein scheint. Für Mindy und seiner wissenschaftlichen Kollegin Kate Dibiasky ist das zum Haareraufen. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, hätte es da nicht diesen wirren Charaktermix aus Steve Jobs, Bill Gates und dem Computerguru aus Ready Player One gegeben, der weiß, dass, geht es der Wirtschaft gut, wohl allen gut gehen wird. Falsche Prämissen, die offene Türen einrennen.

Michael Bay hat damals, in der Actiongurke Armageddon, auf High-Tech und coole Sprüche gesetzt. So einer wie Bruce Willis fehlt in diesem galligen Szenario, dafür aber haben wir den Haudegen Ron Perlman, der gerne so sein will wie Chuck Norris, und den der Komet garantiert nicht lebend bekommen wird. Gabs bei McKays Politzynismus Vice – Der zweite Mann noch fein gesponnene realsatirische Spitzen, knotzt sich der Autorenfilmer lieber zu Greta Thunberg an die Hausmauer, um als Aktivist an vordester Front für mehr Selbstverantwortung angesichts unserer Planetenlage zu plädieren. Mit nichts anderem lässt sich das besser veranschaulichen als mit einem heranrasenden Trümmerstück aus der Oortschen Wolke. Der Klimawandel gibt zu wenig her, die kausalen Zusammenhänge mit Unwetter und menschengemachter Sauwirtschaft sind auch nicht eindeutig genug, um nicht auch hier Verschwörungstheoretiker auf den Plan zu rufen. Wäre Corona ein Komet, gäbe es diese aber immer noch. Und das so lange, bis der Mensch endlich sieht, was er glauben muss. Der Mensch, so Adam McKay, ist ein Wesen voller Widersprüche und Meister egozentrischen Handelns. In einem Film wie diesem wird klar, in welchem selbstgemachtem Korsett unser Verstand steckt. Mehr als notwendig, um unsere Art zu erhalten, können wir auch nicht tun. Zumindest noch nicht.

Dabei ereifern sich allerlei namhafte Star, von Leonardo DiCaprio über Jennifer Lawrence bis zu Timothée Chalamet (in einer entbehrlichen Rolle), um sich in das Gewissen der zusehenden Massen zu spielen. Mit einmal mehr, einmal weniger cholerischen Ausrastern. Dabei ist DiCaprio wieder ganz vorne mit dabei – sein Mut zum teigig-konservativen „Christian Drosten“ für die Apokalypse sei ihm hoch angerechnet, und auch Jennifer Lawrence erdet ihren Charakter mit dem Nonkonformismus einer Anti-Ikone. Dazwischen brilliert Cate Blanchett im Lifting-Look. Sie alle tragen ihr Scherflein dazu bei, im übertragenen Sinne die Weltlage zu erklären. Doch beileibe hat das nichts mit der ganzen Welt zu tun. Adam McKay tut so, als hätte sich die USA den Erdball vollständig unter den Nagel gerissen, und als wäre sein Land nun endlich die Supermacht Nummer eins, angesichts derer eine Institution wie die UNO zum beliebten Kartenspiel reduziert wird. Ist das Absicht, oder vergisst McKay auf den Rest der Welt, weil er der Leidenschaft für die ambivalente Politik der Vereinigten Staaten unterliegt? Das globale Problem ist ein Amerikanisches, was mitunter etwas arrogant erscheint. Auch pfeift sich die Geschichte rund nach der Hälfte selbst auf die Ersatzbank, und bis das bereits arg Vorhersehbare eintritt, geht dem Katastrophenfilm die Luft aus.  

Doch immerhin: Desastermovie geht auch anders, könnte anders gehen, aber kaum subtiler als es einer wie Roland Emmerich selbst zu Wege bringen kann.

Don’t Look Up

Curveball – Wir machen die Wahrheit

MÜNCHHAUSEN BRINGT DIE WELT ZU FALL

8/10


curveball© 2021 Polyfilm Verleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2020

BUCH / REGIE: JOHANNES NABER

CAST: SEBASTIAN BLOMBERG, DAR SALIM, MICHAEL WITTENBORN, THORSTEN MERTEN, VIRGINIA KULL, FRANZISKA BRANDMEIER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Wenn es nicht so erschütternd wäre, würde man ja wirklich von Herzen darüber lachen. Es läge auch der Verdacht nahe, dass, wenn diese Geschichte hier nicht eben wahr wäre, die Coen-Brüder, Steven Soderbergh oder Adam McCay (Vice) bei diesem Film ihre Virtuosität von der Leine gelassen hätten. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, so etwas wie Burn After Reading zu verfolgen, voller grotesker Wendungen und einem heillos überforderten Anti-Helden, der langsam, aber sicher, mitbekommt, wie sehr sein anfangs kaum abschätzbares Zutun dazu geführt hat, dass die Welt ins Wanken gerät. Doch es bleibt der ernüchternd bittere Geschmack im Mund zurück, nachdem klar wird, dass Curveball – Wir machen die Wahrheit alles andere als eine Politsatire mit zynischen Vermutungen über Politik und Geheimdienst darstellt, die jemand einfach mit enorm viel Schadenfreude niedergeschrieben hat. Curveball ist nicht erfunden. Denn sowas – denkt man länger darüber nach – kann man gar nicht erfinden. Die Realität, die schreibt wieder mal die krassesten Geschichten, und so folgt man Sebastian Blomberg als Biowaffenexperte Wolf durch ein zum Fremdschämen eskalierendes Schmierentheater voller Eitelkeiten und boshafter Geltungsgier, die mit Gerechtigkeit nur mehr wenig zu tun hat.

Längst weiß die Welt ja, was schlussendlich der Funke an der Zündschnur gewesen war, die die Invasion der Amerikaner in den Irak legitimiert hat. Aalglatte Fake News, die niemals validiert wurden, und die, falls sie geprüft worden wären, nichts mehr mit den ursprünglichen Aussagen zu tun gehabt hätten, die sowieso nur einer der Flüchtlinge aus dem Irak von sich gegeben hat, der mit einem deutschen Pass seine Familie nach Deutschland holen will. Natürlich nutzt man die Gunst der Stunde und den Umstand, dass im Irak gerade niemand seinen Geheimdienst herumschnüffeln lässt, um das zu sagen, was alle hören wollen: nämlich die Sache mit den Biowaffenfabriken auf Rädern, tödlichen Tests und Unfällen mit Anthrax. Biochemiker Wolf, der als erste Ansprechperson der Quelle namens Curveball fungiert, freundet sich mit dieser sogar an und hat kurze Zeit später Behauptungen zu präsentieren, die sich der Bundesnachrichtendienst sofort an seine Fahnen heftet, um endlich aus dem Schatten aller anderen Geheimdienste zu treten. Nur: diese Behauptungen sind allesamt falsch. Doch wen schert das – die Wahrheit scheint was für Luschen. Mit den Lügen allerdings haben alle was davon.

Was ist Wahrheit?, lässt Blomberg am Anfang des Films fragen. Und: Was sind wir ohne das Ringen um Wahrheit? Nach Filmen wie diesen kann man getrost zu dem Schluss kommen, dass Politik wirklich das Letzte sein muss. Und das ihr innewohnende Machtpotenzial eine Verhaltensanarchie legitimiert, bei der sich eitle Fassadenkletterer immer noch in den Spiegel schauen können, ohne sich selbst zu sehen. Die Frage nach der Wahrheit hat schon der Politiker Pontius Pilatus im alten Rom gestellt. Die Antwort wissen wollte er genauso wenig wie seine Fachkollegen der Neuzeit. Das teuer erkaufte Image ist das, woran alle Rechtgläubigen abgleiten. Johannes Naber hat diese händeringende Ohnmacht gegenüber denen von ganz oben in einen präzisen, zynischen Politfilm gepackt, der nicht viel tun muss, außer den Fakten zu folgen und der selbst fassungslos dabei zusieht, wie die Weltordnung sich selbst verrät. Für diesen vorzüglich verfassten Streifzug durch die Niederungen nicht nur deutscher Politik findet Naber ein Ensemble, das immer wieder Lust hat, seine realen Vorbilder zu karikieren. Curveball – Wir machen die Wahrheit bleibt immer mit einem gewissen Ernst bei der Sache, kann aber oft nicht anders, als manches einfach nur noch als Realsatire zu sehen, denn der pure Ernst würde sonst zu sehr einer weitreichenden Desillusion folgen. Deutschland hat wieder einmal mehr bewiesen, dass es sich im Genre des politischen Kinos befreiend wohl fühlt. Ein Must-See, so genau und gleichzeitig erfrischend sentimental auf den Punkt gebracht, dass das bisschen weltpolitische Interesse in einem selbst ausreicht, um traurigen Tatsachen wie diese ins Auge sehen zu müssen.

Curveball – Wir machen die Wahrheit

Borat Anschluss Moviefilm

TOCHTER ZU VERSCHENKEN

6/10


borat-subsequent-moviefilm© 2020 Amazon Studios

LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: JASON WOLINER

CAST: SACHA BARON COHEN, MARIJA BAKALOWA, JEANISE JONES, RITA WILSON, RUDY GIULIANI, TOM HANKS, MIKE PENCE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Da ist sie wieder, Sasha Baron Cohens Kunstfigur. Der kasachische Reporter, der peinliche Nationalist und der völlig ahnungslose Sexist, dessen Weltbild immer noch das einer Scheibe ist. Borat Sagdiyev ist kein Intellektueller, kein Horizonterweiterer und schon gar kein Humanist. Ein Unterdrücker, der es gut meint. Gibt es sowas? Klar gibt’s das. Man braucht hier nur mit dem Finger über die Weltkarte wandern und auf einzelne Nationen tippen, die genau so sind wie Borat. Die genauso wie dieser Mann keine Ahnung haben von liberalen Ideen, sexueller Gleichberechtigung und Bildung. Ihr Vorteil: eine Bevölkerung, die in diese Art Schlamassel hineingeboren wurde – und es gar nicht anders kennt. Wie Borat eben. Einer, der es nicht besser weiß. Der aber trotz seines verqueren Gedankenguts zumindest jemand ist, der, sobald sein Weltverständnis auf Widerstand stößt, den dazugehörigen Absolutismus hinterfragen könnte. 

Der Mann mit buschiger Rotzbremse und grauem Anzug gebärdet sich wie ein reaktionärer Mr. Bean, der im Ausland seine Haut retten muss, um nicht hingerichtet zu werden, falls er seine zweite Mission vermasselt: der lokale Geheimdienst schickt ihn abermals in die US+A, mit einem Geschenk für den Vizepräsidenten Michael Pence, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufleben zu lassen. Das Geschenk sollte ein Affe sein – doch der lebt nicht mehr, als die ominöse Holzkiste in Amerika ankommt. Stattdessen hat sich Borats Tochter reingeschmuggelt – verdreckt, verlaust und aufmüpfig (erfrischend extrovertiert und oscarnominiert: Marija Bakalowa). Na gut, wenn schon nicht den Affen, muss Borat wohl seine Tochter verschenken. Vorher allerdings muss die Gute noch „formschön“ verpackt werden, um sie präsentieren zu können. Während dieses Unternehmens allerdings wird Tochter Tutar langsam klar, in welchem gestörten Umfeld sie wohl bisher aufgewachsen war. Da sind die US + A ja Gold dagegen. Bis auf ein einige Ausnahmen – die zumeist im politischen Establishment zu finden sind.

Satire darf zwar nicht alles, aber vieles. Was Jason Woliner seinem Duo aus dem Osten dürfen lässt, ist trotz der üblichen Geschmacklosigkeiten, die aber alle unter einen Nenner zu bringen sind, weil sie alle dasselbe Ziel verfolgen, durchaus akzeptabel. Borat Anschluss Moviefilm (der Originaltitel würde sich über drei Zeilen ziehen) ist eine überraschend unzynische, direkt versöhnliche Satire im klassischen Sinn, die zum Ziel hat, einen überall vor sich hintümpelnden, latenten oder gar militanten Sexismus aufzubrezeln. Das geht von den Grundrechten der Frau bis hin zum Zwang, sich die Brüste vergrößern lassen zu müssen. Das lässt auch kein gutes (Scham)haar an der Tabuisierung der Menstruation oder dem Mythos, Frauen könnten nicht autofahren. In erschreckender Deutlichkeit darf sich die republikanische Witzfigur Rudy Giuliani selbst an den Pranger stellen – wohl das frappanteste Armutszeugnis einer Person in diesem Film, während Tom Hanks (zum Glück) nur Autogramme zu geben braucht und der Rest der amerikanischen Bürger, denen Borat begegnet, sich überraschend wenig über dessen seltsames Verhalten wundern, weil sie mitunter selbst so ein reaktionäres Weltbild wie Borat haben. 

Den guten Ton findet Borat Anschluss Moviefilm natürlich absichtlich nicht – da mag man mit den Augen rollen. Allerdings hat der Streifen eine Mission, die er sich zu Herzen nimmt. Diese auf Schiene zivilisierter Norm gebrachten Erkenntnisse mögen dem obszönen Sarkasmus wohl den Wind aus den Segeln nehmen, unter welchem der Erstling aus dem Jahre 2006 noch Fahrt aufnehmen konnte. Dieses Sequel hier ist fast schon zu befriedend für manche, die den bösen, unbelehrbaren Witz des schlaksigen Hampelmanns so nice gefunden hätten. Borats Wanderjahre sind in diesem kaum noch als Mockumentary zu bezeichnendem Roadmovie jedoch längst vorbei.

Borat Anschluss Moviefilm

Irresistible – Unwiderstehlich

MACH DEIN DING IM STATE OF SWING

7/10


Irresistible© 2020 Universal Pictures International Germany


LAND: USA 2020

REGIE: JON STEWART

CAST: STEVE CARRELL, ROSE BYRNE, CHRIS COOPER, MACKENZIE DAVIS, TOPHER GRACE, BRENT SEXTON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wann, wenn nicht zur aktuellen Situation des nun zu Ende gehenden Wahlkampfes zwischen Donald Trump und Joe Biden, findet ein Film wie dieser bevorzugtes Interesse: Irresistible – Unwiderstehlich darf sich als ein zur Gänze aufs amerikanische Publikum zugeschnittener Film verstehen; als eine kauzige Politkomödie, die sehr viel Lokalaugenschein strahlen lässt und ein Ensemble ins Rennen um die bessere der beiden Politparteien schickt, das ausgeschlafener kaum sein kann.

Natürlich ist es politisch gesehen stets ein Armdrücken zwischen Republikanern und Demokraten. Im Swing State Wisconsin allerdings könnten für die nächste Wahl wohl die Letztgenannten das große Rennen machen. Denn Parteifuzzi Gary hat schlichtweg die Hirnidee: im von 15.000 auf 5.000 Einwohner geschrumpften Provinzkaff Deerlaken tut sich vor allem via Youtube ein Mann hervor, der zwischen konservativ und progressiv genau jenes Sprachrohr wäre, den die Demokraten bräuchten, um den Staat auf ihre politische Richtung einzuschwören. Gary, voller Motivation, reist dorthin und unterbreitet dem Viehbauern, winkend mit allen möglichen Boni, die Chance, doch Bürgermeister zu werden. Ein demokratischer wohlgemerkt. Der wortkarge Farmer willigt ein. Gary macht den Rest. Sammelt Spenden, organisiert den Wahlkampf und so weiter. Dauert natürlich nicht lange bis die Republikaner anrücken und im Gegenzug den amtstragenden Bürgermeister für die Wiederwahl pushen. Ganz vorne mit dabei: Politstrategin Faith, die Gary gut kennt. Man kann schon ahnen, dass ein verbaler Schlagabtausch nicht lange auf sich warten lässt. Werbeideen auf der einen, das Modell des Schmutzkübels auf der anderen. Jeder auf seine Art.

Steve Carrell, der zuletzt eher mit ernsteren Rollen überzeugen konnte, darf hier endlich wieder mal den selbstironischen, durchaus distinguierten und redegewandten Kasper geben, der die Dorfgemeinschaft für sich und die seinen instrumentalisiert. Mit seinen detailverliebten, humoristischen Einlagen kommt in Jon Stewarts Politposse der schräge Humor auch nicht zu kurz. Chris Cooper als lakonisch-behäbiges Landei ist ebenfalls sehenswert. Rose Byrne tut sich da gegen die beiden Großkaliber sichtlich schwer. Alle gemeinsam aber formen ein leichtes, durchaus nicht realitätsfernes und vor allem klug geschriebenes Lustspiel, das die Methoden des politisch-populistischen Systems auf kumpelhafte und ausnahmsweise mal weniger zynische Weise denunziert. Das macht den Film sympathisch, weniger mit Zeigefinger, auch sehr klar in seiner Message. Irresistible – Unwiderstehlich ist zwar kein Film vom Kaliber zum Beispiel eines Werkes wie Vice, bedient sich aber freundlicher- und auch legitimerweise wieder mal den Erzählelementen fein ausformulierter 90er-Komödien wie Speechless oder Dave. Ein angenehmer, augenzwinkernder Film, ideal zur Einstimmung möglicher politischer oder nichtpolitischer Neuordnungen im so schönen Amerika.

Irresistible – Unwiderstehlich

Bacurau

DAS DORF DER UNBEUGSAMEN

6,5/10

 

bacurau© 2019 MUBI

 

LAND: BRASILIEN, FRANKREICH 2019

REGIE: KLEBER MENDONÇA FILHO

CAST: SÔNIA BRAGA, UDO KIER, BARBARA COLEN, THOMAS AQUINO, SILVERO PEREIRA, THARDELLY LIMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN 

 

Brasilien, ein wunderbares Land. An landschaftlicher Vielfalt, Biodiversität und Lokalesprit kaum zu überbieten. So beeindruckend Brasilien aber auch ist, an gleichviel schwierigen Problemen muss das Land herumkauen. Da ist erstmal dieser Präsident, der das Land, dem er verpflichtet ist, an den Meistbietenden verhökert, keine Rücksicht auf Ethnien nimmt und die grüne Lunge unseres Planeten roden lässt. Da gibt es jede Menge Korruption, reaktionäres Gedankengut direkt aus der Chefetage und sonstige zweifelhafte Vorgehen, den riesengroßen Staat gefügig zu machen. Wie so etwas funktionieren kann – und gleichsam doch nicht – das zeigt ein südamerikanischer Killer-Western mit hohem Bodycount, der in offenen Wunden bohrt und mit jeder Menge Sarkasmus das gesellschaftspolitische Versagen eines gewählten Establishments vorführt.

Dabei erinnert Bacurau streckenweise stark an den diesjährigen Skandalfilm The Hunt von Craig Zobel. Gleichermaßen aber ist Bacurau ein Werk, das ähnlich huldigend die Genres mixt und mit genau jener Art von Gewaltdarstellung arbeitet, wie Quentin Tarantino es tut. Ein dramatisches Märchen, das zwischen kauzigem Trash und explizit eingeforderter Gerechtigkeit Probleme auf ungestraft radikale und wohlwollend naive Art der Vergangenheit angehören lässt. War das nicht schon bei Inglourious Basterds so? Oder bei Once Upon a Time … in Hollywood? Bacurau ist genauso – es gibt den Verlieren zumindest im Kino die Möglichkeit, ordentlich zurückzuschlagen.

Bacurau gibt es nicht wirklich. Gleichzeitig allerdings schon. Ein nachtaktiver heimischer Vogel wird so bezeichnet. Das Dorf selbst allerdings, diese kleine Gemeinde mit lokalem Museum als einzige Touristenattraktion, ist alles anderer als das. Die paar Gestalten müssen sich nämlich schon länger mit dem Provinzbürgermeister herumschlagen, der den Leuten den Wasserhahn zudreht. Eine Bande Rebellen wettert dagegen. Zur selben Zeit aber geschehen seltsame Anschläge in der Gegend, was folgt sind brutale Morde an ganzen Familien. Könnte sein, dass eine Gruppe Ausländer hier sportlich aktiv geworden ist und nur so zum Spaß die Bewohner des Dorfes auslöschen will. Könnte sein, dass der Mann mit dem stahlblauen Blick, Udo Kier, dahintersteckt. Doch wie auch immer – Bacurau lässt sich nicht einschüchtern. Und rüstet sich zum kollektiven Widerstand.

Im Werk des auch im privaten Leben politisch aktiven Regisseurs Kleber Mendonça Filho geht´s deutlich gesellschaftskritischer zu als in The Hunt. Die Kritik richtet sich hier auch mehr auf das politische Establishment, das versucht, seine Bürger ruhig zu stellen und einzulullen, während die kleine Apokalypse hereinbrechen kann. Trotz all der Gewalt und des Blutes und auch der hemmungslosen Rache der unbescholtenen Einwohner hat Bacurau etwas Stolzes und Befreiendes. Ein eigensinniger, mit folkloristischem Gitarrensound untermalter Shootout, der eine simple, aber aufrichtig wütende Geschichte erzählt, stellvertretend für ein ganzes Land.

Bacurau