Für immer hier (2024)

LÄCHELN GEGEN DEN TERROR

6,5/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: AINDA ESTOU AQUI

LAND / JAHR: BRASILIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: WALTER SALLES

DREHBUCH: MURILO HAUSER, HEITOR LOREGA

CAST: FERNANDA TORRES, SELTON MELLO, FERNANDA MONTENEGRO, ANTONIO SABOIA, VALENTINA HERSZAGE, MARIA MANOELLA, LUIZA KOSOVSKI, BÀRBARA LUZ, CORA MORA, GUILHERME SILVEIRA, MARJORE ESTIANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Familie ist wirklich alles, das weiß auch Walter Salles, brasilianischer Filmemacher und seit Central Station längst bekannt als Beobachter eines jüngeren Südamerika zwischen Individualität und biographischen Notizen, zwischen stillem Aufbegehren und der Charakterbildung einer Revolution, wie sie Che Guevara salonfähig machte (Die Reisen des jungen Che), und zwar so weit, bis sie einging in die Popkultur. Weniger bekannt ist aber das Schicksal und Leben der Menschenrechtsaktivistin Eunice Paiva, die, bevor sie sich als Aktivistin eines Namen machte, als fünffache Mutter das Familienglück in Rio de Janeiro am Laufen hielt: Die malerische Bucht inklusive Jesus stets vor Augen, das strahlende, heiße tropische Wetter, der immerwährende Sommer auch in den Gemütern der Kinder und des Ehemannes Rubens (Selton Mello), ehemaliger Kongressabgeordneter und Kritiker des Militärregimes von Brasilien Anfang der 70er Jahre.

So ein Verhalten, das hätte Rubens wissen müssen, weckt irgendwann den Argwohn der Mächtigen. Hinter der Fassade einer glücklichen Familie, deren Zuversicht man kaum fassen kann, brodelt der kleine Widerstand. Es gibt Botengänge unter der Hand, die dem Regime sicher nicht in die Hände spielen. Irgendwann klopfen die Schergen der Regierung an die Tür des trauten Heims und nehmen Papa kurzerhand mit, um ihm „ein paar Fragen zu stellen“. Aus der Zusage, Rubens wäre bald wieder in der Obhut seiner Liebsten, wird nichts. Die Familie aber, sie bricht nicht auseinander. Eunice versucht, alles zusammenzuhalten, wird sogar selbst verschleppt und landet im Verhörgefängnis an einem unbestimmten Ort, muss Qualen erleiden und um ihre Kinder bangen.

Desaparecidos nennt man jene Menschen, die der Staatsapparat verschwinden lässt. Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Ereignisse, die sich scheinbar zur selben Zeit am ganzen Kontinent abspielen, errichtet Walter Salles das sehr intime und subjektive Portrait einer Familiengemeinschaft mit Mutter Eunice als jemand, der erhobenen Hauptes der Tragödie trotzt. Europa ist dabei weit entfernt von der Geschichte eines Kontinents, der nicht mal ansatzweise seinen Weg in die Schulbücher findet und auch sonst und vorallem angesichts der eigenen tragischen Geschichte nicht viel Platz im Bewusstsein der alten Welt einnimmt. Filme wie diese tun da ihre Pflicht und setzen ein künstlerisch definiertes Ausrufezeichen, machen aufmerksam auf etwas, dass passiert sein mag, das man hierzulande aber maximal zur Kenntnis nimmt als etwas, das genauso nicht hätte sein dürfen wie das Nazi-Regime. Hinzu kommt eine Familie, die, so scheint es, gerne unter sich bleiben würde und sein Publikum nur pflichtbewusst ins Innere blicken lässt.

Anfangs fällt Salles fast schon ungefragt mit der Tür ins traute Eigenheim und stiftet Verwirrung inmitten einer Großfamilie samt unzähliger Freunde und Bekannter, die wir alle nicht kennen. Dieses Bildnis des satten Wohlstands tangiert wenig, es wird gefeiert, und das nicht zu kurz. Der Mittagstisch biegt sich, es gibt Soufflé, dann geht es an den Strand, auch dort eine geschlossene Gesellschaft. Für immer hier lässt sich ordentlich Zeit, um sein Publikum mit dieser Familie bekanntzumachen. Statt Effektivität verliert sich Salles Film aber in einem langwierigen Anlauf. Schon klar, die intakte Gemeinschaft darzustellen, dafür benötigt es Zeit und erzählerischen Raum. Die Methode geht vorerst nach hinten los. Nach einer zähen halben Stunde redundanter Alltagsdarstellungen geht das Drama in den Absprung über – und setzt die oscarnominierte Fernanda Torres als erschütterte, aber stets erhobenen Hauptes lächelnde Matriarchin groß in Szene, umringt von ihren Töchtern und Söhnen. Langsam nähert man sich auch emotional dem ganzen Desaster, spürt die Bedrohung, empfindet Verlust und Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, der fortan eine große Lücke bei allen Anwesenden hinterlassen wird.

Die Zeit heilt in Für immer hier niemals alle Wunden. Salles konzentriert sich dabei auf den Mikrokosmos, auf das Einzelschicksal und wechselt niemals die Perspektive. Nicht das Regime, das Konstrukt der Familie ist die eigentliche Politik, das eigentliche System, das funktionieren muss. Je stärker sich Salles fokussiert, umso besser wird der Film, bis nur noch Torres übrigbleibt, die die Flucht nach vorn wählt und den Entschluss fasst, sich für jene einzusetzen, die ähnlich gelitten haben wir ihr Ehemann. Dann aber folgt ein großer Zeitsprung – Für immer hier spart den Werdegang von Eunice Paiva ebenfalls aus wie das Dokumentarische hinter dem Psychodrama. Ob sich Salles hier nicht mit den Prioritäten etwas vertan hat, mag man als Frage in den Raum stellen. Klar ist: Gegen Ende sind die Gefühle groß, wächst die Einheit der Familie umso mehr. Das sind die geglückten Szenen eines melodramatischen Films, der nicht zu allem den nachfühlbaren Zugang gewährt. Und vorallem dann punktet, wenn man Parallelen zur eigenen Familiengeschichte entdeckt.

Für immer hier (2024)

Flow (2024)

WENN TIERE DEN HUMANISMUS PROBEN

7/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: STRAUME

LAND / JAHR: LETTLAND, BELGIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: GINTS ZILBALODIS

DREHBUCH: GINTS ZILBALODIS, MATĪSS KAŽA

MUSIK: RIHARDS ZAĻUPE

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Das Ganze ist wie ein Traum. Niemand weiß, wo genau sich dieses Szenario abspielt, niemand weiß, ob es jemals Menschen waren, die diesen seltsamen Planeten, der unserer Erde so sehr ähnelt und dann wieder doch nicht, besiedelt hatten. Klar ist: Eine Zivilisation, gleich der unseren, ist der großen Katastrophe erlegen. Es scheint, als wäre die biblische Sintflut über alles und jeden gekommen, der sich selbst keine Arche gefunden hat. Und selbst an den höchsten Punkten dieser Welt glänzt das menschenähnliche Individuum durch Abwesenheit. Was passiert war, lässt sich nicht herausfinden. Was vorher war, auch nicht. Was ist, das sehr wohl: Eine Welt ohne uns, ohne Dualität, ohne Niederträchtigkeit, Gier, Krieg und Elend. Eine Art Eden kehrt zurück, nachdem das Wasser den Unrat einer schweren Zeit fortgespült hat. Was bleibt, ist die Fauna. Eine schwarze Katze zum Beispiel, namen- und wortlos, schnurrend, miauend, fauchend maximal. Das kleine Wesen versucht zu überleben, stößt dabei auf einen Hund, verliert diesen wieder aus den Augen, trifft dann, nachdem alles in den Fluten versinkt, auf ein kleines Segelboot, in dem ein gemütliches Capybara hockt und den Neuankömmling anfangs noch kritisch beäugt, dann aber akzeptiert. Die trockene Nussschale dient bald noch anderen Individuen als Schutz vor den Unwirtlichkeiten der Natur, unter anderem einem Katta und einem storchenartigen Vogel, der sehr an einen Sekretär erinnert, nur ohne dessen Färbung.

Bizarre Felsnadeln ragen in den Himmel, versunkene Städte erinnern an Venedig, zerstörte Boote an den vergeblichen Versuch einer Zivilisation, zu überleben. Und dann wagt Regisseur Gints Zilbalodis (Away – Vom Finden des Glücks) seine große gesellschaftsphilosophische Betrachtung, indem er seine zusammengewürfelte Gruppe unterschiedlichster Lebensformen einer intuitiven probe unterzieht. Allen voran stellt er die Frage: Was bewegt eine diverse Gesellschaft, aus ihrer Existenzblase zu treten, um miteinander zu kooperieren? Ist es das Chaos? Ist es die Heimatlosigkeit? Der Motor einer kognitiven Evolution tritt in Kraft. Im Grunde ist es doch so, das, würde die Welt in ihrer Ordnung verharren, keines dieser Tiere aufeinander zugehen würde. Tiere sind Spezialisten, sie entwickeln keine Toleranz und interagieren unterstützend innerhalb ihrer eigenen Art. Dann aber die Katastrophe, das Übergreifen aus dem eigenen Radius hinaus in jenen der anderen. Was entsteht, ist Altruismus, Faktoren des menschlichen Zusammenlebens und der Akzeptanz. Einheit trotz oder gerade durch Vielfalt – Flow macht dabei nicht den Fehler, Katze, Hund und Co zu vermenschlichen, sondern lässt sie in ihrem tierischen Verhalten fest verankert, während der humanistische Faktor lediglich hinzukommt. Man könnte natürlich Entertainment-Werke wie Madagaskar als weiteres Beispiel nennen, auch hier muss eine tierische Gruppe aus Löwe, Giraffe, Zebra, Nilpferd und Pinguin eine Zweckgemeinschaft eingehen, doch hier ist es vorrangig der Kalauer und die vermenschlichte Darstellung der Tiere mitsamt zeitgemäßer Phrasendrescherei. Madagaskar führt da auch nichts anderes im Schilde als Spaß haben zu wollen, während Flow auffallend mehr erzählt, es kehrt Orwells Farm der Tiere um, schafft Zuversichtlichkeit und Vertrauen in einer unberechenbaren Welt, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Auch Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger ließe sich vergleichen, nur ohne menschlichem Faktor als Person – dieser offenbart sich lediglich als Idee.

Darüber hinaus begeistert Flow nicht nur dank seiner diversitätsbejahenden Botschaft, sondern ist dank seiner farbsatten, dynamischen Bildwelten, die dank der entschleunigten Kamera in sich ruhende Momente der Betrachtung zulässt,  für die große Leinwand gemacht. Das Wasser gluckert, sprudelt, fließt, der Wind bläst, der Hund bellt, das Capybara grunzt, der Vogel kreischt. Sie alle haben ihre Art zu kommunizieren, und auch wenn sie sich untereinander kaum verstehen, so ist es die Geste des Respekts, der sie alle weiterbringt. In dieser universellen filmischen Botschaft kann man sich verlieren und treiben lassen. Denn niemand geht in dieser und in anderen Welten jemals verloren.

Flow (2024)

Bird (2024)

GEFIEDERTE FREUNDE

8/10


© 2024 House Bird Limited


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: ANDREA ARNOLD

CAST: NYKIYA ADAMS, FRANZ ROGOWSKI, BARRY KEOGHAN, JASON BUDA, JAMES NELSON-JOYCE, JASMINE JOBSON, FRANKIE BOX, RHYS YATES, JOANNE MATTHEWS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Sie singen alle gemeinsam Coldplays Love Song Yellow nach, damit die vermaledeite Kröte endlich ihren halluzinogenen Schleim spuckt. Barry Keoghan als viel zu junger Vater Bug, verziert mit allerlei Tattoos aus Brehms Tierleben, Band Insekten und Gliederfüßer, hält das Amphib dicht vor seinem entblößten Oberkörper, ein anderer hält dem Tier eine Glasscheibe vor. Mit diesem animalischen Auswurf, so Bug, will er sich und seine Familie finanziell sanieren. Und im Übrigen seine kurz bevorstehende Hochzeit ausrichten. Dieser Figur eines völlig aus dem Leben geworfenen und allmählich wieder zurückfindenden Menschen gibt Keoghan (oscarnominiert für The Banshees of Inisherin, Saltburn) Leben, schenkt ihm Liebe und Echtheit. Obwohl der Mann vieles nicht auf die Reihe bekommt. Schon gar nicht die Erziehung seines Nachwuchses. Das sind Hunter (Jason Buda), der in die Fußstapfen seines kumpelhaften Vaters tritt und seiner Freundin ein Kind macht – und Bailey (Nykiya Adams), ein zwölfjähriges Mädchen, das sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz bewusst ist oder aber diesen Geschlechterrollen bis dato keine Beachtung geschenkt hat, da es dafür wirklich keinerlei Zeit und Raum gab, um sich selbst zu definieren.

Bailey ist die zentrale Protagonistin des Films, Andrea Arnold folgt ihr auf Schritt und Tritt, ohne sie zu bedrängen, allerdings auch, ohne sie loszulassen. Dieser soziale Käfig aber, oft als abstrakte Gitterstruktur im Bild, ist wieder ein anderer: Bird schildert schließlich die niederschmetternde soziale Tristesse in der Hafenstadt Gravesend nahe London. Von allerlei Graffiti beschmierte Wände sind die Schmuckstücke dieser Gegend, wohl auch, weil mitunter so manche Weisheiten zu lesen sind, die das Leben bejahen und seine womöglich sozial benachteiligten Leser dazu auffordern, nicht aufzugeben. Immer wieder streut Arnold gesprayte Oneliner ins Bild, ob auf dem Fenster des Linienbusses, in Baileys Zimmer oder am Bahnhof der Stadt. Diese Worte schnappt das Mädchen immer wieder auf. Und noch etwas: Es sind die Vögel dieser Stadt, die ihm wohlgesonnen sind. Ob Möwe, Krähe oder anderes: Baileys ungerufene gefiederte Begleiter scheinen Hoffnungs- und Freiheitsträger zu sein – diese Metapher setzt Arnold nicht nur ins Verhältnis zu des Vaters Affinität für niedere Tiere, die seinen sozialen Status determinieren. Bailey will und kann mehr. Und da setzt das soziale Märchen ein, die Poesie sickert in diese entbehrungsreiche Verwahrlosung aus allerlei Defiziten, die längst das Jugendamt hätten alarmieren sollen. Diese Welt ist aber frei von Regeln, es ist der sich selbst überlassene Untergrund, den die gutsituierte Gesellschaft neben die Mülltonne stellt.

Da erscheint Franz Rogowski, einzigartiger Schauspielexport aus Deutschland, eine schillernde, nonkonforme Person, in all seinen Rollen, konstant ausgestattet mit einer charakterlichen Metaebene, von der man meinen könnte, sie sei nicht von dieser Welt. Hier ist er titelgebender Bird, ein heimatloser Vagabund ohne Zugehörigkeit. Entkoppelt, entrückt, melancholisch. Bailey gewinnt ihn als Freund, der seinen Vater sucht. Bald scheint es, Bird ist mehr als das. Bird hat eine Aufgabe, eine Bedeutung. Ist er vielleicht nur Illusion? Nicht nur für Bailey selbst, sondern auch für alle anderen, die Hoffnung suchen oder Grenzen brauchen?

Andrea Arnolds analoger Filmstil ist die richtige Klaviatur in einem metaphysischen Sozialdrama, das niemanden kalt- oder seinem Schicksal überlässt. Hier ist das Gute am Werk, menschliche Werte, Wärme und überhaupt: Die Geborgenheit. Wie Bailey ihren Weg durch all diese Widrigkeiten findet, an ihrer Seite der seltsame Vogelmensch, der stets auf den Dächern sitzt und über seinen Schützling wacht, mag an Wim Wenders Der Himmel über Berlin erinnern. Und anders als das Betroffenheitskino des Ken Loach zaubert Arnold eine urbane Ballade der Heimatsuchenden und Heimatlosen auf die Leinwand, die imstande sind, ihr Leben umzugestalten. Bailey bekommt vieles in die Hand gegeben, zwar nicht durch ihre Familie, aber durch sich selbst – und durch die Obhut höhere Mächte.

Bird (2024)

Mein Sohn, der Soldat (2022)

VÄTERLICHE PFLICHTEN IM SCHÜTZENGRABEN

3,5/10


© 2022 – UNITÉ – KOROKORO – GAUMONT – FRANCE 3 CINÉMA – MILLE SOLEILS – SYPOSSIBLE AFRICA


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL 2022

REGIE: MATHIEU VADEPIED

DREHBUCH: OLIVIER DEMANGEL, MATHIEU VADEPIED

CAST: OMAR SY, ALASSANE DIONG, JONAS BLOQUET, BAMAR KANE, OUMAR SEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Es gibt Weltkriegsfilme, die sind so außerordentlich kraftvoll inszeniert, da fühlt man sich unweigerlich am Kragen gepackt und mitgezerrt auf einen Trip voller Angst, Schmerz und Hoffnung. Ein solcher Film ist Sam Mendes scheinbar in einem Take gefilmte Odyssee 1917. Dadurch, dass Mendes nicht nur die Memoiren seines Großvaters verarbeitet hat, sondern eben auch seinen Fokus enorm stark auf das Individuum setzt, lässt das Drama keinerlei Distanz zu. Der Zuseher, in diesem Fall ich, hängt am Rüstzeug des Soldaten, folgt ihm durch den Schützengraben, springt dem Tod immer wieder von der Schippe, wühlt sich durch Trümmer hindurch ans rettende Tageslicht. Dann gibt es Filme, die meinen, noch persönlicher werden zu können, noch mehr aufzuwühlen als „nur“ anhand eines gnadenlosen Einzelschicksals. Filme wie Mein Sohn, der Soldat.

Allein vom Titel her treibt es einem schon im Vorfeld die Tränen in die Augen. Verstärkt wird die Vorschuss-Wehmut dadurch, wenn man selbst eine Vater-Sohn-Beziehung lebt. Dieser Film verspricht hier etwas Schmerzvolles, noch dazu mit Hinblick auf die entbehrungsreiche französische Kolonialgeschichte des Landes Senegal. In der Hauptrolle findet sich Omar Sy wieder, der seit Ziemlich beste Freunde, einem modernen Meilenstein des europäischen Kinos, gut gebucht von einem Set zum anderen hetzt und ganz vorne mitspielt, sogar im Marvel-Franchise (siehe X-Men). Der französische Weltstar dürfte sich am Set von Ziemlich beste Freunde wohl mit Mathieu Vadepied angefreundet haben, dem Kameramann. Der wiederum hat nun, für Mein Sohn, der Soldat, ins Regiefach gewechselt, die Kamera hat dann jemand anderer übernommen. Nach einigen Kurzfilmen war das hier Vadepieds erster Langfilm, noch dazu ein schwieriges, hochemotionales Thema um Selbstbehauptung, Identität und Patriarchat. Um Autorität, Verantwortung anderen gegenüber und sich selbst. Wie all diese inhaltliche Schwere stemmen? Vielleicht gar nicht.

1917 lief es in den Kolonien ungefähr so, als wären Sklavenjäger zugange. Damals, um den Ertrag an den Baumwollplantagen in Übersee zu steigern. Diesmal aber, um den Nachschub an der französischen Front zu sichern, das Rauben von Menschen vom Fleck weg aus ihren Dörfern war zu damaligen Zeit nur legitim, schließlich muss der Unterworfene seinem Herrn dienen. Es wäre aber nicht der Hirte Bakary (Omar Sy) gewesen, den sie zwangsrekrutiert hätten, sondern dessen Sohn Thierno (Alassane Diong). Kann ein Vater dabei zusehen, wie das eigen Fleisch und Blut als Kanonenfutter herhalten muss? Nein, ein Vater darf den Sohn nicht im Stich lassen – also meldet er sich freiwillig. Nur, um später festzustellen, wie sehr er sich darin getäuscht hat, noch von Nutzen zu sein für jemanden, der längst aus dem Nest hätte fallen sollen. Im Zuge des militärischen Einsatzes schließlich wird klar, dass Thierno im Wahrnehmen seiner Pflicht an Selbstwert gewinnt und plötzlich wichtiger ist als er jemals hätte sein können, daheim in der Sahelzone.

Der Plot ist gut, der Konflikt hochinteressant – die Umsetzung ist es leider nicht. Omar Sy und Alassane Diong spielen selbst wie Zwangsverpflichtete, die Dramaturgie ist zäh und bruchstückhaft. Die Emotionen spießen sich am lieblos ausgearbeiteten Skript, das dem Seelenleben seiner Protagonisten partout nicht auf den Grund gehen will. Hier spürt man und erfährt man nichts, lediglich die kolportierte Oberfläche eines Macht- und Gesinnungswechsels. Prinzipiell würde Mein Sohn, der Soldat einen Blickwinkel auf die Kriegsgeschichte gewähren, den man so noch nicht gesehen haben könnte. Doch am Ende war die Chance auf eine Innovation im Genre nur ein leeres Versprechen. Dieser Krieg bleibt ein mut- wie wutloses Stück schale Aufarbeitung. Die spektakulären Bilder zwischen Kugelhagel und aufgewühltem Schutt lassen sich dabei problemlos verdrängen.

Mein Sohn, der Soldat (2022)

Der Graf von Monte Christo (2024)

WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DIE ANDEREN

7,5/10


© 2024 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE

DREHBUCH: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: PIERRE NINEY, ANAÏS DEMOUSTIER, BASTIEN BOUILLON, ANAMARIA VARTOLOMEI, LAURENT LAFITTE, PIERFRANCESCO FAVINO, PATRICK MILLE, VASSILI SCHNEIDER, JULIEN DE SAINT JEAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 58 MIN


Verrat, Befreiung, Selbstfindung und Rache: Den Roman von Alexandre Dumas dem Älteren, der ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, mag man fast schon als zweite Bibel ansehen für jene, die weniger das große Abenteuer suchen als vielmehr kurz davor stehen, angesichts prekärer Umstände aufzugeben. In Der Graf von Monte Christo steckt die ganze Wut eines Übervorteilten und Verratenen, steckt eine Welt voll der Ungerechtigkeiten – wohl kaum einem anderen literarischen Werk wohnt so sehr die Sehnsucht nach Gerechtigkeit inne, die nicht Rache genannt werden will. Rache ist viel zu plump für diesen Grafen, sie verbrennt viel zu schnell. Schließlich hätte man sie alle auch zur Strecke bringen können, diese falschen Freunde und korrupten Machtmenschen, die völlig skrupellos und bar jeder Moral die Unliebsamen und Schwachen aus dem Weg räumen. Doch der Graf hat anderes vor. Was wäre gewesen, hätte es in dieser Geschichte die Insel Monte Christo gar nicht gegeben? Hätte der frischgebacken Kapitän Edmond Dantès, der vom Nebenbuhler und besten Freund aufs Kreuz gelegt wird, jemals aus eigener Kraft diese Genugtuung erlangen können, die er letztendlich erlangen wird?

Gefühlt jeder kennt die Geschichte des Gefangenen, der sich mithilfe eines weisen italienischen Geistlichen zum Intellektuellen mausert, um dann dank glücklicher Zufälle aus seiner Isolation zu entkommen. Abbé Faria, so hieß der geheimnisvolle Häftling und Mentor Edmonds, erzählt dem um seine Existenz Gebrachten von einer geheimnisvollen Insel, von den letzten Templern und einem unermesslichen Schatz tief im Berg. Märchenhafter kann das Ganze kaum sein. Und dennoch ist es nicht mehr als ein Jackpot, ein gewaltiges Glück, so viel kann einer in einem Leben gar nicht verwerten, es sei denn, genauso viel Pech im Vorhinein hält die Balance. Mit dieser Balance kann Edmond leben und plant von langer Hand die große, schleichende Vergeltung, um all jenen das Herz zu brechen, die sein Schicksal verschuldet haben.

Und Frankreich, das feiert die letzten Jahre schon die Wiederauferstehung des französisch-klassischen Literaturfilms, der Bezug nimmt auf all die ikonischen Werke jenes Mannes, der schon Die drei Musketiere für ewig ins kulturgeschichtliche Erbe Europas hat eingehen lassen. Was für das DC- und Marvel-Universum James Gunn, sind in der alten Welt Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière. Sie sind es, die Dumas‘ Musketier-Klassiker in formschöne zwei Teile verpackt haben, die wiederum von Martin Bourboulon 2023 dynamisch und erdig verfilmt wurden – Romain Duris, Vincent Cassel oder Francois Civil sind nur einige aus dem illustren Cast. (Nebenbei bemerkt: Delaporte und Patellière sind auch die Schöpfer der Erfolgskomödie Der Vorname) Und jetzt das – jetzt gibt es das wohl komplexeste Ensemblestück in einer dreistündigen, hochkomprimierten Deluxe-Fassung; in opulenter, aber niemals zu pompöser Ausstattung. In atemberaubenden Kostümen und mit einer ganzen Reihe an Schauspielerinnen und Schauspielern, die man allesamt bereits von irgendwoher aus anderen Filmen kennt – nur welche genau, das weiß man nicht. Die Gesichter sind aber vertraut, meist hinter Bärten verborgen oder im historischen Kontext aufgedonnert. Bei Anaïs Demoustiers liebreizendem Lächeln könnte man sich, sofern gesichtet, an Der Sommer mit Anaïs erinnern. Anamaria Vartolomei kennt man aus dem Venedig-Gewinner 2012 – Das Ereignis. Laurent Lafitte und Pierfrancesco Favino – Italiens gegenwärtig wohl bekanntestes Schauspielergesicht im regulären Dienst – sind sowohl Nemesis als auch Schutzengel. Und Pierre Niney? Er (u. a. die Hauptrolle in Francois Ozons Frantz) wagt die „Mission Impossible“ dank einer raffinierten Masken-Technologie, die, würde man es realistisch betrachten, zur damaligen Zeit niemals so funktioniert hätte. Wie Der Graf von Monte Christo es hinbekommt, sich täuschend echt zu verwandeln, ist fast schon ein phantastisches Element in einem ohnehin schon sehr hochidealisierten moralistischen Epos, für welches man ein gewisses Maß an Unmöglichkeit als plausibel ansehen sollte. Dann, nur dann gelingt diese wuchtige Oper der Manipulation anderer Leute, deren wunde Punkte zur Zielscheibe werden.

Es wäre aufgrund der Fülle an Handlung das Konzept einer Miniserie deutlich entspannter gewesen, doch das Schicksal der Drei Musketiere, von welchen der zweiteTeil sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wollte keiner nochmal wiederholen. Drei Stunden lassen sich also zwar nicht immer bequem, aber auf hohem Level und ohne Leerlauf als packendes Epos verknuspern, aufgeladen mit hochdramatischem Score, begleitet von einer virtuoser Kamera und in atemlosem Stakkato. Dass dabei die Übersicht etwas abhandenkommt, bleibt den vielen französischen Namen geschuldet und hängt von der Geistesgegenwart des Zusehers ab, jeden auch noch so beiläufig ausgesprochenen Namen sofort seinem Konterfei zuzuordnen. Das braucht Anlaufzeit.

Zu guter Letzt: Dass es Der Graf von Monte Christo in einer noch längeren Fassung geben könnte, scheint möglich, sind doch manche Figuren, vorrangig jene der angeblichen Patentochter des Grafen, dargestellt von Vartolomei, scheinbar grundlos mit im Spiel. Man fragt sich lange, was sie hier zu suchen hat, am Ende bleiben Delaporte und Patellière die Antwort darauf nicht schuldig, wenn auch etwas spät.

Der Graf von Monte Christo (2024)

Criminal Squad 2 (2025)

ÜBER DEN DÄCHERN VON… NIZZA?

6/10


© 2024 Constantin Film Verleih GmbH / Rico Torres


ORIGINALTITEL: DEN OF THIEVES 2: PANTERA

LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN GUDEGAST

CAST: GERARD BUTLER, O’SHEA JACKSON JR., MEADOW WILLIAMS, JORDAN BRIDGES, EVIN AHMAD, SWEN TEMMEL, MICHAEL BISPING, SALVATORE ESPOSITO, ORLI SHUKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Das Genre des Buddy-Actionfilms hat einen langen Atem – derzeit mischen immer noch Martin Lawrence und Will Smith die Szene auf, früher waren das mal Eddie Murphy und Nick Nolte oder Mel Gibson und Danny Glover. Christian Gudegast gestaltet seinen abenteuerlichen Eventkrimi allerdings anders. Bei ihm sind es ein abgehalfterter Bulle wie er abgehalfterter nicht sein kann – und ein Gauner, der sich seit dem ersten Zusammentreffen in Criminal Squad 2018 wohl nicht oft hat bitten lassen müssen, diversen Genüssen zu frönen. O’Shea Jackson ist mittlerweile ein formatfüllender Brummbär mit Goldkette und Sonnenbrille, man möchte meinen, man hätte es mit einem arroganten Unsympathler zu tun, der sich später aber liebgewinnen lässt, weil er keinen Brutalo darstellt, sondern nur einen talentierten Gentleman, der bei Danny Ocean mitmischen könnte und der weiß, wie man wo an die große Beute gelangt. In Criminal Squad hat sich Gerard Butler dabei die Zähne ausgebissen. Big Nick, der verwahrloste Anti-Cop mit dem ungepflegten Äußeren, der gerne unschön wird, hat sieben Jahre später die Suche nach seiner Nemesis immer noch nicht aufgegeben. Dafür aber alles, was im Privaten Bestand haben sollte, verloren. So uferlos und haltlos der Mann auch sein mag, es reicht immer noch für den Ehrgeiz, den offenen Fall zu Ende zu bringen. Er erfährt, dass dieser Donnie an einem Coup in Antwerpen dabei war, bei welchem ein teurer Klunker aus einem Privatjet gestohlen wurden. Ein so ein fettes Steinchen gehört eigentlich der sardischen Mafia – wie sich später herausstellen wird, war das keine gute Idee, sich gerade diesen wertvollen Gegenstand im Zuge eines martialischen Täuschungsmanövers unter der Nagel zu reißen.

Alles trifft sich letztlich in Nizza – oder in einer Stadt, die im Film vorgibt, Nizza zu sein. Man weiß doch: diese Stadt an der Cote D’Azur hat Glamour und Charisma, die Reichen und Schönen treffen sich dort genauso wie in Cannes oder Monaco. In Criminal Squad ist Nizza aber eine auf mediterranen Karsthügeln errichtete Ansiedlung von schlichten Gebäuden, denen das gewisse Etwas fehlt – vom schmucken Boulevard am Meer, das man ohnehin nie sieht, ganz zu schweigen. Dieser generische Ort also beherbergt eines der wohl – zumindest laut Film – am besten bewachten Gebäuden in Europa. Auch das ist lachhaft, wenn man Filme wie Mission: Impossible kennt. Ein paar Monitore, ein paar Überwachungskameras und eine Handvoll Belegschaft, die lieber das Darby guckt als ihrem Job nachzugehen, entspricht jedem größeren Bankeninstitut. Es reicht aber für Christian Gudegast, O’Shea Jackson und Gerard Butler einzuschleusen, denn letzterer hat zwar den Most Wanted Man gefunden, will aber mit ihm und seinen Oceans Five gemeinsame Sache machen. Die werden angeführt von einer äußerst charismatischen Schauspielerin, nämlich der Schwedin Evin Ahmad – ein Casting-Schachzug, der sich bezahlt macht. Und selbst in Ahmads Gegenwart wird der grobschlächtige Butler dann doch noch ein bisschen wie ein kleiner James Bond, der zwischen den Stühlen sitzt und gerne wäre, was er nicht sein kann.

Criminal Squad 2 entspannt, unterhält und hat – und damit macht er schon vieles richtig – keinen nennenswerten Leerlauf. Es verhält sich auch so, dass man sich an dieses ungleiche Buddy-Duo doch noch gewöhnt, denn sie passen auf ihre Art gleichermaßen zusammen und auch nicht, eine erquickende Ambivalenz lässt sich hier finden. Den richtigen großen Wow-Effekt besitzt der Film damit aber nicht. Von allem mag gerade genug vorhanden sein, um sich am Ende einer Arbeitswoche von anspruchsloser, aber solider Thrillerkost berieseln zu lassen. Im Nachhinein soll es gerade noch keine verlorene Zeit gewesen sein.

Criminal Squad 2 (2025)

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

ABENTEUER DSCHIHAD

6,5/10


Rebel© 2022 Busch Media Group

LAND / JAHR: BELGIEN, LUXEMBURG, FRANKREICH 2022

REGIE: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH

DREHBUCH: ADIL EL ARBI & BILALL FALLAH, KEVIN MEUL, JAN VAN DYCK

CAST: ABOUBAKR BENSAIHI, LUBNA AZABAL, AMIR EL ARBI, TARA ABBOUD, YOUNES BOUAB, KAMAL MOUMMAD, FOUAD HAJJI, NASSIM RACHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Im Zuge gewaltiger Umbrüche und kriegerischer Aktivitäten im Nahen Osten ist nun auch das passiert: Syrien ist frei, frei von der Folterdiktatur eines Assad, der nun in Russland bei Busenfreund Putin Zuflucht sucht. Die Rebellen müssen nun zu einer gewissen Ordnung übergehen, die ein Staat benötigt, um zu funktionieren. Das Vorhaben wäre nicht möglich, hätten die bösen Buben des Islamischen Staats noch Gebietsansprüche zu vermelden.

Die Situation war in Syrien mal anders, und bildet auch den politischen Hintergrund eines engagierten Actionthrillers, der aber nicht nur Wüstensand aufstauben und bärtige Finsterlinge herumballern lassen will, sondern versucht, einen mehr oder weniger glaubwürdigen Einblick in den Alltag von Dschihadisten zu gewähren, die keinen Widerspruch darin sehen, westliche Errungenschaften dafür zu nutzen, dem verhassten Westen, und nicht nur dem, die Hölle heiß zu machen. Rebel – In den Fängen des Terrors beschreibt den IS als ein hierarchisch geprägtes, militantes Gebilde, in dem nicht wenige dazu gezwungen werden, dieses Spiel des Terrors mitzuspielen. Einer davon ist der in Belgien lebende Rapper und Social Media-Star Kamal (Aboubakr Bensaihi), der sich gezwungen sieht, zum Wohle der Allgemeinheit den Kriegsopfern in Syrien Beistand zu leisten. Also reist er, bewundert vom jüngeren Bruder Nassim, an den Ort des Geschehens – und wird, ehe er sich versieht, vom Islamischen Staat zwangsrekrutiert. Durch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Medium Film findet sich Kamal als begleitender Reporter bei terroristischen Einsätzen wieder. Was er nicht weiß: Sein Bruder bewundert ihn und hat ebenso vor, sich der Terrormiliz anzuschließen, wird er doch von sogenannten „Bekannten“ Kamals, die mit den Warlords in Syrien in Verbindung stehen, entsprechend manipuliert. Letztlich obliegt es der Mutter selbst, ihre beiden Söhne aus der Vorhölle herauszuholen. Doch die Lage spitzt sich zu, und für Kamal gibt es bald kein Zurück mehr.

Die erschütternde Chronik einer Familie, die in die Brüche geht, bleibt ein Hintergrundrauschen. Das Drama mag an die Nieren gehen, hätten die Belgier Adil El Arbi und Bilall Fallah darauf verzichtet, Kriegsreportern gleich vorzugsweise am Schlachtfeld mitzumischen, um die spektakulären Spitzen eines Heiligen Krieges einzufangen. Bei den beiden weiß man schließlich, woher der Wind weht. Auf ihre Kappe gehen die letzten beiden Sequels des Bad Boys-Franchise: Launige Actionkomödien im aalglatten Hollywood-Stil und auf befriedigende und unterhaltsame Weise schwarzweißgemalt. Dieser Wind aus dem Actionfilm-Genre weht auch zu Rebel hinüber, einem gekonnt plakativen Spektakel voller Thrill, Kriegsgeheul und militärisch-hierarchischer Problemagenda. Als überraschende Intermezzi, die das Geschehen von der harten Realität abstrahieren sollen, dienen Show- und Tanzeinlagen, die vielleicht auf den ersten Blick irritieren, im Nachhinein aber durchaus ins Gesamtbild passen.

Alles fühlt sich an, als wäre Jack Ryan nicht weit weg, denn vorrangig dient das Abenteuer, und hat es eine auch noch so grimmige Prämisse, zur spannungsreichen Unterhaltung. Filme wie diese haben, sofern sie sich in ihrem Werteverständnis klar positionieren, durchaus ihre Berechtigung. Rebel – In den Fängen des Terrors ist ein perfekt komponierter Kriegsfilm und leidenschaftliches Popcornkino mit effekthartem Blick auf die Weltpolitik und ihre fatalen Wucherungen. Dabei stürzt es sich tief in die deutlich zur Schau getragenen Empfindungen seiner Protagonisten.

Rebel – In den Fängen des Terrors (2022)

All We Imagine as Light (2024)

DIE HEILENDE KRAFT DER ILLUSION

9/10


allweimagineaslight© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: INDIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE, LUXEMBURG 2024

REGIE / DREHBUCH: PAYAL KAPADIA

CAST: KANI KUSRUTI, DIVYA PRABHA, CHHAYA KADAM, HRIDHU HAROON, AZEES NEDUMANGAD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Imagine all the people… livin‘ life in peace. John Lennon hat sich Anfang der Siebziger Jahre eine Welt vorgestellt, frei von Gewalt und prädestiniert für ein friedliches Miteinander. Sein zeitloser Song verkörpert die Illusion einer Menschheit, die gelernt hat, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen. Lennons Imagine symbolisiert den Imperativ des Humanismus, der dann sichtbar wird, wenn viele von uns, geballt an einem Ort, ein individuelles Schicksal bestreiten. Imagine wird zum Leitbegriff auch in einem Film, der womöglich schon jetzt als einer der schönsten und besten des Jahres angesehen werden kann. Womöglich wäre er unter den besten drei bereits im letzten Jahr zu finden gewesen, hätte ich All We Imagine as Light bei der letztjährigen Viennale gesichtet. Nun aber führt dieses Meisterwerk, und das prognostiziere ich jetzt schon, sehr wahrscheinlich die besten des Jahres 2025 an. Denn sieht man sich Payal Kapadias Spielfilmdebüt an, wird man feststellen müssen, dass große Filmkunst nicht unbedingt das Ergebnis langjähriger Erfahrung sein muss, sondern schon von vornherein ein talentiertes Verständnis mit sich bringen kann, Farben, Bilder, Klang und Schauspiel auf eine Weise miteinander zu kombinieren, die nicht üblichen Stilen entspricht, sondern völlig losgelöst von dieser Mainstream-Machart des Bollywood-Kinos einen Subkontinent präsentiert, der mit einer Lebensphilosophie klarkommt, die die westliche Welt womöglich als Selbstbetrug wahrnimmt. Hier, in Indien, ist die Kunst, aus seinen Illusionen Kraft zu tanken, eine Methode, um auch in bescheidensten Verhältnissen und in der Unmöglichkeit, eigene Lebenswünsche in die Realität umzusetzen, zu sich selbst zu finden.

Hätte John Lennon jene Bilder gesehen, die Kameramann Rabanir Das unter Kapadias Regie von der Millionenmetropole Mumbai eingefangen hat, er wäre begeistert gewesen. Er hätte gesehen und festgestellt, dass es doch möglich wäre, dicht gedrängt und fern jeglicher Privilegien, eine achtende Gesellschaft des Miteinander zu führen. In diesem Mumbai flirren die Lichter, strömen Menschen in alle Himmelsrichtungen, suchen Schutz vor dem täglich wiederkehrenden Regen, zollen sich dabei Respekt, feiern und essen miteinander. Lieben sich, hoffen und leben den Moment. Dieses Indien ist kein Dritte Welt-Betroffenheits-Indien. Es stochert nicht im Missstand oder Morast eines völlig überfordernden Landes herum. Es zeigt Mumbai als eine Stadt der Illusionen. Das aber in keiner ernüchternden Resignation, sondern als Tugend.

In diesem Licht, dass sich wahrnehmen lässt, oszillieren die Träume und Wünsche von Prabha und Anu, zwei Krankenschwestern in einem Spital in ebendieser Stadt. Beide teilen sich eine Wohnung, beiden haben die Illusion eines erfüllten Lebens. Prabha, durch eine arrangierte Hochzeit vermählt, weiß ihren Ehemann in Deutschland, doch dieser lässt nicht mehr von sich hören. Anu hingegen, deutlich jünger, liebt einen malayischen Muslim – eine Liaison, die Anus Eltern nie erlauben würden. Doch sie tut, was sie für richtig hält. Wenn man so will, gibt es da noch eine dritte: die Witwe Parvaty, die, schon deutlich älter, ihren Mann bereits zu Grabe getragen hat und nun delogiert wird, da es für die gemeinsame Wohnung keine Belege gibt. Sie ist bereit dafür, ihre Illusion der Realität weichen zu lassen und begibt sich zurück in ihr Heimatdorf. Prabha und Anu begleiten sie ans Meer, raus aus der Stadt, die in diesem Film eine Hommage erlebt wie sonst nur New York unter der Regie Woody Allens, versetzt mit urbanen Klavierklängen, die an George Gershwin erinnern. Auch akustisch lädt der Film dazu ein, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Kapadia mischt die dokumentarischen Stimmen von Mumbais Bewohner unter ihr traumverlorenes, tropisches Monsun-Erlebnis. Sie findet Szenen von einer Aussagekraft, die ohne Worte auskommt und die Tiefe der Empfindungen ihrer beobachteten Individuen zeigt. Womöglich inspiriert von den metaphysischen Welten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Cemetery of Splendour) lässt sich All We Imagine as Light zu einer impressionistischen, magischen Odyssee in die Wunschwelten von Prabha und Anu bewegen – wer Tempo und Stakkato sucht, ist bei We All Imagine as Light fehl am Platz. Hier dominiert die Entschleunigung, die Kontemplation eines feministischen Psychodramas, das in ernüchternder Traurigkeit versinken könnte, allerdings den Weg innerer Befreiung wählt. Weit jenseits eines sentimentalen Rührstücks ist der Film voll kraftvoller Zuversicht, die sich in diesem Imagine wiederfindet – als schillernde, bunte Oase einer Taverne am Strand im gegenwärtigen Moment, der zeitlos erscheint.

All We Imagine as Light (2024)

Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024)

DAS SYSTEM ENTWAFFNEN

7/10


saatdesheiligenfeigenbaums© 2024 Films Boutique / Alamode Film


LAND / JAHR: IRAN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: MOHAMMAD RASOULOF

CAST: MISSAGH ZAREH, SOHEILA GOLESTANI, MAHSA ROSTAMI, SETAREH MALEKI, NIOUSHA AKHSHI, REZA AKHLAGHI, SHIVA ORDOOEI U. A.

LÄNGE: 2 STD 48 MIN


Wenn Filmemachen weitaus mehr bedeutet, als nur zu unterhalten und den großen Reibach zu lukrieren, hat das meistens etwas mit einer politischen Agenda zu tun – einem stark motivierten Ansinnen, einen Missstand in die Welt hinaus zu posaunen, der nur darauf wartet, behoben zu werden. Das Medium Kino hat dabei ordentlich Stimme, lauter noch als es Bücher vermögen. Lauter noch, als es in nüchterner und objektiver Sicht die Korrespondenz eines Nachrichtensenders zuwege bringt. Denn dort, wo die allgemeinen Fakten enden, beginnt das Einzelschicksal. Und womit nur lassen sich Verbrechen greifbarer schildern als anhand eines Anschauungsbeispiels, einer Probe aufs Exempel innerhalb des Systems Familie. Sie wird in Die Saat des heiligen Feigenbaums zum Versuchsobjekt und zur Metapher eines akuten gesellschaftspolitischen Dilemmas, das entsteht, wenn eine Nation es verabsäumt, agile Politik von statischer Religion zu trennen. Ersteres braucht Bewegung und Anpassung, um mit der Zeit und dem Willen des Volkes zu gehen. Zweiteres darf sich rühmen, auf ewig dieselben Gesetze zu verkünden, weil, so meint man, Gottheiten es so wollen. Oder noch besser: Weil Gottheiten es befehlen.

Beides, Politik und Religion, bringt man nicht zusammen. Was beide aber gemeinsam haben, ist, als Werkzeug für Macht und Kontrolle zu fungieren. Die Theokratie im Iran wird es niemals dulden, Frauen jene Freiheit einzuräumen, die es ihnen ermöglicht, in der Öffentlichkeit sie selbst zu sein. Grotesk ist es da schon längst, wenn der Hijab nicht sitzt und es Strafen regnet. Als staatliches Verbrechen muss man sehen, wenn die freie Meinung Tod und Verderben nach sich ziehen. Der Mensch ist auf die Dauer nicht dafür gemacht, derartige Ungerechtigkeiten zu erdulden. Was folgt, sind Demonstrationen, die immer mehr auf Widerstand stoßen. Und während der Widerstand wächst, wächst auch die Revolution – mit Worten, Gesten und unmissverständlichen Statements. Als die 22jährige Iranerin Jina Mahsa Amini von der islamischen Sittenpolizei verhaftet wird, weil ihr Kopftuch nicht richtig sitzt, und dabei ums Leben kommt, scheinen die Proteste kein Halten mehr zu kennen. In dieser Zeit, und das beschreibt nun Mohammad Rasoulofs Film, der im Geheimen gedreht und gerade noch fertiggestellt wurde, bevor der Filmemacher blitzartig das Land verlassen musste, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, wird Filmvater Iman (Missagh Zareh) zum Ermittlungsrichter befördert. Es winken ein größeres Heim, mehr Geld, mehr Ansehen und eine Dienstwaffe. Denn man weiß ja nie, was einem Richter widerfährt, der Demonstranten zum Tode verurteilen muss. Womit Iman nicht gerechnet hat, ist das Mehr an Verhaftungen, die es nun abzuarbeiten gilt. Und dabei sind nicht selten die Interessen anderen wichtiger als das humanitäre Recht des Angeklagten. Während dieses beruflichen Umbruchs muss Mutter Naijmeh (Soheila Golestani) ihren Töchtern einbläuen, sich von jedweder Demo fernzuhalten. Das wäre nämlich gar nicht gut für Papa, und sowieso ist die ganze Familie im Fokus des Regimes – kein Fehler darf erlaubt sein. Als wären diese Umstände nicht schon prekär genug, gewährt Tochter Rezvan (Mahsa Rostami) einer verletzten Demonstrantin Zuflucht, während Iman von heute auf morgen seine Pistole nicht mehr findet. Spätestens jetzt ist Gefahr im Verzug, denn der Verlust der Dienstwaffe würde zu Repressalien führen. Vielleicht auch zu Gefängnis.

Mohammad Rasoulofs Film ist alleine schon deswegen bemerkenswert, weil er andere Beweggründe nennt, um gemacht worden zu sein. Aufklärungsarbeit könnte man die Sache nennen, politisches Manifest und schmerzliches Gleichnis eines Überwachungsstaats, der seine Saat ausbringt, die an jene eines Feigenbaums erinnert. Und auch da wird klar: Ein Feigenbaum schafft es, seinem Wirt, um den er wächst, all seine Energie zu entziehen. Diese Form von Politkino rezitiert nicht nur Geschichte als betroffen machendes Abbild einer vielleicht vergangenen Notlage. Dieses Form von Politkino wird zum Instrument eines Aufstands, indem es deutlich macht, wie sehr die toxische Herrschaft des Ali Chamenei seine Paranoia schürenden Methoden bis in die letzten Winkel einer funktionalen Familie streut. Das System wuchert wie Schimmelpilz über den einzelnen und macht sich langsam und schleichend über den Patriarchen her, der, in die Ecke gedrängt, den politischen Horror übernimmt, um ihn gegen seine Liebsten einzusetzen.

Langsam, ganz langsam dreht Rasoulof den Schraubstock zu. Alltägliches wird zur Schandtat, deren Verursacher zur Rechenschaft gezogen werden muss. Immer tiefer dringt der Film in den Mikrokosmos von Vertrauen, Liebe und Gemeinschaft und korrumpiert so gut wie alle Werte, die dem freiheits- und friedliebenden Menschen so eigen sind. Anfangs wähnt man sich noch in einem gediegenen Familiendrama vor dem Hintergrund politischer Unruhen – wortgewandt, präzise und nüchtern wie ein Film von Michael Haneke. Später aber kippt das Werk in den Verfolgungswahn und wird zum Psychothriller, der längst verlässliche Normen aushebelt. Rasoulof führt eine scharfe Klinge, fast schon stoisch und distanziert. Dann aber kann er nicht anders, all die Emotionen brechen sich Bahn. Das Gleichnis wird vollzogen bis zur bitteren Konsequenz. Mag sein, dass Rasoulof dabei seinem Stil zwar treu bleibt, den Rhythmus und die Tonalität aber verändert, um die zersetzenden Symptome klarer erkennbar zu machen. Man wünscht, er hätte es bereits etwas früher getan, und hätte nicht so viel Zeit damit zugebracht, den Stein ins Rollen zu bringen. Verzetteln wäre ein Wort dafür, doch wenn es ganz plötzlich – und irgendwie hat man es auch kommen sehen – darum geht, das System zu entwaffnen, um einen Ausgleich zu schaffen, wird die entwendete Dienstwaffe zum Auge eines Tornados, in dessen tosender Energie eine Familie ins Chaos stürzt.

Die Saat des heiligen Feigenbaums (2024)

Dahomey (2024)

WENN ARTEFAKTE REDEN KÖNNTEN

5/10


Dahomey© 2024 Stadtkino FIlmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL, BENIN 2024

REGIE / DREHBUCH: MATI DIOP

CAST: GILDAS ADANNOU, HABIB AHANDESSI, JOSÉA GUEDJE U. A.

MIT DER STIMME VON: MAKENZY ORCEL

LÄNGE: 1 STD 8 MIN


In den Kinos und exklusiv auf dem Arthouse-Streamer MUBI läuft derzeit der Goldene Bär 2024: Dahomey. Eine transzendente, metaphysische Dokumentation oder etwas ähnliches, ein filmischer Hybrid, der sich keinesfalls traditionellen Erzählformen unterwirft, obwohl es ganz viel um Tradition geht. Und um Gegenstände, die diese Tradition, möge sie auch noch so althergebracht sein, verkörpern. Wohl wenigen wird Mati Diop womöglich etwas sagen. Jenen, welche die französisch-senegalesische Filmemacherin noch nicht kennen, sei ihr allegorischer Zombiefilm Atlantique schwer ans Herz gelegt. Ein immersives, ungewöhnliches Drama rund um Hoffnung, Flucht und Scheitern, berührender und fesselnder als das themenverwandte Ich Capitano, weil ihm vorallem eines gelingt: zu überraschen. Überraschungen sind im Kino wichtiger denn je. Viele Geschichten sind schon viele Male auf ähnliche Art erzählt worden. Betroffenheit da, Betroffenheit dort. Realismus ist bei Dingen, die die Welt bewegen, gar nicht mehr gefragt, denn den bekommt man ohnehin über das tägliche Fernsehen präsentiert. Das Kino kann gerne viel öfter in Metaebenen herumstreunen, herumschürfen, und das Drama der Menschheit als phantastische Märchen präsentieren, die aber immer noch aus weltlicher Materie gemacht sind.

Mati Diop hat mit ihrem neuen Film Dahomey – der Titel geht zurück auf die Bezeichnung eines Königreichs im heutigen Benin – schon so einiges gewonnen. Diesjährig auf der Viennale war das Werk krönender Abschluss eines innovativen Festivals. Inhaltlich geht’s dabei um Restitution und Wiedergutmachung. Und auch, ob sich das Verständnis von Geschichte im eigenen Land dadurch ändert, wenn verlorene Artefakte ihren Weg zurück in die Heimat finden. Betrachtet man diese Restitution an wertvollen Schnitzereien im richtigen Verhältnis, so sind 26 Exemplare von insgesamt 7000 gestohlenen Arbeiten geradezu lächerlich. Andererseits: 26 Stücke sind nicht nichts. Da sind mannsgroßge Statuen vergangener Könige dabei, wie jene der Monarchen Ghézo, Glélé oder Behanzin. Einen davon, König Ghézo, den John Boyega im Film The Woman King verkörpert, lässt Mati Diop zu Wort kommen. Ein tiefes, gurgelndes Grollen ist zu hören, erst nach ein einigen Sekunden lässt sich dieses abyssale Grummeln als eine uralte Stimme wahrnehmen, gesprochen vom haitianischen Schriftsteller Makenzy Orcel. Ghézo berichtet von einer fast hundert Jahre währenden Nacht, umschreibt sein Empfinden, umschreibt mit blumigen, hochtrabend poetischen Worten die Ankunft daheim. Meist ertönt diese Stimme als Hörspiel, da sonst nichts zu sehen ist außer vielleicht das dunkle Innere einer dieser Holzkisten, mit denen die Artefakte nach Cotonou transportiert werden, direkt in den Präsidentenpalast, um später ins Volkskundemuseum in Abomey umgesiedelt zu werden.

Klar ist so eine Rückführung ein Bekräftigen des Nationalbewusstseins eines Landes, das wie fast jedes in Afrika unter europäischen Kolonialherren gelitten hat. Benin selbst wurde von den Franzosen unterworfen. Diese nahmen sich, was Ihnen gefiel. Eine Schande und eine Schuld natürlich, die, warum auch immer, nicht schon längst getilgt wurde. Doch auf Schätzen sitzt nicht nur ein Drache, sondern auch ein stolzes Volk wie das der Franzosen. Als Verbrechen sieht Mati Diop das Ganze eher weniger, vielmehr als das Nachwehen einer unglücklichen Vergangenheit. Zu einem ganz anderen, recht einfallslosen Stil gelangt ihr Film vorallem dann, wenn sie diesmal keine Statue, sondern die Studenten einer Uni zu Wort kommen lässt. Dort wird über das Damals und Heute diskutiert. Über Geschichte, kulturelle Identität und der Arroganz Europas. All das mag ja ganz interessant sein. Durch Ghézos Stimme auch ein bisschen metaphysisch. Doch diese etwas mehr als eine Stunde Film bleibt schal.

Dokumentieren kann natürlich bedeuten, Orte, Handlungen und Gespräche einfach nur abzufilmen. Im zeitgeistigen Dokfilm behält man sein Publikum informationstechnisch gerne im Ungewissen. Ein hoher Prozentsatz an Fakten darf sich der Zuseher proaktiv selbst organisieren, denn tut er das nicht, bleibt künstlerisches Halbwissen als Pseudodokumentation, die keine Wissensbasis schafft, nicht mal unter Verwendung von Archivmaterial, das zu verwenden gerade in Dahomey naheliegend gewesen wäre. Doch Mati Diop wählt, ähnlich wie Sarah Jessica Rinland in Monólogo Colectivo, die Form des subjektiven Essays, ohne einen Bildungsauftrag erfüllen zu wollen. Dies zu erreichen obliegt wohl eher dem konservativen Fernsehformat und nicht dem Kino. Im Kino fühlt sich der Dokumentarfilm keinen Aufgaben mehr verpflichtet, das Genre zerfasert und zerfranst Richtung assoziativer Collage mitsamt informativer Einsprengseln. Nahe kommt man der Thematik dabei kaum, die Diskussionsrunde der Studenten in der zweiten halben Stunde ist so prickelnd wie ein Vorlesung, deren Inhalt repetitiv wird. So bleibt Dahomey zwar ambitioniert, aber bruchstückhaft.

Dahomey (2024)