One Battle After Another (2025)

DER DUDE DES UMBRUCHS

7/10


© 2025 Warner Bros. Pictures


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: PAUL THOMAS ANDERSON

DREHBUCH: PAUL THOMAS ANDERSON, NACH DEM ROMAN VON THOMAS PYNCHON

KAMERA: MICHAEL BAUMAN

CAST: LEONARDO DICAPRIO, SEAN PENN, CHASE INFINITI, TEYANA TAYLOR, REGINA HALL, BENICIO DEL TORO, WOOD HARRIS, ALANA HAIM, D. W. MOFFETT, TONY GOLDWYN, ERIC SCHWEIG U. A.

LÄNGE: 2 STD 42 MIN


Gerade noch auf der Couch, vernebelt bis dorthinaus, im Fernsehen läuft The Battle of Algiers, untermalt von den Takten eines Ennio Morricone, da läutet auch schon das Festnetz. Wie denn, was denn? Ein verfilzter Leo DiCaprio, der sich mal ordentlich gehen lassen darf, wird eiskalt abgeduscht, als sich Stimmen melden, die vor sechzehn Jahren zum letzten mal an sein Ohr drangen. Die Revoluzzer sind wieder da, und das niemals oder nur langsam älter werdende, unrasierte Babyface mit fettiger Mähne soll sich sputen! Natürlich kommt der Mann dann doch irgendwie in die Gänge, aber nur so, als wäre er hinter sich selbst her, ohne sich einzuholen. Doch wie heisst es so schön: Move your ass, your mind will follow.

Revolution ist geil

Nach diesem Leitsatz stolpert der Star also durch ein Chaos aus Staatsgewalt und den Morast der Verzweiflung ob vergessener Passwörter. Wir kennen das – wir scheitern, wenn wir uns bei unserem Lieblingsstreamer einloggen wollen, wenn der mal ein Update hatte. Es ist zum Haareraufen und Speichelspucken, zum Zetern und Schimpfen – all das, was DiCaprio gut kann und gerne tun will. Auf diese Weise wird uns allen aber klar: Auch wir könnten, wenn die Kacke so sehr am Dampfen ist, unseren inneren Schweinehund, der da als Couchpotato Wurzeln schlägt, ins Gesicht schlagen, uns aufraffen und den Widerstand besingen – gegen die weiße Herrenrasse, gegen den Faschismus, gegen die Indoktrinierung von rechtem Gedankengut. Denn: Revolution ist geil. Saugeil sogar. Paul Thomas Anderson findet das genauso cool. Zumindest so sehr wie den Autor Thomas Pynchon, aus dessen Schaffen er nun den zweiten, seiner Meinung nach einzig verfilmbaren Roman auf die Leinwand stemmt – allerdings nicht nur aus dem Grund, um nächstes Jahr bei den Filmpreisen groß abzuräumen. Sondern, weil sich Pynchon anscheinend maßlos gut dafür eignet, seinen individuellen Filmstil zu tragen, über hügelige Straßen, an militanten Nonnen vorbei, durch muffige Fluchtwege unter der Erde bis hin zu Sean Penns völlig entgleister Visage, dessen Mimik fast schon einen Film im Film darstellt.

Linksradikale Ballerfrauen

Diese Idee von der geilen Revolution, die muss Anderson ausschlachten. Die Agenden sind wohl zweitrangig, obwohl uns klar wird: Ja, es geht um Migration, ob illegal oder nicht, um Ausweisung, um Abschiebung, um die Brandmarkung aller nicht in den USA Geborenen als Drogenhändler, Katzenfresser und Streitsüchtige, die für Unreinheit in einer Reagan/Trumpwelt sorgen – schließlich sind die Ideen des Möchtegern-Alleinherrschers über die ganze Welt alle nicht neu, sondern halbwegs aufgetaut, um sie den Leuten zwischen Arsch und Couch zu schieben, als bequemes Kissen, weil die Sitzschwielen aufgrund der vielen Bequemlichkeit nicht mehr ausgesessen werden können. Doch anstatt sich den politischen Umständen, Umwälzungen und dem Kern der Sache hinzugeben, ist es wohl besser, die Ruppigkeit der Revolution als Ikonographien der gewaltbereiten Aufsässigkeit hinzustellen, ohne jemals darin die Chance ersichtlich machen zu können, dass all diese linksradikalen Ballerfrauen, ob hochschwanger oder im Tütü, mit ihrem Modus Operandi auch nur irgendetwas am System zu ändern.

Mehr als ein Thriller?

Revolution ist so ein Wort, das klingt nach Che Guevara und vielleicht auch Krieg der Sterne, nach rotzfrechen Heldinnen und Helden, die als schnöde Kriminelle die gute Sache nur noch kolportieren. Mit dieser Prämisse hat One Battle After Another so seine Probleme – als „Film der Stunde“, wie manche sagen, gibt Anderson seinem schauspielerischen Sprengkommando eine allzu lange Lunte in die Hand. Sie brennt und brennt, und währenddessen tut sich ein überraschend geradliniger und überhaupt nicht sonderlich komplexer Thriller auf, der in seinen besten Momenten die Absurdität von Breaking Bad atmet, orientierungslos grimassierend im Niemandsland des wüstenhaften Grenzgebiets – glutheisse Kulissen, die DiCaprio niemals dazu bewegen, seinen Bademantel abzulegen, denn der hat schließlich jetzt schon so sehr Kultstatus, dass sich das Outfit dieses Spätrevoluzzers bereits schon beim Faschingsprinzen bestellen lässt. Der Thriller aber ist handwerklich so sehr ausgereift, dass es allemal für denkwürdiges Kino reicht. Etwas gar penetrant mit Klavierklimpern unterlegt, sind nach einem grob gehobelten Epilog, der keine Chance dafür lässt, mit den Figuren warm zu werden, die Rechten und Linken positioniert. Erst jetzt sprudelt Anderson mit seinem Können nur so hervor, setzt groteske Sequenzen, Arthouse-Optik und Robert Altman-Stilistik, in Kubrick‘schem Weitwinkel und lakonischer Ironie.

Wenn am Ende die irre Suspense in einer schwindelerregenden Berg- und Talfahrt einer Autoverfolgungsjagd die niemals ihrem Schicksal entkommenden Gestalten aufeinandertreffen lässt, hat man das Gefühl, etwas Erfahrenswürdiges gesehen zu haben, etwas filmgeschichtlich Kultiges, und damit meine ich nicht zwingend Sean Penn, der hier als zum Femdschämen ideologisierter Tintifax DiCaprio die Show stiehlt. Wohl eher ist es die Erkenntnis, dass das Private, Intime, in dessen Dunstkreis sich jeder selbst der Nächste ist, weit mehr Priorität hat als der weltbewegende Umbruch, zu dem es nie kommt, weil immer wieder jemand anderer im Weg steht, dem das Hemd näher ist als der Rock.

One Battle After Another (2025)

Her Will Be Done (2025)

BETEN AUF TEUFEL KOMM RAUS

5,5/10


© 2025 WTFilms


ORIGINALTITEL: QUE MA VOLONTÉ SOIT FAITE

LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN 2025

REGIE / DREHBUCH: JULIA KOWALSKI

KAMERA: SIMON BEAUFILS

CAST: MARIA WRÓBEL, ROXANE MESQUIDA, WOJCIECH SKIBIŃSKI, KUBA DYNIEWICZ, JEAN-BAPTISTE DURAND, RAPHAËL THIÉRY U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Warum ich lieber in der Stadt lebe als am Land? Abgesehen davon, dass ich nicht ein bis zwei Stunden mit dem Auto fahren muss, um in ein Kino zu gelangen, wird das Urbane zum Schmelztiegel allerlei gesellschaftspolitischer Strömungen, die natürlich nicht immer progressiv sind, die sich aber mit all dem Regressiven die Waage halten und wo das Morgen nicht nur mit dem Hahnenschrei assoziiert wird. Gut, das mag vielleicht etwas polemisch sein, aber nicht von ungefähr greifen Filmemacher in der Darstellung ruraler Umstände auf einen Status Quo zurück, der in längst vergangene und niemals zu hinterfragende Traditionen tief einzementiert jegliche Progression als etwas Schädliches erachtet, während das Schädliche und Diskriminierende einfach, weil es „immer schon so wahr“ die Ewigkeit überdauern muss. Beharrlichkeit und Konservativismus ist Gift für den psychosozialen Fortschritt – kein Wunder, dass die Landflucht in Andreas Prohaskas neuem Gesellschaftshorror Welcome Home Baby, in welchem störrische, altvaterische Mystik auch gerne den Opfertisch bereitet, zur unheilvollen Metapher und das Aussterben dörflicher Mikrokosmen als Albtraum inszeniert wird. Kein Wunder auch, dass Ari Aster in Midsommar zum sonnenhellen Horror ruft oder Brigitte Hobmeier in Elisabeth Scharangs Wald als heimkehrende Städterin vor allem auf toxische, männliche Skepsis trifft. In solchen Gemeinden ist bis zum heutigen Tag die patriarchale Ordnung immer noch jene, gegen die sich niemand aufzulehnen hat. Rollenbilder sind klar verteilt, die Macht liegt beim physisch Stärkeren, und das sei der Mann.

Angstfiguren der Selbstbestimmung

Dem „starken“ Geschlecht, selbst seinem Sexualtrieb unterworfen, war die Unterwerfung der Frau nur genehm. Widerworte oder andere Weltsichten mussten schließlich verteufelt werden, womit wir bei den Hexen wären. Forderte eine Frau ihre Rechte, und willigte nicht ein, zu tun, was der Vater, der Bruder oder der Mann befahl, brach die dörfliche Ordnung zusammen, die Inquisition trat an den Richtertisch, die Ächtung schritt fort. Alles nur schreckliche Vergangenheit? In dieser Systematik vielleicht, nicht aber in der übergriffigen Selbstüberschätzung derber Trunkenbolde, die in Her Will Be Done mit Tunnelblick und erbsengroßem Hirn während den letzten Zuckungen folklorer Feierlichkeiten den Geschlechtsakt gewaltsam einfordern wollen. Doch das ist ein Moment in Julia Kowalskis Coming of Age-Mystery, der bereits schon, irgendwo in der Mitte des Films, den Wendepunkt markiert, den Anfang vom Umsturz verknöcherter Strukturen.

Unterdrückung des Ausbruchs

Im Zentrum des Geschehens, irgendwo in der französischen Provinz an einem Bauernhof, muss die junge Nawojka (Maria Wróbel) damit klarkommen, das Erbe ihrer Mutter in sich zu tragen – nämlich das Böse, den Teufel, den Antichrist – kurz: alles Hexische, was letztlich zu deren Tod geführt hat. Was tut man schließlich, um diese ketzerischen Impulse zu unterdrücken? Man betet und kniet auf Teufel komm raus, muss unter Krämpfen und muskelzehrenden Anfällen dagegen ankämpfen, damit die Dunkelheit den juvenilen Geist nicht übermannt. Alles nur Einbildung oder ist da tatsächlich was dran? Die Brüder und der Vater achten schon darauf, das Nawojka ihre Pflichten erfüllt – schließlich ist dieses Familie eine patriarchal geführte, und die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen – an die lässt sich gar nicht denken. Bis Sandra auftaucht, die Erbin des Nachbarhofs – unkonventionell, verführerisch, selbstbestimmt. Ein No-Go für alle Männer, die Frauen gerne unter ihrer Kuratel haben wollen. Zwischen Sandra und Nawojka entstehen Synergien, die das unvermeidliche Verhängnis heraufbeschwören, allerdings auch einen Befreiungsakt, der nicht unblutig vonstatten geht.

Mit Konservativem gegen das Konservative

Julia Kowalski, längst nicht fertig mit den erzkonservativen Strukturen ihrer elterlichen Heimat, nämlich Polen, hat mit ihrer feministischen Mystery notwendige Akzente gesetzt – ganz klar müssen solche Filme richtig interpretiert werden, eine konservative Zielgruppe kann mit solchen Werken wohl gar nichts anfangen und fühlt sich im Handeln des traditionellen Mobs wohl in den eigenen Ansichten bestätigt. Für alle anderen, die den Paradigmenwechsel in unserer Geschlechtergesellschaft befürworten, mag Her Will Be Done nicht nur offene Türen einrennen – die Idee, der Aufbau und die narrative Struktur der Geschichte gerät mitunter etwas zögerlich, situationsverliebt, der Stimmung und des Settings verhaftet.

Aller Anfang ist bei Filmen stets schwer, nicht weniger als das Finden eines runden Abschlusses. Kowalski muss sich bemühen, um ihre Parabel des Aufbegehrens und der Identitätsfindung auf die richtigen Schienen zu setzen. Wie die Verhältnisse stehen, wird bald klar, eher noch, als Kowalski sich dabei gemüßigt fühlt, die Sondierung der Umstände als vollendetes erstes Kapitel abzuschließen und die Essenz des Ganzen freizulegen. Dabei ist selbst in der Darstellung des Abgesangs auf den Konservativismus eben genau das Konservative zu finden; klassische bildliche Allegorien, viel Hexenspuk und die finsteren Mächte der Natur. Das wirkt letztlich allzu bieder, das Konfrontieren der Alteingesessenen mit nackten Tatsachen wird der Höhepunkt eines milden, grobkörnigen Gesellschaftsthrillers, der zwar aufschreit, aber nur leise – damit niemand den Hahnenschrei überhört, der den falsch verstandenen Morgen einkräht.

Her Will Be Done (2025)

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

OBEN OHNE GEGEN PUTIN

5/10


© 2024 X Verleih AG


LAND / JAHR: FRANKREICH, UKRAINE, UNGARN 2024

REGIE: CHARLÈNE FAVIER

DREHBUCH: DIANE BRASSEUR, CHARLÈNE FAVIER, ANTOINE LACOMBLEZ

KAMERA: ERIC DUMONT

CAST: ALBINA KORZH, MARYNA KOSHKINA, LADA KOROVAI, OKSANA ZHDANOVA, YOANN ZIMMER, NOÉE ABITA, MARIIA KOKSHAIKINA, OLESYA OSTROVSKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Das Kino nimmt nicht nur zeitgemäße, sondern auch längst überfällige Agenden ernst. Und keine davon erfährt derzeit mehr Unterstützung quer durch alle Genres wie jene, die zum Ziel hat, die Frau dem Mann endlich gleichzustellen. Das beginnt stets immer damit, erstmal darüber zu berichten, was alles jahrhunderte- und jahrzehntelang im Argen lag. Das beginnt bei historischen Werken wie dem italienischen Familienepos Vermiglio und reicht mit Arbeiten wie Wunderschöner proaktiv und zukunftsweisend bis in die direkte Gegenwart, die gar keine Gegenwart mehr sein will, sondern eine zuversichtliche Zukunft, in der vieles längst besser gemacht und so manch diskriminierender Gap fast schon überwunden scheint. Weil alle zusammenhalten, alle Frauen, und vielleicht auch ein paar Männer.

Dazwischen gibt es biographische Werke wie Oxana – Mein Leben für Freiheit. Deutschsprachige Titel-Anhängsel wie diese sind meist zu generisch, um wirklich mehr Aufschluss darüber zu geben, worum es in diesen Filmen eigentlich geht. Für ein Publikum, das sich schon seit jeher interessiert und aufgeschlossen hinsichtlich feministischer Bestrebungen gezeigt hat, braucht es das nicht, da reicht der Name Oksana Schatschko und der Überbegriff Femen, um zu wissen, welche gesellschaftspolitische Wissenslücke hier geschlossen werden kann. Bei Femen weiß man vielleicht noch so ungefähr, dass hier Aktivistinnen mit textilfreier Oberweite konservativen Apparatschniks das Leben schwer gemacht hatten, natürlich gewaltfrei und bereit dafür, selbst Gewalt zu erleiden, denn abgeführt wurden sie immer. Dann aber war das Ziel bereits erreicht – europäische Medien und auch jene darüber hinaus hatten, was sie brauchten. Femen wurde weltbekannt, der Finger lag in den offenen Wunden, die Saat zum Aufstand war ausgebracht. Hinter all diesen Bemühungen, Entbehrungen und offener Rebellion stand Oksana Schatschko als Gründungsmitglied einer Initiative, die das Zeug hatte, starre patriarchale Krusten aufzubrechen.

Ihr schenkt Regisseurin Charlène Favier ein filmisches Denkmal, chronologisch geordnet und gleichsam auch wieder nicht, denn was wiegt schon schwerer als das Datum des freiwillig herbeigeführten Todes? Dabei präsentiert sich Oksana nicht als Opfer für den guten Zweck, nicht als Märtyrerin oder gar moderne Heilige, die bis zur letzten Sekunde für die gute Sache kämpft. Favier stellt die junge Ukrainerin, die sich mit 31 Jahren das Leben nahm, vorallem als Künstlerin dar, die mit der Eigendynamik ihrer mitersonnenen aktivistischen Idee letztlich nicht klarkommen konnte.

Als Künstlerin oder Künstler ist man vorrangig mit sich selbst beschäftigt, der Geltungsdrang und die Selbstbestätigung durch die Bewunderung anderer ist die Ernte, die man einfahren will. Da geht es weniger um die Sache an sich als um das Ego, das im Mittelpunkt bleiben will. Seltsamerweise hätte, zumindest laut Film, Oksana dank ihrer virtuosen Darstellung provokanter Ikonen nur durch offene Türen treten müssen, um nochmal ganz groß durchzustarten – das Problem aber lag offensichtlich woanders. Eine Dunkelheit, die Favier scheinbar ausspart und nicht näher ergründen will. Somit bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit sehr an der Oberfläche, scheint fast schon Furcht davor zu haben, das Kind beim Namen zu nennen. Viel anderes muss hier in diesem Leben schiefgelaufen sein, doch das Psychodrama bleibt außen vor. Als Biografie, die sich in den letzten Lebenstag des 23. Juli 2018 einbettet, bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit konventionell und routiniert. Die Ukrainerin Albina Korzh gibt der Femen-Ikone ein hübsches Gesicht, doch das ist auch schon alles. Bewegend mögen, wie so oft in Biografien, die Fakten sein, der Bezug zur jüngeren Geschichte Europas, die in einer Dokumentation aber genauso zu finden sind.

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

Nawalny (2022)

DER VERZWEIFELTE KAMPF DES GUTEN

8,5/10


© 2022 Niki Waltl / Polyfilm


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DANIEL ROHER

DREHBUCH: ODESSA RAE, SHANE BORIS, MARIJA PEWTSCHICH

BESETZUNG: ALEXEI NAWALNY, JULIJA BORISSOWNA NAWALNAJA, CHRISTO GROSEW, DASHA NAWALNAJA, ZAKHAR NAWALNY, MARIJA PEWTSCHICH, LEONID WOLKOW U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Am Ende liegt er sterbend auf dem Schlachtfeld, alleine und mit der Wut des Gerechten in den Eingeweiden. Wohlwissend, bis zuletzt für das Gute gekämpft zu haben. Gegen Machtmissbrauch, gegen Unterdrückung, gegen Verfolgung, Mord und Kerker. Für die Freiheit der Meinung und der schillernden Vielfalt des Lebens. Egal wie, egal mit wem. Da kann es einem noch so erschwert werden, die genauen Umstände von Alexei Nawalnys Ableben herauszufinden: Zählt man eins und eins zusammen, wird sonnenklar, dass Putins größter und einflussreichster Gegner gezielt beseitigt wurde.

Heuer, am 14. Februar 2025, jährte sich Nawalnys Todestag zum ersten Mal. Dessen Witwe, Julija Borissowna Nawalnaja, versucht seitdem aus dem Exil heraus, das russische Regime zu bekämpfen. Die Nachrichten berichten davon wenig. Dort kommt nur zur Sprache, was die Gemüter der Weltbevölkerung tangiert, vorzugsweise die politische Horrorgroteske um Trump sowie das Erstarken und Nicht-Erstarken faschistoider Gruppierungen in Europa. Umso wichtiger sind Dokumentationen wie diese, die Enthusiasmus, Willensstärke und Vehemenz genug besitzen, um ein Thema so weit zusammenzufassen, dass es zum Pflichtpogramm für jene wird, die Aufklärung benötigen, die sich weiterbilden müssen und in deren Händen die Zukunft einer Menschheit liegt, die sich durch Freiheit, Gleichheit und die Vernunft des Bescheidenen auszeichnet.

Auch all die anderen, die sich ohnehin unabhängig von allen Narrativen informieren wollen, und wissen, was Nawalny für einen Kampf geleistet hat, sollten den Oscar-geadelten Dokumentarfilm aus 2023 auf dem Schirm haben. Oder bestenfalls gehabt haben. Der Aktivist selbst kommt oft zu Wort, er sitzt während der Covid-Pandemie in einem nachgebildeten Café der Black Forest Studios im Schwarzwald und berichtet vom Drama seiner Vergiftung. Soviel gaben auch die Medien preis: Denn 2020 wurde das Nervengift Nowitschok dem Politiker beinahe zum letalen Verhängnis. Allerdings nur beinahe. Er konnte genesen und die Zeit nutzen, um mithilfe der Rechercheplattform Bellingcat herauszufinden, wer wohl hinter diesem perfiden Mordversuch stecken könnte. Spätestens da wird der Film zum hochspannenden und unfassbar erschreckenden Investigationsthriller, der so manches fiktive Studiowerk weit abgeschlagen zurücklässt.

Wie es Daniel Roher gelingt, Alexei Nawalny nicht von der Seite zu weichen, bei emotional Privatem nicht aufzufallen und gerade jene denkwürdigen und ausschlaggebenden Momente mitzufilmen, die das russische Regime als Mord-Maschinerie entlarven, sieht man in diesem Genre mitunter äußerst selten. Meist versuchen sich selbst ins Licht der Kamera rückende Alleinunterhalter wie Michael Moore der spektakulär inszenierten Wahrheit auf den Grund zu gehen. Daniel Roher macht das anders. Sein Star ist nicht er selbst, sondern der Held des Jahrzehnts. Er lässt ihn tun und machen, hält die Kamera drauf; kann womöglich, im Moment der Entlarvung, selbst kaum glauben, was er da gerade dokumentiert. Es ist ein Gänsehautmoment, der die Tatsache als Schreckgespenst darstellt, das von Nawalny gebändigt wird. Ein Triumph, diese Szene. Ein Triumph, dieser Film.

Umso tragischer der nicht mehr darin enthaltene, sondern in den Medien dokumentierte Epilog von Nawalnys Verhaftung, des Prozesses, der Inhaftierung und des Todes zwei Jahre später. Trotz der schmerzlichen Niederlage hat dieser Verfechter für das Gute in Kooperation mit dem so wichtigen Medium Film die Welt zwar zu einem noch traurigeren, jedoch die Dinge besser begreifenden Ort gemacht.

Nawalny (2022)

Mond (2024)

AUDIENZ IM GOLDENEN KÄFIG

7,5/10


Mond© 2024 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: KURDWIN AYUB

CAST: FLORENTINA HOLZINGER, ANDRIA TAYEH, CELINA SARHAN, NAGHAM ABU BAKER, OMAR ALMAJALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


In Kurdwin Ayubs Vorgängerfilm Sonne ging es noch darum, wie sehr es schicklich ist, als junge Muslimin auf Social Media jugendlicher Lebensfreude Ausdruck zu verleihen – ganz ohne Hijab und anderweitiger kulturell bedingter Verhüllungen. Ein leichtfüßiger, offener Versuch, auf experimentellem Wege ein Problem anzusprechen – dem es aber allerdings an Biss fehlt. Nach dem strahlenden Zentralgestirn rückt aber nun der Erdtrabant in den Vordergrund – er ist titelgebend für den Mittelteil einer geplanten Trilogie, und dieser lässt Performancekünstlerin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle zu Luna werden, zu einer um einen zentralen Missstand kreisenden Satelliten, der sich anfangs nicht imstande sieht, das Geschehen auf diesem fremden Planeten zu beeinflussen, nicht mal, was die Gezeiten betrifft. Dieses fremde und doch so vertraute Gestirn ist ein goldener Käfig für drei weibliche Geschwister im Teenageralter, die auf Anweisen ihres größeren Bruders hin zur körperlichen Ertüchtigung angehalten werden. Holzinger gibt in Ayubs Film eine erfahrene Martial Arts-Sportlerin, deren Bestzeiten allerdings vorbei zu sein scheinen. Nach einer Niederlage im Wettkampf verdingt sie sich als Trainerin, bis sie die Anfrage eines steinreichen Jordaniers erhält, der Protagonistin Sarah gerne für einen Monat nach Amman einlädt, um seinen Schwestern beizubringen, wie man kämpft, in Form bleibt und vor allem eins: Disziplin erlernt.

Es mag der Luxus und der Prunk noch so sehr schillern – Holzingers Charakter Sarah ist nicht jemand, der sich davon blenden lässt. Ihr geerdetes Welt- und Werteempfinden kollidiert schon bald mit dem obskuren Regelwerk eines elitären, patriarchalen Haushalts, in welchem die jungen Frauen nichts zu sagen haben. Ihre von den Männern verordnete Gefangenschaft lässt sich zwar aushalten, doch Freiheiten gibt es kaum welche – wenn, dann nur Langeweile und übersättigter Luxus in kalten Räumen. Sarah wird zur Beobachterin eines dysfunktionalen Familienlebens, das nur so tut, als wäre es liberal genug, um westliche Besucher nicht vor den Kopf zu stoßen. Eine der Mädchen zieht die selbstbewusste Trainerin ins Vertrauen – in der Hoffnung, dass diese etwas ändern könnte an einem Status Quo, der so scheint, als könnte niemand ihn ändern.

Kurdwin Ayub beherrscht ihr Handwerk so souverän, als wäre sie schon lange Zeit im Filmbiz unterwegs, dabei ist Mond erst ihr zweiter Langfilm. Ein Naturtalent, könnte man meinen, vor allem auch deshalb, weil Ayub ein komplexes Thema verfolgt, das mit nur einem Film längst nicht auserzählt ist, wofür es zahlreiche Blickwinkel braucht, die zur Sprache gebracht und in Bilder gepackt werden müssen. Sowohl Konzept als auch das Skript und die Regie sind von ihr, gefördert und auf positive Weise beeinflusst durch alte Hasen auf ihrem Gebiet wie zum Beispiel Ulrich Seidl. Das Schöne daran: Ayub kopiert den Lehrmeister nicht, sondern macht ihr eigenes Ding. Sie kopiert auch nicht Regiekollegin Veronika Franz, die bei ihren Filmen ausführende Funktionen übernimmt. Ayub ist eine Quer- und Alleindenkerin, eine originäre Künstlerin, die in Mond, noch viel mehr als in Sonne, ihren eigenen Rhythmus gefunden hat. Und der ist streng, straff und dicht. Obwohl Mond per se kein Thriller ist, fühlt er sich an wie einer. Das liegt an den effizient verfassten Passagen des Drehbuchs, und an der Fähigkeit, Wesentliches vom Überflüssigen zu unterscheiden. Was bleibt, ist in Mond das Wesentliche. Ayubs Szenen erlauben viel Beobachtung und ruhende Momente, in denen Konflikte wachsen, die sich allesamt relevant anfühlen. Nichts ist nur so daherinszeniert, dahergesagt oder lediglich ausprobiert. Das authentische, ungekünstelte Spiel Holzingers unterstreicht diese Direktheit, dieses Hindurchgreifen zwischen die Gitterstäbe eines goldenen Käfigs. Dahinter die unterdrückte Weiblichkeit durch eine längst obsolete, fatale Männerkultur. Zivilcourage wird dabei nicht zum plakativen Heldenmut, sondern zur ambivalenten Notwendigkeit, zum Pflichtgefühl aufgrund zu verteidigender Werte.

Mond ist ein hochspannendes, faszinierendes Stück Konfliktkino, trotz oder gerade wegen seiner passiv-aggressiven Zurückhaltung. Raum für Persönliches und Raum für dezenten Suspense formulieren diesen Film zu einem prägnanten, klaren Statement. Und das nur mit wenigen, aber präzise gesetzten Kniffen.

Mond (2024)

Shahed – The Witness (2024)

PORTRAIT EINER KÄMPFERIN

6,5/10


shahed© 2024 Viennale


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: NADER SAEIVAR

DREHBUCH: JAFAR PANAHI, NADER SAEIVAR

CAST: MARYAM BOUBANI, NADER NADERPOUR, HANA KAMKAR, ABBAS IMANI, GHAZAL SHOJAEI U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Männer im Iran können tun und lassen, was sie wollen. So ein politisches Ungleichgewicht zum Leidwesen aller dort lebenden Frauen nennt man Patriarchat. Es wird angeführt von Würdenträgern, die Staat und Glaube nicht trennen wollen. Frauen müssen gehorchen, kuschen, sich unterwerfen. Das beginnt mit dem Tragen des Hijab und endet vielleicht damit, als Kollateralschaden für männlichen Machtwillen mit dem Leben zu bezahlen. Wie es aussieht, scheint genau das in Shahed – The Witness passiert zu sein. Vor dem Hintergrund gehörverschaffender Demonstrationen gegen das Regime und den darauffolgenden Unruhen in Teheran aufgrund von Todesfällen durch willkürliche Polizeigewalt sieht sich die längst pensionierte Lehrerin Tarlan vor Herausforderungen gestellt, die kaum zu bewältigen sind. Längst erfahren im sozialpolitischen Aktivismus, muss sie diesmal mit ansehen, wie ihre Ziehtochter von ihrem Ehegatten zwangsbestimmt wird. Die Schule für traditionellen Tanz hat sie zu schließen, fördert dieser doch sündigen Ungehorsam. Tarlan bemüht sich, zu intervenieren und zu vermitteln, diese Fähigkeit beherrscht sie schließlich gut. Doch anscheinend hilft das alles nichts: als Tarlan im Haus ihrer Tochter nach dem Rechten sehen will, wird sie Zeugin einer vom Schwiegersohn begangenen Straftat. Ob es sich um den reglosen Körper der Person im Schlafzimmer um die eigene Ehefrau handelt, kann Tarlan nicht genau bestimmen. Doch die Gewissheit folgt auf dem Fuß, als diese tot aufgefunden wird. Der Dreck am Stecken des eitlen Geschäftsmannes ist unübersehbar, da kann die rechtschaffene Seniorin noch so sehr gebeten werden, die Sache auf sich beruhen zu lassen: Wo die Ungerechtigkeit Opfer fordert, lässt sich nicht wegsehen.

Diesem Dorn im Auge einflussreicher Männer gibt Maryam Boubani in dieser deutsch-österreichischen Produktion eine eindrucksvolle Gestalt. Niemals müde, und doch der Erschöpfung nahe, scheint es die Pflicht jener, aufzubegehren, die sich darin noch imstande fühlen. Dass Tarlan dabei das Feld den Jungen überlässt, so zum Beispiel der Tochter der Ermordeten, kommt ihr erstmal gar nicht in den Sinn. Regisseur Nader Saeivar, der mit Jafar Panahi (No Bears) zu diesem Film gemeinsam das Drehbuch verfasst hat, folgt in seinem sozialpolitischen Justizdrama, in welchem es ganz viel um Familie geht, einer bereits etablierten Tradition hellwachen, kritischen Kinodenkens, die Ashgar Farhadi mit seinen neorealistischen Meisterwerken längst anführt. Panahi hat sich dabei mit No Bears ein bisschen zu sehr selbst inszeniert, während Saeivar die Bühne zu Gänze seiner vor Kraft, Einfallsreichtum und Beharrlichkeit strotzenden Protagonistin überlässt. Shahed – The Witness funktioniert daher viel besser als fiktives Portrait einer Kämpferin und weniger als politisches Statement. Ein Einzelschicksal, verflochten mit anderen, tragischen Schicksalen, und gleichermaßen auch ein Aufruf, den Blick zu heben, um zu erkennen, dass Kämpfernaturen nicht allein sein müssen.

Da sich Saeivar sehr auf die Sichtweise einer Frau beschränkt, fällt sein Film als psychologische Miniatur auf; als streng positioniertes, persönliches Hazardspiel, das große Ganze anderen überlassend. So aber wird klar, wieviel Wirkung Einzelne erzielen können. Mit Shahed – The Witness wird das kritische Kino, das den Problemstaat Iran ins Visier nimmt, um eine Facette, einen Blickwinkel erweitert. Mag sein, dass inhaltlich wenig mehr Erhellendes übrig bleibt und nur wiederholt wird, was andere längst gesagt haben. Andererseits tut es gut, das gesprochene Wort nochmal zu unterstreichen. Und dabei die Generation der Älteren in den Fokus zu stellen.

Shahed – The Witness (2024)

Rebel Moon – Teil 1: Kind des Feuers (2023)

BAUCHFLECK AUF KOSMISCHER URSUPPE

2/10


REBEL MOON© 2023 Netflix


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ZACK SNYDER

DREHBUCH: SHAY HATTEN, KURT JOHNSTAD & ZACK SNYDER

CAST: SOFIA BOUTELLA, CHARLIE HUNNAM, MICHEL HUISMAN, ED SKREIN, DJIMON HOUNSOU, JENA MALONE, RAY FISHER, COREY STOLL, FRA FEE, CLEOPATRA COLEMAN, STAZ NAIR U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


George Lucas wollte sie nicht: Zack Snyder und sein selbst verfasstes Drehbuch zu einer Star Wars- Episode, die einfach gedreht werden musste, weil das Skript so gut sei. Als Arbeitstitel könnte auf dessen Deckblatt auch Die Sieben Samurai im Weltraum gestanden haben, doch das Konzept der zusammengewürfelten Selbsthilfegruppe zur Verteidigung von was weiß ich was allem ist eine gefühlt tausende Male schon interpretierte und letztlich ausgelutschte Sache. Die Saat hätte unter Zack Snyder allerdings neu aufgehen können. Wir wissen, welch ein Visionär der Mann sein kann. Ich schätze seine Ausflüge ins DC-Universum – die Sprache, die er dabei zum Ausdruck brachte, klingt nach jener aus den Comics. Dem Director‘s Cut seiner Justice League räume ich an guten Tagen gar den Status eines Meisterwerks ein. Und 300 – der spartanische Widerstand gegen die Perser: Ein Stück Action-Avantgarde. Doch Snyder ist vermutlich einer, der, angeleitet, Großes vollbringen mag. Der aber, mit sich selbst alleingelassen, nicht so recht weiß, wo er ansetzen und wo er absetzen soll. Bestes Beispiel, nicht zu wissen, mit welchen Dosen er hantieren muss, ist Rebel Moon. Mit Abstand der schwächste Film des eben erst vergangenen Jahres.

Zack Snyder hat jede Menge Potenzial, darüber lässt sich meiner Ansicht nach gar nicht streiten. Was er allerdings nicht kann, zeigt der Auftakt eines Franchise, welches, ist der erste Teil mit einer Länge von knapp zweieinhalb Stunden mal durchgestreamt, zumindest bis zu diesem Punkt nichts und niemanden bereichert. Weder das Genre des Science-Fiction-Films noch die dem Phantastischen zugetane Zielgruppe. Dass da so einiges nicht rund läuft, lässt sich bereits in einer der ersten Einstellungen erkennen. Sofia Boutella, Ex-Mumie und Star Trek-Alien, beackert auf dem Mond Veldt auf vorsintflutliche Weise ein Feld, hinter ihr ein aubergineroter Sonnenuntergang. Irgendeine Bodenfrucht gräbt unsere spätere Heldin dabei aus, während sie Besuch aus dem Dorf bekommt, das eher einer Siedlung gleicht. Das alles hat den Touch einer schlecht beleuchteten Bühne. Sets wie diese ohne Tiefenwirkung unterliegen artifiziellen Effekten, die keine Stimmung vermitteln – nur eine von mehreren Unzulänglichkeiten, die der prognostizierten Epik von Snyders persönlichem Vorhaben im Wege stehen. Die Problematik beginnt zeitgleich mit der Wahl seiner Mittel auch mit dem zugrundeliegenden Plot.

Die ehemalige Elitesoldatin Kora dürfte vor einiger Zeit mit ihrem Raumschiff auf Veldt abgestürzt und von der Gemeinschaft der autarken Bauern aufgenommen worden sein. Ein besserer Weg, um aus einer tyrannischen Maschinerie wie jene des Regenten Basilarius auszusteigen, wird sich wohl kaum finden. Und dennoch reicht der Arm der Mutterwelt sogar so weit, um der archaischen und stark an Nordländer erinnernden Gemeinschaft ein Komitee zu schicken. Admiral Noble nämlich, gespielt von Ed Skrein und seiner Uniform sowie überhaupt dem ganzen Gehabe nach stark an einen gehirngewaschenen Psychopathen aus dem Nazi-Regime erinnernd, sucht wie seinerzeit im Star Wars-Universum der Großinquisitor und seine Handlanger nach Rebellen, die sich hier versteckt halten. Die Bösen verbreiten naturgemäß Angst und Schrecken, während Kora und Gunnar mithilfe des an Han Solo erinnernden Vagabunden Kai entwischen können, um quer durch die Galaxis zu fliegen und Leute zu rekrutieren, die sich später, Seite an Seite mit Zugpferd Boutella, dem Regime in den Weg stellen sollen.

Ein paar bemühte Story-Twists sollen der schalen Geschichte ein bisschen Würze verleihen – leider vergebens. Rebel Moon schmeckt nach nichts. Hat weder Atmosphäre noch Charme noch Wirkung. Eine verdünnte kosmische Ursuppe, die sich frei heraus und mit unverhohlener Dreistigkeit bei gefühlt allen Klassikern des Genres auf eine Weise bedient, die auffälliger nicht sein könnte. Natürlich mischt Star Wars ganz vorne mit, des weiteren Blade Runner, Snyders eigene DC-Filme und Matrix. Snyders gewählter Stil passt vorne und hinten nicht zusammen. Ackerbau und Viehzucht aus stromlosen Zeiten, Mittelalter gepaart mit Steampunk-Monarchismus, griechischen Heldensagen, Harry Potter und antiquarischem High-Tech. Was für ein Hybrid, ein filmisches Kuckuckskind, das überall mitnascht, um nur nichts Eigenes zu entwickeln. In diesem Stückwerk aus angerissenen Welten und mauen Effekten: ein ganzes Ensemble wenig interessanter, geradezu flacher Charaktere, deren Biographien man nicht kennen will, deren Schicksale einem egal sind; die so lieblos aufs Spielbrett gesetzt werden wie Bauernopfer beim Schach. Noch ein Seitenblick auf Star Wars gefällig? Da sind Luka, Leia, Han, Obi Wan und Chewbacca Seelen, die dank ihres Charismas ein ganzes galaktisches System aus ihren Angeln heben können. Blickt man wieder zurück auf Rebel Moon, bleibt nur Schmuck ohne Körper. Langweilig und generisch – fast so, als käme das Drehbuch aus dem Hexenkessel einer KI.

Spätestens, wenn sich Möchtegern-Waterloo Staz Nair mit nacktem Oberkörper allen Zweifeln erhaben auf einen pechschwarzen Greifen schwingt, übertüncht die unfreiwillige Komik letztlich all die halb ausgebackenen Versatzstücke. Die leicht erworbene Selbstgerechtigkeit einer jeden einzelnen Figur steht vielleicht Bat- oder Superman, aber keiner und keinem einzigen in dieser Truppe. Ed Skrein mag da noch wahren, was es zu wahren gibt, als verbissener, aber eindimensionaler Schurke. Dem Rest mag bei der Fahrt durch ein Asteroidenfeld der Parcour gelingen oder auch nicht – die Sorge darüber hält sich in Grenzen.

Rebel Moon – Teil 1: Kind des Feuers (2023)

How to Blow Up A Pipeline (2022)

BREAKING BAD FÜR DEN GUTEN ZWECK

7/10


howtoblowuppipeline© 2023 Plaion Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DANIEL GOLDHABER

DREHBUCH: ARIELA BARER, JORDAN SJOL & DANIEL GOLDHABER, NACH DEM BUCH VON ANDREAS MALM

CAST: ARIELA BARER, KRISTINE FROSETH, LUKAS GAGE, FORREST GOODLUCK, SASHA LANE, JAYME LAWSON, MARCUS SCRIBNER, JAKE WEARY, IRENE BEDARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Verbrechen zahlt sich aus? Vielleicht in der Politik, da merkt man nicht sofort, was im parlamentarischen Hinterzimmer alles beredet wird. Oder, wenn ein ganzes Volk an einem Strang zieht. Sowas nennt man dann Revolution, die wiederum Sinn macht, wenn Alleinherrschaften gestürzt werden sollen. Verbrechen aber im Gewand von linkem oder rechtem Idealismus zieht meist einen Rattenschwanz aus Ahndung und Vergeltung nach sich. Niemand kann verstehen, wie Gewalt – sei es nun gegen Menschen oder gegen Dinge – als gesetztes Zeichen für eine bessere oder andere Welt jemals genau dorthin führen soll. Um andere aufzurütteln? Die, die es vielleicht zum Umdenken bringen könnte, haben längst schon ihre Türen geöffnet, bevor sie eingerannt werden. Die anderen hängen in ihrer Borniertheit sowieso an ihrer Meinung. Und können statuierte Exempel wie im vorliegenden Film nur verurteilen oder geringschätzend belächeln.

Einen Kreuzzug gegen die kapitalistische Weltherrschaft zu führen ist, als würde man eine Festung mit Graffitisprays stürmen. Klimakleber blockieren zwar die Straße, blockieren aber auch ein Umdenken, weil Aktionen wie diese ganz andere Emotionen auslösen, nicht aber jene, die die Umwelt betreffen, die im Argen liegt. Idealisten, die eine Pipeline sprengen wollen, um den Ölfluss und damit die Konzernroutine zu stören, packen das Übel nicht an der Wurzel, sondern reißen dem Unkraut lediglich die Blätter aus. Ihre Vorgehensweise ist eine persönliche, und keine fürs globale Allgemeinwohl. Das erfährt man, wenn man sich How to Blow Up A Pipeline ansieht, basierend auf dem gleichnamigen Ratgeber für aktivistische Kriegsführung. In diesem Independentdrama treffen acht vom Leben im Stich gelassene, junge Menschen aufeinander, die sich in der Wüste von Texas einem Sabotageakt verschreiben, der, wie der Titel schon sagt, die Ölzufuhr eines Rohstoffgiganten an zwei auseinanderliegenden Stellen zumindest eine Zeit lang stoppen soll. In die Wege geleitet soll dies mit ordentlich Sprengstoff werden – einem vorzüglich selbst gemixten. Und schon erinnert das ganze Szenario ein bisschen an Breaking Bad – nur statt Crystal Meth, das ja wirklich nicht fürs Allgemeinwohl, sondern nur für den eigenen Profit hergestellt wird, mixt der in Sprengstoffen versierte Autodidakt Michael mit angehaltenem Atem und ruhiger Hand ein ganz anderes Pulver zusammen. Eines, dass Stahl, Nieten und alles andre in seine Einzelteile zerlegen soll. Die anderen sieben helfen dabei, füllen ganze Fässer mit Ammoniumnitrat, checken die Lage und schwören sich auf ein Gelingen des Anschlags ein, der tunlichst keine Menschenleben gefährden soll, denn schließlich geht es ja um die Menschlichkeit, um ein besseres Leben, um ein Umdenken. Mord wäre da das falsche Signal. Und Sachbeschädigung?

Regisseur Daniel Goldhaber bewundert seine acht Seelen, die im Winter der amerikanischen Wüste die Welt verändern wollen. Ja, er sympathisiert gar mit ihnen und erklärt sie zu Kreuzrittern, die sich Gehör verschaffen müssen. Andererseits aber schnipselt er ins fast schon semidokumentarische und genau beobachtete Making Of eines Anschlags die in groben Eckdaten zusammengefassten persönlichen Beweggründe jeder und jedes einzelnen. Dabei wird klar, dass selten der globale Zustand unserer Welt der Motor für die nun vor uns liegende Aktion darstellt, sondern ausschließlich persönliche Kränkungen, Benachteiligungen und gesundheitlicher Schaden. Ist das Ganze dann nicht eher eine Frage der Rache? Der Vergeltung? Die einzige Möglichkeit, sich den eigenen Schmerz und die Ungerechtigkeit rauszuschreien, weil ihn sonst keiner hört?

How to Blow Up A Pipeline ist fraglos eine spannende Chronik, und bietet aufgrund der unterschiedlichen Charaktere, die mit ihrer desillusionierten Grimmigkeit schließlich doch etwas gemeinsam haben, potenziellen Zündstoff, der das ganze Vorhaben bereits intern hätte scheitern lassen können. Das gemeinsame Ziel allerdings – die Aussicht, nichts mehr verlieren zu können, schweißt alle zusammen. Verzweiflung, Gruppendynamik und Teamgeist bilden die Essenz, die vorhanden sein muss, um Tabula rasa zu machen. In Goldhabers Film steht also primär die Erforschung der Parameter im Vordergrund, die zur praktischen Umsetzung radikaler Ideen führen. Andererseits kann Goldhaber auch nicht anders, als die Wahl extremer Mittel, um ein Statement zu setzen, für vertretbar zu befinden.

Von daher ist sein Film durchaus imstande, zu beobachten und zu provozierien. Am Ende wird das Charaktedrama gar zum – zugegeben etwas konstruierten – Thriller inklusive Story-Twist. Darüber, ob How to Blow Up A Pipeline nun aber Partei ergreift oder nicht, lässt sich streiten. Ich zumindest meine, er tut es. Doch wenigstens liegt hier – zwischen Wut und Pipeline – eine logische Verbindung vor, während das Anschütten berühmter Gemälde mit Tomatensuppe vielleicht doch am Ziel vorbeipatzt.

How to Blow Up A Pipeline (2022)

Freaks Out (2021)

MANEGE FREI FÜR DIE VERFOLGTEN

7/10


freaksout© 2022 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2021

REGIE: GABRIELE MAINETTI

DREHBUCH; NICOLA CUAGLIANONE, GABRIELE MAINETTI

CAST: AURORA GIOVINAZZO, FRANZ ROGOWSKI, CLAUDIO SANTAMARIA, PIETRO CASTELLITTO, GIANCARLO MARTINI, GIORGIO TIRABASSI, MAX MAZZOTTA, SEBASTIAN HÜLK, ANNA TENTA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Wer weiß, was die vermaledeiten Nazis noch so alles getrieben haben, von dem wir nichts wissen. Was, wenn sie tatsächlich versucht haben, mithilfe paranormaler Phänomene, die dann folglich nicht mehr als solche deklariert, sondern wissenschaftlich eingestuft und nutzbar gemacht wurden, das Schicksal der Welt zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Nicht auszudenken, wenn es ihnen gelungen wäre. Für dieses Szenario hat das Kino schon so einiges über die Leinwand flimmern lassen. Bekanntestes Beispiel: Die Bundeslade aus Jäger des verlorenen Schatzes. In Mike Mignolas Hellboy haben im Okkulten versierte Nazi-Größen das Tor zu einer Dimension geöffnet, aus welcher ein kauziger, roter Teufel entschlüpfte. Und was ist mit der Geheimorganisation Hydra aus dem Marvel-Universum? Red Skull und seine Armee aus Supersoldaten, die alle so zugeschlagen hätten wie Captain America?

Es gibt so einiges an showtauglichen Albträumen, mit welchen nicht nur das Kino, sondern auch das Fernsehen die Niederträchtigkeit der Faschisten noch zusätzlich angereichert hat. Mit Freaks Out setzt der Italiener Gabriele Mainetti zwar nicht noch eins drauf, fügt aber den Psychopathen des dritten Reiches noch einen abgründig-charismatischen Wirrkopf hinzu: Man möchte es nicht glauben, es ist Franz Rogowski. Liebkind des deutschen Independent-Kinos und, wie man sieht, offen für jedes Genre. Warum nicht auch für einen phantastischen Streifen wie diesen, der 2021 bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte.

Rogowski gibt einen völlig verpeilten Sonderling, der aufgrund seiner zwölf statt zehn Finger aus der Armee ausgeschlossen wurde. Nicht so sein Bruder, der dort ein hohes Tier wurde. Was macht ein „Freak“ wie dieser nun in einer Diktatur, die das Andersartige für vogelfrei erklärt, wegsperrt oder vergast? Durch den gegebenen familiären Einfluss darf Franz als zylindertragender Direktor seine Lust an der Exzentrik zumindest im Rahmen eines von ihm ins Leben gerufenen Zirkusses ausleben, der in Rom Halt macht und der jedoch im eigentlichen Sinne als Kulisse für ein sehr ehrgeiziges Projekt herhalten muss, in welchem der wie Hanussen mit dem Übersinnlichen begabte Wirrkopf die Lösung für all die Probleme sieht, die das Deutsche Reich im letzten Kriegsjahr so umtreibt. Franz will eine Gruppe aus Superhelden zusammenstellen. Und ja, es gibt sie. Sie erscheinen gar in seinen zukunftsweisenden Visionen, die sogar vom Selbstmord Hitlers berichten und noch viel weiter gehen. Diese mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabten Leute sind allerdings eine Theatertruppe für sich, die eigentlich nur die Flucht aus Europa im Sinn haben. Es ist dies ein Wolfsmensch, eine Art Magneto, ein Insektenbeschwörer, ein schrulliger Gandalf und eine Feuerteufelin, die ihre Gabe eigentlich nur als Bürde sieht.

Mutanten mit derartigen Fähigkeiten sind nicht neu. Bei den X-Men gibt es sie alle. Auch bei Hellboy zählen einige Außenseiter, die ihre Andersartigkeit mit nichts verbergen können, zu den Experten des B.U.A.P. Mainettis märchenhafter Kriegs- und Zirkusfilm allerdings lässt die Idee eines alle unter einen Hut bringenden Vereins außen vor. In diesem von Gott verlassenen Italien während des Krieges tummeln sich verlorene Seelen auf den Straßen herum, die wie aus einer tragikomischen Filmballade Federico Fellinis über die Hügel Italiens vagabundieren, auf der Suche nach dem großen Glück. Tatsächlich erinnert so manche Szene an bittersüße Filmmomente des großen Cinecittà-Visionärs – insbesondere das deutlich expositionierte Einzelschicksal des Flammenmädchens Matilde hat erzählerische Kraft und Ausdauer. Ihr Weg zur Selbstbestimmung ist der eine rote Faden des Films, der andere ist Franz Rogowskis leidenschaftlich verkörperte Figur des Antagonisten. Zwei Ausgestoßene, die unterschiedlicher nicht sein können. Die versuchen, sich den Respekt des Normalen zu verdienen, um Teil des großen Ganzen, und vor allem: nicht allein zu sein.

Mit viel Aufwand, enormer Ausstattung und im letzten Drittel ordentlichen Gefechten zwischen Nazis und den italienischen Partisanen gelingt hier ein opulentes Spektakel zwischen bizarrer Sensationsshow wie in Guillermo del Toros Nightmare Alley, dem Dreckigen Dutzend und einem regimekritischen Ur-Pinocchio. Dieser ganze Mix passt so gut zusammen wie die Zutaten für ein wissenschaftliches Experiment, dessen Resultat sein Publikum zum Staunen bringen soll. Für die große Leinwand wäre das fantasievolle und dramatische Abenteuer viel eher geeignet gewesen als so manches, das den Zuschlag fürs Kino letztendlich erhält. Freaks Out ist nur im weitesten Sinne als Superheldenkino zu verstehen und entfernt es sich vom oft geprobten Idealismus begabter Gutmenschen. Letzten Endes will sich hier niemand irgendeinem Credo verschreiben müssen oder von anderen instrumentalisiert werden – diese Bescheidenheit, diese Lust an der Selbstbestimmung, gibt dem blutig-melancholischen Abenteuer seinen Esprit.

Freaks Out (2021)

All the Beauty and the Bloodshed (2022)

WENN KUNST DEN AUFSTAND PROBT

6/10


allthebeautybloodshed© 2023 Plaion Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: LAURA POITRAS

KAMERA: NAN GOLDIN

MIT: NAN GOLDIN, MARINA BERIO, NOEMI BONAZZI, HARRY CULLEN, MEGAN KAPLER. JOHN MEARSHEIMER U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Bevor Laura Poitras (gewann den Oscar 2014 für die Snowden-Doku Citizenfour) letztes Jahr den Goldenen Löwen von Venedig gewann, war mir der Name Nan Goldin überhaupt kein Begriff. Gäbe es ihren preisgekrönten Film All the Beauty and the Bloodshed nicht, würde ich auch weiterhin nichts von ihr wissen. Eine Bildungslücke? Ich bin mir nicht sicher. Zumindest haben einige in meinem Umfeld noch nie von dieser Künstlerin gehört, und wenn, dann käme ihnen maximal ihr Name bekannt vor.

Gut, soll sein, ich lass mich ja gern weiterbilden, und so erfahre ich im Zuge des vorliegenden, aus zwei Erzählsträngen geflochtenen Films von einer US-Amerikanerin mit entbehrungsreicher Kindheit, entbehrungsreicher Jugend, einem Dasein als Young Adult mit allerhand Sex and Drugs und nicht wirklich Rock ‘N Roll, dafür aber mit ganz viel LGBTQ und dem Drama AIDS. Nan Goldin also. Fotografin für Szene und Underground, stets biographisch gefärbt, stets sehr lebensnah und ohne Blatt vor dem Mund. Was ihr selbst widerfuhr, dürfen alle anderen durchaus wissen. Ob Prostitution, gefühlskaltes Elternhaus oder der Suizid ihrer acht Jahre älteren Schwester, die ihr viel bedeutet hat.

Doch das ist nicht alles, was Poitras in ihren sehr Amerika-lastigen Film packt. Da gibt es noch das gewisse Etwas, den zweiten Erzählstrang, die mehr oder weniger in der jüngsten Vergangenheit vorgefallene Auseinandersetzung Goldins mit dem Pharmakonzern Purdue Pharma, das zum Imperium der stinkreichen Familie Sackler gehört hat, von der ich auch zum ersten Mal höre, und hätte es diesen Film nicht gegeben, würde ich auch hier weiter nichts wissen. Anscheinend weist mein Allgemeinwissen ordentliche Lücken auf, aber hey: wie heißt es doch so schön bei Platon: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Diese Sacklers haben also ein Medikament auf den Markt gebracht, genauer gesagt ein Opioid namens Oxycontin – eine schmerzstillende Blockbuster-Arznei, möchte man meinen, aber hochgradig abhängig machend. Goldin war eines dieser Suchtopfer, kam darüber hinweg und zieht nun mit ihrer eigens gegründeten Bewegung P.A.I.N. von Kunstforum zu Kunstform, um den Namen Sackler aus jeder musealen Einrichtung zu verbannen, haben die doch ganz schön viel Geld in die Kunst investiert. Goldin kann sich das leisten, sie ist schließlich selbst überall Teil des Ausstellungsprogramms, niemand will ihre Werke missen, sprechen die doch so ein klares Lokalkolorit weit jenseits eines perfekten Bildes, dafür aber voller Atmosphäre und US-Zeitgeist.

All the Beauty and the Bloodshed ist nichts, was man sich ansieht, um einen angenehmen Filmabend zu verbringen. Und hätte mich das Kinoabo-Service nonstop (Vielen Dank an dieser Stelle!) nicht zu einem Überraschungs-Kinoabend eingeladen, hätte ich dieses Werk auch nie auf meine Liste gesetzt. Ich konnte weder mit dem Namen noch mit der Problematik viel anfangen, und sogar bei Sichtung des Films fällt es mir schwer, zu dieser Welt, die Goldin ihre eigene nennt, Zugang zu finden. Es kommen Schicksale von Leuten ans Licht, die für Goldin zwar wichtig waren (und sind), mir aber fremd bleiben. Die Art zu leben, die Kunstszene des Undergrounds, aus welcher mir nur John Waters ein Begriff ist; dieses Einzelschicksal einer Person, zu welcher ich selbst und aus meinem eigenen Alltag heraus keine Verbindung knüpfen kann, berührt mich nur am Rande. Und es ist seltsam befremdend, laufenden Bildern zu folgen, die keine sind, und zwar notgedrungen, denn Goldins Oeuvre sind Diashows. So reiht Poitras ein Werkzitat ans andere, und zugegeben – manche sind erstaunlich, andere wiederum sind zwar spontan entstanden, aber technisch gesehen entbehrlich. Eine Kinodoku, zu 30 Prozent Diashow. Einerseits: Warum nicht. Andererseits wäre All the Beauty and the Bloodshed als Ergänzung für eine museale Retrospektive der Künstlerin besser aufgehoben.

Doch auch wenn das Thema so breit gefächert ist wie ein Bauchladen an erschwerten Lebensbedingungen, Geldgier und Aktivismus, gelingt es dieser Dokumentation, all diese Elemente zusammenzubringen und so miteinander zu vermengen, dass der Film wie aus einem Guss wirkt. Dass er niemals langweilt und man dennoch dranbleiben will, auch wenn all die realen Personen im Film vehement in ihrer Aktionsblase bleiben. Das will nichts anderes heißen als das: Der Venedig-Gewinner des letzten Jahres ist als Film enorm gut gemacht, die Positionen im Film sind klar bezogen. Viel zu viel Stoff ist es aber dennoch, das rühmliche Ego ist groß und über Kunst lässt sich nach wie vor streiten.

All the Beauty and the Bloodshed (2022)