Blood & Sinners (2025)

TANZ DER VAMPIRE

8,5/10


© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


ORIGINALTITEL: SINNERS

LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: RYAN COOGLER

CAST: MICHAEL B. JORDAN, MILES CATON, HAILEE STEINFELD, JACK O’CONNELL, WUNMI MOSAKU, JAYME LAWSON, OMAR BENSON MILLER, LI JUN LI, DELROY LINDO, DAVID MALDONADO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Get Out!, hatte Jordan Peele damals seinem verzweifelt in der Klemme steckenden Daniel Kaluuya zugerufen, dem inmitten den Films längst schon klar geworden war, wie sehr ihn der perfide Rassismus einer selbsternannten Herrenrasse vereinnahmt hat. Get In!,ruft seit Kurzem Black Panther-Virtuose Ryan Coogler seinem Ensemble zu, das in einer mondhellen Nacht völlig unbeabsichtigt mit zum Niederknien guter Musik das Böse beschwört. Denn solange Vampire nicht irgendwo hineingebeten werden (sofern die Lokalität nicht sowieso öffentlich zugänglich ist), bleibt diesen nur die Möglichkeit, die Lebenden aus der Reserve zu locken. Mit manipulativen Worten, betörendem Geschwafel und herausfordernden Blicken mit Augen, die ein glühendes, nicht menschliches Funkeln in sich tragen.

In den Dreißigerjahren rund um das Delta des Mississippi, wo Alligatoren in der Hitze schlummern, Flechten von den Bäumen hängen und Moskitoschwärme aus der feuchtheißen Luft eines alle Sinne lähmenden Sommers aufsteigen, ist der Rhythmus des Blues die Antwort auf alle Fragen, ob sie gestellt werden oder nicht. Mit dem Blues lässt sich die Zeit anhalten, lässt sich die Hitze, das Liebesleid und all die Repressalien ertragen, welche die White Supremacy bis zum heutigen Tage der schwarzen Bevölkerung angedeihen lassen (siehe The Order mit Jude Law). Der Blues ist Stellungnahme und Eskapismus gleichzeitig, er erzählt von den afrikanischen Wurzeln genauso wie von einer möglichen Zukunft, die eine neues, selbstbewusstes Narrativ finden könnte. Er öffnet die Pforten zu anderen Dimensionen, bittet Vergangenheit und Zukunft an einen Tisch. Und weiß genau, dass das Böse, dass die Dunkelheit, genauso nicht anders kann, als den Klängen der Gitarre und den wimmernden, leidenden, kraftvollen Stimmen zu folgen, während das tanzende  Auditorium zeitgleich akkurat und im Rhythmus mit den Füßen stampft. In dieser Nacht werden sie kommen, die Untoten. Sie werden mehr werden. Und sie werden tanzen.

Zum letzten Mal schwangen Untote den Huf beim Musical Anna und die Apokalypse, zuvor noch im legendären Musikvideo von Michael Jackson zum ewigen Hit Thriller. Draculas Entourage hingegen machten zuletzt bei Roman Polanskis Schauermär Tanz der Vampire ganz dem Titel des Films entsprechend das gebohnerte Parkett unsicher, aufgerüscht im Look des Rokoko. Doch so, wie die nach Blut dürstenden Gestalten in Blood & Sinners ihren ganz privaten Hexensabbat schmeißen, gab es den Genremix noch nie. Ryan Coogler hat mit dieser episch anmutenden, enthusiastischen Ballade von realen und mystischen Monstern ein schwer niederzuringendes Highlight des Vampirfilms geschaffen, und so wie Jordan Peele die Themen überkreuzt, um etwas ganz Eigenes zu wirken, gelingt dies auch hier, dank der konzentrierten Arbeit eines Visionärs, der genau wusste, was er will, der die Ideen seines Horrors nicht aus der Hand gegeben hat, um ihn durch andere verwässern zu lassen. Blood & Sinners ist Ryan Coogler ganz eigenes Baby, und das erkennt man zweifelsohne an der geölten Stringenz und an dem Flow dieses Films, der so beginnt, als wäre er ein historisches Gangsterdrama im Dunstkreis des rassistischen Südens der Dreißiger.

Michael B. Jordan, Cooglers erste Wahl, wenn es um die Besetzung seiner Filme geht, darf sich hier gleich doppelt in Schale werfen – als personifizierte Coolness gibt er beide Cousins, die nach längerem Aufenthalt in Chicago wieder in ihre Heimat zurückreisen, um ein Etablissement zu eröffnen. Und nein, das ist nicht der Titty Twister aus From Dusk Till Dawn, sondern eine zum „Juke Joint“ umfunktionierte Scheune, in der zum Einstand des Unternehmens ordentlich gefeiert wird. Dafür rekrutieren die beiden alte Bekannte, allen voran den jungen Preacher Boy Sammie, der die besondere Gabe hat, beim Blues die Schleusen der Hölle zu öffnen. Völlig ungeplant wird die Nacht zur entbehrungsreichen Tragödie, zur blutigen Belagerung. Wer noch Freund war, wird zum seelenlosen Feind, wer noch küssender Lover, beißt plötzlich kräftig zu. Dabei ist der Vergleich mit Rodriguez und Tarantinos Splatter-Feuerwerk nicht nur, was den Schauplatz betrifft, ein zulässiger. Auch der Aufbau der Geschichte, das Heranführen des Publikums an mehr als ein Dutzend Charaktere, die wunderbar gezeichnet sind, erinnert an Tarantinos vorallem vorletztes Werk The Hateful Eight. Wenn Blood & Sinners beginnt, bricht ein neuer Tag an, der in drohender Vorahnung dahinkriecht, in dem sich Menschen begegnen und wiederfinden, die alle an einen Ort gelangen, der die Realität um hundertachtzig Grad dreht und das Paranormale heraufbeschwört.

Grandios, wie Coogler seine Szenen setzt – welche er prophetisch vorwegnimmt, was er darstellt und was nicht. Jetzt schon kultverdächtig ist das Gitarrenspiel des Preacher Boy, während die große Party steigt. Dabei werden die Ahnen wach, verschwimmen die Epochen, zeigen sich Visionen der Zukunft. Dazwischen folgen manche Szenen dem Rhythmus der Musik, als gerate der Film in eine Art Trance. Längst ist Blood & Sinners nicht nur mehr Rassismus- oder Südstaatendrama, sondern wird zum Gangsterfilm, zum Thriller, zum Horror. Zur tragischen Liebesgeschichte, zum Veitstanz einer schwarzen Gesellschaft, die erst durch die Aggression der Blutsauger auf Augenhöhe mit den Weißen gerät. Und immer, immer wieder diese hypnotische Musik; der ungebremste, sich verselbstständigende Erzählfluss, die getriebene Handlung, in der sowohl das angststarre als auch das todbringende Ensemble lückenlos miteinander harmoniert. Diese Opulenz bringt dabei die Tragweite eines erfrischend wiederbelebten Vampirismus zurück, den Anne Rice vor vielen Jahrzehnten schon entworfen und mit Interview mit einem Vampir eine ungewohnt geglückte Verfilmung verdient hat. Blood & Sinners könnte nun eine Art Nachfolger dieses Klassikers sein; neu durchdacht, innovativ arrangiert, doppelbödig und progressiv – ohne dabei aber darauf zu verzichten, was schon seit jeher in solchen Albträumen für Faszination sorgt. Diesem Albtraum aber gibt man sich hin, man lässt sich mitreißen, dabei verblassen mühsame Nachahmungen wie Nosferatu von Robert Eggers, insbesondere in der Darstellung der spektakulären Schlusssequenz, die Vampire, den Blues und den Sonnenaufgang über dem Mississippi zu einer immersiven, spektakulären Kinoerfahrung macht.

Wichtig dabei ist: Es gibt eine Post-Credit-Szene, die man nicht verpassen sollte, denn mit ihr schließt sich der Kreis.

Blood & Sinners (2025)

Nosferatu – Der Untote (2024)

BEIM SCHNAUZER DES STRIGOI

4/10


nosferatu-untote2© 2024 Focus Features LLC


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ROBERT EGGERS

DREHBUCH: ROBERT EGGERS, NACH DEM SKRIPT VON HENRIK GALEEN UND DEM ROMAN VON BRAM STOKER

CAST: BILL SKARSGÅRD, LILY-ROSE DEPP, NICHOLAS HOULT, AARON TAYLOR-JOHNSON, EMMA CORRIN, WILLEM DAFOE, RALPH INESON, SIMON MCBURNEY U. A.

LÄNGE: 2 STD 12 MIN


Da Friedrich Wilhelm Murnau in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beim Erlangen der Rechte für Bram Stokers Roman durch die Finger schauen musste, erdachte sich Henrik Galeen eine filmtaugliche Geschichte, die lose an die wohl kultigste Gothic Novel aller Zeiten erinnert: Nosferatu. Verfilmt hat dieses Skript Murnau mit einem Schauspieler, der selbst schon ein Mysterium für sich gewesen sein mag: Max Schreck, sein Name war Programm, das augenzwinkernde Gerücht um ihn herum, dass dieser wohl tatsächlich ein Vampir gewesen sein mag, ergab im Jahr 2000 den Film Shadow of the Vampire mit John Malkovich als Murnau und Willem Dafoe als Schreck oder auch Graf Orlok selbst, keiner wusste das so genau. Letzterer, nämlich Dafoe, findet sich auch in Robert Eggers ambitionierter Neuverfilmung des Stummfilmklassikers wieder, der bis heute zu den Sternstunden des expressionistischen und des Horrorkinos schlechthin gilt. Kein Vampir war jemals gruseliger und albtraumhafter. Kein Vampir ein solches bleiches Schreckgespenst wie nicht von dieser Welt, starrend und schmachtend und bizarr wie selten eine Kreatur aus dem Reich der Untoten.

Werner Herzog hat einige Jahrzehnte später die erste Neuverfilmung gewagt – er hat dafür natürlich Klaus Kinski besetzt, denn der war von einem Kaliber wie der damalige Max Schreck: Exzentrisch, gespenstisch, unberechenbar: Ein Enfant Terrible des deutschen Films, der von sich selbst behauptet hat, diese Rolle des Nosferatu spielen zu müssen, da dieser sowieso schon längste Zeit in ihm selbst gelebt haben musste. Herzogs Nosferatu – Phantom der Nacht ist ein somnambuler, ätherischer Filmtraum geworden. Langsam, träge, abgehoben und wie im Wachschlaf herumgeisternd. Kinski asthmatisch und ewig jammernd, furchtbar verloren und furchtbar perfide gleichermaßen. Und welch ein Glück: Isabelle Adjani, die im Film als Lucy Harker jene Rolle einnimmt, die jetzt Lily-Rose Depp verkörpert, nur mit andrem Namen, ist nicht minder gespenstisch als der bleiche Kahlkopf. Ihre schreckgeweiteten Augen und das dem Wahnsinn verfallene, ebenfalls totenbleiche Antlitz der Französin begegnet der Ikone des Vampirfilms auf Augenhöhe. Ein Kunststück, das in Robert Eggers Versuch einer Neuinterpretation keinem auch nur ansatzweise gelingen will.

In Nosferatu – Der Untote sind die Namen der Figuren wieder jene, die bis auf eine Ausnahme (nämlich Dafoe als Dr. von Franz) Murnau schon verwendet hat. Das Setting eines düsteren Deutschlands aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreit richtiggehend danach, dass man es in einem Stummfilm verwenden möge. Liebevoll errichtete, knorrige Gebäude, die enge Straßen säumen, darin das Volk, bestehend aus unterschiedlichen Klassen, von der Magd bis zum Aristokraten mit Zylinder, alles sorgsam kostümiert und noch nicht ahnend, was alsbald auf sie zukommen möge. Denn er wird kommen, das weiß schon Lily-Rose Depp als Medium Ellen, die mit dem Grafen Orlok mental bereits im Bunde steht. Thomas Hutter (Nicholas Hoult, bereits in Renfield Teil des Stokerverse), der Ehemann, der für einen Häusermakler arbeitet, verspricht sich gutes Geld, wenn er den Auftrag annimmt, in die Karpaten zu reisen, um einem geheimnisvollen Grafen den Vertrag für einen Hauskauf in Wisborg zu unterbreiten.

Soweit ist in diesem gediegenen Historienhorror noch alles auf dem richtigen Weg. Bilder, die eine Hommage an Murnaus Werk sind, wechseln von blassen Erdfarben zu kontrastreichem, grobkörnigem Schwarzweiß. Überhaupt steckt jedes zweite Bild im welchem Dunst auch immer, ist es nun Regen, Nebel, Kerzenrauch in der Taverne oder das fahle Licht, das gerade mal vage das Antlitz des Blaublütigen beleuchtet, der mit Befehlsstimme den armen Jungen Mann zum Dableiben nötigt. Schon weicht im Kinositz die Lümmelposition einer aufrechten Haltung, da irgendetwas nicht stimmt. Ganz klar ist dieses Individuum, dieser Schlossbesitzer, keinesfalls verwandt mit Schreck oder Kinski, geschweige denn mit Orlok. Dieser Dämon trägt Fellmütze und einen dichten Schnauzer unter einer krummen Hakennase. Er sieht wohl eher aus wie die fahle Fotografie eines Kosaken, der mit Borat verwandt sein mag. Die grimmigen Augen sind nicht jene eines Vampirs, sondern die eines Zauberers wie Saruman. Untot mag der Geselle zwar sein, aber er ist alles andere als das, was zu erwarten ich mir erhofft hatte.

Weder wohnt dem bis zur Unkenntlichkeit überschminkten Bill Skarsgård das unterschätzbar  Mysteriöse inne, noch ein sehnsüchtiger, gieriger Schrecken. Der Charakter des Unnahbaren – diese unheimliche, bleiche, androgyne Entität, die sich gerne in Alpträume nistet, ist verschwunden. Das personifizierte Verhängnis zeigt sich als derber, bodenständiger Waldschrat mit Rotzbremse, der keine Emotionen auslöst. Der Reiz des Unheimlichen ist dahin, der Grusel sowieso, spätestens beim verbalen Schlagabtausch mit Opferbraut Ellen ist die Stimmung endgültig verflogen, denn mit Graf Orlok streitet man nicht. Apropos Ellen: Lily-Rose Depp sieht man an, wie sehr sie sich abmüht – gewachsen ist sie ihrer Rolle nicht, da hat Isabella Adjani mit traumtänzerischer Leichtigkeit die depressive Schwere eines Besessenen wie keine Zweite in den Film gewoben. Depp ist lediglich hysterisch, windet sich wie Linda Blair in Der Exorzist in ihrem Bett, hat aber harte Arbeit dabei. Der Wahnsinn enerviert, und Willem Dafoe hat alle Hände voll zu tun, die Verfilmung am Laufen zu halten, die sich ohnehin dabei schwertut, eine Entscheidung zu treffen: Will ich nun Hommage sein oder Neuinterpretation? Lieber Schwarzweiß oder Farbe? Lieber diffuses Schattentheater oder stocksteifer Kostümschinken? Steif sind nicht nur die Dialoge, von denen es jede Menge zu viel gibt.

Dadurch, dass Robert Eggers mit einer vampirgleichen Sehnsucht diesen Stoff auf die Leinwand bringen wollte, so sehr stolpert er auch über seine eigenen Ambitionen und seinen Vorsatz, um Gottes Willen nicht nur zu kopieren, sondern auch Eigenständiges zum Thema beizutragen. Leider tut er das an der falschen Stelle. An Orlok selbst Hand anzulegen und ihn als ungeschlachten, muskelbepackten Zombie-Magier auftreten zu lassen, der wie all die Vampire aus Twilight nicht mal die spitzen Beisserchen besitzt, grenzt fast schon an ein Sakrileg. Orlok ist eine Ikone des Schreckens, eine expressionistische Gestalt zwischen Edvard Munch und Alfred Kubin. Figuren wie diese sind schwer veränderbar. Und niemand sonst außer Eggers würde auf die Idee kommen, das Filetstück einer vollkommenen Vampirgestalt außer Acht zu lassen. Was er daraus gemacht hat, tut weh.

Nosferatu – Der Untote (2024)

Salem’s Lot – Brennen muss Salem (2024)

VAMPIRE SIND ANSTECKEND

4/10


salemslot© 2024 Warner Bros.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: GARY DAUBERMAN

DREHBUCH: GARY DAUBERMAN, NACH DEM ROMAN VON STEPHEN KING

CAST: LEWIS PULLMAN, SPENCER TREAT CLARK, MAKENZIE LEIGH, PILOU ASBÆK, BILL CAMP, WILLIAM SADLER, ALFRE WOODARD, JOHN BENJAMIN HICKEY, NICHOLAS CROVETTI, ALEXANDER WARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Als Stephen King mit dem Schreiben Mitte der Siebziger erst so richtig in Fahrt kam, konnten sich Fans der ersten Stunde nach dem Telekinese-Dilemma rund um Carrie nahtlos folgend mit den Mythen der Vampire auseinandersetzen. Brennen muss Salem – oder im Original schlicht Salem’s Lot – war Stephen Kings zweites Werk, und man merkt auch angesichts der Neuverfilmung aus gegenwärtigem Jahrgang, dass der Meister des Belletristik-Horrors noch nicht allzu viel anderweitige Konkurrenz gehabt hat. Denn was gab es damals schon, in den Siebzigern, an Vampiren der Popkultur zu verzeichnen? Murnau, Lugosi und Christopher Lee hatten im Laufe der Filmgeschichte wohl eher die Biographie des unglückselig verfluchten Dracula und Orloc aka Nosferatu bedient. Ein einzelner Anarchist, salonfähig, eitel und distinguiert. Und nur so weit mörderisch, um ihm fast alles zu verzeihen, denn der Herr aus Transsilvanien ist ja fast schon einer, den man bewundert ob seines Alleinstellungsmerkmals, seines ewigen Lebens und seiner Verachtung aller Werte, ohne sie mit Füßen zu treten. Mit Stephen King wurde das anders, da war es nicht mehr Dracula oder Orloc, da sind es ganze Kleinstadtgemeinschaften, die unter die Reißzähne eines Obervampirs geraten, der, und da mag die Hommage an Murnaus Stummfilmklassiker augenscheinlich gegeben sein, die ganze Welt in eine ihm unterworfene zu verwandeln. Weit gedacht hat der Kahlkopf allerdings nicht. Gibt’s keine Menschenopfer mehr, dürfen all diese Blutsauger bald am Hungertuch nagen. Del Toro und Chuck Hogan mit ihrer Vampirtrilogie The Strain haben das Problem anders gelöst, und lassen die untoten Dämonen weiterdenken als nur bis zum nächsten Grabstein.

Als Metapher auf Pandemien und Massenhysterien aller Art wütet also bald eine bissfreudige Seuche durch Salem’s Lot, einer Kleinstadt in Maine, in welcher der sinistre und wenig vertrauensvolle Antiquitätenhändler Straker (Pilou Asbæk) eine längliche Kiste in den Keller seines Anwesens schaffen lässt. Zeitgleich mit dieser Lieferung lässt sich Schriftsteller Ben Mears (Lewis Pullman) in diesem beschaulichen Örtchen nieder, um seine Memoiren zu verfassen. Der wird allerdings nicht gern wiedergesehen, schließlich beschuldigt man ihn eines Unglücks, das vor vielen Jahren hier passiert war. Mears lässt sich nicht einschüchtern, findet gar noch ein Love Interest und muss sich bald einer unheilvollen Tatsache stellen, die damit zu tun hat, dass die Kinder der Familie Glick das Zeitliche segnen – um wiederaufzuerstehen. Als Kick-off für einen lokal begrenzten jüngsten Tag der Bewohner von Salem’s Lot.

Das Problem an Gary Daubermans Neuverfilmung ist ein grundlegendes. Auch wenn Vampire keine Seele haben, wäre es zumindest ratsam gewesen, diese zumindest in der Umsetzung dieses klassischen Stoffes zu belassen. Dabei gibt die Vorlage für atmosphärischen Folk-Horror auf begrenztem Raum, angereichert mit bedrohlichem Unbehagen und geisterhaften Besuchen jenseits der Fenster hochgelegener Zimmer, so einiges her. Auch Obervampir Barlow könnte zum Schrecken in Person werden, zur expressionistischen Nemesis gutgläubiger Konservativer. Der Funke, um Salem wirklich brennen zu lassen, springt nicht über. Da kann man zündeln, was man will. Da kann Bill Camp das glühende Kreuz mit gestreckten Armen vor sich herhalten, da könnte der Spuk, den Taschenlampenlicht nun eben erzeugt und an Found Footage erinnert, die Gänsehaut aufsteigen lassen. Doch nichts davon passiert. Schwer zu sagen, woran das liegen mag. Am lustlosen Spiel fast des gesamten Ensembles? An dem in Grund und Boden zusammengestrichenen Skript, das darauf verzichtet, seinen Bewohnern existenzielle Relevanz zu verleihen? Das kommt davon, wenn man Bücher – und die von Stephen King sind keine Groschenromane – so sehr ausblutet, bis nur noch der Handlungsstrang übrigbleibt.

Wenn sich keiner mehr darum kümmert, den leidenschaftlich menschelnden Aspekt der notgedrungenen Helden auszubauen, wird es fade. Die Vampire selbst mögen in ihren Ambitionen leicht zu erfassen sein. Dort, wo das Herz schlagen sollte, bleibt nur Ruhepuls. Und plötzlich ist da der kindliche Superheld, ein waschechter Jungspund vermeintlich aus Derry, der kurz mal hier vorbeischaut, um es mit dem dortigen Bösen aufzunehmen. Und zwar im Alleingang.

Salem’s Lot – Brennen muss Salem (2024)

Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

BLUTJUNG DURCH DIE NACHT

8/10


Humanist Vampire Seeking© 2023 H264

ORIGINALTITEL: HUMANIST VAMPIRE SEEKING CONSENTING SUICIDAL PERSON

LAND / JAHR: KANADA 2023

REGIE: ARIANE LOUIS-SEIZE

DREHBUCH: ARIANE LOUIS-SEIZE, CHRISTINE DOYON

CAST: SARA MONTPETIT, FÉLIX-ANTOINE BÉNARD, STEVE LAPLANTE, SOPHIE CADIEUX, NOÉMIE O’FARRELL, MARIE BRASSARD, ARNAUD VACHON, PATRICK HIVON U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Von wegen seelenlose Böslinge: Vampire sind von dämonischen Mächten verfluchte Gestalten, die sehr wohl zu allerlei Empfindungen fähig sind. Das einzige Problem: Sie können eben nicht anders, und müssen, um selbst zu überleben, anderen wehtun. Wie Raubtiere, nur menschlich. Doch wie menschlich können Bram Stokers Blutsauger denn überhaupt noch sein? Wie sehr erinnern sie sich noch an ihren Urzustand als sterbliches Individuum, sofern sie nicht ohnehin schon als Vampir auf die Welt gekommen sind? Lässt sich ein Gewissen ausprägen wie jenes, welches die kleine Sasha verspürt? Gerade mal zu ihrem 68. Geburtstag gibt’s ein ganz besonderes Geschenk: einen menschlichen Partyclown, den die ganze Sippschaft als Highlight des Tages gemeinsam ausschlürfen darf. Auch Sasha soll langsam von Blutkonserven auf Selbstfang umerzogen und vorbereitet werden – doch das untote Mädchen weigert sich. Die feinfühlige Vampirin, von welcher schon im Titel die Rede ist, bringt es nicht übers Herz, unschuldige Sterbliche zu ermorden, auch wenn es dabei ums eigene Überleben geht. Mit dem Latein am Ende, wird Sasha an ihre ältere Cousine übergeben, die ihr zeigen soll, wo und wie geerntet wird. Als alles danach aussieht, als würde das Mädchen sich lieber selbst als andere tilgen, macht sie die Bekanntschaft mit dem depressiven Paul, der nichts lieber tun würde als seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Noch dazu, wenn es anderen zum Vorteil gereicht.

Man kann sich vorstellen, welchen Pakt die beiden jungen Gestalten eingehen werden. Wenn einer gibt, kann der andere nehmen. Doch so einfach scheint nicht mal das zu sein. Denn zwischen Sasha und Paul entwickelt sich sowas wie Zuneigung und Respekt vor den Prinzipien des jeweils anderen. Und nicht nur das: Es könnte sogar sein, als entspänne sich obendrein eine kleine Romanze, wenn die Vampirin ihr Opfer zu sich nachhause einlädt, um der Lieblingsschallplatte zu lauschen. Eine Szene, die zu den unvergesslichsten des Films zählt – lakonisch und liebevoll.

Wer sich noch an Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive mit Tilda Swinton und Tom Hiddleston erinnern kann, sieht in Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer eine gewisse Verwandtschaft. Das liegt vorallem an Sara Montpetit, die als so blasses wie zartes Geschöpf der Nacht, die den Look von Wednesday Addams und Sheila Vand als Vampirin aus A Girl Walks Home Alone at Night trägt und mit minimaler Mimik eine ganze Bandbreite an Emotionen präsentiert. Mit ihr hat Ariane Louis-Seize in ihrem Langfilmdebüt dem Genre des Vampirfilms erfrischend unkitschige Vibes hinzugefügt. La Boum für Nachtgestalten, mit Anlehnung an den Kosmos von Anne Rice, die mit der Thematik humanistischer Zähnefletscher Louis-Seize vielleicht sogar inspiriert hat. Und auch wenn die Idee nicht unbedingt neu ist – die Balance zwischen Komödie und atmosphärischem Vampirfilm zu finden, ohne seine Figuren jemals auch nur ansatzweise der Lächerlichkeit preiszugeben, zeugt von einem empathischen Inszenierungsstil und viel Liebe für all die schrägen und todessehnsüchtigen Charaktere. Félix-Antoine Bénad als Möchtegern-Selbstmörder Paul ist ebenfalls eine Entdeckung, er wäre in Harold and Maude wohl eine treffsichere Wahl für ersteren gewesen. Doch statt der alten Dame ist es diesmal ein mysteriöses Mädchen – beide zusammen sind wohl eines der erquicklichsten Paare des Filmjahres. Und wenn beide dann versuchen, das Beste aus ihrer misslichen Lage zu machen, ohne ihre Ideale zu verraten, strotzt der Film nur so vor Cleverness.

Das ganze Twilight-Franchise ist im Gegensatz zu dieser samtschwarzen, urbanen Mär einer Zuneigung lediglich die Behauptung einer empfundenen Romanze. Diese zarten Bande, die hier geschlossen werden, sind dem feingeistigen Understatement eines Vampir-Daseins würdig. Inklusive nadelspitzer Eckzähne. Denn ohne die geht es nicht. Oder doch?

Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

JAMMERN NACH BLUT

6/10


nosferatu© 1979 20th Century Fox


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 1979

REGIE / DREHBUCH: WERNER HERZOG

CAST: KLAUS KINSKI, ISABELLE ADJANI, BRUNO GANZ, ROLAND TOPOR, WALTER LADENGAST, DAN VAN HUSEN, JAN GROTH, CARSTEN BODINUS, MARTJE GROHMANN, RIJK DE GOOYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Er war Werner Herzogs liebster Feind, er war cholerisch, polemisch und unberechenbar: Das Enfant Terrible Klaus Kinski, Gesamtkunstwerk und menschlicher Aktionismus, Fitzcarraldo oder der Zorn Gottes, und letztlich auch die kultigste Grusel-Ikone schlechthin: Nosferatu. Ob er den Untoten mit dem Wahnsinnigen besetzt, ich denke, dafür hat Werner Herzog nicht lange überlegen brauchen. Seine unverwechselbare Gesichtsphysiognomie mit den hervortretenden Augen, diese immer am Rande des Überschnappens befindliche Fistelstimme, mit welcher sehr gerne andere beleidigt wurden – da brauchte es gar nicht mal so viel Zeit in der Maske. Ein kahler Kopf, dunkle Augenringe und die spitzen Schneidezähne, die natürlich an Max Schreck erinnern sollen, an jenen aus Friedrich Wilhelm Murnaus Original aus der Stummfilmzeit, von dem man gerne behauptet, er sei tatsächlich ein Vampir gewesen. Dieses gespenstische Gerücht fand gar seine Manifestation in der Making Of- Mystery Shadow of the Vampire mit John Malkovich und Willem Dafoe als undurchsichtigen Akteur mit dem Hang zu Verhaltensmustern, die nur den blutliebenden Untoten zuzuschreiben gewesen wären.

Vielleicht war Klaus Kinski gar nicht mal wirklich so. Vielleicht fand er einfach nur Gefallen daran, sich selbst als Set-, Party- und Bühnenschreck zu verkaufen, weil ihm diese Allüren so wahnsinnig gut von der Hand gingen. Lange lässt sich so ein abnormes Verhalten gar nicht aufrechterhalten, was das alles für Energie und Mühe kostet, wegen jeder Kleinigkeit so dermaßen in den Saft zu gehen. Als Nosferatu musste er all diese Eskapaden zurückschrauben, denn da war er der immer müde, jammernde, chronisch unglückliche Herr der Finsternis, der aus dem Schatten tritt und dem Seufzen der ewig Lebenden zu neuer Ausdauer verhalf. Als kraftlos Sehnsüchtigen setzt Herzog dem transsilvanischen Fürsten ein farbenfrohes Siebzigerjahre-Denkmal, ohne aber die Ikone neu zu definieren. Das machen sehr viel später andere, darunter Claes Bang als klassisch-diabolischer Dracula, die durch einen dramaturgisch freigeistigen Kniff ins Informationszeitalter katapultiert wird. Bei Herzog war das noch nicht der Fall. Sein Remake orientiert sich doch recht stark an Murnaus ewigen Klassiker, das Expressionistische kommt dabei aber abhanden. Was nun dominiert, ist viel mehr postmoderner Gothic-Grusel, in dem die Gondeln Trauer tragen und die Nächte seltsam erleuchtet sind, als gäbe es keine lichtstarken Kameras. Dieser Retro-Charme hat etwas für sich, auch die herbstkalte Schauerromantik weiß zu überzeugen. Was man aber letztlich kaum für möglich gehalten hätte, ist, dass Klaus Kinski, so sehr in seiner Rolle als bissfester Jammerlappen verfangen, fast schon zur unfreiwilligen Karikatur einer Schreckensgestalt gerät, während die blutjunge Isabelle Adjani wirklich allen in diesem Reigen aus Verlangen, Furcht und Psychose die Show stiehlt – sieht man von Roland Topors geistig völlig zerrütteter Renfield-Interpretation ab, die mit ihrem gespenstisch grotesken Lachen in die Abgründe kosmischen Horrors à la Poe schielt. Doch Adjanis völlig entrückte Wahrnehmung der Welt, ihre den gesellschaftlichen Dogmen des neunzehnten Jahrhunderts unterworfenen Manierismen, ihr langsamer Verfall in die Umnachtung, ausgestattet mit weit aufgerissenen Augen und einem verschreckten Antlitz, das den Stummfilmgrößen ihrer Zeit um nichts nachsteht, sondern ganz im Gegenteil, diese fast vorgestrig erscheinen lässt , verkörpert im Grunde genommen den eigentlichen Schrecken einer dem Metaphysischen ausgelieferten Seele, die wie die weiße Frau in der Megaklaue des King Kong nur noch hilflos wimmern kann und auf die Gunst des Monsters angewiesen ist.

Das Monster, in diesem Fall Kinski, lässt sich von seiner Sehnsucht und dem Selbstmitleid, als untote Kreatur ewig zu leben, so sehr übermannen, dass das Ächzen und Stöhnen letztlich alles ist, was bleibt. Die Optik stimmt, Kinski ist ein Hingucker, und so, wie er die Rolle anlegt, das Zerrbild einer gequälten Seele, die niemals Befriedigung findet. Wäre der Schauspieler nicht so sehr dem in Melancholie ertrinkendem Dandy nachempfunden, hätte sich Nosferatu etwas mehr von seiner geheimnisvollen, unberechenbaren Aura bewahrt, hätte Nosferatu – Phantom der Nacht ein Gothic-Meisterwerk werden können. Herzogs Regie, und den Stil kennt man aus all seinen Dschungel-Abenteuern, verkopft sich gerne in gedankenverlorener Kontemplation, die in der Wiederholung ähnlicher Szenen ihren Ausdruck findet. So ist die Ikonografie des Vampirs und seinem Objekt der Begierde wie ein atmosphärisches Bilderbuch mit verpeilten Längen, ein Seufzen quer über den europäischen Kontinent.

Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

Abigail (2024)

UNGEHEUER IM GEMÄUER

7/10


abigail© 2024 Universal Studios


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: MATT BETTINELLI-OLPIN & TYLER GILLETT

DREHBUCH: GUY BUSICK, STEPHEN SHIELDS

CAST: ALISHA WEIR, MELISSA BARRERA, DAN STEVENS, KATHRYN NEWTON, KEVIN DURAND, ANGUS CLOUD, WILLIAM CATLETT, GIANCARLO ESPOSITO, MATTHEW GOODE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Eine Handvoll Krimineller, deren Ableben aus moralischer Sicht vertretbar wäre, in irgendeine Immobilie zu stecken und zusehen, was passiert: ein gern gesehenes Narrativ Im Thriller- und Horrorgenre. Und obwohl dieses Konzept schon so abgedroschen wirkt, ist der Clinch mit dem einschätzbaren Aggressor immer wieder so genussvoll wie eine Tüte Chips, denn auch da weiß man, was drin ist: Fett und Salz machen den Unterschied. Blut und Suspense den anderen. Der höchst erfolgreiche Knüller Don’t Breathe hat es bewiesen: Ein paar windschiefe Typen laufen einem blinden, alten Kriegsveteranen mitten ins Messer. Verdient haben diese das grausige Ableben nicht, doch allein wie sie sich anstellen, um Opa Herr zu werden, verdient eine Abreibung. Ähnlich draufgängerisch gebärdet sich in Abigail eine Bande Kidnapper, die für satte Millionen gerne mal ein unschuldiges Kind entführen, das einfach nur vom Ballett-Training nachhause will, um einen anstrengenden Tag in Ruhe ausklingen zu lassen. Doch nichts da: Die Entführung ist von langer Hand geplant, die Kleine betäubt, eingesackt und abgeliefert. Auftraggeber ist der undurchsichtige Lambert (Giancarlo Esposito), der das sechsköpfige Team nach eigentlich getaner Arbeit noch zum Babysitten verdonnert, und zwar die nächsten vierundzwanzig Stunden, denn dann winkt der große Reibach. Kann nicht schwierig werden, denkt sich die Bande – und wird dann schon bald eines Besseren belehrt. Denn Abigail – das kennen wir schon aus dem Trailer – ist alles andere als ein schüchternes, ängstliches, wimmernden Mädchen. Sie ist ein Vampir und zeigt alsbald Zähne, die zielsicher in den Hälsen so mancher menschlicher Individuen landen, die zur falschen Zeit am falschen Ort aufschlagen. Die Kacke ist am Dampfen, der Körpersaft am Spritzen: Es geht um Leben, Tod und ewiges Leben – je nachdem, auf welche Seite man sich schlägt. Die einen haben es mehr verdient, die anderen weniger. Die Erwartungen der Zuseher werden dabei keineswegs untergraben. Denn Gott behüte – man könnte Gewohntes ja konterkarieren.

Diese Vorhersehbarkeit, die fast genauso wehtut wie den spitzen Zahn zu fühlen, ist der einzige Schwachpunkt in diesem lustvollen Survival-Horror frei nach Agatha Christies Abzählreim-Roman. Dass nicht alle in diesem Sechs-Gänge-Menü für blutleckende Untote in zynischem Eigennutz agieren, ist sofort klar – und genauso klar ist, ob, und wenn ja, wer von den Eingesperrten letztlich überleben wird. Das nimmt Abigail dann doch etwas die Überraschung, doch man kann darüber hinwegsehen, genauso wie über konfuses Zeitverständnis und die Länge eines Tages oder einer Nacht. Wie es das Drehbuch benötigt, wird die Zeit zum lästigen Anhängsel, dem man am liebsten einen Pflock ins Herz treiben möchte. Die Uhren laufen anders in diesem Gemäuer, das sich, sobald der Spaß beginnt, hermetisch von der Außenwelt abriegelt. Dabei flitzt Abigail wie ein von der Tarantel gestochenes kleines Ungeheuer die Stufen rauf, die Stufen runter, dreht zwischendurch ein paar Pirouetten und hat ihre kindliche Freude daran, ihre Opfer vorzuführen.

Das Regieduo Matt Bettinelli-Olpin und Tyler Gillett, verantwortlich für das etwas aus den Fugen geratene Hochzeitsbankett Ready or Not, zu welchem gerade die Braut herself auf Teufel komm raus von der Sippe des Bräutigams durch deren Anwesen gejagt wird, variieren ihren augenzwinkernden Splatter-Thriller aus dem Jahre 2019 wenn man es genau nimmt nur ein bisschen. Anderen Filmemachern könnte man vorwerfen, sich selbst zu kopieren – bei diesen beiden hier könnte man in Versuchung geraten, more of the same sehen zu wollen. Denn das, genau das, können Bettinelli-Olpin und Gillett richtig gut. Sowohl Ready Or Not als auch Abigail sind weniger Horror als viel mehr rasante Actionfilme, die mit dem Genre des Phantastischen kokettieren. So, wie sie Lebende und Untote von der Leine lassen, damit sie sich gegenseitig zerfleischen, macht formelhaftes Escape-House-Thrillerkino richtig Spaß. Eine bodenständige Energie entlädt sich – und ich denke, seit Buffy und Angel hat man Vampire nicht mehr so kämpfen sehen, schon gar nicht jemanden wie Alisha Weir (eben auch in Kleine schmutzige Briefe zu sehen), die im Ausleben ihrer anarchischen Rolle ein Engagement an den Tag legt, welches das ganze Ensemble mitreisst. Dan Stevens und Kevin Durand fluchen und rennen um die Wette, am Ende dreht sich das Spiel wie im Roulette, und die Frage, wer die Farbe des Todes und die des Blutes trägt, bleibt gelegentlich offen. Diese Verve der akrobatischen und fein getricksten Actionszenen machen Abigail zum Hingucker, das Blutbad wird zur selbstironischen Übertreibung wie schon bei Ready or Not und lässt das Treiben im Titty Twister aus From Tusk Till Dawn manchesmal anämisch aussehen. Am Ende könnte man seine Liebe zu den Vampiren neu entdecken, zum Glück haben diese gleich zehnfach doppelt so viele spitze Zähne wie Twilight-Vampire keine haben. Nebenbei bemerkt ein Unding, dass ich diesem Franchise nie verzeihen werde.

Abigail (2024)

El Conde (2023)

DIKTATOR DER HERZEN

3,5/10


elconde© 2023 Netflix Inc. 


LAND / JAHR: CHILE 2023

REGIE: PABLO LARRAÍN

DREHBUCH: GUILLERMO CALDERÓN, PABLO LARRAÍN

CAST: JAIME VADELL, GLORIA MÜNCHMEYER, ALFREDO CASTRO, PAULA LUCHSINGER, STELLA GONET, CATALINA GUERRA, AMPARO NOGUERA, DIEGO MUÑOZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Was habe ich Pablo Larraín nicht dafür verehrt – und tue es immer noch – dafür, dass er mir und allen anderen einen Film wie Spencer vor die Füße gelegt hat. Rückblickend der für mich beste Film des Jahres 2022, der biographische Notizen mit einem frei interpretierten Psychogramm über das Leben und Leiden der allseits geliebten Lady Diana so anspruchsvoll miteinander verwoben hat, dass es einem den Atem raubt. Mir zumindest. Das bewusst wenig akkurate, Fakten weitgehend ignorierende Portrait bietet natürlich genug weite Fläche für Anti- und Sympathie. Für Wohlwollen oder Ablehnung. So zu polarisieren liegt Larraín im Blut. Ganz besonders gelingt ihm das bei seinen Portraits, allerdings auch bei schwer definierbaren, erotisch aufgeladenen, wüsten Liebesgeschichten, wie er sie mit Ema geschaffen hat. Erst kürzlich lief sein neuestes Werk bei den Filmfestspielen von Venedig – kaum ein, zwei Wochen später landet seine wiederum komplett anders geartete Satire auf Netflix.

Diesmal dreht sich sein Film um die ewig währende Diabolik eines berühmten Chilenen, der sein ganzes Land und insbesondere sein Volk ins Verderben gestürzt hat: Augusto Pinochet. Und nein, es ist keine Biografie. Auch keine Geschichtsstunde, kein Psychogramm (nicht wirklich), im Grunde eigentlich nur die sarkastische Verzerrung eines Diktators außer Dienst, der das Schwarzbuch der Menschheit um mehrere Kapiteln dicker gemacht hat. Larraín verformt diesen Diktator nicht etwa zur clownesken Witzfigur wie Charlie Chaplin oder Literat Timur Vermes (Er ist wieder da) es mit Adolf Hitler getan haben, wo einem dennoch das Lachen im Halse stecken bleibt bei so viel Wahrheit über das kollektive Menschsein, dass uns da entgegengeschleudert wird wie ein nasser Lappen. Larraín verformt ihn zu einer Art Christopher Lee; zu einem Vampir, der schon 250 Jahre auf dem Buckel hat und bereits Marie Antoinette im Frankreich der Revolution dabei zugesehen hat, wie sie den Kopf verliert. Diesen klemmt sich der damals noch auf den Rufnamen Claude Pinoche hörende Untote unter den Arm, um fast eineinhalb Jahrhunderte später in Chile beim Militär einzurücken – und vom stinknormalen Gefreiten zum supermächtigen General aufzusteigen, der Präsident Allende später stürzen wird. Dabei ist das Blut durch alle Schichten der Bevölkerung essenziell. Am besten aber sind immer noch die Herzen, die er den Opfern aus der Brust reißt, sie mixt und den Muskelshake dann hinunterkippt.

Dieser nun als Augusto Pinochet bereits offiziell verstorbene Tyrann lebt im Geheimen irgendwo am Arsch von Chile sein nun nicht mehr ganz so prunkvolles Leben weiter – an seiner Seite ein russischer Diener, den man durchaus mit Renfield vergleichen kann, und Gattin Lucia. Irgendwann hat auch ein Vampir genug von dem ganzen Morden, und so versucht er, das Zeitliche zu segnen – gegen den Willen seiner fünf nichtsnutzigen Kinder, die eines Tages antanzen und vor Papa darauf bestehen, doch seine geheimen Ersparnisse offenzulegen. Um diesem Chaos an Unterlagen Herr zu werden, die aus dem Keller befördert werden, betritt die reizende Carmencita die Szene – für alle anderen Buchhalterin, im Geheimen aber Exorzisten-Nonne, die dem Vampir den Garaus machen will.

Trotzdem El Conde (zu Deutsch: Der Graf) mit einer ausgesuchten Kameraführung und bestechenden Schwarzweißbildern punktet, die jeweils als Standbild der Kunstfotografie zuzuordnen wären, gelingt es Larraín weder, die Abrechnung mit dem Polittrauma pointiert in Worte und Bilder zu fassen, noch, sich in seiner Art des Erzählens verständlich zu artikulieren. Am deutlichsten erkennbar ist diese Konfusion genau dort, wenn das gesprochene Wort nicht zur folgenden Handlung passt. Die Figuren verkommen zu stereotypen Annahmen politisch-historischer Gestalten fern ihres Kontextes, der Mythos des Vampirs reduziert sich auf einen Flattermann in Uniform, der sonst keinen vampirischen Eigenschaften mehr unterliegt, außer dass das Kennzeichen als Blutsauger eine kaum originelle Metapher für den Raubbau am Volk darstellt. Nichts in El Conde folgt strikt einem geplanten Vorgehen, die Figuren machen, was sie wollen, insbesondere Paula Luchsinger als „Warrior Nun“ entzieht sich in ihrem Handeln jeglicher Nachvollziehbarkeit und tribt die Handlung wider Erwarten kein bisschen voran.

Die paar brutalen Spitzen, in denen nicht mal das Blutrot zur Geltung kommt, lassen die satirische Abrechnung mit dem Bösen auch nicht wirkungsvoller erscheinen. Genau dieser Umstand des allzu gewollt polemischen Auftretens aller, in dem kaum irgendwelche klugen Erkenntnisse stecken, macht El Conde zu einem der langweiligsten Filme des Jahres; zu einer schwer durchzubringenden Trübsal, für deren Twists ich womöglich nicht intellektuell genug bin, um sie zu verstehen.

El Conde (2023)

Die letzte Fahrt der Demeter (2023)

HOLZKLASSE, ABER MIT BORDMENÜ

6/10


demeter2© 2023 Universal Studios and Amblin Entertainment. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, DEUTSCHLAND 2023

REGIE: ANDRÉ ØVREDAL

DREHBUCH: BRAGI F. SCHUT

CAST: COREY HAWKINS, AISLING FRANCIOSI, LIAM GUNNINGHAM, DAVID DASTMALCHIAN, JAVIER BOTET, JON JON BRIONES, STEFAN KAPICIC, NIKOLAI NIKOLAEFF, WOODY NORMAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Max Schreck hätte wohl auch gern solche Schwingen aufklappen wollen wie sein um 101 Jahre später erschienenes Pendant. Mit solchen Schwingen wäre vieles leichter gefallen. Als Vampir, verwandt mit Fledermäusen, sollte jede Dracula-Inkarnation solche Extras besitzen. Im Laufe der Zeit aber ist der charismatische Graf immer weniger Bestie als vielmehr Aristokrat geworden – ein stattlicher, schon etwas in die Jahre gekommener Gentleman mit grauenvollem und für viele auch tödlich endendem Understatement. Einer, der vorgibt, etwas anderes zu sein – bis es zu spät ist. Das ist taktische Perfektion, das ist Psychoterror und geschickte Manipulation. Doch Dracula ist immer noch ein Vampir – ein Dämon. Und von daher durchaus animalisch, bestialisch, teuflisch. In André Øvredals Literatur-Exegese bleibt von Bela Lugosi, Christopher Lee oder Claes Bang nicht mehr viel bis gar nichts über. Die letzte Fahrt der Demeter bringt den Edelmann mit finsteren Absichten zurück zu seinen Anfängen, lässt ihn herumkriechen wie Gollum, lässt ihn jagen und schlachten. Dracula ist hier all seines Anstands beraubt, doch nach wie vor mit messerscharfem Verstand gesegnet, der sich für sinistre Spielchen mit der Schiffscrew bestens eignet.

Auch in Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker von 1922 werden die frisch geschrubbten Blanken des russischen Handelsschiffes mit Blut getränkt – wir alle kennen das ikonische Standbild der schwarzweißen Schreckensgestalt, wie sie über der Reling aufragt – klauenbewehrte Hände, kahler Kopf, glühende Augen und spitze Zähne. Diesem Bildnis muss man immer mal wieder Tribut zollen, und auch Øvredal scheint davon mehr als fasziniert zu sein.

Doch nicht nur diese Art des Gothic-Horrors taugt zur Wiedererweckung, sondern auch Ridley Scotts finstere Figur des Xenomorph aus dessen Suspense-Hit Alien. So, wie dieser sein Wesen eins werden ließ mit der frei liegenden Technik eines Raumschiffs, so lässt Øvredal seinen Übervampir genauso mit dem rustikalen Interieur unter Deck der Demeter verschmelzen. Beeindruckend wird es dann, wenn man zweimal hinsehen muss, um die ausgemergelten, aschfahlen und ins bläuliche Licht einer Vollmondnacht getauchten Gelenke zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen in der Kapitänskajüte auszumachen. Wenn sich das Wesen dann langsam bewegt und aufrichtet, um von einem Moment auf den anderen verschwunden zu sein, treibt Die letzte Fahrt der Demeter seine illustre Schauermär zu einem Höhepunkt hin, der immer näher rückt – letztlich aber ausbleibt.

Øvredals Hochsee-Grusler garniert seinen geschickten Monsterhorror mit Licht, Schatten und Unschärfen, dennoch lässt sich die Geschichte weder auf Biegen und Brechen noch sonst wie einem anderen Schicksal zuführen, will man als Literaturverfilmung dem zugrundeliegenden Werk von Bram Stoker auch treu bleiben. Die letzte Fahrt der Demeter hegt keine Szene lang den Anspruch, einen avantgardistischen Ausbruch zu wagen. Was zählt, ist die Tradition. So bleibt der Film sowohl von seiner Gestaltung als auch von der chronologisch bedachten Erzählweise ein Kind vergangener Zeiten, ein Überbleibsel aus opulenten Universal– oder Hammerfilm-Abenteuern früherer Dekaden – als James Mason, Ernest Borgnine oder Vincent Price noch Seemansgarn erzählen konnten, sofern sie überlebten.

Liam Cunningham, der Zwiebelritter aus Game of Thrones, belebt in klassischer Perfektion die Rolle des vollbärtigen Kapitäns; seine ohnehin gebremste Laune, die ein Teamleader eben haben muss, weicht sorgenvoller Verzweiflung. Er ist es auch, der die ganze Geschichte noch dazu aus dem Off erzählt, um den romantisch-finsteren Petroleumlampen-Charakter noch zu verstärken. Doch man weiß, wie es endet. Die letzte Fahrt der Demeter hat weder Twists noch dramaturgische Raffinessen parat. Hätte das denn sein müssen? Nicht unbedingt.

Mittelpunkt, Kernstück und der Joker in den Handkarten ist immer noch der Vampir. Wäre dieser wohl mehr in den Dialog mit der ohnehin zum Tode verdammten Crew gegangen; wäre das blutdürstende Monster nicht allzu sehr scheinbaren Instinkten unterworfen worden, wäre Draculas bisherige Biografie sichtbarer – und die Figur an sich bedeutender geworden. Øvredal aber will den Langzahn als Tier – in einem Logbuchthriller der bewährten Art, allerdings angereichert mit düsteren Kupferstichen, die in sturmumtosten Nächten und bei Kerzenlicht ihre stärkste Wirkung erzielen.

Die letzte Fahrt der Demeter (2023)

Nocebo (2022)

BLUTSAUGER MAL ANDERS

6,5/10


nocebo© 2022 The Jokers Films


LAND / JAHR: IRLAND, PHILIPPINEN 2022

REGIE: LORCAN FINNEGAN

BUCH: GARRET SHANLEY

CAST: EVA GREEN, CHAI FONACIER, MARK STRONG, BILLIE GADSDON, CATHY BELTON, ANTHONY FALCON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Es gibt den Placebo-Effekt, den kennen wir alle: Ganz und gar davon überzeugt zu sein, einen positiven Effekt zu erwarten, auch wenn das Mittel zum Zweck keinerlei Skills besitzt. Umgekehrt gibt es Nocebo: Das Erwarten einer negativen Reaktion auf die Gesundheit, auch wenn nichts wirklich dazu beiträgt. Dabei gibt es zwischen Himmel und Erde und auch zwischen den Dimensionen (Achtung, jetzt wird’s esoterisch) so einiges, was wir nicht wissen, woran wir nicht glauben und was wissenschaftlich längst nicht bewiesen ist. Von Geisterwelten und vom Überqueren der Schwelle ins Totenreich haben die Schamanen des Ostens längst einiges zu berichten – je weiter es in diese Himmelsrichtung geht, desto transzendenter wird unsere Existenz. Im Film Eine größere Welt erfährt Cécile De France aus erster Hand ein bisschen mehr vom großen Ganzen. Bei Apichatpong Weerasethakul sind Geister und Wesenheiten unserer Realität inhärent. In der irisch-philippinischen Koproduktion Nocebo tritt ein, was gerne als Scharlatanerie oder Humbug bezeichnet und natürlich nicht ernst genommen wird, weil es dafür keine Evidenz gibt. Ein großer Fehler, wenn nach westlichen Parametern erzogene Wohlstandsbürger alles, was sie nicht kennen, skeptisch verlachen. Mark Strong wird in diesem Film sein blaues Wunder erleben. Aber erst, nachdem Eva Green durch die Hölle hat gehen müssen, um an den Auslöser ihres Unglücks zu gelangen. Um herauszufinden, was mit ihr verdammt nochmal nicht stimmt.

Und zugegeben – rational lässt sich ihr Befinden kaum erklären. Als erfolgreiche Designerin für Kindermoden steht sie kurz davor, mit einer neuen Kollektion durchzustarten. Während einer Modenschau erhält sie jedoch einen mysteriösen Anruf, auf welchem wir uns als Zuseher noch keinen Reim machen können. Auch nicht, als plötzlich ein schwarzer, blinder, von vollgesogenen Zecken befallener Hund vor ihr auftaucht, der sich schüttelt, bis es Parasiten regnet. Wer ab dieser Szene noch keinen Ekelanfall bekommt, könnte den Rest des Films ganz gut durchstehen. Denn es kommt noch dicker – und größer. Aber der Reihe nach: Christine, so Eva Greens Filmfigur, plagen von da an seltsame Spasmen, ein Zittern und undefinierbare Angstzustände, mitunter Visionen der schrecklichen Art. Das Publikum weiß immer noch nicht mehr, kann aber ganz gut nachvollziehen, warum sich die Mutter einer Tochter gar nicht mehr daran erinnern kann, eine Nanny und Haushälterin engagiert zu haben, die plötzlich auf der Matte steht: Es ist die jung Philippinin Diana, die Christines Familie jeden Wunsch von den Augen abliest, herrliches Essen kocht und auch mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn die Frau des Hauses unter Krämpfen zusammenbricht. Was da helfen kann, sind fernöstliche Heilmittel, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Während Dianas Omnipräsenz dem Ehemann ziemlich seltsam und gar bedrohlich vorkommt, geben Rückblenden die Vorgeschichte einer etwas anderen Mary Poppins preis, die aus gutem Grund für Christine so ziemlich alles tut, was in ihrer Macht steht. Welche Macht das ist – nun, das sei an dieser Stelle nicht verraten.

Das arrogante Unterschätzen jedweder Metaphysik rächt sich in diesem perfiden kleinen Albtraum von Lorcan Finnegan (Vivarium mit Jesse Eisenberg und Imogen Poots), der vermehrt auf Spinnenhorror sowie auf die Wirkung psychedelischer Retro-Effekte setzt, die mit Licht und Schatten, schnellen Schnitten und Überblendungen einen phantasmagorischen Schrecken herbeizaubern, der aber recht punktgenau und ohne, dass er den Film überlädt, Akzente setzt. Dabei beweist Eva Green – James Bonds große Liebe, Artemisia aus 300 oder demnächst als Lady de Winter – ordentlich Mut zur Hässlichkeit, wenn sie ihr von Krankheit geeinigtes Antlitz in die Kamera hält.

Nocebo ist ein gewiefter Psychothriller, der mit fernöstlichen Mythen spielt und Mächte ins Spiel bringt, die sich damit tarnen, dass sie unterschätzt werden. Der mangelnde Respekt für andere Kulturen ist aber nur einer der tadelnden Finger, die der Film hochhält – ein anderer warnt vor Blutsaugern der anderen Art, vor kettenrasselnder Globalisierung und Wirtschaftsbrutalität, die sich irgendwann rächen wird. Und zwar so, dass es keiner kommen sieht. Wie eine Zecke, die unter’s T-Shirt krabbelt.

Nocebo (2022)

30 Days of Night

SCHNEEFREI NUR FÜR VAMPIRE

4/10


30-days-of-night© 2007 SND


LAND / JAHR: USA, NEUSEELAND 2007

REGIE: DAVID SLADE

CAST: JOSH HARTNETT, MELISSA GEORGE, DANNY HUSTON, BEN FOSTER, PUA MAGASIVA, MANU BENNETT, MARK RENDALL U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Heute dürfte es hier in Wien so winterlich sein wie im nördlichsten Kaff der USA, in Barrow. Wenn wo der Arsch der Welt ist, dann unter Umständen dort. Im Sommer geht dort die Sonne zwar auch nicht unter, im Gegensatz dazu aber bleibt im Winter die Sonnenbrille zwei Monate lang im Handschuhfach, denn da reicht es gerade mal für eine Dämmerung. Untote Austauschstudenten, die das Sonnenlicht meiden müssen, würden Barrow vielleicht als Eldorado wähnen. Ein bisschen kalt vielleicht, aber kalt sind sie selber. Und so können sich die paar Bewohner dieses eigentlich am Meer gelegenen Städtchens über ungewöhnlich viel Fremdenverkehr freuen. Was sie weniger freut, ist der Blutzoll, den sie dafür zahlen müssen. Denn die Vampire, die per Schiff angereist sind, und einen seltsamen osteuropäisch anmutenden, für den Film erfundenen Kauderwelsch reden, sind dezidiert ausgehungert. Obendrein sind sie schnell, wendig und überhaupt nicht charmant wie vielleicht ihr transsilvanisches Vorbild. Wie sie da so mit der Tür ins Haus fallen – darauf ist niemand vorbereitet. Folglich wird ein Blutbad eingelassen, in welches Cop Josh Hartnett, seine Freundin Melissa George (ebenfalls Cop) und eine Handvoll integrer Gestalten überhaupt nicht hineinsteigen wollen. Blöd nur, dass es finster bleibt. Sowohl aus meteorologischer Sicht als auch in Sachen Erfolgschance.

Die erste Schwierigkeit in David Slades blutigem Spitzzahn-Slasher, der gerne auf Actionfilm tut (was ja nicht verkehrt ist), ist die Inkonsistenz in seinem Setting. Und darüber hinaus generell in der Zeit. Das Drehbuch verlangt, dass wir hier einem Zeitraum von 30 Tagen beiwohnen müssen, damit am Ende die Rechnung aufgeht. Warum auch immer, ist 30 Days of Night aber so konzipiert, dass es ganz klar nur an einer Nacht spielen kann. Verwunderung macht sich breit ob eines Inserts, dass darauf hinweist, bereits 18 Tage lang beim Versteckspiel unserer Helden zugesehen zu haben. Fragt sich, wie diese so lange in den gleichen Klamotten und ohne nennenswerte Nahrung überlebt haben konnten. Und warum die Vampire eigentlich nicht weitergezogen sind, wenn sie doch solchen Hunger haben und das Buffet nur mehr Krümel übrig hat. Was eben auch nicht funktioniert, ist die Sache mit dem Schnee. Es ist ja durchaus in Ordnung, temperaturunempfindlichen Kunstschnee zu verwenden, solange dieser die Szene adrett ausschmückt. Da lässt sich das völlig unsinnige Verhalten, wie der Schnee eben fällt, von mir aus ignorieren. Und den Vergleich zum tatsächlichen gefrorenen Wasser hätten wir auch nicht. Wenn man beides aber mixt, wird’s peinlich. Somit protzt Slade einerseits mit echtem Winter, andererseits ist ihm womöglich das Tauwetter dazwischengekommen. Sieht leider bescheuert aus.

Weniger bescheuert sind zumindest die Vampire mit ihren blutverschmierten Kauleisten und den dunklen Augen, ihrem enervierenden Geschrei und ihrer raubtierhaften Akrobatik. Das Make-up ist ein Hingucker – das übrige Szenario will sich aber leider nicht an gewisse Regeln halten, die die Basis für einen Actionfilm garantieren sollen, der in sich selbst logisch sein muss, um überhaupt zu packen.

30 Days of Night