September 5 (2024)

DABEI SEIN IST ALLES

6,5/10


september5© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: TIM FEHLBAUM

DREHBUCH: TIM FEHLBAUM, MORITZ BINDER

CAST: JOHN MAGARO, BEN CHAPLIN, LEONIE BENESCH, PETER SARSGAARD, COREY JOHNSON, RONY HERMAN, GEORGINA RICH, ZINEDINE SOUALEM, MARCUS RUTHERFORD U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Zeiten ändern sich. Am 11. September 2001 waren die Kameras bereits überall – fast so, als hätte man sie vorab in Position gebracht, um aus allen möglichen Blickwinkeln das Einstürzen der Twin Tower spektakulär genug festzuhalten. Die Geburtsstunde der Sozialen Medien ging dann mit dem taktischen Werbebewusstsein sämtlicher Terroristen einher, ihre Bekennerbotschaften, Parolen und Morde allesamt abzufilmen und online zu stellen. Bei den IS gibt es immer wen, der die ganzen Gräuel aufzeichnet. Damals, im Jahre 1972, war das noch nicht der Fall. Da hatten die mit Skimasken verhüllten Verbrecher noch keinerlei Ambition, ihre Taten medienwirksam in Szene zu setzen. Vielleicht aber interpretiere ich falsch und die Organisation des Schwarzen September kalkulierte den Ehrgeiz sämtlicher Fernsehsender, die sich um das olympische Dorf in München niedergelassen hatten, mit ein, jede Sekunde des Geschehens in eine Live-Show zu verpacken. Das Team des Sportkanals von abc war es dann schließlich auch, das im Nachhinein Fernsehgeschichte schrieb und es erstmals gelang, einen Terrorakt wie diesen vor laufender Kamera geschehen zu lassen.

Natürlich obliegt den Journalisten nicht die Verantwortung, eine Situation wie diese zu lösen. Dafür gibt es Verhandler, die Polizei, das Militär, den Geheimdienst. An diesem fünften September scheint es allerdings so, als wären Spezialisten für Situationen wie diese landesweit auf Urlaub, und nur das Fernsehen wäre imstande, entsprechend rasch zu reagieren. Keine hundert Meter vom Schauplatz des Geschehens fallen dann am Morgen des besagten Tages Schüsse, die nicht nur von Dolmetscherin Marianne Gebhardt, gespielt von Leonie Benesch (Das Lehrerzimmer), gehört und gleichsam richtig interpretiert werden. Was tut ein Nachrichtensender in diesem Fall? Er mobilisiert alles, was er hat, um Bad News wie diese ins Programm zu bringen. Unter der Führung des Fernsehproduzenten Roone Arledge erhält der aufstrebende Redakteur Geoffrey Mason, der sich schließlich profilieren will, die Regiegewalt über eine Ausnahmesituation, die sich so unberechenbar anfühlt wie eine Naturkatastrophe. Entsprechend hektisch, hastig und angespannt wird es an diesem Tag und der darauffolgenden Nacht auch zugehen.

Der deutsche Regisseur Tim Fehlbaum, der zuletzt den sehenswerten dystopischen Science-Fiction-Film Tides ins Kino brachte, orientiert sich am Genre des dokumentarischen Journalismus-Thrillers, wie ihn einst Alan J. Pakula (u. a. Die Unbestechlichen) inszeniert haben mag. September 5 fühlt sich in Folge wohl eher wie ein Film an, der nicht nur von den frühen Siebzigerjahren berichtet, sondern womöglich auch damals und zwar genauso hätte gedreht werden können. Die Ausstattung, das Setting, das Gefühl eines Zustands weit vor dem Informationszeitalter, das die Welt nachrichtentechnisch um vieles kleiner machen wird, geben ein immersiv-stimmiges Bild ab. Unterstützt wird dieser Stilwille vorallem auch durch eine Menge authentischen Bildmaterials, denn alles, was man auf den Fernsehschirmen sieht – mit Ausnahme des Moderators von abc – sind Filmdokumente von damals. Dadurch rückt September 5 näher an das Genre der Dokumentation heran. Und als ob dieser Fokus auf die wahren Geschehnisse aus der Sicht des Nachrichtenjournalismus nicht schon ausreichend eng gezogen wären: die Idee, das Ganze als Kammerspiel umzusetzen, macht das Szenario noch kribbelnder und panischer. Auf engstem Raum stauen sich nun Informationen und Emotionen, Druck, Stress und hundertzehn Prozent Aufmerksamkeit. Die Akkuratesse und die Anstrengung einer Live-Show, in der Anweisungen im Stakkato niederregnen und alle möglichen Leute für alles mögliche eingeteilt werden, während niemandem auch nur die kleinste Entwicklung der Geschehnisse entgehen darf – angesichts dieses unter Strom stehenden Arbeitsklimas schwirrt einem bald selbst der Kopf. Die vielen Namen, die vielen Wendungen, die vielen Fronten – Fehlbaum bündelt sie alle irgendwie und bricht sie auf ein Ensemble herunter, das im geschulten Teamwork miteinander synergiert.

Die Kritik an der Moral der Nachrichten und dem damit einhergehenden Missbrauchs menschlicher Katastrophen zum Nutzen der Quote kommt allerdings zu kurz. Ob die Terroristen zufälligerweise auch sehen, was abc in seiner Live-Show fabriziert, ist nur eine von wenigen hinterfragenden Überlegungen zur journalistischen Arbeit. Alles andere ist Berichterstattung, verständlicher Ehrgeiz, aber niemals die Absicht, mutwillig, für den eigenen Erfolg, die Lage zu verschlimmern oder gar über Leichen zu gehen. Übersehen lässt sich vielleicht so manche Grauzone, durch den Willen zur Information treibt manche Beteiligte zur Reflexion über das eigene Tun zwar etwas spät an, aber besser als nie. Dass das Drama von München 1972 derart eskalierte, lag wohl eher an der Überforderung der Behörden und an der Ratlosigkeit, mit Terror umzugehen. Somit ist September 5 keine Medienschelte wie Reporter des Satans, Network oder Nightcrawler – sondern schlicht und ergreifend ein emotionaler, aber akribisch aufgearbeiteter Tatsachenbericht ohne erwähnenswertem Tiefgang.

September 5 (2024)

Stars at Noon (2022)

NACKT IN NICARAGUA

5/10


starsatnoon© 2022 Ad Vitam Distribution


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: CLAIRE DENIS

DREHBUCH: CLAIRE DENIS, ANDREW LITVACK, LÉA MYSIUS

CAST: MARGARET QUALLEY, JOE ALWYN, DANNY RAMIREZ, BENNY SAFDIE, JOHN C. REILLY, NICK ROMANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Reden wir nicht über Politik. Reden wir über die Liebe. Oder die Leidenschaft. Die Sexuelle Begierde, die in zerknüllten feuchten Laken und dampfenden Körpern – mein Gott, ist das schwülstig formuliert – ihren Ausdruck findet. Doch ob schwülstig hin oder her: in letzter Zeit ist mir kein anderer Film untergekommen, der die Definition von romantischem Abenteuer so sehr in eine Groschenroman-Ästhetik verpackt wie Stars at Noon. Die französische, sich quer durch alle Genres durchkostende Vielfilmerin Claire Denis hat sich eines Romans aus den Achtzigern angenommen, der in den Wirren des Nicaragua-Krieges spielt und sehr viel mit CIA, waghalsigem Journalismus und zwielichtigen Nutznießern aus der Wirtschaft zu tun hat. Alles Faktoren, die großes internationales Kino versprechen, so episch, als wären Catherine Hepburn und Spencer Tracy oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart traumwandelnde Gestalten inmitten politischer Umbrüche und derlei gesellschaftlicher Spannungen, die damit einhergehen.

Traumwandlerisch ist wohl das Adjektiv, das am besten zu Stars at Noon passt. Ins Zentrum setzt Claire Denis Margaret Qualley, die Tochter Andie McDowells und seit Tarantinos Once Upon a Time… in Hollywood einem breiteren Publikum wohlbekannt. Sie gibt eine amerikanische Journalistin, die unangenehme Fragen gestellt und einen Artikel veröffentlicht hat, den allerlei mächtige Leute als bedenklich einstufen. Das hat zur Folge, dass die junge, durchaus promiskuitive Dame ohne Geld und ohne Pass in Nicaragua festsitzt und darauf hofft, durch Sex in die Gunst mancher Männer zu gelangen, die Beziehungen haben. Nicht selten lässt sie sich dafür auszahlen, darunter auch von Geschäftsmann Daniel (Joe Alwyn), der den Reizen der zugegeben hocherotischen Trish naturgemäß erliegt. Dieser Geschäftsmann aber hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, und zwar mit jenen der costa-ricanischen Polizei und natürlich auch mit der CIA, und allesamt sind sie hinter ihm her, während Trish, immer noch darauf aus, ihre Papiere zurückzuerlangen, Daniel zur romantischen Zweisamkeit nötigt, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Letztendlich beschließen sie, sich gemeinsam Richtung Costa Rica abzusetzen. Auch ohne Pass und Geld.

Was an Stars at Noon am meisten fasziniert, ist das Gesicht von Margaret Qualley. Claire Denis kann sich daran nicht sattsehen. Wenn das liebreizende Konterfei nicht reicht, gibt’s Qualley auch im Evakostüm vor dem Fenster, vor dem Spiegel, auf dem Bett oder im Badezimmer. Es ist, als hätte Richard Hamilton lediglich seinen Weichzeichner vergessen, doch die eingefangene, schweißtreibende Schwüle tut ihr Übriges, um Konturen aufzuweichen. Stars at Noon ist schön anzusehen, keine Frage. Diese stellt sich aber umso mehr, betrachtet man den offensichtlichen Anachronismus des Films. Denis liegt weder daran, eine komplexe politische Geschichte zu erzählen noch daran, all die Umstände, die Trish und Daniel dorthin gebracht haben, wo sie sind, näher zu erläutern. Nicht mal die Zeit scheint von Bedeutung, Referenzstücke, um ein bestimmtes Jahrzehnt zu eruieren, fehlen gänzlich. Also vermischt sie Versatzstücke der modernen Gegenwart wie Smartphones und Chipkarten mit den politischen Unruhen der Reagan-Ära. Indizien, die nicht zusammenpassen.

Überhaupt nutzt Stars at Noon seinen fadenscheinigen Plot lediglich als abstrahiertes Konstrukt, als simplifizierte Verzerrung eines relevanten Politikums. Wie ein hohles Gefäß, in das Claire Denis ihre Zeit totschlagende Romanze bettet, eine Art Kulisse ohne Tiefe, eine austauschbare Variable für Thrillerdramen aller Art. In diesem kafkaesken Mysterium stört Margaret Qualley rein gar nichts, ihr breites Lächeln entschädigt für vieles, jedoch nicht für das langweilige Spiel von Joe Alwyn, zwischen beiden sprüht kein Funke. All die übrigen Figuren sind Staffage rund um Qualleys einnehmender Entrücktheit, der man die Rolle der investigativen Journalistin keine Sekunde abnimmt. Wer sind sie dann, diese beiden? Kolportierte Antihelden einer Stil-Hommage an den amerikanischen Film Noir, deren Plots manchmal so undurchschaubar waren, dass man sich am liebsten gar nicht damit auseinandersetzen, sondern nur mit den schmachtenden Momenten der Liebenden Vorlieb nehmen wollte. Diese Diffusion gelingt Claire Denis dann doch. Ob schwülstige Tropennächte das Soll erfüllen? Wie bei so vielen anderen Filmen bleiben bei diesem hier ohnehin nur Fragmente in Erinnerung. Es sollen die richtigen sein.

Stars at Noon (2022)

Civil War (2024)

MAKE AMERICA BREAK AGAIN

8,5/10


civilwar© 2024 A24 / DCM


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ALEX GARLAND

CAST: KIRSTEN DUNST, WAGNER MOURA, CAILEE SPAENY, STEPHEN MCKINLEY HENDERSON, JESSE PLEMONS, NICK OFFERMAN, SONOYA MIZUNO, JEFFERSON WHITE, NELSON LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Der Sturm aufs Kapitol hätte der Anfang werden können für etwas, dass wohl die ganze Weltordnung neu geschrieben hätte. Denn wir wissen längst: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben diese immer schon mitbestimmt, war es nun der Erste oder der Zweite Weltkrieg, Operation Wüstensturm, der Sturz Saddam Husseins oder die Bereitschaft, die Ukraine gegen den russischen Aggressor mit allerhand Kriegsmaterial zu unterstützen. Das US-Amerika ist nicht nur Entscheidungskraft im weltpolitischen Handel, auch die Lebenswelt in Übersee ist uns dank des übereifrigen Outputs an Hollywood-Filmen so dermaßen vertraut, als würde man selbst dort drüben leben. Keine andere Staatengemeinschaft wie diese hat dermaßen viel Einfluss. Umso erschreckender muss es also sein, wenn die selbsternannte Weltpolizei, die geschlossen gegen die Achsen des Bösen angekämpft hat, plötzlich und im eigenen Land nicht mehr Herr der Lage ist und von innen heraus zerbricht. Es wäre eine Katastrophe langen Atems und alles umstürzend, was die Wohlstandswelt wertschätzt.

Als Anfang von etwas Neuem und zweifelhaft Gutem hätte der 6. Januar 2021 zwar nicht sogleich einen Krieg, dafür aber einen weitaus größeren Erdrutsch verursachen können, der Folgen nach sich ziehen hätte können, die Alex Garland nun in die existenzgefährdenden Albträume der US-amerikanischen Bevölkerung als böse Saat einpflanzt. Der Umbruch ist in Civil War längst nicht mehr aufhaltbar, die Ordnung ist dahin, der Notstand ein Euphemismus. Dieser Film ist nichts, was uns Europäer nicht angeht. Er bedient die größte Angst der westlichen Welt, ihre prachtvolle Convenience-Blase platzen zu sehen. Weil plötzlich ist, was nicht sein darf. Weil die Welt nur immer woanders zugrunde geht, nur nicht hier, wo der Überfluss alles richtet.

Civil War ist weniger ein politischer Film. Alex Garland ist es sowas von egal, wer nun wen bekämpft, welche politischen Agenden dahinterstecken, welche Ideale nun kolportiert werden und was sich der noch amtierende Präsident der Vereinigten Staaten eigentlich hat zuschulden kommen lassen, um jetzt um sein Leben zu bangen. Denn schließlich ist es ja so, dass jene Recht behalten, die dieses Gemetzel gewinnen. Kriege verlieren hingegen sehr schnell ihren Sinn, der Ausnahmezustand schafft ein Vakuum, in dem sich nur schwer ein gewisser Alltag leben lässt. Und wenn doch, erscheint er grotesker als alles andere. So einen Zustand müssen die vier Journalistinnen und Journalisten Lee, Jessie, Joel und Sammy erstmal verdauen und als gegeben akzeptieren. Sie sind unterwegs quer durchs Land, um zur rechten Zeit am richtigen Ort den schwindenden Präsidenten zu einigen letzten Worten zu bewegen, denn alles sieht danach aus, als stünden die Western Forces kurz davor, auch die letzte Bastion der alten Paradigmen niederzureissen. Es ist wie die Schlacht um Berlin, die Schlacht um Bagdad, die Schlacht um eine heile falsche Welt, die bald entbrennen wird. Das Quartett möchte vor allen anderen ins Weiße Haus gelangen, der Ehrgeiz des Reporters ruft, und die Versuchung, zu selbigem des Satans zu werden, lockt wie schnöder Mammon. Sie versuchen, Würde zu wahren und so zu tun, als würde sie der jeweils andere interessieren. Eine Zweckgemeinschaft, die während einer über 800 km langen Fahrt Zeuge einer Zombieapokalypse nur ohne Zombies wird, in der rechtsextreme Republikaner die Gelegenheit am Schopf packen, ihre Welt von allem Fremden zu säubern, Scharfschützen ohne Fraktion einander die Birne wegschießen und Lynchjustiz an der Tagesordnung steht. Es sind Bilder, die man von woanders kennt.

Endlich sieht man mal wieder Kirsten Dunst in einer Rolle, die ihr auf den Leib geschneidert scheint. In längst abgestumpfter Professionalität einer Kriegsreporterin hat sie alles schon gesehen, nur sie selbst war noch nie wirklich Teil davon. Wagner Moura als jovialer Cowboy, Stephen Henderson als der amerikanische Christian Wehrschütz, der schon längst in den Ruhestand hätte treten sollen, es aber nicht lassen kann, und zuletzt Cailee Spaeny (Priscilla) als kindlicher Ehrgeizling, der zum einen eine Scheißangst vor dem Krieg hat, zum anderen aber bald die Gefahr als Droge missbraucht, um noch bessere Bilder zu machen als Lee Smith aka Kirsten Dunst, die es anfangs für keine Gute Idee hält, dieses Greenhorn mitzunehmen. Garland schafft mit diesen „Vieren im Jeep“ neben all der Kriegsstimmung und des Notstands ein Ensemblespiel in kunstvoller Effizienz, was das Portraitieren von Charakteren angeht. Civil War ist Kriegsreporter-Kino allererster Güte, so eindringlich wie Salvador oder The Killing Fields – und dann das: Anders als all die besten aus der Hochzeit des Politkinos Ende der Achtziger fühlt sich Civil War aufgrund seiner Nähe zu einer uns wohlbekannten Welt und einem unmittelbarem Zeitgeist tatsächlich so an, als sähe man das, worüber Garland berichtet, in den hauseigenen Nachrichten. Civil War ist das schweißtreibende Imitat einer nahen, möglichen Realität, die scheinbar Unzerstörbares aushebelt und niederringt. Immer wieder findet Garland Bilder von weltvergessener Schönheit und konterkariert seinen Krieg mit einer Compilation aus Countrysongs, Hip Hop- und Space Rock, die das Gesehene so irreal erscheinen lassen wie Napalmbomben am Morgen unter den Klängen von The Doors. Coppolas Antikriegs-Meisterwerk Apocalypse Now wirft Garland auch verstohlene Blicke zu – so manche Szene ist zu bizarr, um ihm Glauben zu schenken. Der Boden unter den Füßen findet kaum Halt.

Gegen Ende uns Zusehern vor die Füße geworfen, ist die Schlacht um Washington D.C ein Brocken selten gesehener, moderner Kriegsführung, sie gerät weder prätentiös noch pathetisch, sondern so authentisch wie der Lockdown oder Flüchtlingsströme vor der Haustür. Auf diesen Zug, in welchem Good News Bad News sind und Bad News irgendwann vielleicht Good News werden, springt Civil War auf und fährt die Achterschleife. Garland bringt seinen Plot dramaturgisch auf den Punkt, lässt weg, was den Höllenritt nur ausbremst, lässt manches im Geiste seines Publikums weiterspinnen, redet auch nicht lang drum herum. Als klar wird, dass die Härte und Arroganz der Kriegsführung im eigenen Land auch jener entspricht, mit der die USA bereits allerorts auf dieser Welt einfielen, wird einem so richtig mulmig. Die Zivilisation zeigt sich als Camouflage, der Altruismus in Krisenzeiten als Lippenbekenntnis. Wo es die Menschheit hinbringt, lässt Garland im Ungewissen. Was sie anstachelt, ist weniger der Mut zur Veränderung als lediglich die Gier nach einem wie auch immer gearteten Sieg.

Civil War (2024)

Verlorene Illusionen (2021)

DIE INFLUENCER VON DAMALS

7/10


verloreneillusionen© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: XAVIER GIANNOLI

DREHBUCH: XAVIER GIANNOLI & JACQUES FIESCHI, NACH DEM ROMAN VON HONORÉ DE BALZAC

CAST: BENJAMIN VOISIN, CÉCILE DE FRANCE, VINCENT LACOSTE, XAVIER DOLAN, SALOMÉ DEWAELS, JEANNE BALIBAR, GÉRARD DEPARDIEU, ANDRÉ MARCON U. A.

LÄNGE: 2 STD 24 MIN


Honoré de Balzac hat es schon immer gewusst. Und wir – wir wissen das auch nicht erst seit Inseratenaffären, Chat-Nachrichten und sympathisierenden oder antipathierenden Zeitungsartikeln, die die einen pushen und die anderen fallen lassen. Wer Geld hat, schafft an. Und hat das, soweit man zurückblickt, so schon immer praktiziert. In der Verfilmung des Romans Verlorene Illusionen aus dem neunzehnten Jahrhundert und geschrieben von niemand geringerem als Honoré de Balzac, gibt es keine Untersuchungsausschüsse oder Gerichtsverhandlungen wegen falscher Aussagen. Es gibt keine Prozesse wegen Rufschädigung oder übler Nachrede. In diesem Sündenpfuhl namens Paris ist niemandem, der Einfluss hat, auch nur irgendetwas heilig. Wer den Schaden hat, hat den Spott, wer die richtigen Beziehungen, der kann sich so lange hofieren lassen, bis andere mehr bieten, bessere Beziehungen haben oder einfach die schiere spitzbübische Freude daran finden, ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft nach Gutdünken zu manipulieren, bis nicht mehr erkennbar scheint, was eigentlich dessen Meinung war.

In dieses freie Spiel der Kräfte, in diesen Ring, in dem jeder gegen jeden kämpft, Bündnisse schließt, um sie wieder zu brechen – in diese Urgewalten aus Einfluss und Redefluss wirft sich der junge, noch nicht sehr wohlhabende Dichter und Schreiberling Lucien (Benjamin Voisin) dank der gönnerhaften Verliebtheit seiner Mäzenin Louise de Bargeton (Cécile de France), die, und das darf keiner wissen, mit dem knackigen Feschak längst eine Liaison hat. Im frühen 19. Jahrhundert können amouröse Verbindungen zwischen unterschiedlichen Klassen das Gefälle im Ansehen nicht überwinden, und da Louise de Bargeton keine Lust auf jedwede Ächtung hat, bleibt das Gspusi geheim. Wie Felix Krull, der vorgab, etwas zu sein, was er nicht hat, stehen Lucien dank seiner Mäzenin manche Türen offen, um in der Haute Volée mitzumischen. Bald wird bekannt, dass der Möchtegern-Literat weniger mit seinen sperrigen Gedichten auf sich aufmerksam macht, als vielmehr mit seiner spitzen Feder, die tief in die süffisante Polemik taucht, um Snobs und VIPs zu diskreditieren. Die Zeitungen sehen sowas gerne, die Leserschaft zerreißt sich die Mäuler, der Content wird zum Gesprächsstoff – und Lucien wird bald ganz oben angekommen sein. Was einen dort oben erwartet, ist erstens von kurzer Dauer und zweitens aus fast jeder moralischen Erzählung wie das Amen im Gebet: Wer hoch steigt, wird tief fallen. Und bald nutzen ihm all seine Beziehungen nichts mehr, nicht mal die mit dem resoluten Verleger Dauriat, dem Gerard Depardieu im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht verleiht.

Eine gewisse opulente Schwere kann man Xavier Giannolis Schicksalsschwarte von einem Film auch nicht wirklich absprechen. Statt gekleckert wird geklotzt, es biegen sich die gebohnerten Parkettböden in schmucken Hallen unter der Last des fein rausgeputzten Wer-bin-ich-wer-war-ich-Establishments, es trägt Benjamin Voisin als Lucien sein für die Öffentlichkeit erdachtes Ich zur Schau, als gäbe es kein Morgen mehr. Jenseits dieser Herrenhäuser und Prunkräume wird die Hauptstadt Frankreichs zu einem alle Werte über Bord werfenden Sodom und Gomorrha der Influencer und Follower von anno dazumal, zu einer geschichtlichen Anti-Nostalgie in üppigen Bildern, bei der man mit Erschrecken – obwohl man es längst gewusst hat – feststellt, dass die Welt niemals anders war. Dass seit jeher Meinungen gemacht wurden, Fake News verbreitet und Verlierer, die aus irgendwelchen Gründen auch immer plötzlich büßen müssen, durch den Dreck gezogen werden. Einen fast schon investigativen Gesellschaftsroman hat Balzac da geschrieben, Giannoli tischt uns die entsprechenden Bilder dazu auf, zusammengepresst auf ohnehin noch zweieinhalb Stunden, und dennoch zum Bersten voll mit Intrigen, Begehrlichkeiten und gnadenlosem Anarcho-Kapitalismus, der das ganze Räderwerk erst zum Laufen bringt. Es läuft bis heute.

Verlorene Illusionen (2021)

Tausend Zeilen (2022)

LÜGEN WIE GEDRUCKT

7/10


tausendzeilen© 2022 Warner Bros. Deutschland / Marco Nagel


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: MICHAEL HERBIG

DREHBUCH: HERMANN FLORIN

CAST: ELYAS M’BAREK, JONAS NAY, MICHAEL OSTROWSKI, MICHAEL MAERTENS, JÖRG HARTMANN, MARIE BURCHARD, SARA FAZILAT, IBRAHIM AL-KHALIL, DAVID BAALCKE U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Man soll nicht immer glauben, was man sieht. In Zeiten von Deepfake und Midjourney gilt dieser Leitsatz mehr denn je. Man soll aber auch nicht immer glauben, was in den Zeitungen steht. Schon gar nicht irgendwelche Reportagen, die vorgeben, Monate an Recherche damit zugebracht zu haben, um an jene Erkenntnis zu gelangen, die uns Lesern die Sprache verschlägt. Durchs Querchecken über mehrere Medien hinweg könnte man unter Umständen einen gemeinsamen Nenner und somit die Wahrheit finden. Alles andere wird schwierig oder ist eine Sache des Vertrauens für das Magazin unserer Wahl.

Wenn die Stories schmissig, spektakulär genug und einen gewissen Unterhaltungswert besitzen, fragt man sich wohl kaum, wie gut recherchiert das Ganze wohl gewesen sein muss. Auch bei Baron von Münchhausen hingen gespannt lauschende Zeitgenossen an dessen Lippen, um dem Ritt mit der Kanonenkugel zu folgen. So etwas gibt’s auch heute noch. Und mehr denn je, vor allem aus politischer Motivation heraus, um mit Desinformation vielleicht gar einen Krieg zu gewinnen. Dieser vorliegende, von Michael (Bully) Herbig verfilmte und namentlich leicht veränderte Fall hat ungefähr so stattgefunden. Statt des Magazins Der Spiegel hört hier das Medium auf Die Chronik. Statt Claas Relotius nennt sich der Hochstapler hier Lars Bogenius. Und Aufdecker Juan Moreno klingt mit Juan Romero fast schon so ähnlich wie das Original.

Es ist überraschend, dass Der Spiegel immer noch ein gewisses Vertrauen genießt, nach allem, was da 2018 so vorgefallen war. Wer den Spiegel liest, könnte doch mit einer irgendwie-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, heißer zu essen als gekocht wurde. Wie zum Beispiel das Süppchen von Wunderkind Bogenius aka Relotius, das allen schmeckte. Denn es war wortgewaltig, schmissig und wie aus einem Guss. Sagenhafte Erkenntnisse gingen einher mit authentischen Schilderungen, die wirklich berührten. Die Folge: ein Preisregen nach dem anderen. Der Jungspund war und ist sich seiner Sache so sicher, dass er seine Methoden auch dann nicht ändert, als er erstmals mit einem Kollegen kooperieren muss, um eine Reportage über illegale Flüchtlinge aus Mittelamerika zu gestalten, die sich an der Grenze zu den USA mit rechtsextremen, selbsternannten Grenzhütern konfrontiert sehen. Während sich Juan Romero abrackert, um authentisches Material zusammenzubekommen, streckt Bogenius alle Viere von sich, genießt sein Leben im Luxus und inkognito und saugt sich seinen Teil der Story aus den Fingern. Romero kommt das Ganze aber sehr bald spanisch vor – und entdeckt einige Ungereimtheiten in den Schilderungen seines Kollegen. Dies also ist der Anfang vom Ende einer Traumkarriere auf Pulitzer-Preis-Niveau. Und die Wahrheit – die ist so bizarr und beschämend wie das Echtheitszertifikat sämtlicher Tagebücher eines ehemaligen Diktators.

Tausend Zeilen nennt sich Michael Herbigs Film. Und er ist weder klamaukig, noch besitzt er Schenkelklopfer-Humor, noch geht er mit seinem Thema so um, als wäre es eine leichte Komödie für zwischendurch. Nach dem knackigen DDR-Thriller Ballon ist dem Spaßmacher und Parodisten, dank welchem wir Winnetou und Spock mit anderen Augen sehen, abermals eine souveräne True Story gelungen, dem der situationsbezogene Humor nicht fremd ist und als schneidige Boulevard-Chronik dem Skandal-Kino eines Helmut Dietl um wirklich wenig bis gar nichts nachsteht.

Elyas M’Barek ist als Aufdecker eine Identifikationsfigur, der man gerne – und gemeinsam mit Michael Ostrowski als dessen Buddy – durch dick und dünn folgt, alles für einen guten Zweck. Wie sehr der Chefredaktion dann widerstrebt, der Wahrheit ins Auge zu sehen und ihr Steckenpferd auf den Prüfstand zu hieven, ist süffisantes und bisweilen auch augenzwinkerndes Unterhaltungskino mit Mehrwert. Zwar niemals tiefschürfend und das Credo der Wahrheitspflicht hinterfragend (aber das war Schtonk! auch nicht), dafür aber so unbeschwert von der Leber weg erzählt, dass einem die Spielzeit des Films nur so durch die Finger flutscht. Gut, etwas mehr als 90 Minuten sind keine Challenge. Dennoch weiß Herbig mit dem Drehbuch von Produzent Hermann Florin gut umzugehen und den Plot so straff zu halten, dass er runtergeht wie der gut geölte, vielleicht auch etwas aufgerüschte Aufmacherartikel einer renommierten Zeitschrift. Mehr davon!

Tausend Zeilen (2022)

Minamata (2020)

MEHR ALS TAUSEND WORTE

7/10


minamata© 2020 Larry D. Harricks


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

REGIE: ANDREW LEVITAS

BUCH: ANDREW LEVITAS, DAVID K. KESSLER, STEPHEN DEUTERS, JASON FORMAN

CAST: JOHNNY DEPP, MINAMI, BILL NIGHY, HIROYUKI SANADA, JUN KUNIMURA, RYO KASE, TADANOBU ASANO, AKIKO IWASE, KATHERINE JENKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Johnny Depp ist zurück – und hat trotz des Rosenkriegs mit Amber Heard nichts an seinen schauspielerischen Qualitäten eingebüßt. Vielleicht liegt es auch daran, dass man Johnny Depp gar nicht mal sofort erkennt. Diesmal versteckt er sein noch nicht so aufgedunsenes Konterfei hinter graumeliertem Kinnbart a la Abraham Lincoln, während auf seinem Haupt silberne Locken die Steven Seagal-Gedächtnisfrisur vom späteren Zeugenstand vergessen machen. In solchen Rollen, die ihn unkenntlich machen, dürfte sich der Star am wohlsten fühlen. Ist das Äußere dem seinen fremd, kann er sich fallen lassen – und völlig in jener Figur aufgehen, deren Biografie er imitieren muss. Mit Bravour ist ihm das auch diesmal gelungen.

In Andrew Levitas biographischem True-Story-Drama gibt der weltbekannte Schauspieler den 1978 verstorbenen Live-Fotografen W. Eugene „Gene“ Smith, der Anfang der Siebziger längst alles fotografiert und gesehen hat, was auf dieser Welt damals im Argen lag. Desillusioniert, von seiner Familie distanziert und dem Alkoholkonsum alles andere als abgeneigt, denkt er tatsächlich darüber nach, seinem Leben ein Ende zu setzen. Bis es plötzlich an seine Tür klopft. Auf der Matte steht die japanische Übersetzerin Aileen, die Smith dazu bewegen will, sich für ihre Initiative einzusetzen, die in Japan gegen einen Industriekonzern rebelliert, der die Gewässer in und rund um Minamata vergiftet hat. Über Generationen hinweg scheint das quecksilberhaltige Abwasser zu jener Krankheit geführt zu haben, die mittlerweile als Minamata-Krankheit im Pschyrembel steht. Sichtbar wird dieser industrielle Fluch, wenn vor allem junge Menschen unter Ataxie und Lähmungen leiden, in den schlimmsten Fällen in völliger Unbeweglichkeit auf Pflege rund um die Uhr angewiesen sind. Der Life-Fotograf soll all die Fälle dokumentieren, und tatsächlich gewährt ihm Chefredakteur Bob Hayes (Bill Nighy) ein letztes Projekt, bevor das legendäre Magazin wohl eingestellt werden wird. In Japan angekommen, wird für Smith schnell klar, dass es um mehr geht als nur darum, das Leid anderer zu knipsen. Nebenher geht’s auch um die eigene Katharsis.

Womöglich hätte Minamata längst nicht so gut funktioniert, hätte das Tatsachendrama rund um eine unter Fotojournalisten legendäre Fotografie namens Tomoko in ihrer Badewanne keinen so charismatischen Hauptdarsteller wie Johnny Depp gefunden. Die tragischen Fälle in Japan setzen das Schicksal des von ihm dargestellten, renommierten Fotografen noch dazu in gesunde Relation. Plötzlich wird Levitas‘ Film zum Menschenrechts- und Politdrama im stinkenden Dunstkreis kapitalistischer Bereicherung. Nicht nur irgendwie, sondern ganz deutlich erinnert Minamata an Todd Haynes Real-Kino Vergiftete Wahrheit mit Mark Ruffalo in der Rolle eines Anwalts, der gegen den Teflon-Konzern ins Feld zog. Diesmal ist es der im Kreuzfeuer der Menschenrechtler stehende Chemiekonzern Chisso – und wir sehen anhand eingängiger Bilder und präzise nachgestellter Fotografien, die genau so existieren, einen entbehrungsreichen Kampf gegen die Allmacht der Profitgier.

Natürlich ist Minamata klassisch inszeniert und sehr konventionell, was wiederum dem Auftrag geschuldet ist, Fakten nicht zu verzerren, auch – oder vor allem – wenn es fürs Kino ist. Johnny Depp bereichert die ganze wichtige True Story eines Umweltskandals mit schauspielerischem Glanz und setzt so obendrauf noch die Biographie eines gescheiterten Genies.

Minamata (2020)

France (2021)

ANCHORWOMAN AM HAKEN

4,5/10


france© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN, DEUTSCHLAND, BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: BRUNO DUMONT

CAST: LÉA SEYDOUX, BLANCHE GARDIN, BENJAMIN BIOLAY, EMANUELE ARIOLI, FRANÇOIS-XAVIER MÉNAGE, JULIANE KÖHLER, JAWAD ZEMMAR U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Voller Inbrunst dirigiert sich Cate Blanchett derzeit im Kino vom Olymp der Virtuosen in den Hades hinunter, hat akustische Halluzinationen und muss sich mit dem Vorwurf des Machtmissbrauchs herumschlagen. Todd Field hat mit Tár ein oscarnominiertes Psychogramm inszeniert, dass sich zu sehr auf seine Fachsimpelei verlässt und lieber den Alltag einer Musikerin verfolgt als die eigentliche Geschichte, die Brisanz genug hätte. Auf ähnliche Weise verschieben sich beim fiktiven französischen Ruhmes-Portrait France die Prioritäten, wobei hier die Skandalgeschichte eigentlich wegfällt – zumindest wird diese nicht als Kernstück des Filmes versprochen, ohne dann umgesetzt zu werden. Der Skandal in France ist nur eines von vielen Symptomen, die das gegenwärtige Leben der berühmten, aber fiktiven Star-Journalistin France du Meurs illustrieren. France steht also nicht für den Staat (oder vielleicht doch, irgendwie?), sondern für eine übertrieben ehrgeizige, bildschöne und virtuose Manipulatorin, die mit den Medien umgeht wie ein Profifußballer mit dem runden Leder. Alles tanzt nach ihrer Pfeife, will sogar den Anspruch auf Wahrheit opfern für geschickt arrangierte Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die eigentlich nur France selbst in Szene setzen und nicht das zum Beispiel zerschundene Bürgerkriegsland, in welchem so vieles im Argen liegt.

Diese France also ist wie Tár, ganz oben an der Spitze des Erfolges, von wo aus es nur abwärts gehen kann. Die Boulevardpresse schlachtet ihr Leben aus, ihr Konterfei lächelt von allen möglichen Plakaten und ist omnipräsent. So viel Öffentlichkeit kann niemals guttun, also zieht sie sich nach einem Skandal für eine Zeit lang aus selbiger zurück, um sich in den Schweizer Alpen einer Psychotherapie zu unterziehen. Dort lernt sie einen attraktiven jungen Mann kennen, dem ihre Prominenz bislang entgangen zu sein scheint. Diese erfrischende Unvoreingenommenheit dieses Kerls und dessen verträumter Sinn für Poesie beeindrucken France sehr – und so fängt sie eine Beziehung an, obwohl selbst verheiratet und Mutter einer Tochter.

Von satirischen Spitzen und Demaskierungen der Medienwelt wie in Wag the Dog oder dem bitterbösen Network fehlt in Bruno Dumonts Prominentendrama jede Spur. Die Darstellung von Frances Selbstinszenierung hat nicht mehr zu sagen als sie darstellt, was Ruhm für manche bedeuten und nicht bedeuten kann, welche Werte dabei vorrangig sind und welche nicht. Léa Seydoux (u. a. An einem schönen Morgen) gibt diese exaltierte, selbstbewusste Person mit den immer größer werden Sprüngen in ihrem Ego als eine im Leerlauf befindliche Erfolgsperson, die sich neu sortieren muss. Klar ist alles nur Fassade, oder zumindest meistens. Und so zelebriert Dumont ( u. a. Eine feine Gesellschaft) auch wirklich des Öfteren und später viel zu oft die inflationäre Omnipräsenz von Seydoux‘ ansprechendem Gesicht in allen Lebenslagen. Ob Lachen, Weinen oder Verzweifeln – France ist ein Film, der sich über zwei Stunden lang nur um eine einzige Person dreht, ohne je wirklich gegen das zum Showbiz verkommene Nachrichtensegment in den Medien loszutreten. So viel Personenkult ohne entsprechenden Wandel ermüdet auf Dauer – und dreht sich im Kreis, auch wenn der guten Dame letztendlich nichts erspart bleibt und die Schicksalsschläge alle für ein Drama der Extraklasse reichen. France betrachtet diese gelangweilt aus der Distanz. Und wir mit ihr.

France (2021)

She Said

DURCH DIE MAUER DES SCHWEIGENS

7/10


shesaid© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MARIA SCHRADER

BUCH: REBECCA LENKIEWICZ

CAST: CAREY MULLIGAN, ZOE KAZAN, PATRICIA CLARKSON, ANDRE BRAUGHER, JENNIFER EHLE, SAMANTHA MORTON, ANGELA YEOH, MAREN HEARY, SEAN CULLEN, TOM PELPHREY U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Der Despot ist immer und überall, ganze zwei Stunden lang. Er durchdringt die Geschehnisse, die Schicksale und den Widerstand gegen Machtwillkür wie eine körperlose Entität – und dennoch haben wir ihn immer vor Augen, diesen beleibten, ekelhaften Riesen, der nur ein Wort zu sprechen braucht, schon würden alle nach seiner Pfeife tanzen. Bei so viel Macht liegt die Schuld auch bei denen, die diese Macht überhaupt erst zuließen. Wie bei jedem Tyrannen. Dieses Mal ist es Harvey Weinstein, ein zu 23 Jahren Haft verurteilter Frauenschänder, der nichts mehr genossen hat als seine Macht auf sexueller Ebene auszuspielen. Das so jemand Filme wie Pulp Fiction oder Shakespeare in Love ermöglicht hat, würde man am liebsten verdrängen. So wie Maria Schrader die physische Präsenz des Miramax-Imperators bis auf ganz wenige Szenen ausspart, weil es vollends genügt, einfach nur die Möglichkeit anzudeuten, einer wie er treibt überall sein Unwesen.

Dass sich durch den Verzicht des Abbildens diese Präsenz noch mehr verstärkt als durch schnöde Nachahmung, ist eines der Hattricks in diesem präzise ausformulierten Drehbuch von Rebecca Lenkiewicz, welches Maria Schrader genauso präzise in Szene setzt. Und wahrlich: Im Gegensatz zu ihrem letzten Film, den sehenswerten Androiden-Philosophikum Ich bin dein Mensch ist She Said ungleich komplexer – eine inszenatorische Abschlussprüfung, ein aus unzähligen Einzelteilen und ebenso vielen Gesichtern bestehendes Recherche-Puzzle, das sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert, um keinen Faden zu verlieren oder in Erklärungsnotstand zu geraten. Schrader war sich ihrer Aufgabe bewusst – und steht in ihrer Sorgfalt Regiekollegen wie Alan J. Pakula (Die Unbestechlichen), Adam McKay oder Tom McCarthy (Spotlight) in nichts nach, wenn es heißt, die Chronik weltverändernder Geschehnisse aufregend genug auf die Leinwand zu bringen.

Der erste kluge Schachzug in der Inszenierung ist die Vorwegnahme eines Einzelschicksals in wortloser Klarheit und in wenigen Szenen: Wenn Laura Madden nach anfänglicher Euphorie, an einem Filmset zu arbeiten, in der nächsten Szene plötzlich verzweifelt weinend die Straße runterläuft, ihre Kleider unter dem Arm, dann sagt das alles: Hier passiert jede Menge Unrecht, und zwei New York Times-Journalistinnen, die sich auf investigative Recherchen verstehen, nehmen sich dieses Themas an. Erstmal geht es nur im Allgemeinen um sexuelle Belästigung in der Filmbranche, später dann wird es konkret: Besagter Harvey Weinstein dürfte einigen Dreck am Stecken haben, davon können nicht nur Promis wie Rose McGowan, Gwyneth Paltrow und Ashley Judd (Chapeau vor so viel Engagement – sie spielt sich nämlich selbst) ein Klagelied singen, sondern auch unzählige Assistentinnen, die als verstörtes Lustobjekt Weinsteins mit Geld und Verschwiegenheitsklauseln mundtot gemacht wurden. Dabei ist Weinstein vielleicht nur die Spitze des Eisberges, während gerade in dieser Branche Nötigung und Missbrauch scheinbar überall als Teil der Firmenpolitik gebilligt werden.

Wir wissen, wie es bislang ausgegangen ist. Wie es aber dazu kam, und mit welchem Eifer und welchem Teamgeist die New York Times – gedreht wurde an Originalschauplätzen wie tatsächlich in der Zeitungsredaktion – hier am Ball geblieben war, weiß zu faszinieren. Carey Mulligan und Zoe Kazan als das Ermittlerduo Jodi Kantor und Megan Twohey ordnen sich schauspielerisch dem großen Ganzen unter. Sie transportieren ihre Rollen mit genügend Persönlichkeit, aber nicht zu viel, um ihre eigene Biografie daraus zu machen. Dabei stechen speziell die kleinen Nebenrollen aus der Fülle an Namen hervor, wie Weinsteins Sprachrohr Lenny oder Samantha Morton als Zelda Perkins, die mit einem bewegenden Dialog die Zeit stillstehen lässt.

Die Zeit ist in diesem Film übrigens ein Trugschluss. Bei einer Länge von zwei Stunden mutet der Film viel länger an, was aber nicht zum Nachteil gereicht. Grund dafür ist die Fülle an Wendungen, Puzzleteilchen und Intermezzi, die diesen Journalismus-Thriller nie langweilig werden lassen, sondern am Köcheln halten. Dabei bleibt das Streben nach erzählerischer Klarheit stets vorrangig. Vielleicht verdrängt diese Methode mitunter die Emotionalität, will aber auch Menschen wie Kantor und Twohey ebenso danken wie dem Umstand, dass Frauen angesichts solch erlittener Schmach niemals mehr ihre Stimme verlieren müssen.

She Said

The French Dispatch

DAS KLEINGEDRUCKTE IM FILM

5/10


frenchdispatch© The Walt Disney Company Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: WES ANDERSON

CAST: BILL MURRAY, OWEN WILSON, BENICIO DEL TORO, LEA SEYDOUX, ADRIEN BRODY, FRANCES MCDORMAND, TILDA SWINTON, TIMOTHÉE CHALAMET, MATHIEU AMALRIC, EDWARD NORTON, WILLEM DAFOE, SAOIRSE RONAN, CHRISTOPH WALTZ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Die Gefahr, Wes Andersons Filme mit anderen zu verwechseln, geht gegen null. Werke wie diese nachzudrehen, erfordern außerdem viel zu viel Kleinarbeit. Der Einzige, der an diese Art des Filmemachens noch rankommt, ist der zumindest phonetisch namensgleiche Schwede Roy Andersson (zuletzt mit Über die Unendlichkeit im Kino). Beide verbindet die Liebe zum Tableau, zum akkuraten Arrangement, und zum genau kalkulierten, punktgenauen Auftreten der Figuren, die dann genauso punktgenau wieder die Bühne verlassen. Doch um ehrlich zu sein, findet im Gegensatz zu Wes Anderson Namensvetter Roy den richtigen Ausgleich zur visuellen Exzentrik – er reduziert das gesprochene Wort und lässt stattdessen seine Arrangements sprechen. Der andere Anderson hingegen tut das nicht, oder sagen wir: immer weniger. Sein neuestes Werk The French Dispatch begeht überdies den Fehler, keine durchgängige Geschichte zu erzählen, sondern in sich abgeschlossene Miniaturen zu errichten, die das Kleinteilige nochmal zerkleinern und sich als vollgestopfte Setzkästen in dafür vorgesehene Setzkästen sortieren. Eine Fülle, in der sich Menschen mit Sammlerwut vielleicht zurechtfinden können – alle anderen, die gerne sammeln, das aber nicht exzessiv betreiben, sind versucht, manches in diesem Film gar nicht mehr wahrnehmen zu wollen.

Die Handlung eines solchen Streifens lässt sich auch kaum in ein paar Sätze packen. Einerseits tut sich auffallend viel, andererseits sind das Ereignisse, die aufgrund ihrer durchaus eitlen, artifiziellen Darstellung auf der Stelle treten. Die Basis dieser Episodensammlung bildet das Verlagshaus der Zeitschrift The French Dispatch in der fiktiven französischen Stadt Ennui-sur-Blasé. Chefredakteur und Gründer Arthur Howitzer (gespielt von Bill Murray) ist eben verschieden. Seinem letzten Willen nach soll es der Verlag seinem Gründer gleichtun. Für eine letzte Ausgabe finden sich eine Handvoll Journalisten ein, die für Howitzer geschrieben haben – vom radfahrenden Reporter bis zum Schreiberling für kulinarische Kostbarkeiten. Bevor diese allerdings einen Nachruf formulieren können, zeigt uns Wes Anderson, wer von diesen Leuten genau was zu Papier gebracht hat, jeweils anhand eines Artikels. Der Film „liest“ sich dann auch dementsprechend, hat insgesamt 75 Seiten und behält seine vage rote Linie dadurch, dass zwischendurch immer wieder Szenen aus dem Verlagshaus durchsickern, die Howitzer beim Lesen des eben inszenierten Geschriebenen zeigen.

Wie schon im Film Grand Budapest Hotel, der zumindest eine stringente Geschichte erzählt und dadurch auch deutlich griffiger erscheint, stehen auch hier namhafte Stars allein schon für einen Cameoauftritt Schlange. Die Liste ist lang, und leicht lässt sich der eine oder die andere übersehen, weil der andauernde Kommentar aus dem Off niemals Ruhe gibt. Das sind gewaltig viele Worte, und gleichzeitig aber gewaltig viele detailreiche Bilder, die auch noch beachtet werden wollen. Kaum glaubt man, mit all dem Input à jour zu sein, bröckeln die Episoden ins Tausendste. The French Dispatch ist ein Film, der dazu verleitet, einiges, nach eigenem Ermessen für nicht sonderlich relevant Befundenes in Klammer zu setzen. Anderson treibt es auf die Spitze, denn sein exzentrisches Herumblättern ist nicht nur ein verfilmtes Magazin mit all seinen Beiträgen, sondern auch mitsamt des Glossars, den Fußnoten und dem Quellennachweis, den das Publikum auch noch lesen muss.

The French Dispatch

Das Letzte, was er wollte

AUS DEM DSCHUNGEL IN DEN DSCHUNGEL

2/10

 

thelastthinghewanted© 2020 Netflix

 

LAND: USA 2020

REGIE: DEE REES

CAST: ANNE HATHAWAY, ROSIE PEREZ, BEN AFFLECK, WILLEM DAFOE, TOBY JONES U. A.

 

Irgendwo in der Provinz Nicaraguas schleicht Anne Hathaway als relativ unerschrockene Reporterin und Teil einer Guerillagruppe durch den Dschungel. Wir befinden uns mitten in den Achtziger-Jahren. In nämlichem mittelamerikanischem Land herrscht Bürgerkrieg. Die Volksfront der Contras gegen die linksorientierten Sandinisten. Anne Hathaway muss Furchtbares mit ansehen. So wie Rosamunde Pike als Marie Colvin in A Private War. Doch sie notiert fleißig alles, was sie sieht. Gerät ins Kreuzfeuer, steht natürlich mit einem Bein im Grab, wie das bei Kriegsreportern nun mal so ist. Mit dieser wuchtigen Intensität beginnt der von Netflix veröffentlichte und vormals beim Sundance Festival vorgestellte Film mit dem recht sonderbaren Titel Das Letzte, was er wollte. Diese Intensität aber will nicht lange halten. Dem, was mit der Verfilmung des gleichnamigen Buches von Joan Didion passiert ist, muss ich für meine Begriffe ein filmisches Armutszeugnis erteilen. Und das aus mehreren Gründen.

Einer dieser Gründe ist nicht Anne Hathaway. Sie hat ihr Drehbuch aufmerksam gelesen, improvisiert auch nicht und gibt sich professionell, soweit es die Charakterzeichnung zulässt. Ein Grund ist genauso wenig Willem Dafoe, denn der ist als etwas geistig verwirrter und egozentrischer Papa stark wie immer. Womöglich könnte einer der Gründe Ben Affleck sein. Wäre die Razzie für dieses Jahr nicht schon vergeben – er wäre ihrer würdig. So ausdruckslos habe ich selten jemanden spielen sehen. Es ist, als wäre Affleck das Gesicht eingeschlafen. Der Mann ist aber ob seiner paar kurzen Auftritte nicht das eigentliche Problem. Viel schlimmer ist die völlige Ratlosigkeit, wovon Das Letzte, was er wollte eigentlich erzählen will. Klar, im Mittelpunkt steht Hathaway – und ja, sie übernimmt den recht undurchsichtigen Auftrag ihres Vaters, eine dubiose Lieferung nach Costa Rica zu bringen, die natürlich vor Ort auch noch bezahlt werden will. Die Währung ist eine andere als gedacht – es sind Drogen. Und ganz plötzlich kommt die Iran-Contra-Affäre ins Spiel, hautnah miterlebt, bis über beide Ohren darin verstrickt. Soweit so spannend. Doch etwas haut nicht hin: Regisseurin Dee Rees, die mit der Südstaatenballade Mudbound zu Recht für Aufsehen gesorgt hat (lief ebenfalls über Netflix und war 2018 gar oscarnominiert), findet keinen Fokus. Für einen Politthriller enthält ihr Film viel zu viel Geschwafel, das die Handlung nicht weiterbringt. Statt prägnanter Schlüsselszenen inszeniert Rees stets am point of interest vorbei, kann ihren filmischen Schwerpunkt nicht finden und verliert immer wieder den roten Faden, sofern es jemals einen gegeben hat. Neben dem politischen Skandal rund um die Reagan-Präsidentschaft will der Film aber auch noch ein fiktiv biographisches Charakterdrama unterbringen und das psychologische Dilemma seiner Hauptprotagonistin relevant erscheinen lassen. Irgendwie hat diese Schiene keinen Platz. Das merkt man daran, dass das persönliche Drama relativ wenig tangiert. Interessanter wäre gewesen, den ganzen Kanälen hinter der Iran-Contra-Affäre mehr auf die Spur zu kommen als die Vater-Tochter-Storyline reinzubringen. Genau dieser unglückliche Mix nimmt dem Film seine Straffheit und Relevanz.

Das Genre des Politdramas oder –thrillers hat naturgemäß stets den Hang, letztlich viele Mosaiksteine zu einem großen Ganzen zu vereinen und jede Menge Details in den Dialogen zu verstecken, die wichtig sind für das Verständnis eines solchen Films. Da braucht es ein klar strukturiertes Drehbuch, das Aussieben von unnötigem Ballast, der sonst die Geschichte zum Stocken bringt. Ist nicht leicht, so ein Schritt. Ist auch durchaus schwierig, wenn die literarische Vorlage einfach mehr Seiten hat, um alles erzählen zu können als ein Film Minuten und Stunden. Das ist bei Das Letzte, was er wollte scheinbar nicht passiert. Das letzte, was ich wohl gewollt hätte, wäre gewesen, diesen Streifen zu sehen. Aber was weiß man im Vorhinein? Nichts Genaues – so wie der Film nichts Genaues zum Besten gibt.

Das Letzte, was er wollte