The Substance (2024)

WAHRE SCHÖNHEIT KOMMT VON INNEN

7/10


THE SUBSTANCE© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: CORALIE FARGEAT

CAST: DEMI MOORE, MARGARET QUALLEY, DENNIS QUAID, HUGO DIEGO GARCIA, GORE ABRAMS, MATTHEW GÉCZY, DANIEL KNIGHT, PHILIP SCHURER U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Nur nicht alt werden! Dabei ist laut Johann Nestroy Altern die einzige Möglichkeit, länger zu leben. Und die Sache mit dem Jungbrunnen, von welchem die Kosmetikbranche verspricht, dass man darin baden könne, erschließt sich auch nicht ganz. Somit bleibt die Sehnsucht nach ewiger Jugend, einem knackigen Körper und dem daraus resultierenden Wohlwollen einer Gesellschaft, die sich aus Bequemlichkeit ihrem Konservativismus hingibt und somit auch Werte weiterträgt, die längst schon obsolet sein sollten. Wie die des schlanken, makellosen Frauenbildes, auch wenn manche Konzerne in ihrem Marketingplan ein Herumrudern in eine liberalere Richtung versuchen. Allein: es wirkt nur bedingt. Zumindest das Showbiz ist hier gnaden- wie rücksichtslos. Und füttert die Dysmorphophobie, wo es nur geht.

The Substance ist ein Schreckgespenst für alle jene, die ihr Äußeres nicht für gut genug befinden. Das muss nicht zwingend mit dem Alter zusammenhängen, doch Coralie Fargeat (Revenge) sieht das größte Problem darin, den eigenen, der Entropie unterworfenen Körper nicht mehr lieben zu wollen. In ihrer Angst bestätigt würden sich Betroffene mit The Substance wohl nicht sehen, dafür macht sich das Werk allzu plakativ über Körperlichkeiten lustig und den unbeholfenen Drang, gefallen zu müssen. Der Mediengesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, und zwar in der freakigen Gestalt einer grenzenlos überzogenen Groteske, das könnte gelingen. Und tut es auch. Ein ganz klassisches Cannes-Highlight ist Fargeats Film schließlich geworden, erinnernd an Titane, nur gleich in mehreren anderen Genres wütend, während Titane viel schwieriger einzuordnen ist als dieses durchgetaktete und stampfenden Gym-Rhythmen unterworfene Gerangel zwischen altem und jungem Ich in ein und derselben Person, dargestellt durch die lange auf der Leinwand abstinente Demi Moore und Beauty Margaret Qualley. Ein leidenschaftlicheres Duo hätte Fargeat nicht finden können. Leidenschaftlich und auch bereit, sich in gewisser Weise aufzuopfern für eine Agenda, die schon Robert Zemeckis in den 90er verfolgt hat: dem Schönheitswahn eins auszuwischen.Der Tod steht ihr gut nannte sich die kecke Komödie mit Meryl Streep und Goldie Hawn, die ebenfalls dank einer Substanz die Möglichkeit der ewigen Jugend am Schopf packen. Bruce Willis als schwächelnder Männlichkeit blieb da nur, hilflos zuzusehen, wie gewiefte Spezialeffekte die Leiber der beiden Star-Ikonen ramponierten.

Nun beweist Demi Moore, wie sehr sie die Kunstfertigkeit von State of the Art-Maskenbildner über sich ergehen lassen kann – während Qualley mit strahlendem Sex-Appeal im Aerobic-Einteiler die Popbacken zucken lässt und das männliche Publikum dazu bewegt, ihren Male Gaze auszupacken. Anders als die beschwingte Screwball-Kritik von damals malt The Substance den Teufel an die Wand und bannt das Hässliche in ihre grell bebilderte, höchst freie Interpretation eines ganz anderen Stoffes: Oscar Wildes Dorian Gray durchläuft eine ähnliche Läuterung wie Elisabeth Sparkle aka Sue, die mit sich selbst, ihrem Äußeren und ihrem Erfolg niemals zufrieden sein kann. Man sieht: Neu sind Fargeats Überlegungen alle nicht, aber ernüchternderweise immer noch zeitgemäß und fürchterlich akut. So gibt sich Demi Moore eben dank der Empfehlung eines Unbekannten die volle Dröhnung okkulter Mittelchen, und noch ehe der Ex-Medienstar den Verdacht äußern kann, man hätte es hier mit Homöopathie zu tun, schält sich ein jüngeres Ich aus der in Stasis befindlichen Älteren, um für sieben Tage auf den Spuren längst vergangener Erfolge zu wandeln. Danach wechselt Alt gegen Jung und so weiter und so fort. Die Rechnung würde aufgehen, würde Sue (eben Qualley) nicht mit dem Gedanken spielen, ihr älteres Ich hinzuhalten – immer mehr und immer länger. Die Folgen sind absehbar, die Moral von der Geschichte tadelt die Gier nach Jugend in drastischen Bildern und wunden Details.

Irgendwann, nachdem The Substance längst ihren Höhepunkt erreicht und Demi Moores Körper alle möglichen Stadien des Verfalls durchgemacht hat, erreicht der Film einen Moment, wo er hätte enden können, denn schließlich ist alles erzählt, jede Metaebene angekommen. Die Sache liegt klar auf der Hand, der Twist ein erwartbar expliziter. Doch Fargeat gibt sich damit nicht zufrieden. Genauso wenig, wie ihre Figuren nicht wissen, wann sie aufhören sollen, weiß es die Regisseurin. Ganz im Sinne des Exploitation-Genres treibt sie das Jungbrunnen- und Schönheitsdilemma wie eine gesengte Sau durchs Dorf, nach dem Bodyhorror ist vor dem Bodyhorror, Carpenters The Thing lässt grüßen. Die Extreme nehmen zu, haben aber nur noch wenig Mehrwert. Der Rest der Groteske macht den Catwalk frei für eine zum Selbstzweck verkommenen Freakshow, um noch eins und dann noch eins draufzusetzen. Im Kino, im Film, da ist alles möglich, da muss man keinen Schlussstrich ziehen, vielleicht ist die vollständige Überdrehung ins Surreale letztlich das Mokieren über gesellschaftliche Parameter, die niemand ändern will.

Für schwache Mägen ist The Substance nicht geeignet. Wer mit Deformierungen nicht klarkommt und David Cronenbergs Fliege als bereits auf die Spitze getrieben betrachtet, wird hier eines Besseren belehrt. Merkwürdig ist die andauernde Reminiszenz an Stanley Kubrick, fraglich auch die wenig ausgearbeitete Rolle von Dennis Quaid, der als platter Männerwitz die Pointe nicht findet. Wer nicht nur den Exzess sucht, sondern durch unorthodoxen Kino-Expressionismus so sehr erfrischt werden will, dass er die althergebrachte Conclusio im besten Sinne herrlich verstört mitträgt, wird diese Filmerfahrung zu schätzen wissen. Als Auftakt für das Slash-Filmfestival ein idealer Blockbuster.

The Substance (2024)

Kinds of Kindness (2024)

DIE DROGE MENSCH

8/10


kindsofkindness© 2024 Searchlight Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: YORGOS LANTHIMOS, EFTHYMIS FILIPPOU

CAST: EMMA STONE, JESSE PLEMONS, WILLEM DAFOE, MARGARET QUALLEY, HONG CHAU, JOE ALWYN, MAMOUDOU ATHIE, HUNTER SCHAFER, YORGOS STEFANAKOS U. A.

LÄNGE: 2 STD 45 MIN


Jetzt hat er mich – jetzt hat mich Yorgos Lanthimos endlich mal so richtig überzeugt. Zugegeben: The Favourite war gut, top besetzt. Poor Things sowieso ein Hingucker und Emma Stone, nunmehrige Haus- und Hofschauspielerin des griechischen Meisters, am Zenit ihres Schaffens. Doch irgendetwas war dabei zu viel. Vielleicht zu viel Pomp, zu viele Schnörkel. Vielleicht sogar zu harmlos und mit schrägem Weitwinkel visuell in die obszöne Groteske getrieben. Dabei liegt Lanthimos Stärke scheinbar in sachlichen, surreal-philosophischen Miniaturen – in makabren Anekdoten über die Unzulänglichkeiten des menschlichen Daseins. Mit Kinds of Kindness – zu deutsch: Arten der Freundlichkeit bzw. Arten der Güte – schraubt der Autorenfilmer seinen Firlefanz zurück auf null, denkt wieder vermehrt um die Ecke und lässt sich von absurden Überlegungen leiten, die das eine ins andere führen. Doch einfach laufen lassen, wie David Lynch das gerne tut, ohne auch nur den geringsten Anspruch dabei zu hegen, eine Idee schlüssig auszuformulieren – das tut Lanthimos ganz bestimmt nicht. Seine Fragen wollen eine Antwort, oder zumindest als Frage im Raum stehen, auf welche diverse Antwortszenarien abprallen können, ohne dass die Frage selbst Schaden dabei nimmt.

Roy Andersson, der schwedische Exzentriker mit seinen endzeitlichen Episodentableaus, die so wirken, als hätte Wes Anderson seine ganze Leichtigkeit verloren, macht sich in seinen Werken ähnliche Gedanken wie Lanthimos. Über das Leben, über die Erbärmlichkeit des Menschseins. Über die Unendlichkeit. Oder den Tod. So denken also Lanthimos und sein Co-Autor Efthymis Fillipou, der für A Killing of a Sacred Deer in Cannes den Drehbuchpreis gewonnen hat, ebenfalls über das Leben nach. Und weniger über das Sterben. Dafür aber vermehrt über die schier unbegrenzten Ausdrucksformen menschlicher Abhängigkeiten. Sie überlegen, wie eine Person sich wohl verhalten muss, wenn es auf Dauer die einen gibt, die über jedes kleine Detail im Leben der anderen bestimmen. Dabei sind Freiheit, Souveränität und Widerstand natürliche Verhaltensmuster, um einem Fremddiktat zu entgehen. Jesse Plemons ist so ein Kerl, er spielt Robert, der von seinem Boss Raymond aka Willem Dafoe unentwegt bevormundet wird. Robert fügt sich ganz gut in die Rolle des devoten Universalbediensteten wie ein pawlowscher Hund. Bis das, was der Chef verlangt, plötzlich zu weit geht. In der zweiten Episode schlüpft das Ensemble aus Plemons, Dafoe, Emma Stone, Margaret Qualley und Hong Chau in neue Rollen, diesmal geht’s um Vertrauen und Paranoia und ein bisschen was von den Body Snatchers geistert durch ein beklemmendes Szenario voller blutiger Einfälle. Im dritten Gleichnis mögen Stone und Plemons auf der Suche nach einem Medium sein, welches Tote zum Leben erweckt. Ausgesandt werden sie von Omi, dem Guru einer obskuren Sekte, der sich die Freiheit herausnimmt, mit jedem seiner Mitglieder sexuell zu verkehren. Sex spielt auch diesmal wieder eine große Rolle, in all seinen Spielarten, vom flotten Vierer bis zum Missbrauch. Sex ist sowieso ein Spiel der Abhängigkeiten, ein Spiel der Macht und ein Mittel zur Zerstörung.

Kinds of Kindness schafft es in all seinen drei wirklich auf den Punkt formulierten Episoden, die so surrealen wie distanziert betrachteten Geschehnisse auf eine Weise abzurunden, das man am jeweiligen Ende die bittersüße oder bitterböse Pointe so genussvoll in sich aufnimmt, als würde ein glockenheller Gong auf das Grande Finale eines Zaubertricks hinweisen. In eleganter Coolness und ohne jemals den entspannten Lauf seiner Geschichte überholend, lotet Lanthimos immer mal wieder die Grenzen zum Horror, zum perfiden Psychothriller aus, um dann wieder die Dramödie des Menschseins zu feiern. Der Grieche folgt beharrlich den Konsequenzen seiner Geschichten. Er weiß, was er tut, wann er es tut und vor allem: warum er es tut. Kinds of Kindness ist präzise und bravourös, gespenstische Klavierkompositionen verzerren die bizarre Versuchsanordnung noch mehr. Vieles bleibt kryptisch, nicht alles macht Sinn. Auf der spiegelglatten Metaebene rutschen Stone, Plemons und Co durch Träume und Albträume, ohne Halt zu finden. Diese drei Escape-Szenarien funktionieren jedoch, wie sie sollen. Auswege gibt’s nur bedingt oder auch gar nicht.

Trotz der erheblichen Länge von fast drei Stunden hat Kinds of Kindness alles aufgeboten, was es braucht, um eine Filmerfahrung zu gewährleisten, die verblüfft, irritiert und packt. Lanthimos‘ messerscharfer Stil passt hier perfekt, und den Mensch als seine eigene Droge vorzuführen, für die es keinen Entzug gibt, liegt ihm am meisten.

Kinds of Kindness (2024)

Drive-Away Dolls (2024)

DAS PRACHTSTÜCK DES SENATORS

3/10


drive-away-dolls© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: ETHAN COEN

DREHBUCH: ETHAN COEN, TRICIA COOKE

CAST: MARGARET QUALLEY, GERALDINE VISWANATHAN, BEANIE FELDSTEIN, COLMAN DOMINGO, PEDRO PASCAL, BILL CAMP, MATT DAMON, JOEY SLOTNICK, C. J. WILSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 24 MIN


Seit den Achtzigerjahren verwöhnen diese Brüder ein liberal-intellektuelles Kinopublikum, das Freude am Autorenfilm hat, mit ungewöhnlichen Geschichten, bizarren Einfällen und schwarzhumorigem Endzeitfeeling zwischen Paranoia, Schicksal und Mordlust. Filme wie Barton Fink, Fargo, A Serious Man oder Inside Llewyn Davis prägen das späte amerikanische Kino, zu zweit sind die beiden meistens unschlagbar, von einigen wenigen halbgaren Zwischenspielen mal abgesehen. Schon vor drei Jahren war Joel Coen bereits allein unterwegs und setzte Denzel Washington als Macbeth in Szene. Gut gemeint, sprachlich hochwertig und in Schwarzweiß. Ethan Coen hat es ebenfalls erstmals ausprobiert, wie es ist, seinen Buddy nicht dabeizuhaben. Stattdessen engagierte er lieber Tricia Cooke für das Verfassen eines schrägen Roadmovie-Plots namens Drive-Away Dolls. Das klingt erstmal lustig und ungefähr so übergeschnappt wie der Brüder geistreicher Verwechslungsspaß Burn After Reading – ist es aber nicht.

Vielleicht wird’s beim nächsten Mal besser, denn Ethan Coens Solo-Einstand lässt in vielerlei Hinsicht zu wünschen übrig, jedoch weniger in Anbetracht seines queeren Engagements. Denn Margaret Qualley und Geraldine Viswanathan (u. a. Hala, Miracle Workers) sind selbstbewusste Lesben, mancherorts in anderen Reviews zu diesem Film bin ich über das mir bislang unbekannte Wort Dyke gestolpert – in Sachen Wortschatz lernt man niemals aus. Qualley und Viswanathan geben Jamie und Marian, zwei Freundinnen, denen allerdings nicht im Sinn steht, miteinander eine Liaison einzugehen, ist doch die Freundschaft viel wichtiger als entspannender Cunnilingus, der dann zur Beziehungskiste mutiert. Die beiden machen mit einem Leihwagen eine Spritztour nach Tallahassee in Florida, wo Marian mit Oma ornithologischen Exkursionen frönen will. Jamie schließt sich an, und was beide nicht wissen – im Kofferraum des Wagens weilen Dinge, von denen die beiden wohl lieber nichts in Erfahrung bringen sollten. Um diese brennheissen Güter nicht aus den Augen zu verlieren, rücken den Mädels zwei Gauner auf die Pelle, die sich allerdings so ungeschickt anstellen, als wären sie Laurel und Hardy. Weiters darf nicht unerwähnt bleiben, dass ein gewisser Senator (Matt Damon) keine unwichtige Rolle in diesem ganzen Rambazamba spielt, das sich allerdings ganz auf Qualley und Viswanathan verlässt, da sie die einzigen Figuren in diesem schalen Roadmovie sind, die auch nur irgendwie von Interesse sind.

Die Kunst bei Burn After Reading lag eigentlich darin, dass die zum Schenkelklopfen komische Groteske als astreiner Ensemblefilm durchgeht, da jede noch so kleine, namhaft besetzte Nebenrolle auch ihren bedeutenden Drang zum Individualismus und zur Unverwechselbarkeit nachgehen konnte und somit, wie alle anderen in diesem Film auch, gleich wichtig wurde. In Drive- Away Dolls sind all diese Nebenrollen, die ihre Aufgabe, situationskomisch sein zu wollen, viel zu ernst nehmen, alles andere als das. Das fängt vom Leihwagenvermieter (Bill Camp) an, zieht sich über konventionelle Kriminelle, denen noch die Rest-Aura vormals origineller Typen zumindest in Spuren anhaftet, bis zu Matt Damons undurchdachter Performance als kompromittierter Politiker, dessen Motivation irgendwo im Straßengraben der Frivolität liegengelassen wurde.

Denn frivol ist das Filmchen allemal. Allzu prüde darf man bei Betrachtung selbigen nicht sein und vorrangig Dildos als alltäglichen Gebrauchsgegenstand akzeptieren können. Latexpenisse und wie sie sich anfühlen wird zur großen Frage, Qualley und Viswanathan tun wirklich alles, um sie zu beantworten, verlieren dabei aber die ganze schwammige Geschichte und auch ihr Publikum aus den Augen. In notgeiler Lustwandelbarkeit überzeichnen die beiden ihre Rollen bis zur Befremdung, doch damit entsprechen sie nur einem unentschlossenen Plot, der „pride“ auf alles sein will. Das ist auch das gute Recht des Films und auch das von Ethan Coen, dem es zumindest wichtig ist, mit einer ungestüm-natürlichen Homosexualität den Ausfall zu machen. Drive-Away Dolls fällt aber mit der Tür ins Haus, neben Qualleys ausdrucksstarker Libido und Viswanathans langsam bröckelnder Verklemmtheit bietet die lieblos konzipierte Krimikomödie außer des Imitierens eigener Vorbilder nur das überdrehte Gebaren verhinderter KomödiantInnen.

Drive-Away Dolls (2024)

Stars at Noon (2022)

NACKT IN NICARAGUA

5/10


starsatnoon© 2022 Ad Vitam Distribution


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: CLAIRE DENIS

DREHBUCH: CLAIRE DENIS, ANDREW LITVACK, LÉA MYSIUS

CAST: MARGARET QUALLEY, JOE ALWYN, DANNY RAMIREZ, BENNY SAFDIE, JOHN C. REILLY, NICK ROMANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Reden wir nicht über Politik. Reden wir über die Liebe. Oder die Leidenschaft. Die Sexuelle Begierde, die in zerknüllten feuchten Laken und dampfenden Körpern – mein Gott, ist das schwülstig formuliert – ihren Ausdruck findet. Doch ob schwülstig hin oder her: in letzter Zeit ist mir kein anderer Film untergekommen, der die Definition von romantischem Abenteuer so sehr in eine Groschenroman-Ästhetik verpackt wie Stars at Noon. Die französische, sich quer durch alle Genres durchkostende Vielfilmerin Claire Denis hat sich eines Romans aus den Achtzigern angenommen, der in den Wirren des Nicaragua-Krieges spielt und sehr viel mit CIA, waghalsigem Journalismus und zwielichtigen Nutznießern aus der Wirtschaft zu tun hat. Alles Faktoren, die großes internationales Kino versprechen, so episch, als wären Catherine Hepburn und Spencer Tracy oder Lauren Bacall und Humphrey Bogart traumwandelnde Gestalten inmitten politischer Umbrüche und derlei gesellschaftlicher Spannungen, die damit einhergehen.

Traumwandlerisch ist wohl das Adjektiv, das am besten zu Stars at Noon passt. Ins Zentrum setzt Claire Denis Margaret Qualley, die Tochter Andie McDowells und seit Tarantinos Once Upon a Time… in Hollywood einem breiteren Publikum wohlbekannt. Sie gibt eine amerikanische Journalistin, die unangenehme Fragen gestellt und einen Artikel veröffentlicht hat, den allerlei mächtige Leute als bedenklich einstufen. Das hat zur Folge, dass die junge, durchaus promiskuitive Dame ohne Geld und ohne Pass in Nicaragua festsitzt und darauf hofft, durch Sex in die Gunst mancher Männer zu gelangen, die Beziehungen haben. Nicht selten lässt sie sich dafür auszahlen, darunter auch von Geschäftsmann Daniel (Joe Alwyn), der den Reizen der zugegeben hocherotischen Trish naturgemäß erliegt. Dieser Geschäftsmann aber hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, und zwar mit jenen der costa-ricanischen Polizei und natürlich auch mit der CIA, und allesamt sind sie hinter ihm her, während Trish, immer noch darauf aus, ihre Papiere zurückzuerlangen, Daniel zur romantischen Zweisamkeit nötigt, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Letztendlich beschließen sie, sich gemeinsam Richtung Costa Rica abzusetzen. Auch ohne Pass und Geld.

Was an Stars at Noon am meisten fasziniert, ist das Gesicht von Margaret Qualley. Claire Denis kann sich daran nicht sattsehen. Wenn das liebreizende Konterfei nicht reicht, gibt’s Qualley auch im Evakostüm vor dem Fenster, vor dem Spiegel, auf dem Bett oder im Badezimmer. Es ist, als hätte Richard Hamilton lediglich seinen Weichzeichner vergessen, doch die eingefangene, schweißtreibende Schwüle tut ihr Übriges, um Konturen aufzuweichen. Stars at Noon ist schön anzusehen, keine Frage. Diese stellt sich aber umso mehr, betrachtet man den offensichtlichen Anachronismus des Films. Denis liegt weder daran, eine komplexe politische Geschichte zu erzählen noch daran, all die Umstände, die Trish und Daniel dorthin gebracht haben, wo sie sind, näher zu erläutern. Nicht mal die Zeit scheint von Bedeutung, Referenzstücke, um ein bestimmtes Jahrzehnt zu eruieren, fehlen gänzlich. Also vermischt sie Versatzstücke der modernen Gegenwart wie Smartphones und Chipkarten mit den politischen Unruhen der Reagan-Ära. Indizien, die nicht zusammenpassen.

Überhaupt nutzt Stars at Noon seinen fadenscheinigen Plot lediglich als abstrahiertes Konstrukt, als simplifizierte Verzerrung eines relevanten Politikums. Wie ein hohles Gefäß, in das Claire Denis ihre Zeit totschlagende Romanze bettet, eine Art Kulisse ohne Tiefe, eine austauschbare Variable für Thrillerdramen aller Art. In diesem kafkaesken Mysterium stört Margaret Qualley rein gar nichts, ihr breites Lächeln entschädigt für vieles, jedoch nicht für das langweilige Spiel von Joe Alwyn, zwischen beiden sprüht kein Funke. All die übrigen Figuren sind Staffage rund um Qualleys einnehmender Entrücktheit, der man die Rolle der investigativen Journalistin keine Sekunde abnimmt. Wer sind sie dann, diese beiden? Kolportierte Antihelden einer Stil-Hommage an den amerikanischen Film Noir, deren Plots manchmal so undurchschaubar waren, dass man sich am liebsten gar nicht damit auseinandersetzen, sondern nur mit den schmachtenden Momenten der Liebenden Vorlieb nehmen wollte. Diese Diffusion gelingt Claire Denis dann doch. Ob schwülstige Tropennächte das Soll erfüllen? Wie bei so vielen anderen Filmen bleiben bei diesem hier ohnehin nur Fragmente in Erinnerung. Es sollen die richtigen sein.

Stars at Noon (2022)

Poor Things (2023)

KINDLICHE NEUGIER AUF DIE FREIE WELT

7/10


poorthings© 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: TONY MCNAMARA

CAST: EMMA STONE, WILLEM DAFOE, MARK RUFFALO, RAMY YOUSSEF, CHRISTOPHER ABBOTT, MARGARET QUALLEY, HANNA SCHYGULLA, SUZY BEMBA, JERROD CARMICHAEL, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob ein Film gefällt oder nicht, ist stets das Resultat aus momentaner Befindlichkeit, Geschmack und Interesse. Manchmal stört an einem Film auch nur eine Kleinigkeit, und schon kann man sich nur noch schwerlich am Gesehenen erfreuen. Manchmal aber entspricht eine Emotion genau der eigenen und das Werk wird liebgewonnen, ungeachtet unzähliger Unkenrufe aus der breiten Masse. Wie steht es aber um mediale Beeinflussung und Vorschusslorbeeren für ein Werk, das im Mainstream einhellig über den grünen Klee gelobt, von den Medien hofiert und laut allen nur erdenklichen Pressestimmen als phänomenal befunden wird – lässt sich da selbst noch eine eigene Meinung bilden oder ist diese dann, sollte sie nicht in den Tenor einfallen, das Resultat eines künstlerischen Unverständnisses; ein nicht ernstzunehmendes Urteil, da ein Film wie Poor Things sowieso nur gut, wenn nicht gar sehr gut – nein, lieber nur ausgezeichnet sein kann, weil es eben alle sagen. Unbeeinflusst lässt sich Yorgos Lanthimos neuer Film einfach nicht konsumieren. Was Großes wird über die Leinwand flirren, ein feministisches Meisterwerk allererster Güte, ein Bildersturm, dem man sich nicht entziehen kann, mit einer fabelhaften Emma Stone, die alle Stücke spielt und so weiter und so fort.

Ist Poor Things alles andere als gut? Oder doch genauso sensationell? Letzteres käme gelegen, dann wäre man kein nonkonformer Außenseiter, der das anders empfindet. Was bin ich froh, nicht gegen den Strom schwimmen und mit der Möglichkeit umgehen zu müssen, den Film nicht verstanden zu haben. Ihn nicht zu verstehen ist schließlich fast unmöglich, denn wirklich komplex ist weder der Plot noch die zu überbringende Botschaft des Ganzen. Poor Things gestaltet sich wie ein Pop-Up-Märchenbuch für Erwachsene, denn ganz viel Sex darf erwartet werden, der noch dazu vollzogen wird in prächtig ausgestatteten Hotelzimmern oder Kajüten – stehend, liegend, wild herumreitend. Emma Stone gibt sich einer ungenierten, erfrischend frechen Freizügigkeit hin und wirkt dabei niemals obszön oder vulgär. Als wohl eine der besten Schauspielerinnen des aktuellen Filmschaffens – und das kann ich getrost sagen, da bin ich unisono mit den Publikumsstimmen – erobert sie die Herzen, nicht zwingend aber die sexuelle Traumwelt. Vielleicht, weil es vorrangig gar nicht um Wollust geht, sondern einfach und allein um den paradiesischen, endlosen Blumengarten der Freiheit und Selbstbestimmung.

Poor Thing ist – und jetzt ist es draussen – tatsächlich ein guter Film. Neben all der erlesenen, bis ins kleinste Detail opulenten und auch bizarren Ausstattung, die an die frühen Werke Jean-Paul Jeunets oder Tim Burton erinnern (dazu gehört auch zumindest bei Jeunet extremer Weitwinkel oder eben Fischauge) liegt das goldglänzende Kernstück der Fabel in seiner Prämisse, die mit den Stereotypen der Wissenschaft jongliert und dabei manchmal einen der Bälle verliert, denn das ist Absicht. Anfangs ist Yorgos Lanthimos Guckkasten-Operette ohne Gesang noch in Schwarzweiß, denn Bella Baxter – so nennt sich die künstlich geschaffene Figur – kennt die Welt da draußen, jenseits der Räumlichkeiten ihres Ziehvaters Godwin Baxter, überhaupt noch nicht. Wie denn auch – noch bewegt sich Emma Stone wie Pinocchio in seinen ersten Minuten, bringt kaum Wörter über die Lippen, muss alles erst erlernen. Warum das so ist? Als schwangere Wasserleiche aus der Themse gefischt, hat der alte Baxter sie wiederbelebt, indem er der Unbekannten das Gehirn ihres Fötus einsetzt. So hampelt das Kind im Frauenkörper anfangs noch durch die Welt, bis sie von Szene zu Szene immer selbstbestimmter werden, alles entdecken und erleben will. Poor Things ist eine Ode an die Neugier am Leben, auf das Lebenswerte, das sich nur leben und erfahren lässt, wenn man frei ist von Zwängen, Unterdrückung und Besitzergreifung – kurz: frei eben. Nicht mehr, nicht weniger. Lanthimos hat im Grunde eine Coming of Age-Parabel ersonnen, die mit den Klischees einer Mann-Frau-Koexistenz ähnlich umspringt wie Greta Gerwig in Barbie. Während beim zuckerlrosa Geschlechterkrieg-Musical der Mann dazu angehalten wird, sich selbst zu überdenken, will das Frausein hier einfach nur nicht in einem Patriarchat stattfinden müssen. Der Mann – in seiner unzulänglichen Romantik, seiner Eifersucht und seinem absurden Drang zu Besitz und Macht – bekommt die kalte Schulter, an der einer wie Macho Mark Ruffalo immer mehr verzweifelt. Ein schadenfroher Spaß, ihm dabei zuzusehen.

So wirklich traurig ist Willem Dafoe als von seinem eigenen Vater zu Erkenntniszwecken entstellter Mann des Wissens – ein „Almöhi“ des pseudoviktorianischen Englands, gutmütig und unbeholfen nüchtern. Zwischen ihm und Emma Stone entfaltet sich die stärkste Bindung. Hier findet statt, was sonst nur so scheint, als wäre sie da: Das Miteinander, das Geben und Nehmen. Baxter ist sich letztlich selbst genug, und wie geschmeidig und kaum merkbar, wobei letzten Endes aber doch, entwickelt sich das ungebändigte Kind zur selbstbewussten Frau. Es stimmt, Poor Things ist lebens- und wertebejahend, räumt mit dem gebrandmarkten Gewerbe der Prostitution auf und ist vor allem auch, neben all der Gleichnisse, ein Augenschmaus im Arthouse-Kitsch zwischen Steampunk, Pluderärmel und monströsem Kinderbuch. Das Artifizielle allerdings lässt große Gefühle nicht zu. Poor Things gefällt, berührt aber nicht. Bella Baxter und all ihre Männer bleiben in ihrer Blase, und wir in der unseren. Was Poor Things zu sagen hat, ist nicht neu, dafür aber neu bebildert. Wie viel Wirkung hätte der Film noch entfalten können, hätte Lanthimos sein Werk in einer uns bekannten Realität verortet – authentisch, vielleicht naturalistisch und weniger gekünstelt? Er wäre uns damit nähergekommen, Emma Stone hätte den Draht zwischen ihr und uns zum Knistern gebracht. Letzten Endes ist das Blättern in einem prunkvoll ausgestatteten, ledergebundenen Leinwandportfolio ein Genuss, jedoch einer, der sich, genau wie Bella Baxter, einfach selbst genügt.

Poor Things (2023)

Death Note

AUF DIE SCHWARZE LISTE

5,5/10


deathnote© 2017 Netflix


LAND / JAHR: USA 2017

REGIE: ADAM WINGARD

CAST: NAT WOLFF, KEITH STANFIELD, MARGARET QUALLEY, WILLEM DAFOE, SHEA WIGHAM, MASI OKA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Dem bleibenden Eindruck folgend, welchen Godzilla vs. Kong bei mir hinterlassen hatte, musste ich mal in Erfahrung bringen, was denn Regisseur Adam Wingard sonst noch so Filmisches fabriziert hat. Dabei stieß ich neben dem Found Footage-Sequel Blair Witch auf die finstere Manga-Verfilmung Death Note, die derzeit auf Netflix abrufbar ist. Eine, wie es scheint, pechschwarze Final Destination-Variante, die allerdings den einzigen Unterschied hat, dass nicht der Tod höchstpersönlich manch Auserwählten ins Gras beißen lässt, sondern ein ganz normaler Mensch. Eins sei dabei angemerkt: dieser ganz normale Mensch, in diesem Fall Schauspieler Nat Wolff, kommt auch nicht aus heiterem Himmel auf die Idee, vor lauter Langeweile andere Menschen sterben zu lassen. Klar wünscht man ab und an rein impulsiv unangenehme Gesellen zum Teufel, doch damit, dass diese schnell erdachten Stoßflüche Wirklichkeit werden, rechnet niemand.

Wirklich nicht? Die seltsame Gottheit namens Ryuk schon, ein metaphysisches Wesen mit joker´schem Dauergrinser und finsterer Igelmähne, schwarz wie die Nacht und mit Augen wie glühende Kohlestückchen. Erdacht wurde diese phänomenale Kreatur von den Künstlern Tsugumi Ohba und Takeshi Obata für ihren titelgebenden Shōnen, einer Art japanischen Comic für männliche Young Adults – die am meisten verbreitete Art künstlerischer Bildergeschichten in Ostasien. Ergänzt mit Willem Dafoes sonorem Organ entsteht so eine den wortkargen Sensenmann in den Schatten stellende Spukgestalt, die so nervig, verführerisch und gleichermaßen erschreckend ist, dass von ihr eine Faszination ausgeht, der sich nicht nur Nat Wollf kaum entziehen kann. Ryuk, obwohl ein Todesgott, erfüllt hier die Ansprüche eines literarisch volkstümelnden Teufels. So wie bei all den anderen Gleichnissen, die von Pakten mit dem Antichrist berichten, denen ein ambivalent zu betrachtender Eigennutz zugrunde liegt, der nicht selten mit den sieben Todsünden korreliert, hat auch Death Note einen moralischen Anspruch zu verlieren.

Diesem Jungen also, Light Turner, fällt buchstäblich ein alter Schinken in die Hände, halb voll gekritzelt mit unzähligen Namen und Todesursachen. Bald darauf erscheint dem völlig verstörten Turner der uns bereits bekannte, nach Äpfeln gierende Shinigami, der ihm alsbald über seine Macht aufklärt. Eine Woche lang ist Turner, wenn er will, Herr über Leben und Tod. Sobald er einen Namen, dessen zugehöriges Konterfei er kennen muss, ins Buch schreibt und dazu noch die Art und Weise, wie derjenige umkommen soll, hat der Tod freie Bahn. Klar, dass so viel Verantwortung einen Otto Normalverbraucher überfordert. Aus wütendem Gelegenheitskiller wird moralischer Ritter. Kann das lange gut gehen? Es wäre kein Fantasyhorror wie dieser, würde das Universum unter diesen Voraussetzungen nicht aus dem Lot geraten.

Aller Anfang ist zumindest mal beeindruckend: Man wähnt sich bereits in einem morbiden Märchen voller explizit dargestellter Blut- und Beuschel-Tode, im Hintergrund der hämisch gackernde Riesenkobold, der seinen Senf dazu gibt. Da es sich hierbei um die Verfilmung eines Mangas handelt, ist es mit einem geradlinigen Plot aber nicht getan. Die ermittelnden Behörden kommen dazu. Einer von ihnen: ein dem Zucker verfallener Hoodie-Träger, der nicht schlafen, eine diabolische Freundin, die ihrem Loverboy das Buch abspenstig machen will. Das alles verstrickt und vertrackt sich zu einem ausladenden und folglich konfusen Mindfuck, der über seine eigenen Regeln stolpert; der sich schwertut, den Blick auf das Wesentliche zu behalten. Das mit dem Buch letzten Endes viel mehr möglich ist, als es scheint, ermattet zusätzlich die Ambition, allen Details folgen zu wollen. Mangas sind generell enorm komplex. Verfilmungen selbiger hinken dabei gerade mal so hinterher. Jüngstes Beispiel: der chinesische Fantasyfilm Animal World rund um eine tödliche Schere-Stein-Papier-Challenge. Auch hier bleibt man stellenweise ratlos zurück. Bei Death Note bleibt nur Ryuk selbst seinen Modi treu, während all das Getöse um Leben und Sterben lassen recht viel an Dynamik verliert.

Death Note

Strange But True – Dunkle Geheimnisse

WIE DIE JUNGFRAU ZUM KIND

4/10

 

strange-but-true© 2019 Tiberius Film

 

LAND: KANADA 2019

REGIE: ROWAN ATHALE

CAST: MARGARET QUALLEY, AMY RYAN, GREG KINNEAR, NICK ROBINSON, BRIAN COX, BLYTHE DANNER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN

 

Tarantinos Hippie-Girl aus Once Upon a Time… in Hollywood, Margaret Qualley, hat es auch in dieser Retail-Premiere eines Mysterydramas faustdick hinter den Ohren. Als ehemalige Freundin von Amy Ryans verstorbenem Sohn steht die Gute fünf Jahre nach dessen Tod vor der Türschwelle der trauernden Mutter, um ihr eine völlig absurde, fast schon kränkende Kuriosität unter die Nase zu reiben: das Bäuchlein, das Melissa nämlich vor sich herträgt, soll auf die Kappe des Verunglückten gehen. Wie das? Theoretisch und auch rein praktisch gar nicht möglich, oder? Naja, meint Melissa, dem Jenseits sei auch im Diesseits manchmal Tür und Tor geöffnet. Amy Ryan hört sich das natürlich nicht länger an und jagt das Mädchen aus dem Haus. Aber was in Dreiteufelsnamen ist da dran? Künstliche Befruchtung vielleicht? Mit einer postmortalen Spermaprobe? Mutter Ryan forscht nach. Und stößt, wie der Subtitel des Films schon vermuten lässt, auf dunkle Geheimnisse.

Roman Polanski, wo bist du, wenn man dich mal braucht? Dieses Script wäre doch ein Fall für den mittlerweile geächteten polnischen Filmemacher gewesen. Der hat aber schon mit Rosemaries Baby einen so gruseligen wie obskuren Film rund um eine ähnlich rätselhafte Schwangerschaft vorgelegt, da braucht es nicht noch so ein Werk. Womöglich wäre dieses Werk aber besser geglückt, denn mit Suspense kennt sich Regisseur Rowan Athale nicht ganz so gut aus. Basierend auf dem Roman von John Searles trommelt dieser immerhin einen ganz brauchbaren Cast zusammen, wobei es Richtung Nebenrollen immer austauschbarer wird. Und die Story selbst? Die fängt zwar vielversprechend an, stolpert aber in der zweiten Hälfte durch einen hemdsärmeligen, überkonstruierten Schubladenthriller, der seine anfangs sorgsam gesponnenen Charakterbilder in stereotype Verhaltensschablonen zwängt. Einzige Ausnahme bleibt Margaret Qualley, die lange geheimnisvoll bleibt, die zu Mutmaßungen anregt, die sich natürlich auch etwas an Mia Farrows naiver Figur der Rosemary aus Polanskis Film orientiert.

In Strange But True ist vieles seltsam, aber wahr. Besser wäre der Film aber mit folgendem Titel beraten: Zu seltsam, um wahr zu sein. Searles Roman weiß wahrscheinlich all die dunklen Geheimnisse besser auszuerzählen. Die Verfilmung hingegen scheint mit dem wuchtigen Unterbau der langsam ans Licht kommenden Geheimnisse öfters ziemlich überfordert zu sein.

Strange But True – Dunkle Geheimnisse

Jean Seberg – Against All Enemies

IST DER RUF ERST RUINIERT…

5/10

 

seberg© 2019 Prokino

 

LAND: USA 2019

REGIE: BENEDICT ANDREWS

CAST: KRISTEN STEWART, JACK O’CONNELL, ANTHONY MACKIE, ZAZIE BEETZ, YVAN ATTAL, MARGARET QUALLEY, VINCE VAUGHN, COLM MEANEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN

 

Welcher Filmfan kennt ihn nicht – den Klassiker der Nouvelle Vague: Außer Atem. Neben einem blutjungen Jean Paul Belmondo war damals Jean Seberg mit auf der Flucht. Der Ausgang der Geschichte ist kein Geheimnis. Seit diesem Zeitpunkt war Sebergs aparter Kurzhaarschnitt auch keines mehr. Von Jeanne d ‚Arc also zur Gangsterbraut ohne rosige Zukunft, inklusive Staatsgewalt im Nacken. Die Ironie des Schicksals: rund 10 Jahre später (Francois Truffaut drehte seinen Klassiker bereits 1959) sollte ihr die Staatsgewalt tatsächlich im Nacken sitzen, nämlich in Form des FBI unter J. Edgar Hoover, der mit seiner Abhöreffizienz der ostdeutschen Stasi um nichts nachstand. Mehr noch: potenzielle Unbequeme der Regierung konnten mit dem sogenannten Counterintelligence Program, kurz COINTELPRO, gnadenlos überwacht und letzten Endes auch mit gezielter Verleumdungstaktik „neutralisiert“ werden. In schlimmstem Fall trieb diese Vorgehensweise psychisch labile Personen in den Selbstmord. In dieser umtriebigen Zeit also, zwischen Vietnamkrieg und Black Power-Bewegung, war Jean Seberg als gutgläubige Idealistin mit Geld in der Tasche wie ein argloses Bambi, dass sich an fremden Gemüsegärten labt. Ihre Verbindung mit dem Aktivisten Hakim Jamal alleine war Grund genug, die Schauspielerin ins Fadenkreuz zu nehmen.

Was wie ein grimmiger Spionagethriller klingt, ist vorrangig das gestreckte Psychogramm einer egozentrischen Weltverbesserin, die ihre Bekanntheit nutzt, um Dinge zu bewegen. Prinzipiell mal egal wofür, Hauptsache für eine gute Sache. Jene mit der Black Power-Bewegung scheint ihr passiert zu sein. Ex-Twilight-Bella Kristen Stewart spiegelt diese Attitüde eines sich selbst überschätzenden Stars ganz gut wider. Der Kurzhaarschnitt, der saß schon meilenweit unter dem Meer bei Underwater, und sie trägt ihn immer noch sichtlich mit Stolz, wobei sie noch eins draufsetzt und mit ihrer Franchise-Vergangenheit ebenso brechen will wie Robert Pattinson, in dem sie sogar das eine oder andere Mal die Hüllen fallen lässt. Kristen Stewart will nun mit Seberg gänzlich im Arthouse-Charakterfach angekommen sein. Schauspielerisch bleibt dennoch Luft nach oben – statt Jean Seberg wirklich zu sein, bleibt ihr der sichtbare Eifer haften, die biographische Figur nur sein zu wollen. Doch sie bemüht sich. Und man sieht ihr trotzdem gerne dabei zu.

Zwischendurch allerdings bleibt die prinzipiell durchaus aufreibende True Story im gern zitierten 60er-Zeitkolorit stecken, verlustiert sich in stilvollen Settings und will manchmal so sein wie ein Film von Tom Ford – gemächlich, stilvoll, unterlegt mit zeitgenössischen Musikstücken, oftmals ein Gläschen Hochprozentigen in der Hand. Mit einem Zuviel an diesen durchaus netten Bildern verwässert Regisseur Benedict Andrews sein emotionales Drama zu einem porösen Biopic mit einer leidenschaftslosen FBI-Komponente, die die Routine ihrer Bespitzelungsarbeit auf das Ensemble überträgt – Ulrich Mühe (Das Leben der Anderen) ist Agent Jack O’Connell nämlich wirklich keiner. Viele Nebenrollen bleiben auch wirklich nur Staffage, die sich einer Retro-Optik unterordnen, mit der Jean Seberg – Against All Enemies als Erzähl-Tool alleine klarkommen möchte. Das bleibt dann doch etwas kraftlos.

Jean Seberg – Against All Enemies

IO

LEBWOHL, ERDE

6,5/10

 

io© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: JONATHAN HELPERT

CAST: MARGARET QUALLEY, ANTHONY MACKIE, DANNY HUSTON, TOM PAYNE

 

Nochmals Danke an die Redaktion der deutschsprachigen Kinomagazins cinema für ihre Filmempfehlungen quer durch gefühlt alle Streamingplattformen, mit Gentle Reminders auf der Liste für längst vergessene Filme, die mit der richtigen Stimmung am Abend vor dem TV-Schirm durchaus vereinbar wären. Wie zum Beispiel der postapokalyptische Streifen IO.

Dabei ist IO alles andere als die wutentbrannte oder völlig mit jedweder Resignation ausgestattete Zukunftsvision einer Bestie Mensch, die sich selbst ihr Grab schaufelt. Nein, das ist IO sicher nicht. Dafür aber ein Abgesang. Nicht auf die Menschheit, denn die scheint es sich mehr recht als schlecht gerichtet zu haben, sondern auf unseren Planeten Erde. Und genau das, dieser Abschied, den man partout nicht nehmen will, der stimmt melancholisch, wehmütig. Das kann doch nicht das Ende dieser Jahrtausende währenden fruchtbaren Beziehung sein? Was genau war denn das Problem?

Nun – keine Luft zum Atmen ist zumindest ein driftiger Grund. Aus was für Gründen auch immer hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre grundlegend verändert. Der Film erklärt aber nicht, wodurch. Doch es ist hier nunmal Fakt, und tendenziell räumt Regisseur Jonathan Helpert sogar ein, dass Mutter Gaia vielleicht so etwas wie ein Bewusstsein hat, und irgendwann scheint sie die Nase voll gehabt zu haben. Luftentzug schien wirksam: der Mensch beginnt also, Raumschiffe zu bauen und die Erde zu verlassen. Als Ziel winkt der Jupitermond IO – eine riesige Raumstation umkreist den Himmelskörper im Orbit. Von dort weg soll ins System Proxima Centauri aufgebrochen werden, um erdähnliche Planeten zu finden. So gut wie fast alle haben den Planeten bereits geräumt. Manche harren aus – und suchen in den windtechnisch günstigen letzten Enklaven mit atembarer Luft nach einem Sinn hinter dem Zerwürfnis. Eine davon ist die Tochter eines Wissenschaftlers, gespielt von Margaret Qualley (das Hippiemädchen aus Tarantinos Once upon a Time… in Hollywood, die Brad Pitt schöne Augen macht), die immer noch Tests an Bienen durchführt. Dann schneit ganz plötzlich „Jules Verne“ Anthony Mackie mit seinem Heliumballon vom Himmel – um den Professor für seinen flammenden, aber letztendlich verpeilten Appell, auf der Erde auszuharren, zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei dürfen beide den Start des letzten Shuttles aber nicht verpassen, bevor die Erde endgültig dicht macht.

Nein, bei dem Gedanken, Terra Lebewohl zu sagen, schnürt sich auch bei mir die Kehle zu. Mir geht’s da so wie Margaret Qualley, die eine Chance für einen Neuanfang in all der ganzen Katastrophe sieht, ungefähr so wie das Zombie-Mädchen Matilde aus dem Endzeit-Querdenker The Girl with all the Gifts. Vielleicht steckt ja hinter all dem ein Plan, ein biologisches, selektives Konzept? Sam Walden, so heißt die junge Frau, macht sich so ihre Gedanken, wägt ab was klüger ist – den Planeten zu verlassen oder ihm noch eine Chance zu geben? Gesprochen, überlegt und abgewogen wird hier viel, Spannungskino ist IO keines, hat keine Action und ist weit davon entfernt, Big Drama zu sein. Im Grunde passiert nicht viel, und vielerorts ist man auch nicht unterwegs. Leicht kann es sein, und IO darf sich den Vorwurf eines Langweilers gefallen lassen. Aus meiner Perspektive ist er das nicht. Denn dieser Knackpunkt, dieses Sich-Ausmalens, den Blauen Planeten zu den Akten zu legen, ist alles, was der schwermütige, stille Science-Fiction-Film beim Namen nennen will. Er spinnt daraus die letzte Strophe eines Farewell-Songs, oder anders gesagt fühlt sich IO an wie der letzte hallende Ruf zurück in die leere Wohnung der eigenen Kindheit. Der Mensch scheint erst jetzt, nachdem alles vorüber scheint, erwachsen geworden zu sein.

IO