Club Zero (2023)

NEIN, MEINE SUPPE ESS‘ ICH NICHT!

5/10


clubzero2© 2023 Coop99


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, VEREINIGTES KÖNIGREICH, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, DÄNEMARK 2023

REGIE: JESSICA HAUSNER

DREHBUCH: GÉRALDINE BAJARD, JESSICA HAUSNER

CAST: MIA WASIKOWSKA, SIDSE BABETT KNUDSEN, ELSA ZYLBERSTEIN, MATHIEU DEMY, FLORENCE BAKER, KSENIA DEVRIENDT, LUKE BARKER, SAMUEL D. ANDERSON, GWEN CURRANT, AMIR EL-MASRY, AMANDA LAWRENCE, LUKAS TURTUR, CAMILLA RUTHERFORD U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Wohl der einzige Filmemacher, der es wirklich schafft, trotz strenger Formalitäten, übertriebener Bühnenhaftigkeit und einer immensen Affinität für streng komponierte Tableaus seine Geschichten auch aus emotionaler Sicht zum Leben zu erwecken, ist Roy Andersson (meisterhaft: Songs from the Second Floor). Niemand ist vergleichbar mit ihm, nicht mal der bis zum Exzess gehypte andere Andersson, nämlich Wes, der seine Popup-Bühnen gerne bekannten Stars überlässt, die ihm die Tür zum Studio einrennen. Vielleicht ist bei Roy Andersson die Wahl des Mediums als Kurzgeschichte die Besonderheit, auf die es ankommt, um das Publikum auch enstprechend abzuholen. Bei Jessica Hausner, die ähnlich fixe Vorstellungen zu ihren Filmen hat und weit im Vorfeld genau weiß, wie wo wer zu stehen hat und wie wo was zu platzieren ist, überstrahlt die Liebe zum Dekor so gut wie alles. Die Themen sind dabei zweitrangig, in diesem Fall wäre es die dunkle Dimension der Essstörung, des Mitläufertums und des Gruppenzwangs. Ja, vielleicht auch des Glaubens und der damit verbundenen Radikalisierung für eine Sache, die nur dann stellvertretend für den Sinn des Lebens herangezogen werden kann, wenn die manipulative Agenda auseichend greift. Wir sind nicht weit entfernt von Sektentum und religiösem Fanatismus – Mechanismen wie diese, um seine Schäfchen zu rekrutieren, müssen natürlich im Rahmen der schulischen Weiterbildung auch an die zu Lernenden weitergegeben werden, mitunter gerne im Religions- oder Ethikunterricht. Ein Film wie Club Zero könnte dabei helfen. Im Grunde nämlich ist Hausners neues, im Wettbewerb um die Goldene Palme mitgeritterter Film, genau das: Schulfernsehen, leicht verständlich in seiner Grundstruktur, doch erschreckend oberflächlich in seiner Darstellung. Fürs Anschauungsbeispiel reicht’s womöglich. Für einen abendfüllenden Spielfilm, der auf gewisse Weise zum Nachdenken anregen hätte sollen, allerdings nicht.

Dabei hat Jessica Hausner, wie schon bei ihrem Vorgänger Little Joe, auf einen internationalen Star zurückgreifen können – auf Mia Wasikowska, die sich seit Tim Burtons Alice Im Wunderland einer gewissen globalen Bekanntheit erfreuen kann. Wasikowska, mit blonder Mireille Mathieu-Frisur, im monochromen Hosenrock und farblich abgestimmter Bluse, was alles zusammen selbst wie eine Uniform wirkt, schreitet sie hoch erhobenen Hauptes durchs Schulgebäude. Sie ist Ernährungsberaterin, vertreten mit einem Kurs für achtsame Ernährung – was ja prinzipiell nichts Schlechtes ist, ganz im Gegenteil. Doch Miss Nowak – wie sie sich nennt – will natürlich etwas ganz anderes. Wenn man so will, ist sie, nicht näher charakterisiert, der Guru einer nicht näher definierten Sekte, die, auch nicht näher definiert, keinen oder mehrere Anhänger hat, so ganz glauben will man ihr letztendlich keine ihrer Aussagen. Die Mädels und Jungs allerdings, die hängen sofort an ihren Lippen, wollen abnehmen oder Punkte sammeln fürs Stipendium; wollen was Gutes für sich oder die Umwelt tun. Alles sehr ambitioniert, doch Miss Novak treibt es bald zu weit. Denn nicht umsonst heisst dieser Film hier Club Zero. Nichts essen will gelernt sein. Das Licht steht dabei nicht auf der Speisekarte.

Und so lässt Hausner ihr Ensemble übers Set spazieren, setzt es an den Tisch oder huldigt einander im Sitzkreis. Lila Hosen, Kniestrümpfe, gelbe Hemden. Alles sehr ausgesucht, alles inmitten einer nüchternen, skandinavischen Architektur, ins Bild rückt nur, was auch vorher abgesprochen war. Dann allerdings heisst es Action und die Lehrkraft drückt auf die Taste ihrer akustischen Beispielsammlung, analog zum Lehrbuch eines Englischkurses. Die Listening Comprehension beginnt, Wasikowska und Co rezitieren in laienhafter Intonation ihre Skript-Zeilen, dazwischen genügend Zeit, um all die Wörter auch sickern zu lassen, damit der Content nicht verloren geht. Warum tut Hausner das? Warum lässt sie ihr Ensemble auftreten, als wären sie rekrutiert für den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag im Vormittagsprogramm – befangen, gestelzt und gekünstelt? Die daraus entstandenen Erkenntnisse stürzen durch offene Türen, wirklich weiter kommt man mit dieser Conclusio nicht.

Zugegeben, die von wuchtigen Percussion-Klängen untermalten Szenen haben ihre Unverwechselbarkeit gefunden – einmal hinsehen, und man weiß, es ist Hausner. Doch wie bei Anderson trägt eine übertriebene Künstlichkeit kaum dazu bei, den Figuren Tiefe, der Geschichte Strenge oder der zu vermittelnden Message die nötige Dringlichkeit zu verleihen.

Club Zero (2023)

Europa (2023)

DIE DIPLOMATIE DER ENTEIGNUNG

6,5/10


europa© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: SUDABEH MORTEZAI

CAST: LILITH STANGENBERG, TOBIAS WINTER, JETNOR GOREZI, STELJONA KADILLARI, MIRANDO SYLARI, JEFF RICKETTS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Welche dunkle Macht hier im Hintergrund ihre Fäden zieht, darüber werden weder all jene, die ihre Heimat verlieren, Klarheit erhalten, noch das Publikum dieses Films, der den auf so vielen Ebenen interpretierbaren Titel Europa trägt. Europa, das kann alles sein. Die Gemeinschaft der Europäischen Union, der wilde Osten, die Konzernpolitik oder vielleicht auch nur die Figur aus den antiken griechischen Heldensagen, die dem Kontinent ihren Namen gab. Europa ist ein diffuses Konstrukt, mehr als nur das Festland, in diesem Fall aber eine kapitalistische Söldnertruppe, die für Großkonzerne die Vorhut macht. Diese wabernden Machtkonstrukte sind weder transparent noch lassen sich kaum mehr die wirklich Verantwortlichen finden. Entitäten wie diese sind entfesselte schwarze Löcher, sie verschlucken vergessene Länder wie Albanien, die aufgrund einer bewegten Geschichte erst so langsam, aber doch, ans Tageslicht ihres neuen Selbstbewusstseins gelangen. Die Chance auf diese nationale, kulturelle wie auch religiöse Identität mag durch schwer definierbare Gestalten verzögert werden. Wie aus heiterem Himmel, wie extraterrestrische Invasoren oder Missionare aus Übersee materialisieren sie in einem fruchtbaren, von den Umtrieben der Welt vergessenen scheinenden Tal, um den Bauern, Imkern und Viehzüchtern ihr Leben abzuschwatzen.

Als die blonde Reinkarnation eines Hernan Cortez oder Francisco Pizarro stolziert die Deutsche Beate Winter über unasphaltiertes Gelände, besichtigt alte Fabrikhallen und besucht die Alteingesessenen in dieser Region. Allzu viele sind es nicht, doch die wenigen haben guten grund Grund dazu, zu bleiben. Nichts bringt sie dazu, den Verlockungen zu erliegen, die diese fremde, akkurate, natürlich mit allen diplomatischen Wassern gewaschene Person in den Wohnzimmern der Leute im Angebot hat. Mehr Geld, eine Wohnung in der Stadt, die Restaurierung des religiösen Heiligtums? Das kann sie sich, gelinde gesagt, sonstwohin schieben. Doch Beate Winter, die weiß, dass sowas passieren wird. Und jeder, der ihr begegnet, wird sie letztendlich unterschätzen. Wird sich gewünscht haben, ihr niemals begegnet zu sein, ihr niemals den Selbstgebrauten angeboten oder sie zum Essen eingeladen zu haben, da sie Lamm & Co ohnehin kaum Respekt zollt, denn all das Albanische, so hat es den Eindruck, sollte ihr letztendlich nicht zu nahe gehen dürfen.

In Europa von Austro-Filmerin Sudabeh Mortezai trägt der Teufel vielleicht kein Prada, aber andere schicke Kleidung und die blonde Mähne hochgesteckt. Ihre Stimme ist leise und rauchig, ihr Englisch langsam und verständlich für alle, die die Fremdsprache auch nur in der Grundschule gelernt haben. Dieser Teufel, Beate Winter, ist vielleicht doch nur einer der manipulierenden Dämonen, die das große diffuse Unbekannte des Kapitalismus losgeschickt hat, um die Ernte einzuholen. Wäre Lilith Stangenberg (Die schwarze Spinne, Seneca) wirklich nur eine platte Antagonistin gewesen, hätte Mortezais Film das wichtigste ihres Films verloren: Den Kern einer Charakterstudie, der viel relevanter scheint als das simple Schulbeispiel von Enteignung, Landraub und missachteter Menschenrechte. Das alles rings um Lilith Stangenberg ist in jedem Fall ambitioniert und, was das Lokalkolorit betrifft, vonm Klischee weit entfernt. Mortezai hat jahrelang recherchiert, Eindrücke gesammelt und vor Ort gedreht, hat vorort lebende Personen – wie Ulrich Seidl in seinem letzten Werk Sparta – als Laiendarsteller, die zwar nicht sich selbst, dafür aber ähnliche Charaktere darstellen sollten, mitsamt ihrer Lebensweise eingebunden. Europa erlangt dadurch Authentizität und Direktheit, dieses Albanien fällt einem in den Schoß und drängt sich auf, man muss es nicht mühsam erschließen. Die wirkliche Problematik, an welcher sich Europa abarbeitet, und darauf blickt wie auf ein großes Mysterium, ist der unterdrückte Skrupel von Menschen, die in den Diensten der Verachtung unterwegs sind. Was bewegt so jemanden wie Beate Winter, was ist das Ideal einer solchen Person, die sich durch das Unglück anderer nicht demotivieren lässt? Stangenberg ist dabei einerseits eiskalt, andererseits die höfliche neue Nachbarin von Gegenüber. Sie hat Familie und somit auch Werte, die sie vertreten muss. Jedoch misst sie mit zweierlei Maß, lässt zwischendurch das ratlose Antlitz einer selbst Ausgelieferten aufblitzen, die ihren Ehrgeiz über alles stellt. Wie weit reicht die Kette der Dienerschaft nach Beate Winter? Wir sehen nur ihren Vorgesetzten – was dahinter liegt, ist wie die Tiefsee. Unbezwingbar.

Europa muss den Schmerz der Machtlosen ins Zentrum rücken, auch wenn sich Stangenbergs Figur immer wieder in den Mittelpunkt drängt. Als famoses Naturtalent im Schauspiel gefällt Jetnor Gorezi als letztlich übervorteilte, arme Seele, die sich nicht, wie Nikolai Sergejew im Oscar-Film Leviathan, in den Tod trinkt. Und auch nicht, wie Richard Harris in Jim Sheridans Das Feld, von der Klippe stürzt – beides Filme, die von Enteignung und zerstörten Existenzen erzählen. Die brutale Wut des Mannes könnte der Beginn einer Rebellion sein. Sinnlose Verzweiflung? Ja, vielleicht. Doch auch viel mehr. Vielleicht gar das nötige Statement, um Beate Winter den militärischen, blinden Gehorsam auszutreiben.

Europa (2023)

Viennale 2023

ROT IST DIE FARBE DES KINOS


V23_SUJET_© Viennale / Rainer Dempf



Was sehen meine fürs Grafische etliche Jahre lang geschulten Augen denn heuer auf den Bannern, Plakaten und sonstigen Merchandising-Artikeln der 61. Viennale? Ein gelbrotes Motiv, konvertiert und nahe am Betrachter: Es muss der Fötus eines katzenartigen Tieres sein, womöglich eines Löwen, die Schnauze ist unverkennbar. Vielleicht, so ganz im Unterbewussten, hat die italienische Kunstmanagerin und Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi eine Analogie zum Goldenen Löwen Venedigs bringen wollen, vielleicht eine kleine Hommage an ein Festival, welches sie womöglich auch gerne leiten würde. Doch hört man die Dame in ihren Interviews, scheint das kleine, aber feine und übersichtliche Rendezvous an der Donau genau das richtige zu sein: Ein Schatzkiste voller filmischer Versuchungen, Zeitreisen in vergangene Dekaden und Retrospektiven weltbewegender Künstlerinnen und Künstler.

Gestern, mit dem 19. Oktober, hat es begonnen: Das neue Abenteuer Film während eines kaltwarmen und durchaus goldenen Herbstes, die Challenge für Nerds und Genießer, für Schreiberlinge, wie ich einer bin, und solche, die tiefer in die Materie eintauchen wollen, als es ihnen sonst, bei regulärem Filmgenuss, möglich wäre. Hinzu kommen Gaststars und Macher aus allen Ländern daher, die, weil sie an ihr Projekt glauben, und nicht an die Boxoffice-Zahlen, ihren Filmen beistehen wollen. Sie erklären, beantworten und wünschen beste Unterhaltung. Diese atemberaubende Welt, diesmal gebadet in rotem Nährstoff aus Ansichten, Weitsichten und Umsichten, hat mich nun ebenfalls überrumpelt und eingesogen: Vor zwei Jahren waren es noch bescheidene zwei Filme, nun sind es siebzehn, und es wären noch mehr gewesen, hätte ich mit mehr Besonnenheit meine Karten gekauft. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, was nun in meinem roten Kuvert wohnt – Eintrittskarten in magische, andere Welten, fiktiv oder real oder experimentell. Ich lasse mich auf alles ein.


viennale_michi


Wie durch Zufall hatte ich das Glück, der Eröffnungsgala in den wunderschönen Retro-Hallen des Gartenbaukinos beizuwohnen, konnte erbaulichen und motivierenden Reden der Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler, ZIB-Lady Nadja Bernhardt und natürlich Eva Sangiorgi zuhören, die mehr als nur einmal verlauten ließen, wie dankbar sie sind (und wir mit ihnen), nicht während einer der kommenden Vorstellungen aufgrund von Bombenalarm in die Schutzbunker flüchten zu müssen – natürlich im übertragenen Sinn interpretiert, nicht wortwörtlich widergegeben. Der Wille zum friedlichen Miteinander und zum Austausch unterschiedlicher Visionen, Ansichten und Lebenskonzepte macht eine offene, freie Gesellschaft aus. Und dafür steht dieses äußerst sympathische und liebevoll anmoderierte Event, das nun endlich losgeht und bereits mit seinem Eröffnungsfilm Explanation for Everything für ausgesuchte Qualität spricht.

Viennale 2023

Heimsuchung (2023)

SONNENBLUMEN BEI NACHT

5,5/10


heimsuchung© 2023 Luna Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: ACHMED ABDEL-SALAM

CAST: CORNELIA IVANCAN, LOLA HERBST, INGE MAUX, HEINZ TRIXNER, GISELA SALCHER, FRANZISKA RIECK, CHRISTOPH KRUTZLER, LUKAS TURTUR, IVA HÖPPERGER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Wir Menschen sind Meister der Verdrängung. Unangenehmes aus früheren Tagen oder Begebenheiten, die nicht als wahrhaftig akzeptiert werden wollen, werden, fest verschlossen im Hinterstübchen des Unterbewusstseins, ad acta gelegt. Dabei kann es aber durchaus passieren, dass sich diese fest verschlossenen traumatischen Erlebnisse als mentale Antimaterie durch die Absperrungen fressen, um ans Tageslicht des Bewusstseins zu gelangen. So eine Rückkoppelung, ausgelöst durch einen Trigger oder Dingen, die fest mit solchen Geschehnissen in Verbindung stehen, lässt sich vor allem filmtechnisch auf dem Silbertablett servieren. Im Genre des Horrors ist die eigene Psyche, die aus dem Hinterhalt kommt, das Beste, was abendfüllendem Schrecken auch noch eine gewisse Tiefe verleiht. Denn wenn der Teufel so aus heiterem Himmel über unbescholtene Bürger hereinbricht, ist das meist nur halb so wild, als wenn sich die vom Terror gerittenen Protagonisten trotz all der Angst vor dem Übernatürlichen endlich den eigenen Dämonen stellen. Der Psychohorror ist geboren, und will gefüttert werden.

Das tut der österreichische Filmemacher Achmed Abdel-Salam auch in Heimsuchung, seinem ersten Spielfilm fürs Kino mit ausreichend Verständnis für die dramaturgischen Mechanismen einer subtilen Stadtflucht-Mystery, die sich auf dem geisterhaft stillen Dachboden eines Lebensgeschichten erzählenden Nachkriegsgemäuers ordentlich gesundschlafen kann, um dann auf eigentümliche Weise loszupreschen. In völliger Benommenheit müssen letztlich Mutter und Tochter damit klarkommen, die ohnehin schon Schwierigkeiten mit sich selbst haben. Wo mag das Alkoholproblem von Mama Michaela denn letztlich ihre Wurzeln haben? Und wie sehr von Erfolg gekrönt mag denn die impulsive Entscheidung der schon seit fünf Wochen trockenen Mitdreißigerin sein, im Haus ihres kürzlich verstorbenen Vaters noch ein paar Nächte zu verweilen, um das Verhältnis zu ihrer kleinen Tochter zu kitten? Prinzipiell ist das mal keine schlechte Idee, doch wer will schon im Dunst familiären Ablebens Entspannung finden? Die beiden, Mutter und Tochter Hanna, ziehen das durch. Und forsten nebenher auch das Oberstübchen durch. Natürlich stoßen sie auf eine geheimnisvolle Box, eine Büchse der Pandora für das eigene Generationen-Biotop. Und öffnen diese.

Den Dämonen sollte man sich stellen, das rät vermutlich jeder Psychoanalytiker, vielleicht weniger jeder Psychotherapeut, der zumindest hilft, das Leben mit dem Trauma in den Alltag zu integrieren. Besser wär‘s, das Übel an der Wurzel zu packen. Und da kommt es, in Gestalt einer scheinbar besessenen, geistesgestörten Mutterfigur aus verdrängter Vergangenheit. Der nicht mit dem Stellwagen ins Gesicht donnernde Grusel gelingt österreichischen Filmemachern dabei am besten. Wenn seltsame Geräusche, ein entferntes Jammern, Schritte auf dem Dachboden und Schlafwandeln einhergehen mit einer bedrückenden Stimmung, die sogar in einer von der Sommersonne getränkten Van Gogh-Botanik kaum Halt macht, werden die Ferien am Land zum Parkour zwischen Traum und Wirklichkeit. Missglückt ist dieses Vorhaben in einem ähnlich funktionierenden, australischen Psychogrusel mit dem Titel Run, Rabbit, Run. Auch dort geraten Mutter und Tochter in einen Verdrängungswahnsinn, der von unheimlichen Mächten noch mehr therapiert wird als hier, in Heimsuchung. Wo das Eskalationszenario aber sein Publikum lediglich entnervt zurücklässt, ist Heimsuchung weniger auf Zwang konstruiert, sondern stringenter und nuancierter.

Die große, sich aufdrängende Frage, warum in aller Herrgotts Namen die beiden nicht wieder abreisen, nachdem schon so einiges nicht mit rechten Dingen zugeht, mag verwundern. Der Wille zur Konfrontation von Mutters Seite mag hier noch gar nicht Thema sein, oder ist es das im Unterbewussten doch? Nichtsdestotrotz tut sich Schauspielerin Cornelia Invancan sichtlich schwer, in ihrer eigenen Rolle sowas wie ein gewisses Maß an nachvollziehbarem Verhalten zu finden. Das bremst auch ihre Leidenschaft für diese Figur, das bremst auch die Leidenschaft von Jungdarstellerin Lola Herbst, die stets das Gefühl vermittelt, nicht zu wissen, was Sache ist. Da kann Achmed Abdel-Salam nicht viel tun, außer mit einer exaltierten Inge Maux als abergläubisches Medium der recht betulichen Geschichte etwas mehr Wahnsinn zu verpassen. Dafür sind die Sonnenblumen bei Nacht die fast schon surreale Bühne für eine Familienaufstellung der gespenstischen Art, die am Ende dann doch noch dem Trauma einer Kindheit ins Gesicht blickt.

Heimsuchung (2023)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)

Der Onkel – The Hawk (2022)

DER HABICHT IM HÜHNERSTALL

6,5/10


deronkel© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE / DREHBUCH: MICHAEL OSTROWSKI, HELMUT KÖPPING

CAST: MICHAEL OSTROWSKI, ANKE ENGELKE, SIMON SCHWARZ, HILDE DALIK, ELISEA & MARIS OSTROWSKI, GERHARD POLT, MECHTHILD GROSSMANN, LISA-LENA TRITSCHER, BARBARA MEIER U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN 


Eberhofer-Fans – und das sind im deutschsprachigen Raum nicht wenige – kennen ihn: den ewig jung geblieben Spitzbuben Michael Ostrowski, der wider seines jugendlichen Teints auch schon aufs halbe Jahrhundert zugeht und Simon Schwarz sowie Sebastian Bezzel als schnippischer Pathologie zur Seite steht. Im Fernsehen sucht der Spaßmacher stets sein Glück, und in den Filmen des leider verstorbenen Michael Glawogger ist er künstlerisch großgeworden. Unvergessen bleibt da die charmante Sexkomödie Nacktschnecken, für den letzten Teil der von Glawogger sonst unvollendet gebliebenen Sex, Drugs and Rock’n‘Roll-Trilogie führte er obendrein auch noch Regie.

Man hätte meinen können, das muss er nicht wieder tun, denn Hotel Rock’n’Roll geriet zur ziemlich konfusen Angelegenheit. Mit Helmut Köpping allerdings – einem, der sich im Fernsehformat der Landkrimis bestens zuhause fühlt – gelingt ihm der zweite Anlauf im Filmemachen deutlich besser. Vielleicht auch, weil das Konzept der Komödie diesmal ohne bewusstseinsverändernde Substanzen auskommt und all jene, die auf der boulevardesken Bühne eines eitlen Wohnsitzes irgendwo am Rand von Wien auf- und abtreten, ihre eigene ganz normale Spinnerei vor sich hertragen, die vor allem durch das Auftreten des titelgebenden Onkels, der die tierischen Verhaltensweisen eines Habichts mit sich bringt, ans Ende ihrer Erkenntnisse stoßen.

Dieser Onkel namens Mike ist der Bruder von Sandro (beide gespielt von Michael Ostrowski), eines neureichen Geschäftsmannes, der allerdings ins Koma fällt – zurück bleiben zwei halbwüchsige Kinder (ebenfalls Ostrowskis) und eine Göttergattin, die Mike sehr gut kennt, hatten die beiden doch vor rund zwanzig Jahren eine Liaison, die aufgrund undankbarer Umstände in die Brüche ging. Denn Mike ist ein Hallodri, ein Trickbetrüger und Lebemann, der nun beschließt, sich das zurückzuholen, was ihm eigentlich zusteht: Haus, Hof, Familie und jede Menge Geld. Natürlich fällt der rettungslos unheilbare Charmeur und Fingerwickler nicht mit der Tür ins Haus, sondern heuchelt Familiensupport dank widriger Umstände, um sich auf Dauer unabkömmlich zu machen.

Ein spaßiges Konzept, das Ostrowski und Köpping da entworfen haben. Und von vorne bis hinten auf ersteren zugeschnitten, der sich in dieser Position immer wieder gerne sieht: Als Draufgänger und täuschend naiver Richtigmacher, der aus seiner Haut nicht rauskommt. Wie Anke Engelke darauf reagiert – da stimmt die Chemie. Wenn langsam klar wird, was der Onkel eigentlich will, während er vorgibt, sowas wie Eigenverantwortung zu entwickeln, könnte man in der heimischen Komödienlandschaft tatsächlich sowas wie eine kluge Tragikomödie vermuten, die gar nicht so auf Kabarett-Kalauer aus ist wie all die sonstigen Produktionen, die sich dank einigen Witzen geradeso über Wasser halten. Der Onkel – The Hawk entwickelt eine kleine, aber stimmige Geschichte rund um das Glück und den Neid der anderen. Die Zerfahrenheit aber folgt wie das Amen im Gebet – in Gestalt von Simon Schwarz und Hilde Dalik, die als seltsames Nachbarspaar überhaupt nicht und auch nicht stilistisch ins Konzept passen. Mit ihnen fällt seichter Slapstick durch die Hintertür, während die Figur von Schmarotzer Mike sich im Kreise dreht und nichts mehr aus dem Ärmel schüttelt.

So kongenial wie Andreas Prohaskas Die unabsichtliche Entführung der Elfriede Ott – überhaupt einer der besten österreichischen Komödien der letzten zwanzig Jahre – ist Der Onkel – The Hawk beileibe nicht. Aber er hat Ansätze, er hat einen guten Beat, einen verträumten, psychosatirischen Unterton und allen voran einen Ostrowski, der vor lauter Lust an seiner schmissigen Rolle darin vergeht. Fans dieses stilsicheren Hemdkragenclowns bleibt keine Wahl, als sich diesen Film ansehen zu müssen, allein schon und nur wegen ihm. Von daher hat die liebe Verwandtschaft zwar nicht das beste Timing, doch sie war viel zu lange nicht zu Besuch, um sie gleich wieder rauszuschmeißen.

Der Onkel – The Hawk (2022)

Die Stimme des Regenwaldes (2019)

AKTIVISMUS ZAHLT SICH AUS

7/10


Spielfilm BRUNO MANSER© 2019 Thomas Wüthrich


LAND / JAHR: SCHWEIZ, ÖSTERREICH 2019

REGIE: NIKLAUS HILBER

DREHBUCH: NIKLAUS HILBER, PATRICK TÖNZ, DAVID CLEMENS

CAST: SVEN SCHELKER, ELIZABETH BALLANG, NICK KELESAU, MATTHEW CROWLEY, BENJAMIN MATHIS, DAVID K. S. TSE, RAAD RAWI, CHARLOTTE HEINIMANN, DANIEL LUDWIG U. A.

LÄNGE: 2 STD 22 MIN


Ganz schön mutig, so ganz allein und nur mit einem Rucksack quer durch Sarawak zu wandern. Ohne Guide, ohne irgend jemandem, der die Gegend und seine Tücken kennt. Ohne großer Kenntnis der lokalen Flora und Fauna. Das muss man wirklich wollen – so auszusteigen und sein Schicksal in Gottes Hand oder in die Hand jener Entität zu legen, die im Glauben der Penan die ganze Gegend mit allem, was da kreucht und fleucht, unter seiner Obhut hat. Der Schweizer Bruno Manser hat das getan: Dem stockkonservativen Weltbild seiner Heimat den Rücken gekehrt, um Alternativen zu finden. Neue Lebensentwürfe und die Essenz des Daseins. Oder einfacher gesagt: Worauf es im Leben wirklich ankommt. Dieser Marsch durch den Regenwald führt in schon bald zum Nomadenstamm der Penan – ein scheinbar unbekümmertes Volk aus Jägern und Sammlern, friedliebend, glücklich, voller Humor. Manser wird anfangs skeptisch beäugt, doch nachdem der „Eindringling“ einfach nicht verschwinden will und bald auch für unfreiwillig komische Momente sorgt, ist er bald Teil der Gemeinschaft, einschließlich textillosem Outfit und ausgestattet mit Speer und Machete.

So streifen sie durch den Dschungel, mehrere Jahre lang – bis dieser plötzlich endet. Grund dafür ist der Kahlschlag ganzer Areale, die eigentlich den im Urwald lebenden Stämmen gehören, doch die malaysische Regierung sieht Indigene wie diese eher als Tiere statt als Menschen. Zumindest Wesen, die keinerlei Rechte haben und übervorteilt werden können, wenn es um die globale Wirtschaft geht. Und Tropenholz, das wollen alle. Vor allem der Staat selbst, in welchem abgeholzt wird, weil Lizenzen wie diese irre viel Geld bringen. Die Gier wird uns sehr bald und so richtig das Genick brechen, ich warte nur noch drauf. Einer, der nicht warten konnte, war eben Bruno Manser. Als „Gandhi“ Borneos gelingt es ihm, all die Penan-Stämme zum gewaltfreien Widerstand zu mobilisieren, sehr zum Missfallen der Holzindustrie und ihre Geschäftspartner, die sich nach langem Tauziehen sogar dazu hinreißen lassen, auf den weißen Lendenschurz-Rebellen ein Kopfgeld auszusetzen.

So geht Aktivismus – das muss man schon sagen. Zielgerichtet, am Ort des Geschehens und unbeugsam angesichts halbseidener Kompromisse, die dazu tendieren, Öko-Robin Hoods wie Manser einfach zu kaufen. Geht natürlich gar nicht, Methoden wie diese schüren nur noch mehr den Widerstand, doch davon haben die, die dem Geld verfallen sind, natürlich keine Ahnung. Die Penan-Blockade ist ein Lehrbeispiel der Auflehnung, trotz des Sitzens am kürzeren Ast. In Zeiten wie diesen, in denen die grüne Lunge des Planeten – vorrangig in Amazonien – immer mehr abgewürgt wird, bis uns die Atemnot auf die Füße fallen wird, ist ein Film wie dieser das richtige Stück Bildungskino für Menschen, die fest der Meinung sind, Aktivismus hätte keinen Sinn. Um sie eines Besseren zu belehren. Niklaus Hilber hat hier 2019 ein Denkmal gesetzt für einen Mann, der aus dem Nichts heraus hörbar für die ganze Welt so vehement auf den Tisch gehauen hat, dass EU und UNO einfach nicht mehr wegsehen konnten. Mit Vokuhila und Gelehrtenbrille steht der halbnackte Idealist auf den staubigen Pisten, links und rechts der Wald, hinter ihm sein geliebtes Volk. Der Schweizer Bühnendarsteller Sven Schelker gibt der Ikone des Umweltschutzes ein Gesicht, welches man in anderen Filmen vergeblich sucht. Und das ist gut so. Der reale Charakter wird dadurch nicht von der Prominenz eines Stars übertüncht – Bruno Manser im Film könnte Bruno Manser in echt sein. Erstaunlich auch die Rekonstruktion der Lebensweise der Penan, mit all ihren Darstellern, die in der indigenen Sprache sprechen, was wunderbar klingt und mit den Geräuschen des Regenwaldes harmoniert. Niklaus Hilber mag sich ganz auf die Eigendynamik aus Natur und indigener Kultur verlassen, auf den Einklang der Menschen mit ihrer Umwelt. Es sind die besten Momente des Films – beeindruckend und opulent, wie in John Boormans Ökothriller Der Smaragdwald aus dem südamerikanischen Dschungel. Auch die Chronik der Auflehnung hat Power, doch nach dem Szenenwechsel in die Schweiz offenbart sich eine unbeholfene Dramaturgie, die mehr an Spielszenen fürs Schulfernsehen erinnern als an packendes Politkino. Das mag an den Co-Akteuren liegen, deren Texte wie aufgesagt klingen. Das Skript ist dann nur noch eine To-do-Liste relevanter Szenen, die für die biographische Chronik eines Bruno Manser essenziell sind.

Ungeachtet dieses Defizits ist es allerdings wert gewesen, mit Die Stimme des Regenwaldes die Geschichte eines großen Aktivisten zu erzählen. Da diese keine Naturschutzfloskeln enthält und auch nicht im Pseudoidealismus den Erfolg solcher Missionen anhand glücklicher Zufälle vom Himmel regnen lässt, bleibt das Ende relativ offen und beschert dem Werk einen greifbaren Realismus. Fakt ist jedenfalls: Seit 2005 gilt Manser im Regenwald Borneos als verschollen. Ob es Mord oder Selbstmord war – oder ob Manser nur untergetaucht ist, wird man nie erfahren.

Die Stimme des Regenwaldes (2019)

Alma & Oskar (2022)

DER HARTE UND DIE ZARTE

7/10


almaundoskar© 2023 Pandafilm


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2022

REGIE: DIETER BERNER

DREHBUCH: DIETER BERNER, HILDE BERGER, NACH IHREM ROMAN „DIE WINDSBRAUT“

CAST: EMILY COX, VALENTIN POSTLMAYR, ANTON VON LUCKE, MEHMET ATESÇI, MARCELLO DE NARDO, CORNELIUS OBONYA, TÁNA PAUHOFOVÁ, GERHARD KASAL, GERALD VOTAVA U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


A Show Biz ans Ende – so nennt sich Paulus Mankers Polydrama Alma rund um die Muse des 20. Jahrhunderts. Seit gefühlten Ewigkeiten schon hinterlässt das Enfant Terrible der österreichischen Bühnen als einer, der sich niemals nicht ein Blatt vor den Mund nehmen würde, nur um dem Mainstream zu entsprechen, mit diesem interaktiven Event sowohl hierzulande als auch in Übersee ziemlichen Eindruck. Ich selbst kam leider noch nicht in den Genuss dieser Aufführung – diese Möglichkeit hätte ich allerdings längst wahrnehmen sollen, da ist mir, so habe ich mir sagen lassen, einiges entgangen. Vor rund zwei Jahrzehnten gab es mal eine Zeit, da war Alma Mahler-Werfel in aller Munde. Neben Mankers epischem Treiben gabs da noch jede Menge Fernsehstücke, Biografien kamen auf den Markt. Alma hin, Alma her, man möchte gegenwärtig meinen, dass die eindrucksvolle und charismatische Dame, die sie gewesen sein muss, mit allen Kunstrichtungen liiert war, von der Musik eines Gustav Mahler über die architektonische Avantgarde eines Walter Gropius bis hin zu den bemalten Leinwänden eines Oskar Kokoschkas und am Ende dann Franz Werfel – der große Literat, dem wir unter anderem Die 40 Tage des Musa Dagh zu verdanken haben. Alma war immer und überall dabei, ein It-Girl der damaligen Zeit, mit allen befreundet und im Bett. Selbst auch komponierend, aber niemals malend. Eine erotische, sinnliche Muse, schwer zu greifen, schon gar nicht als Besitz zu verstehen. Eine, die ihrer Zeit als selbstbestimmte Frau voraus war und all die Männer weit hinter sich ließ, in ihrem chauvinistischen Denken, was selbiges der Frauen anging.

Obwohl die Person der Alma Mahler-Werfel eigentlich schon längst eine gewisse Omnipräsenz erreicht hat und so ziemlich von jedem, der etwas dazu zu sagen hatte, aufs Tapet gebracht wurde, ist immer noch nicht genug. Denn jetzt, jetzt ist Dieter Berner dran. Einer, der sich mit den Künstlern des österreichischen Expressionismus auskennt. Der bereits für Egon Schiele in Egon Schiele – Tod und Mädchen eine Lanze brach und nun in die derben Welten eines Oskar Kokoschka eintaucht. Für genau jene Zeitspanne, während dieser sich dessen Weg mit jener Alma Mahlers gekreuzt hat. Der Film setzt an und er endet mit einer wilden Beziehung, deren Brachialität eigentlich nur in den phantastischen Besitzansprüchen des Künstlers begründet liegt, der Mahler verteufelt und sich mit Gropius fast schon duelliert. Basierend auf dem Roman Die Windsbraut von Hilde Berger zeichnet Dieter Berner zwei Psychogramme gleichzeitig – und lässt einmal der Dame und dann wieder dem Herrn den Vorzug. Dieser abwechselnde Rhythmus tut dieser biographischen Skizze richtig gut. Es ist ein Rhythmus, der behagt, nicht anstrengt und einen erzählerischen Fluss entwickelt, von welchem man sich nur zu gerne mitreißen lässt. Weder gerät Alma & Oskar ins Stocken, noch wirken die Szenen sperrig oder verklärt – was leicht der Fall gewesen wäre, hätte man hier noch eine sphärische Metaebene eingezogen, die das knappe Stück von 88 Minuten heillos überfrachtet hätte. Doch Berner bleibt fokussiert, hält beide Charaktere nie zu weit auseinander, auf die Gefahr hin, den Film in zwei Teile zerbrechen zu lassen.

Mit Valentin Postlmayr, der sonst vorwiegend in Serien und auf Bühnen zu sehen ist, wird dieser grobschlächtige, ungestüme und obsessive Bär von einem jungen Mann lebendig genug, um ihm mit Vorsicht zu begegnen. Dieses Unberechenbare, Fanatische ist aber genau das, was Alma Mahler anziehend findet. Ihr integrer, intellektueller und berechnend leidenschaftlicher Charakter ist wie Medizin für den Avantgardisten, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg Bühnenshows hinlegt, die ihrer Zeit weit voraus sind. Emily Cox wiederum sieht der echten Alma ähnlich – ihr Spiel ist reizvoll und chargierend. Beide sind eine Klasse für sich.

Sie geben und sie nehmen: Dieser Emotionen-Pingpong unterhält als kunstgeschichtlicher Einkehrschwung mit historischen, leicht verwaschenen Bildern, einem Stück alten Wien und  verschlungenen, nackten Körpern, die an das Gemälde (und nicht den Roman) Die Windsbraut erinnern – Kokoschkas Meisterstück. Schön, dass dabei das sprachliche Kolorit auch nicht zu kurz kommt. Wenn der Künstler im ostösterreichischen Dialekt zetert und schmachtet, ist das genau jene bizarre Authentizität, die man sich als Ergänzung einer Retrospektive sehnlichst wünscht.

Alma & Oskar (2022)

The Dark (2018)

EIN GEFÜHL, ALS WÄRE MAN TOT

5/10


thedark© 2018 Luna Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2018

REGIE: JUSTIN P. LANGE, KLEMENS HUFNAGL

DREHBUCH: JUSTIN P. LANGE

CAST: NADIA ALEXANDER, TOBY NICHOLS, KARL MARKOVICS, MARGARETHE TIESEL, SCOTT BEAUDIN, CHRIS FARQUHAR, SARAH MURPHY-DYSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Zombies sind längst keine Kreaturen mehr, die aufgrund des Willens unbekannter Mächte aus den Gräbern steigen, ihre halb verwesten Arme durch den Erdboden recken und dann, taumelnd und stolpernd, dem Geruch frischer, menschlicher Gehirne folgen. Untote sind mittlerweile meist bemitleidenswerte Opfer eines Virus oder anderer Organismen, ganz so, wie es The Last of Us mit einem Pilzgericht zuletzt auf den Tisch gebracht hat. Es mag daher wieder begrüßenswert sein, wenn sich Storyteller an die Essenz des Zombie-Daseins rückbesinnen und jeden auch nur ansatzweise wissenschaftlichen Unterbau, so trivial er auch sein mag, beiseiteschaffen. Das macht das Ganze nämlich noch interessanter. George A. Romero wusste das. Sein Klassiker The Night of the Living Dead hütet sich tunlichst davor, irgendwelche Ursachen zu ergründen.

Warum also dieses Mädchen hier mehr tot als lebendig und wie ein Tier Besuchern eines Waldstückes auflauert, das sich Devils Den nennt, weiß niemand. Das Wesen bewohnt die Immobilie ihrer Mutter, welches mittlerweile auch schon so aussieht, als wäre Norman Bates schon jahrelang nicht mehr hier gewesen. Wie ein düsteres Hexenhaus, prädestiniert für dunklen Zauber, lädt es nicht gerade dazu ein, dort Zuflucht zu suchen. Einer tut es aber trotzdem: der Kidnapper und Mörder Josef, gespielt von Karl Markovics. Da die Untote auf Menschenfleisch steht, dauert es nicht lange, und der Flüchtige existiert nicht mehr. Was er hinterlässt, ist mehr als sonderbar, und lässt sogar eine verfluchte Kreatur wie das Mädchen Mina schier pass erstaunt sein: Im Wagen des Kriminellen kauert ein blinder Junge im Kofferraum – sein Peiniger hat ihn geblendet, er gilt landesweit als vermisst. Die beiden verunstalteten jungen Leute tun sich zusammen, und das funktioniert vielleicht deswegen so gut, weil Alex gar nicht weiß, womit er es mit Mina zu tun hat. Wer rechnet schon damit, einem Zombie zu folgen. Bald sind beide auf der Flucht, und währenddessen unterläuft das Mädchen eine Metamorphose, die sich ebenso niemand erklären kann wie die Grundmechanismen dieses Films.

Finstere Wälder, finstere Orte, ein finsteres Mädchen mit entstelltem Gesicht, gierig nach Menschenfleisch. Ein Teenie ohne Augen, der sein Schicksal relativ gottgegeben hinnimmt, ohne den Verstand zu verlieren. Der von Justin P. Lange und Kameramann Clemens Hufnagl inszenierte Film schickt die Keller-Versionen von Hänsel & Gretel durch den Wald – wie sie wohl geworden wären, wenn die Hexe nebst eines stattlichen Hungers nach zarten Schenkeln noch über dunkle Magie verfügt hätte. Wäre diese nicht ins Feuer gestoßen worden und wären die beiden Kids auf andere Art entkommen, hätte die grantige Alte den beiden noch so einige Flüche an den Hals schicken können. Und genau da sind wir nun, in The Dark – einer Variation des Zombie-Films, die sich ganz gut mit Coming of Age versteht und ihren Schauplatz trotz österreichischen Ursprungs irritierend amerikanisch hält. In dieser Alternativwelt ist einiges Metaphysisches inhärent, und ja, man will und kann es ruhig glauben.

So stilsicher die Finsternis in diesem Thriller auch umgesetzt wurde, so wenig berührt das Schicksal der beiden Protagonisten. Vielleicht, weil The Dark versucht, zumindest in den Biografien der beiden deren Geschichten von Missbrauch und Gewalt zu ergründen, und das auf eine Weise, die der geheimnisvollen Inszenierung aufgrund einer so routinierten wie beiläufigen Darstellung entgegenläuft. Somit ist der Plot zu verhalten geraten, und lieber hätte ich in diesem Film gar nichts erklärt bekommen, sondern hätte mit den wenigen Fakten leben können, dass zwei dem Schicksal überlassene Ausgestoßene einfach nur irgendwie die Kurve kriegen wollen.

The Dark (2018)

Tyler Rake: Extraction 2 (2023)

RAUSHAUEN UND REINHAUEN

6/10


tylerrake2© 2023 Netflix / Jasin Boland


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: SAM HARGRAVE

DREHBUCH: JOE RUSSO

CAST: CHRIS HEMSWORTH, GOLSHIFTEH FARAHANI, ADAM BESSA, TINATIN DALAKISCHWILI, TORNIKE GOGRICHIANI, ANDRO JAPARIDZE, OLGA KURYLENKO, IDRIS ELBA U. A. 

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Was ich an den Actionfilmen der Achtzigerjahre so richtig zu schätzen wusste, war der verschwenderische Einsatz von Pyrotechnik. Explosionen waren nicht nur Knall und Rauch, sondern dem Physikalischen längst entsagte Ouvertüren an Feuer und Flammen, vom Epizentrum des Wahnsinns fortgeschleuderte Actionhelden, die sich schnell wieder fangen konnten. Auf doppelte Mannshöhe hochkatapultierte Vierrad-Vehikel, darunter goldrote Wolken verheerender Oxidationen. Das war stets der Inbegriff des Actionkinos. Arnold Schwarzenegger, Dolph Lundgren oder Bruce Willis sind in feuerfester Manier so groß geworden. Jetzt, einige Dekaden später, zollt Chris Hemsworth diesen Haudegen Tribut. Wenn er nicht gerade als Thor seinen Hammer schwingt, darf er als nicht ganz legaler Extraktions-Spezialist und Gelegenheits-Söldner, der selbst bei den Expendables eine gute Figur machen würde, den bösen Jungs auf den Zahn fühlen und diesen auch ohne Narkose entfernen, begleitet von ordentlich Dresche und Blei zwischen den Rippen. Niemand entfesselt derzeit so ein tosendes Inferno wie dieser Mann, der vor allem eines ist: vorbereitet wie kein Zweiter.

Planung ist das halbe Leben. Ressourcen, die zur Verfügung stehen, ebenso. Also ist der vom Schicksal gebeutelte Mann (wir erinnern uns an die Rückblenden aus Teil eins, als er seinen Sohn an den Krebs verlor) nach seinem letzten Einsatz gerade noch dem Leibhaftigen von der Sense gesprungen, mit etlichen Kugeln im Körper und für längere Zeit im Koma. Neun Monate später und dank eines Häuschens am Traunsee im österreichischen Gmunden (Das Fremdenverkehrsamt dankt) ist Tyler Rake wieder ganz der Alte. Und fit genug, um sich von Idris Elba als undurchsichtigen Akquisiteur zu einem neuen Job überreden zu lassen. Wofür Rake nicht lange überlegen braucht, handelt es sich doch bei der zu Rettenden um seine Ex-Schwägerin, die in Georgien mit ihrem Superverbrecher-Gatten und Unterweltboss im Knast einsitzt, um nicht von dessen Feinden gelyncht zu werden. Der wahre Feind ist aber der Ehemann selbst, also dringt der bis an die Zähne bewaffnete Chris Hemsworth gemeinsam mit dem Special Force-Geschwisterpaar Khan (u. a. Golshifteh Farahani) ins Gefängnis ein, um die Mutter und ihre beiden Kinder rauszuhauen. Ein Gewaltparcour erster Güte eröffnet sich hier, zuerst lautlos, dann immer heftiger, bis die Revolte losbricht. Und Rake so viele Schläge einstecken muss, dass ich selbst schon bei einem einzigen das Bewusstsein verloren hätte.

Nur aus Rein und Raus besteht Tyler Rake: Extraction 2 dann aber auch wieder nicht. Das wäre dann doch zu simpel. Die Früchte seiner Arbeit holen den Experten natürlich ein, und damit kommt die Wiener Donaustadt ins Spiel, insbesondere der unübersehbare und architektonisch durchaus auffällige DC-Tower, der ordentlich Schaden erleidet, bei dem Aufgebot, dass die Georgier hier inszenieren. Das alles ist State of the Art. Es splittern die Fenster, es rattert die Gatling, es rutschen Held und Antiheld auf abschüssigen Dächern herum. Das ist so richtig Old School, wie man es bereits aus der Mission Impossible-Reihe kennt. Nur mit Ethan Hunt braucht sich Tyler Rake nicht messen. Letzterer ist ein Mann fürs Grobe, der für sein Tun bezahlt wird. Der seinen Job macht – aber immer noch nicht checkt, welche neuralgischen Elemente dabei im Blick behalten werden müssen.

Auf den Konsequenzen unverzeihlicher Drehbuchschwächen herumtobend, funktioniert auch dieser Film dennoch irgendwie: Als Action-Routine vom Feinsten, mit allerhand Shootouts, Handgreiflichkeiten und wie eingangs schon erwähnt: jeder Menge Kawumm. Die Karossen überschlagen sich, die Helis stürzen. Alles da. Was will man eigentlich mehr von einem Actionfilm wie diesen? Einem, der nun nicht die große Geschichte erzählen, sondern einfach nur Schauwerte liefern will, die man so schon länger nicht mehr gesehen hat – außer vielleicht man gönnt sich einen Reißer aus Asien wie Raging Fire, der auch keine halben Sachen macht, dafür aber ein bisschen mehr mit den Stereotypen changiert. In Tyler Rake: Extraction 2 sind die Bösen so richtig nervig, weil sie nur das sind: nämlich böse, und sonst gar nichts. Je mehr von diesen Finsterlingen an Tyler Rake Hand anlegen wollen, umso mehr nervt diese sture Verbissenheit der Antagonisten. Und umso mehr will man ihnen in den Hintern treten, und zwar so, dass sie nie wieder aufstehen. Somit wären auch die Emotionen des Action-Aficionado getriggert. Und mehr will er gar nicht.

Tyler Rake: Extraction 2 (2023)