Her Will Be Done (2025)

BETEN AUF TEUFEL KOMM RAUS

5,5/10


© 2025 WTFilms


ORIGINALTITEL: QUE MA VOLONTÉ SOIT FAITE

LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN 2025

REGIE / DREHBUCH: JULIA KOWALSKI

KAMERA: SIMON BEAUFILS

CAST: MARIA WRÓBEL, ROXANE MESQUIDA, WOJCIECH SKIBIŃSKI, KUBA DYNIEWICZ, JEAN-BAPTISTE DURAND, RAPHAËL THIÉRY U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Warum ich lieber in der Stadt lebe als am Land? Abgesehen davon, dass ich nicht ein bis zwei Stunden mit dem Auto fahren muss, um in ein Kino zu gelangen, wird das Urbane zum Schmelztiegel allerlei gesellschaftspolitischer Strömungen, die natürlich nicht immer progressiv sind, die sich aber mit all dem Regressiven die Waage halten und wo das Morgen nicht nur mit dem Hahnenschrei assoziiert wird. Gut, das mag vielleicht etwas polemisch sein, aber nicht von ungefähr greifen Filmemacher in der Darstellung ruraler Umstände auf einen Status Quo zurück, der in längst vergangene und niemals zu hinterfragende Traditionen tief einzementiert jegliche Progression als etwas Schädliches erachtet, während das Schädliche und Diskriminierende einfach, weil es „immer schon so wahr“ die Ewigkeit überdauern muss. Beharrlichkeit und Konservativismus ist Gift für den psychosozialen Fortschritt – kein Wunder, dass die Landflucht in Andreas Prohaskas neuem Gesellschaftshorror Welcome Home Baby, in welchem störrische, altvaterische Mystik auch gerne den Opfertisch bereitet, zur unheilvollen Metapher und das Aussterben dörflicher Mikrokosmen als Albtraum inszeniert wird. Kein Wunder auch, dass Ari Aster in Midsommar zum sonnenhellen Horror ruft oder Brigitte Hobmeier in Elisabeth Scharangs Wald als heimkehrende Städterin vor allem auf toxische, männliche Skepsis trifft. In solchen Gemeinden ist bis zum heutigen Tag die patriarchale Ordnung immer noch jene, gegen die sich niemand aufzulehnen hat. Rollenbilder sind klar verteilt, die Macht liegt beim physisch Stärkeren, und das sei der Mann.

Angstfiguren der Selbstbestimmung

Dem „starken“ Geschlecht, selbst seinem Sexualtrieb unterworfen, war die Unterwerfung der Frau nur genehm. Widerworte oder andere Weltsichten mussten schließlich verteufelt werden, womit wir bei den Hexen wären. Forderte eine Frau ihre Rechte, und willigte nicht ein, zu tun, was der Vater, der Bruder oder der Mann befahl, brach die dörfliche Ordnung zusammen, die Inquisition trat an den Richtertisch, die Ächtung schritt fort. Alles nur schreckliche Vergangenheit? In dieser Systematik vielleicht, nicht aber in der übergriffigen Selbstüberschätzung derber Trunkenbolde, die in Her Will Be Done mit Tunnelblick und erbsengroßem Hirn während den letzten Zuckungen folklorer Feierlichkeiten den Geschlechtsakt gewaltsam einfordern wollen. Doch das ist ein Moment in Julia Kowalskis Coming of Age-Mystery, der bereits schon, irgendwo in der Mitte des Films, den Wendepunkt markiert, den Anfang vom Umsturz verknöcherter Strukturen.

Unterdrückung des Ausbruchs

Im Zentrum des Geschehens, irgendwo in der französischen Provinz an einem Bauernhof, muss die junge Nawojka (Maria Wróbel) damit klarkommen, das Erbe ihrer Mutter in sich zu tragen – nämlich das Böse, den Teufel, den Antichrist – kurz: alles Hexische, was letztlich zu deren Tod geführt hat. Was tut man schließlich, um diese ketzerischen Impulse zu unterdrücken? Man betet und kniet auf Teufel komm raus, muss unter Krämpfen und muskelzehrenden Anfällen dagegen ankämpfen, damit die Dunkelheit den juvenilen Geist nicht übermannt. Alles nur Einbildung oder ist da tatsächlich was dran? Die Brüder und der Vater achten schon darauf, das Nawojka ihre Pflichten erfüllt – schließlich ist dieses Familie eine patriarchal geführte, und die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen – an die lässt sich gar nicht denken. Bis Sandra auftaucht, die Erbin des Nachbarhofs – unkonventionell, verführerisch, selbstbestimmt. Ein No-Go für alle Männer, die Frauen gerne unter ihrer Kuratel haben wollen. Zwischen Sandra und Nawojka entstehen Synergien, die das unvermeidliche Verhängnis heraufbeschwören, allerdings auch einen Befreiungsakt, der nicht unblutig vonstatten geht.

Mit Konservativem gegen das Konservative

Julia Kowalski, längst nicht fertig mit den erzkonservativen Strukturen ihrer elterlichen Heimat, nämlich Polen, hat mit ihrer feministischen Mystery notwendige Akzente gesetzt – ganz klar müssen solche Filme richtig interpretiert werden, eine konservative Zielgruppe kann mit solchen Werken wohl gar nichts anfangen und fühlt sich im Handeln des traditionellen Mobs wohl in den eigenen Ansichten bestätigt. Für alle anderen, die den Paradigmenwechsel in unserer Geschlechtergesellschaft befürworten, mag Her Will Be Done nicht nur offene Türen einrennen – die Idee, der Aufbau und die narrative Struktur der Geschichte gerät mitunter etwas zögerlich, situationsverliebt, der Stimmung und des Settings verhaftet.

Aller Anfang ist bei Filmen stets schwer, nicht weniger als das Finden eines runden Abschlusses. Kowalski muss sich bemühen, um ihre Parabel des Aufbegehrens und der Identitätsfindung auf die richtigen Schienen zu setzen. Wie die Verhältnisse stehen, wird bald klar, eher noch, als Kowalski sich dabei gemüßigt fühlt, die Sondierung der Umstände als vollendetes erstes Kapitel abzuschließen und die Essenz des Ganzen freizulegen. Dabei ist selbst in der Darstellung des Abgesangs auf den Konservativismus eben genau das Konservative zu finden; klassische bildliche Allegorien, viel Hexenspuk und die finsteren Mächte der Natur. Das wirkt letztlich allzu bieder, das Konfrontieren der Alteingesessenen mit nackten Tatsachen wird der Höhepunkt eines milden, grobkörnigen Gesellschaftsthrillers, der zwar aufschreit, aber nur leise – damit niemand den Hahnenschrei überhört, der den falsch verstandenen Morgen einkräht.

Her Will Be Done (2025)

Vermiglio (2024)

DER LÄNDLICHE SEGEN DES PATRIARCHATS

8/10


© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE / DREHBUCH: MAURA DELPERO

KAMERA: MICHAIL KRITSCHMAN

CAST: MARTINA SCRINZI, RACHELE POTRICH, ANNA THALER, TOMMASO RAGNO, GIUSEPPE DE DOMENICO, ROBERTA ROVELLI, CARLOTTA GAMBA, ORIETTA NOTARI, SARA SERRAIOCCO U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Aushalten, herhalten, durchhalten. Als Frau in den Dekaden vor dem Zweiten Weltkrieg geboren zu werden, da fordert das Schicksal schon mal sämtliche Abzüge und jede Menge Unterwürfigkeit in einer Gesellschaft, die vom Manne bestimmt wird und von nichts anderem. Verlässt man dabei noch die urbanen Gefilde und dringt in die Provinz vor, wird der Missstand noch deutlicher. Noch mehr Abenteuer in Sachen Diskriminierung und Fügsamkeit lassen sich hoch oben in den Bergen erleben, wo die Gerichtsbarkeit fast nicht mehr hinkommt, wo einer wie Elias Alder aus Schlafes Bruder sein wundersames Gehör entwickelt oder die Selbstjustiz wie in Das finstere Tal pechschwarze Blüten treibt. Auf dem Berg, da gibt’s genug Sünd‘. Und die wird auch rigoros betraft, weil der Herrgott es will und die Buße nach der Beichte es verlangt.

Was waren das für Zeiten, die im prachtvollen, zerklüfteten und immersiven Epos Vermiglio wieder lebendig werden, so als hätten Peter Turrini und Wilhelm Pevny Louisa May Alcotts kultverdächtigen Jugendroman Little Women neu interpretiert und nochmal eine ganz andere Alpensaga aus der Schneeschmelze gehoben. Anders als bei Alcott rücken hier nicht vier, sondern drei Geschwistermädchen in den Fokus. Es sind dies die dreizehnjährige, blitzgescheite Flavia, die einen gewissen religiösen Fanatismus zelebrierende sechzehnjährige Ada und die nun volljährige und auch heiratsfähige Lucia, die sich prompt in einen Süditaliener namens Pietro verliebt, der gegen Ende des Krieges einen einberufenen, schwer traumatisierten jungen Mann aus dem Dorf als Deserteur in die Heimat begleitet. Dieser Fremde findet auch an Lucia Gefallen, und es dauert gar nicht lange, da läuten die Hochzeitsglocken.

Wem diese Bergdorf-Romanze beim Lesen dieser Zeilen zu rustikal vorkommt und wer den Förster vom Silberwald hinter der nächsten Ecke vermutet, darf durchatmen: Vermiglio hat nichts davon, weder die Melodramatik, noch den Pathos noch überzogene Alpenromantik. Diese eindringliche Familiengeschichte, geschrieben und inszeniert von Maura Delpero, betört mit aus musealen Archiven hervorgekramten, historisch akkuraten Bildern, wuchtigen Panoramen und der erdig-feuchten Muffigkeit den Witterungen ausgesetzter Gemäuer. Nur dort, wo der Patriarch herrscht, nistet die große weite Welt. Über allem thront nämlich Cesare (Tommaso Ragno), die Verkörperung des Wissens und der Vernunft. Und eines Weltbildes, das Frauen Freiheit, Entfaltung und Individualität versagt. Während die eine unter die Haube muss, sonst nimmt sie kein Mann mehr, darf nur eine der übrigen Bildung genießen, während die andere dazu verdammt wird, den Hof zu hüten. Das Bildnis einer Frauengesellschaft und einer Gesellschaft an sich, in dem verknöcherte Hierarchien unverrückbar scheinen, ist düster und unwirtlich. Andererseits aber schenkt ihnen Delpero genug Persönlichkeit, um sich selbst zu definieren. In erzählerisch perfektionierter Ausgewogenheit wandert das volkskundliche Ensemblestück zwischen den Familienmitgliedern hin und her, entdeckt aufkeimende Auflehnung, Funken der Selbstfindung und die Ideen einer ganz anderen Ordnung, die kaum eine der jungen Frauen für möglich hielt.

Diese Art des klassischen Erzählkinos will auch in Zeiten überbordender filmischer Innovationen nicht verloren gehen, denn gerade diese Form versteht sich darin am besten, einem vergangenen Sitten- und Gesellschaftsbild mit Sinn für Nuancen hinter die knarrenden Holztüren zu blicken, ist der Schnee mal beiseite geschaufelt. Die Jahreszeiten fegen über die Alm, mit ihnen Schmerz,  Zuversicht, Geburt und Tod. Vermiglio ist ein stilistisch vollendetes Lamento über eine Epoche weiblichen Devotismus, als hätte Ingmar Bergman (Fanny und Alexander) Karl Schönherr oder Anzengruber inszeniert, mit dem Augenmerk auf Psyche, Tradition und der Wechselwirkung zwischen beidem.

Vermiglio (2024)

Mein Sohn, der Soldat (2022)

VÄTERLICHE PFLICHTEN IM SCHÜTZENGRABEN

3,5/10


© 2022 – UNITÉ – KOROKORO – GAUMONT – FRANCE 3 CINÉMA – MILLE SOLEILS – SYPOSSIBLE AFRICA


LAND / JAHR: FRANKREICH, SENEGAL 2022

REGIE: MATHIEU VADEPIED

DREHBUCH: OLIVIER DEMANGEL, MATHIEU VADEPIED

CAST: OMAR SY, ALASSANE DIONG, JONAS BLOQUET, BAMAR KANE, OUMAR SEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Es gibt Weltkriegsfilme, die sind so außerordentlich kraftvoll inszeniert, da fühlt man sich unweigerlich am Kragen gepackt und mitgezerrt auf einen Trip voller Angst, Schmerz und Hoffnung. Ein solcher Film ist Sam Mendes scheinbar in einem Take gefilmte Odyssee 1917. Dadurch, dass Mendes nicht nur die Memoiren seines Großvaters verarbeitet hat, sondern eben auch seinen Fokus enorm stark auf das Individuum setzt, lässt das Drama keinerlei Distanz zu. Der Zuseher, in diesem Fall ich, hängt am Rüstzeug des Soldaten, folgt ihm durch den Schützengraben, springt dem Tod immer wieder von der Schippe, wühlt sich durch Trümmer hindurch ans rettende Tageslicht. Dann gibt es Filme, die meinen, noch persönlicher werden zu können, noch mehr aufzuwühlen als „nur“ anhand eines gnadenlosen Einzelschicksals. Filme wie Mein Sohn, der Soldat.

Allein vom Titel her treibt es einem schon im Vorfeld die Tränen in die Augen. Verstärkt wird die Vorschuss-Wehmut dadurch, wenn man selbst eine Vater-Sohn-Beziehung lebt. Dieser Film verspricht hier etwas Schmerzvolles, noch dazu mit Hinblick auf die entbehrungsreiche französische Kolonialgeschichte des Landes Senegal. In der Hauptrolle findet sich Omar Sy wieder, der seit Ziemlich beste Freunde, einem modernen Meilenstein des europäischen Kinos, gut gebucht von einem Set zum anderen hetzt und ganz vorne mitspielt, sogar im Marvel-Franchise (siehe X-Men). Der französische Weltstar dürfte sich am Set von Ziemlich beste Freunde wohl mit Mathieu Vadepied angefreundet haben, dem Kameramann. Der wiederum hat nun, für Mein Sohn, der Soldat, ins Regiefach gewechselt, die Kamera hat dann jemand anderer übernommen. Nach einigen Kurzfilmen war das hier Vadepieds erster Langfilm, noch dazu ein schwieriges, hochemotionales Thema um Selbstbehauptung, Identität und Patriarchat. Um Autorität, Verantwortung anderen gegenüber und sich selbst. Wie all diese inhaltliche Schwere stemmen? Vielleicht gar nicht.

1917 lief es in den Kolonien ungefähr so, als wären Sklavenjäger zugange. Damals, um den Ertrag an den Baumwollplantagen in Übersee zu steigern. Diesmal aber, um den Nachschub an der französischen Front zu sichern, das Rauben von Menschen vom Fleck weg aus ihren Dörfern war zu damaligen Zeit nur legitim, schließlich muss der Unterworfene seinem Herrn dienen. Es wäre aber nicht der Hirte Bakary (Omar Sy) gewesen, den sie zwangsrekrutiert hätten, sondern dessen Sohn Thierno (Alassane Diong). Kann ein Vater dabei zusehen, wie das eigen Fleisch und Blut als Kanonenfutter herhalten muss? Nein, ein Vater darf den Sohn nicht im Stich lassen – also meldet er sich freiwillig. Nur, um später festzustellen, wie sehr er sich darin getäuscht hat, noch von Nutzen zu sein für jemanden, der längst aus dem Nest hätte fallen sollen. Im Zuge des militärischen Einsatzes schließlich wird klar, dass Thierno im Wahrnehmen seiner Pflicht an Selbstwert gewinnt und plötzlich wichtiger ist als er jemals hätte sein können, daheim in der Sahelzone.

Der Plot ist gut, der Konflikt hochinteressant – die Umsetzung ist es leider nicht. Omar Sy und Alassane Diong spielen selbst wie Zwangsverpflichtete, die Dramaturgie ist zäh und bruchstückhaft. Die Emotionen spießen sich am lieblos ausgearbeiteten Skript, das dem Seelenleben seiner Protagonisten partout nicht auf den Grund gehen will. Hier spürt man und erfährt man nichts, lediglich die kolportierte Oberfläche eines Macht- und Gesinnungswechsels. Prinzipiell würde Mein Sohn, der Soldat einen Blickwinkel auf die Kriegsgeschichte gewähren, den man so noch nicht gesehen haben könnte. Doch am Ende war die Chance auf eine Innovation im Genre nur ein leeres Versprechen. Dieser Krieg bleibt ein mut- wie wutloses Stück schale Aufarbeitung. Die spektakulären Bilder zwischen Kugelhagel und aufgewühltem Schutt lassen sich dabei problemlos verdrängen.

Mein Sohn, der Soldat (2022)

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

DIE STIMME ERHEBEN

8/10


morgenistauchnocheintag© 2023 Tobis


LAND / JAHR: ITALIEN 2023

REGIE: PAOLA CORTELLESI

DREHBUCH: FURIO ANDREOTTI, GIULIA CALENDA, PAOLA CORTELLESI

CAST: PAOLA CORTELLESI, VALERIO MASTANDREA, ROMANA MAGGIORA, EMANUELA FANELLI, GIORGIO COLANGELI, VINICIO MARCHIONI, GABRIELE PAOLOCÀ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Im Jahr des Herrn 2023 war der Sommer geprägt von einem Phänomen im Kino, wie es das kein zweites Mal geben wird: Barbenheimer. Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schrieben Geschichte – der eine, Nolans Oscar-Sieger, begab sich auf biografische Spurensuche und ließ den Vater der Atombombe, nämlich Oppenheimer, dank Cillian Murphys eindringlichem Spiel zu Wort kommen. Auf der anderen Seite verbog eine pinke Puppe namens Barbie sämtliche Stereotypen bei Männern und bei Frauen zu einer knallbunten, aber subversiv charmanten Musical-Satire. Dem Stiefel Europas war das aber herzlich egal. Dort übertrumpfte ein anderer Film das Box-Office-Verhalten Hollywoods in Übersee: Ein Melodrama namens Morgen ist auch noch ein Tag von Paola Cortellesi, die sich in diesem Meisterwerk gleich selbst besetzt hat – als vom Manne unterjochte, kleingehaltene und physisch wie psychisch gequälte Hausfrau im Nachkriegsitalien.

Wir schreiben das Jahr 1946, und Italien steht politisch wie gesellschaftlich vor einem Umbruch. Kann es sich in eine neue Ära retten oder bleibt es in einer Regression gefangen? Wie geht es den Frauen, die bis dato nicht das Recht hatten, ihre Stimme abzugeben? Die bis dato dem Ehemann gehorsam sein mussten, da sie doch nur tun durften, was vom Hausherrn erlaubt war? Eine Zeit war das, feministisch betrachtet das tiefste Mittelalter, die reinste Anarchie, lediglich die Kraft des Stärkeren dirigierte den Alltag. Drei Kinder muss Delia durchfüttern, während der Kriegsheimkehrer seine Angetraute gleich zu Beginn des Filmes präventiv für den Rest des Tages ohrfeigt. Diese Gewalt zum Einstand einer Emanzipationsgeschichte voller Charme, Trotz und Mut läutet die Wiederkehr eines Neorealismus ein, den der junge Federico Fellini oder Vittorio de Sica (u. a. Gestern, heute und morgen) in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Genre des Kinos so maßgeblich etabliert hatten. Statt Paola Cortellesi wäre es damals wohl Sophia Loren gewesen, die sich als Hausfrau der Unterschicht zu behaupten versucht. Der Mechaniker, dem sie schöne Augen macht, wäre wohl Marcello Mastroianni gewesen. Die Zeiten haben sich geändert, nicht aber die Lust daran, dem blanken und unschönen Realismus einer sozial benachteiligten Familie, die im Keller eines Hauses in Rom ein Leben wie das des gut betuchten Schwiegersohns in spe anstrebt, melodiöse Verfremdungen und anachronistische Stilmittel entgegenzusetzen.

Cortellesi stellt die patriarchale Gewalt als abstrahierte Tanzeinlage dar, die einer klischeehaften Nachkriegsromantik eins auswischt. Wenn Delia resoluten Schrittes auf den Straßen Roms unterwegs ist, um ihre Stimme zu erheben, ertönen die Rhythmen zeitgenössischen Hiphops der Gegenwart. Mit diesen feinen Methoden bettet der Film das sozialkritische Betroffenheitskino in das zeitgemäße Gewand einer temperamentvollen Retro-Interpretation, ohne vorgestrig oder angestaubt zu wirken. Die Leidenschaft für den Feminismus, die Wut auf den Chauvinismus, all diese Emotionen triefen dem Film aus jeder Pore. Dabei fesselt Cortellesis Spiel genauso wie die Dynamik zwischen den einzelnen Darstellern eines spielfreudigen Ensembles, das sich selbst kritisch betrachtet und so manche Figur manchmal der Parodie aussetzt, obwohl es gar nichts zu lachen gibt. Diese Grenzen lotet Morgen ist auch noch ein Tag mit Scharfsinn und Verve, mit Vergnügen und Kampfgeist in eine Richtung aus, die keinesfalls nur Ambitionen gutheißt, sondern auch die Umsetzung engagierter Ideen.

Schwer auszuhalten, wie Delia sich drangsalieren und erniedrigen lässt. Jede Sekunde ist es das Warten und Bangen aber wert. Am Ende triumphiert so vieles auf so vielen Ebenen, es bleibt einem nur, hin und weg zu sein.

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

Shahed – The Witness (2024)

PORTRAIT EINER KÄMPFERIN

6,5/10


shahed© 2024 Viennale


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: NADER SAEIVAR

DREHBUCH: JAFAR PANAHI, NADER SAEIVAR

CAST: MARYAM BOUBANI, NADER NADERPOUR, HANA KAMKAR, ABBAS IMANI, GHAZAL SHOJAEI U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Männer im Iran können tun und lassen, was sie wollen. So ein politisches Ungleichgewicht zum Leidwesen aller dort lebenden Frauen nennt man Patriarchat. Es wird angeführt von Würdenträgern, die Staat und Glaube nicht trennen wollen. Frauen müssen gehorchen, kuschen, sich unterwerfen. Das beginnt mit dem Tragen des Hijab und endet vielleicht damit, als Kollateralschaden für männlichen Machtwillen mit dem Leben zu bezahlen. Wie es aussieht, scheint genau das in Shahed – The Witness passiert zu sein. Vor dem Hintergrund gehörverschaffender Demonstrationen gegen das Regime und den darauffolgenden Unruhen in Teheran aufgrund von Todesfällen durch willkürliche Polizeigewalt sieht sich die längst pensionierte Lehrerin Tarlan vor Herausforderungen gestellt, die kaum zu bewältigen sind. Längst erfahren im sozialpolitischen Aktivismus, muss sie diesmal mit ansehen, wie ihre Ziehtochter von ihrem Ehegatten zwangsbestimmt wird. Die Schule für traditionellen Tanz hat sie zu schließen, fördert dieser doch sündigen Ungehorsam. Tarlan bemüht sich, zu intervenieren und zu vermitteln, diese Fähigkeit beherrscht sie schließlich gut. Doch anscheinend hilft das alles nichts: als Tarlan im Haus ihrer Tochter nach dem Rechten sehen will, wird sie Zeugin einer vom Schwiegersohn begangenen Straftat. Ob es sich um den reglosen Körper der Person im Schlafzimmer um die eigene Ehefrau handelt, kann Tarlan nicht genau bestimmen. Doch die Gewissheit folgt auf dem Fuß, als diese tot aufgefunden wird. Der Dreck am Stecken des eitlen Geschäftsmannes ist unübersehbar, da kann die rechtschaffene Seniorin noch so sehr gebeten werden, die Sache auf sich beruhen zu lassen: Wo die Ungerechtigkeit Opfer fordert, lässt sich nicht wegsehen.

Diesem Dorn im Auge einflussreicher Männer gibt Maryam Boubani in dieser deutsch-österreichischen Produktion eine eindrucksvolle Gestalt. Niemals müde, und doch der Erschöpfung nahe, scheint es die Pflicht jener, aufzubegehren, die sich darin noch imstande fühlen. Dass Tarlan dabei das Feld den Jungen überlässt, so zum Beispiel der Tochter der Ermordeten, kommt ihr erstmal gar nicht in den Sinn. Regisseur Nader Saeivar, der mit Jafar Panahi (No Bears) zu diesem Film gemeinsam das Drehbuch verfasst hat, folgt in seinem sozialpolitischen Justizdrama, in welchem es ganz viel um Familie geht, einer bereits etablierten Tradition hellwachen, kritischen Kinodenkens, die Ashgar Farhadi mit seinen neorealistischen Meisterwerken längst anführt. Panahi hat sich dabei mit No Bears ein bisschen zu sehr selbst inszeniert, während Saeivar die Bühne zu Gänze seiner vor Kraft, Einfallsreichtum und Beharrlichkeit strotzenden Protagonistin überlässt. Shahed – The Witness funktioniert daher viel besser als fiktives Portrait einer Kämpferin und weniger als politisches Statement. Ein Einzelschicksal, verflochten mit anderen, tragischen Schicksalen, und gleichermaßen auch ein Aufruf, den Blick zu heben, um zu erkennen, dass Kämpfernaturen nicht allein sein müssen.

Da sich Saeivar sehr auf die Sichtweise einer Frau beschränkt, fällt sein Film als psychologische Miniatur auf; als streng positioniertes, persönliches Hazardspiel, das große Ganze anderen überlassend. So aber wird klar, wieviel Wirkung Einzelne erzielen können. Mit Shahed – The Witness wird das kritische Kino, das den Problemstaat Iran ins Visier nimmt, um eine Facette, einen Blickwinkel erweitert. Mag sein, dass inhaltlich wenig mehr Erhellendes übrig bleibt und nur wiederholt wird, was andere längst gesagt haben. Andererseits tut es gut, das gesprochene Wort nochmal zu unterstreichen. Und dabei die Generation der Älteren in den Fokus zu stellen.

Shahed – The Witness (2024)

The Bikeriders (2024)

DES MANNES LETZTE FREIHEIT

6/10


bikeriders©  2024 Universal Pictures

LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JEFF NICHOLS

CAST: JODIE COMER, AUSTIN BUTLER, TOM HARDY, MICHAEL SHANNON, MIKE FAIST, BOYD HOLBROOK, DAMON HERRIMAN, BEAU KNAPP, EMORY COHEN, TOBY WALLACE, NORMAN REEDUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


„Ich beschließ‘ ich kauf mir wie der Marlin Brando a klasse Maschin…“ – dass ein Film wie Der Wilde seinerzeit die Freiheitsträume ohnehin im Patriarchat befindlicher Männer so sehr triggern hat können – dieses Phänomen wurde selbst vom österreichischen Satiriker Helmut Qualtinger aufs Korn genommen, mit dem Song Der Halbwilde, aus dessen Lyrics obige Zeile stammt.

Nun hat es auch Tom Hardy erwischt. Wir sehen ihn im Film The Bikeriders, wie er entgeistert auf den kleinen hauseigenen Fernseher starrt und Marlon Brando dabei zusieht, wie er in ebenjenem Film neue Begehrlichkeiten weckt. Jene nach einer Lederjacke, nach einer neuen wilden Identität, nach zweirädrigen Boliden und der Missachtung so gut wie aller sozialer Regeln, die für ein Miteinander essenziell sind. Diesem stiernackigen, kernigen, unrasierten Mann namens Johnny folgen alsbald immer mehr und mehr solcher Männer, die, meist als Außenseiter der Gesellschaft, nirgendwo dazugehören dürfen; die in der frühen Midlife-Crisis stecken oder die Wucht ihrer – überspitzt gesagt – maskulinen Identität innerhalb eines geordneten Lebens samt Familie nicht mehr standhalten können. Einer dieser aus der Gesellschaft Verstoßenen ist Benny, gespielt vom zurzeit allseits beliebten Newcomer Austin Butler, der bereits Superstar Elvis Presley Charakter verliehen hat. Die 60er-Jahre Frisur steht ihm prächtig, sein einstudierter verlorener Blick ebenso. Benny hat nirgendwo sozialen Halt, also ist es der Verein der Vandals Chicago, und ganz besonders sein väterlicher Freund Johnny, von dessen Seite er nicht abrückt – bis Kathy (Jodie Comer, The Last Duel) in sein Leben tritt. Mit ihr schließt er gar den Bund der Ehe, bleibt aber dennoch ein schwer zu fassender Charakter. Die Gang der Biker hingegen erfährt im Laufe der Jahre eine Umwälzung und Veränderung nach der anderen. Ganz plötzlich gibt es Ableger, dann wieder andere, die dem Boss der Runde seinen Platz streitig machen wollen. Dann gibt es Neider und die Lust an kriminellen Handlungen, die das Image einer gelebten Anarchie, die mit Bikergangs eben assoziiert wird, bis heute prägen.

Dennis Hoppers Easy Rider hat die Hoffnung auf eine ungestüme Freiheit auf zwei Rädern wohl letztlich ausgeräumt und ausgeträumt. Jeff Nichols hat sich dabei an einem Fotobuch des Journalisten Danny Lyon orientiert und daraus die Chronik von Aufstieg und Fall einer ganzen Subkultur in graubraunen Bildern auf die Straßen des Mittleren Westens gesetzt. Schnell stellt man fest, dass dieses Bild der männlichen Freiheit und der maskulinen Selbstbestimmung nicht mehr sein kann als die Zwangsbeglückung vollkommen Unglücklicher, die überraschend wenig Spaß daran haben, an ihren fahrbaren Untersätzen herumzuschrauben und diese, wäre es denn möglich, gegen Pferde eintauschen würden, gäbe es den Wilden Westen noch. Tom Hardy, Butler und das ganze illustre Ensemble skizzieren die Portraits sehnsüchtig Suchender, die außerhalb dieses Mikrokosmos aus wenigen Regeln und der Lust am Heroismus wohl nirgendwo zur Ruhe kommen würden. Nichols erzählt die Geschichte aber aus dem Blickwinkel von Jodie Comers Figur, die einem fiktiven Reporter das ganze Drama schildert. Dabei braucht es einige Zeit, bis man sich an diesen pragmatischen Charakter gewöhnt. Die zähe Dominanz dieser Figur ist nämlich nicht, was man erwartet hätte.        

The Bikeriders ist zeitgeistiges Genrekino mit vielen leeren Kilometern. So orientierungslos wie seine Protagonisten ist bisweilen auch Nichols Film. Wild wechselt dieser zwischen den Zeitebenen, zu viele Charaktere ähneln sich zu stark, um die Vielfalt einer Gesellschaft abzubilden, die keine wirklichen Identitäten besitzt, sondern nur das Bewusstsein einer Community, die schnell zerbrechen kann. Außen wuchtig, innen geradezu hohl. Comers Figur weiß das. Und am Ehesten entwickelt Austin Butler so etwas wie eine Biografie, die den Ausbruch aus einem Teufelskreis depressiver Leere beschreibt.

The Bikeriders (2024)

Kleine schmutzige Briefe (2023)

ANARCHIE IN GESCHWUNGENEN LETTERN

8/10


kleineschmutzigebriefe© 2024 STUDIOCANAL


ORIGINALTITEL: WICKED LITTLE LETTERS

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: THEA SHARROCK

DREHBUCH: JONNY SWEET

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, ANJANA VASAN, TIMOTHY SPALL, HUGH SKINNER, GEMMA JONES, EILEEN ATKINS, JASON WATKINS, ALISHA WEIR, RICHARD GOULDING U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Wenn der hauseigene Nachwuchs trotz vehementen Verbotes der Erziehungsberechtigten pausenlos flucht, gibt es praktische pädagogische Tipps: Wie wäre es mit einem Schimpfsack? Damit ist keine Person gemeint, sondern tatsächlich etwas, das man, wie das Speibsackerl im Flugzeug, vor den Mund hält und drauflos keift, was das Zeug hält und die Zensur nicht mehr erwischen kann. Dort, und nur dort, bündelt sich die ganze Wut, die ganze Lust am Ungehorsam, die ganze dunkle Seite – zumindest mal eines Kindes. Erwachsene müssen lernen, sich in Zaum zu halten, alles andere wäre nicht gesellschaftsfähig. Oder sie finden ein anderes Ventil, um genau jenen Druckausgleich herbeizuführen, der sonst zum Durchdrehen führt. Um Dinge loszuwerden, das empfehlen Therapeuten, gibt es die ganz klassische Methode des Niederschreibens. Dumm nur, wenn das, was keiner lesen sollte, plötzlich alle lesen. Oder zumindest Leute, die einfach nicht damit rechnen, beschimpft zu werden, führen diese doch ein beschauliches, allen Ansprüchen der Gesellschaft entsprechendes Leben, devot, nach christlichen Werten und jenseits aller Gleichberechtigung für das weibliche Geschlecht. In diesen Umbruchszeiten um 1920, während die Suffragetten in den Städten Großbritanniens um ihr Wahlrecht demonstrieren, soll sich in der Küstenstadt Littlehampton ein bizarrer Fall von Briefkastenterrorismus ereignet haben: Kleine, schmutzige Briefe sollen die gottergebene Edith Swan (Olivia Colman) um den Verstand bringen. Und nicht nur sie, sondern gleich auch noch ihre Eltern mit dazu und insbesondere den chauvinistischen, vorgestrigen Patriarch namens Vater, der voller Hass und Dünkel gleich noch die nebenan und unkonventionell lebende Rose Gooding (Jessie Buckley) verdächtigt, die in wilder Ehe mit einem Farbigen zusammenlebt, gleichzeitig aber auch als Witwe eines Kriegsgefallenen ihre Tochter aufziehen muss, die gerne mal auf Mamas Gitarre klimpert, was in Nachbarschaft ebenfalls fürs Naserümpfen sorgt.

Doch warum sollte Rose Gooding Briefe obszönen Inhalts verfassen, wenn sie doch ohnehin und immer frei heraus das zu sagen imstande ist, was sie sich gerade denkt? Von distinguierter Art ist die junge Mutter jedenfalls nicht, gerne treibt sie sich in Pubs herum und schimpft wie ein Rohrspatz. Eine Frau, die die Zügeln gerne in der Hand hat und somit der zeitgeistigen Sitte entgegenrudert. Sie wird als Schuldige instrumentalisiert, gerät in Untersuchungshaft und würde womöglich im kommenden Prozess schuldig gesprochen werden, gäbe es da nicht die blitzgescheite, sehr aufgeweckte und sich nur unwillig der Hierarchie der männlichen Polizeibeamten beugenden Polizistin Gladys, welche die Schuld Rose Goodings in vielen Punkten hinterfragt. Frappant ins Auge sticht dabei ihre Handschrift, die nicht mit jener aus ihren angeblich selbst verfassten Briefen übereinstimmt.

In Kleine schmutzige Briefe von Thea Sharrock (Ein ganzes halbes Jahr) wirft sich ein ganzes Ensemble in heller Spielfreude in die Rekonstruktion eines verwunderlichen Falls, der gleichzeitig für vieles, was im Geschlechterkampf schiefläuft, als stellvertretendes Paradebeispiel herangezogen werden kann. Prachtvoll ausgestattet und das bigotte Setting eines in vorsintflutlicher Sozialordnung versteinerten Dunstkreises aus provinzstädtischer Idylle, ist Sharrocks Film eine treffsichere Überraschung vor allem in der Balance zwischen skurriler Komödie, Schimpfwortkaskaden im Schleudergang und feinsinnigem Drama. Kleine schmutzige Briefe liefert weder klamaukige Abziehbilder über den Kamm geschorener sturer toxischer Männlichkeit, die sich in ihrer Überlegenheit gegenüber Frauen suhlen, noch emanzipatorisches Betroffenheitskino mit Pathos. Zu verdanken ist dies zwei Vollblutschauspielerinnen, die in dieser mit Hintergedanken vollgeräumten Komödie so richtig zeigen, was sie können. Olivia Colman ist fast noch besser als Queen Victoria in The Favourite – ihre duldsame Opferrolle aus verklärtem Lächeln und missgünstiger Doppelbödigkeit trägt sie vor allem in kleinen, mimischen Nuancen zur Schau, die emotionale Unruhe dieser Figur überträgt sich elektrisierend aufs Publikum. Ihr gegenüber die begnadete und grundnatürliche Jessie Buckley in donnernder Aufmüpfigkeit und gebrochener Verzweiflung. Charaktere, die gegenseitig und in sich selbst widersprüchlicher nicht sein können und einen Film beleben, der obendrein noch dramaturgisch alles richtig macht.

Natürlich bedient sich ein urbritischer Film wie dieser auch urbritischen Klischees, die aber, um überhaupt existent sein zu können, auf irgendetwas beruhen müssen. Nebst Bibelkreisen und näselnden Verhaltens der Elite bevölkern ganz bewusst auf schräg getrimmte Nebenrollen die Szene, die natürlich ihre Sympathien abholen, dabei aber ein bisschen zu gewollt wirken. Sie mögen als gängige Attribute herhalten, als vertrautes Lokalkolorit, die einen eigentlich hochdramatischen Kern dekorieren, der Selbstbestimmung, Freiheit und den unbändigen Willen der Frauen, aus ihrer Unterdrückung durch Familie und Mann auszubrechen, zum brandheissen Thema hat. Egal wie, und egal mit welchen Worten. Mögen sie auch noch so schmutzig sein. Sie sind ein brillantes Symptom dafür, gesunden Ungehorsam auszuleben.

Kleine schmutzige Briefe (2023)

Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

Poor Things (2023)

KINDLICHE NEUGIER AUF DIE FREIE WELT

7/10


poorthings© 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: TONY MCNAMARA

CAST: EMMA STONE, WILLEM DAFOE, MARK RUFFALO, RAMY YOUSSEF, CHRISTOPHER ABBOTT, MARGARET QUALLEY, HANNA SCHYGULLA, SUZY BEMBA, JERROD CARMICHAEL, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob ein Film gefällt oder nicht, ist stets das Resultat aus momentaner Befindlichkeit, Geschmack und Interesse. Manchmal stört an einem Film auch nur eine Kleinigkeit, und schon kann man sich nur noch schwerlich am Gesehenen erfreuen. Manchmal aber entspricht eine Emotion genau der eigenen und das Werk wird liebgewonnen, ungeachtet unzähliger Unkenrufe aus der breiten Masse. Wie steht es aber um mediale Beeinflussung und Vorschusslorbeeren für ein Werk, das im Mainstream einhellig über den grünen Klee gelobt, von den Medien hofiert und laut allen nur erdenklichen Pressestimmen als phänomenal befunden wird – lässt sich da selbst noch eine eigene Meinung bilden oder ist diese dann, sollte sie nicht in den Tenor einfallen, das Resultat eines künstlerischen Unverständnisses; ein nicht ernstzunehmendes Urteil, da ein Film wie Poor Things sowieso nur gut, wenn nicht gar sehr gut – nein, lieber nur ausgezeichnet sein kann, weil es eben alle sagen. Unbeeinflusst lässt sich Yorgos Lanthimos neuer Film einfach nicht konsumieren. Was Großes wird über die Leinwand flirren, ein feministisches Meisterwerk allererster Güte, ein Bildersturm, dem man sich nicht entziehen kann, mit einer fabelhaften Emma Stone, die alle Stücke spielt und so weiter und so fort.

Ist Poor Things alles andere als gut? Oder doch genauso sensationell? Letzteres käme gelegen, dann wäre man kein nonkonformer Außenseiter, der das anders empfindet. Was bin ich froh, nicht gegen den Strom schwimmen und mit der Möglichkeit umgehen zu müssen, den Film nicht verstanden zu haben. Ihn nicht zu verstehen ist schließlich fast unmöglich, denn wirklich komplex ist weder der Plot noch die zu überbringende Botschaft des Ganzen. Poor Things gestaltet sich wie ein Pop-Up-Märchenbuch für Erwachsene, denn ganz viel Sex darf erwartet werden, der noch dazu vollzogen wird in prächtig ausgestatteten Hotelzimmern oder Kajüten – stehend, liegend, wild herumreitend. Emma Stone gibt sich einer ungenierten, erfrischend frechen Freizügigkeit hin und wirkt dabei niemals obszön oder vulgär. Als wohl eine der besten Schauspielerinnen des aktuellen Filmschaffens – und das kann ich getrost sagen, da bin ich unisono mit den Publikumsstimmen – erobert sie die Herzen, nicht zwingend aber die sexuelle Traumwelt. Vielleicht, weil es vorrangig gar nicht um Wollust geht, sondern einfach und allein um den paradiesischen, endlosen Blumengarten der Freiheit und Selbstbestimmung.

Poor Thing ist – und jetzt ist es draussen – tatsächlich ein guter Film. Neben all der erlesenen, bis ins kleinste Detail opulenten und auch bizarren Ausstattung, die an die frühen Werke Jean-Paul Jeunets oder Tim Burton erinnern (dazu gehört auch zumindest bei Jeunet extremer Weitwinkel oder eben Fischauge) liegt das goldglänzende Kernstück der Fabel in seiner Prämisse, die mit den Stereotypen der Wissenschaft jongliert und dabei manchmal einen der Bälle verliert, denn das ist Absicht. Anfangs ist Yorgos Lanthimos Guckkasten-Operette ohne Gesang noch in Schwarzweiß, denn Bella Baxter – so nennt sich die künstlich geschaffene Figur – kennt die Welt da draußen, jenseits der Räumlichkeiten ihres Ziehvaters Godwin Baxter, überhaupt noch nicht. Wie denn auch – noch bewegt sich Emma Stone wie Pinocchio in seinen ersten Minuten, bringt kaum Wörter über die Lippen, muss alles erst erlernen. Warum das so ist? Als schwangere Wasserleiche aus der Themse gefischt, hat der alte Baxter sie wiederbelebt, indem er der Unbekannten das Gehirn ihres Fötus einsetzt. So hampelt das Kind im Frauenkörper anfangs noch durch die Welt, bis sie von Szene zu Szene immer selbstbestimmter werden, alles entdecken und erleben will. Poor Things ist eine Ode an die Neugier am Leben, auf das Lebenswerte, das sich nur leben und erfahren lässt, wenn man frei ist von Zwängen, Unterdrückung und Besitzergreifung – kurz: frei eben. Nicht mehr, nicht weniger. Lanthimos hat im Grunde eine Coming of Age-Parabel ersonnen, die mit den Klischees einer Mann-Frau-Koexistenz ähnlich umspringt wie Greta Gerwig in Barbie. Während beim zuckerlrosa Geschlechterkrieg-Musical der Mann dazu angehalten wird, sich selbst zu überdenken, will das Frausein hier einfach nur nicht in einem Patriarchat stattfinden müssen. Der Mann – in seiner unzulänglichen Romantik, seiner Eifersucht und seinem absurden Drang zu Besitz und Macht – bekommt die kalte Schulter, an der einer wie Macho Mark Ruffalo immer mehr verzweifelt. Ein schadenfroher Spaß, ihm dabei zuzusehen.

So wirklich traurig ist Willem Dafoe als von seinem eigenen Vater zu Erkenntniszwecken entstellter Mann des Wissens – ein „Almöhi“ des pseudoviktorianischen Englands, gutmütig und unbeholfen nüchtern. Zwischen ihm und Emma Stone entfaltet sich die stärkste Bindung. Hier findet statt, was sonst nur so scheint, als wäre sie da: Das Miteinander, das Geben und Nehmen. Baxter ist sich letztlich selbst genug, und wie geschmeidig und kaum merkbar, wobei letzten Endes aber doch, entwickelt sich das ungebändigte Kind zur selbstbewussten Frau. Es stimmt, Poor Things ist lebens- und wertebejahend, räumt mit dem gebrandmarkten Gewerbe der Prostitution auf und ist vor allem auch, neben all der Gleichnisse, ein Augenschmaus im Arthouse-Kitsch zwischen Steampunk, Pluderärmel und monströsem Kinderbuch. Das Artifizielle allerdings lässt große Gefühle nicht zu. Poor Things gefällt, berührt aber nicht. Bella Baxter und all ihre Männer bleiben in ihrer Blase, und wir in der unseren. Was Poor Things zu sagen hat, ist nicht neu, dafür aber neu bebildert. Wie viel Wirkung hätte der Film noch entfalten können, hätte Lanthimos sein Werk in einer uns bekannten Realität verortet – authentisch, vielleicht naturalistisch und weniger gekünstelt? Er wäre uns damit nähergekommen, Emma Stone hätte den Draht zwischen ihr und uns zum Knistern gebracht. Letzten Endes ist das Blättern in einem prunkvoll ausgestatteten, ledergebundenen Leinwandportfolio ein Genuss, jedoch einer, der sich, genau wie Bella Baxter, einfach selbst genügt.

Poor Things (2023)

The Echo (2023)

DAS KINDERDORF IM NIRGENDWO

5/10


eleco© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: TATIANA HUEZO

CAST: MONTSERRAT HERNÁNDEZ, MARÍA DE LOS ÁNGELES PACHECO TAPIA, LUZ MARÍA VÁZQUEZ GONZÁLEZ, SARAHÍ ROJAS HERNÁNDEZ, WILLIAM ANTONIO VÁZQUEZ GONZÁLEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Das Dorf in Puebla, dem zentralen Hochland Mexikos, ist nicht mal ein Dorf, so wie wir diesen Begriff verstehen würden – mit Kirche, Supermarkt und Gemeindeamt. Dieses Dorf, genannt El Eco – The Echo, ist mehr eine Ansammlung achtlos hingeworfener Häuser, erbaut aus den Mitteln, welche die Natur so hergegeben hat. Zwischen diesen Kabuffs ist da wenig, außer Grasbüscheln, Sumpf und irgendwo dahinter der Wald, aus dem die Kinder – derer gibt es viele – Holz holen und illegale Kahlschläger dabei beobachten, wie diese sich an den Ressourcen anderer vergreifen. Zwischen diesen Grasbüscheln, auf den Wiesen, weiden schwarzgesichtige Schafherden, wovon so manches unerfahrene Jungtier, neugierig wie tollkühne Menschenkinder auch, den Weg ins Wasser wählt. So ein Tier ist wertvoll und muss natürlich gerettet werden. Auch die Familie hat ein hohes Ansehen, auch sie ist nichts, dem man den Rücken kehrt, hat man vielleicht vor, die von Wind und Wetter dirigierte Monotonie eines immer gleichen Alltags hinter sich zu lassen, um vielleicht gar Tierärztin zu werden. Auf Dauer ist das Leben für den nicht mehr ganz so jungen Nachwuchs eine, die nichts zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bereithält. Als Tochter oder Sohn, als Enkel oder Urenkel ­– El Eco unterwirft sein Volk starren Stereotypen und patriarchalen Strukturen. Die Pflicht, sich um die Großmutter zu kümmern, ist eine davon. Sie muss gewaschen, geschniegelt, gefüttert und niedergelegt werden. Die Oma ist die älteste im Dorf, sie hat alles schon erlebt. Zahnlos, mit mattem Blick, aber immer noch recht hell im Oberstübchen, weiß sie wohl, dass sie bald abtreten wird. Hier, in El Eco, hat man einfach im Gefühl, was kommen wird.

Ob die vom Leben und seinen Entbehrungen gezeichnete Alte wohl wirklich, während der Dreharbeiten, das Zeitliche gesegnet hat? Ob der Begräbnisgang echt und nicht nur gestellt war? Tatiana Huezo, bekannt für ihren Mädchenraub-Thriller Noche de Fuego, der 2021 ebenfalls auf der Viennale lief, hat die wohl tatsächlich existierende Dorfgemeinschaft als Grundlage für eine Szenensammlung auserwählt, die irgendwo, recht ungenau, zwischen Dokumentation und bewusster Inszenierung liegt. Den Alltag zu beobachten ist eine Sache, die Bewohner des Dorfes genau das machen zu lassen, was sie immer tun, und zwar extra für die Kamera, eine andere. Für eine reine Dokumentation sind die satten Bilder, die Ernesto Pardo kreiert, trotzdem sie unter dem Zauber des natürlichen Lichts stehen, ausgesucht arrangiert, zu sehr auf den Punkt genau eingefangen. Eben wie ein Spielfilm – der allerdings keine Handlung hat.

Viele Gesichter wechseln sich ab, am einprägsamsten bleibt wohl Montserrat Hernández, genannt Montse, die Großmutters Wohlbefinden zu garantieren hat, bevor sie ihre Sachen packt und grußlos verschwindet, nachdem ihr Mama verboten hat, bei einem Pferderennen – natürlich nichts für Mädchen – mitzumachen. Die jüngeren Kids sind leicht zu verwechseln, in Wahrheit sind es drei – oder gar vier Familien, die in manchmal viel zu kurzen Szenen beobachtet (oder eben inszeniert) werden. Da lässt man sich mal ein auf das faszinierende Gespräch unter Kindern, wie denn der Mensch auf den Mond kommt, schon drängt Tatiana Huezo ihr Publikum zur nächsten Szene, zur nächsten Hütte oder in den Wald. Und dann hören wir das Echo, wofür wohl der Ort hier seinen Namen trägt. Das Rufen als Teil eines experimentellen Schabernacks hallt zurück und trägt durch seine akustische Besonderheit wesentlich dazu bei, dass all die vielen Kinder hier wohl kaum die Chance bekommen könnten, die Spirale aus Tradition, Verpflichtung und zeitlosem Ist-Zustand zu durchbrechen. Natürlich lässt sich diese Idee aus einem subjektiv zusammengestückelten Bilderreigen extrahieren, doch seltsamerweise ist das nicht nur den langsam erwachsen werdenden Frauen hier zu wenig, sondern auch dem Filmgenuss. Immerhin ist die Bildwelt ein Traum, bestehend aus Detailaufnahmen und weiten Schwenks, die sich abwechseln. Wenn Schafe übers Gelände hetzen, hetzt die Kamera mit. Das ist pittoresk, von einer ehrlichen Wildheit. Erdige Reportage für das Weltmagazin unserer Wahl.

Das dabei die großen Fragen nach einem Umdenken verknöcherter und niemals hinterfragter Strukturen nur kleinlaut gestellt werden, ist der volatilen Blickweise geschuldet, die keinerlei Konfrontation sucht. Wenn der Mittagsteller des Jungen gefälligst nicht von ihm selbst abgeräumt werden darf, weil das Frauensache ist, mag man schon alarmiert die Stirn runzeln. Wenn der Ehemann, sowieso die ganze Zeit in der fernen Stadt die Früchte ihrer Landwirtschaft feilbietend, nur dämlich lächelt, wenn seine Frau mal vorschlägt, die Rollen zu tauschen, würde sich Huezo wohl wünschen, einen Stein ins Rollen zu bringen, um die Kruste des Gestern hier aufzubrechen. Doch dafür fehlt die Vehemenz, die Beständigkeit, der Wille zur Reibung. The Echo mag zwar staunend anzusehen sein, all die Momente sind in ihrer Summe aber wie das Zappen durchs Kabelfernsehen. Und wir wissen, sowas ermüdet.

The Echo (2023)