White Snail (2025)

FAST GESTORBEN IST NOCH AM LEBEN

7/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: ELSA KREMSER & LEVIN PETER

KAMERA: MIKHAIL KHURSEVICH

CAST: MARYA IMBRO, MIKHAIL SENKOV, OLGA REPTUKH, ANDREI SAUCHANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Als Romanze würde ich den neuen Film des Traumpaares des österreichischen Films nicht bezeichnen. Romanze wäre zu banal, zu einfach. Was sich in White Snail entfaltet, sind nicht nur die empfindlichen Stielaugen weißer Landschnecken, die behutsam und zaghaft ins Ungewisse hinein einige Millimeter machen. Zwei Menschen, irgendwo am Rande der Gesellschaft und doch mittendrin, wissen auf jeweils unterschiedliche Weise, wie unnatürlich (oder natürlich) oft die eigene Existenz vom Tod begleitet wird. Man könnte fast meinen: unentwegt.

Francis Bacon der Pathologie

Denn Misha, der ist Pathologe in einem Krankenhaus in Minsk, obduziert das über den Jordan gewanderte belarussische Volk und wahrt dabei klinische Distanz, während er daheim auf unzähligen, teils auch riesenhaften Leinwänden all die Erfahrungen, die er täglich macht, und all die zerschnittenen und beschädigten Körper, denen er begegnet, auf seine Weise verewigt. Es sind Bilder, die unweigerlich an die Arbeiten von Francis Bacon erinnern, es sind surreale, traumhafte, poetische und zugleich grausame Bilder, fast schon sakral, das Imperfekte des menschlichen Körpers geradezu vervollkommnend. Gemalt hat diese Bilder Mikhail Senkov. Schauspieler ist der Mann keiner, agiert vor der Kamera dafür aber umso besser. Vielleicht, weil er die eigen Biografie mit in den Charakter bringen kann, ganz so wie seine Filmpartnerin, Marya Imbro, eine faszinierende Persönlichkeit, weiße Haut, weißblondes Haar, intensiver Blick. Marya spielt Masha, eine Modelschülerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aus Belarus rauszukommen. Ihr Vater sitzt bereits in Polen und tut alles, damit Frau und Kind nachkommen können. Derweil jedoch hadert Masha mit etwas sehr Dunklem in ihrer Seele, was sie nach einem Suizidversuch ins Krankenhaus bringt – an jenen Ort, an dem sich Misha und Masha zum ersten Mal begegnen, oder besser gesagt: Masha sieht Misha, wie er mit den Toten hantiert. Und der Tod scheint sie zu faszinieren. Sie will wissen, was Misha mit den Leichen anstellt – und klopft eines späten Abends an die Tür der Pathologie.

Durch den Tod verbunden

Das Traumpaar, das sind nicht nur Misha und Masha, sondern Elsa Kremser und Levin Peter, bislang bekannt geworden durch recht spezifische Dokumentarfilme, die sich mit den Schicksalen russischer Hunde beschäftigen: Ihr Debütfilm trägt den Titel Space Dogs, fünf Jahre später folgt Dreaming Dogs. Ihr Wechsel in den fiktionalen Film hätte kaum besser funktionieren können. Mit einem Gespür für innere Zustände, nicht zynischer, aber trotziger Lakonie und einem immanenten Gefühl, andauernd auf der Suche zu sein nach etwas bestimmbar Unbestimmten, bringen Kremser und Peter zwei mit dem Tod Verwandte und Verliebte einander näher, ohne sie aufeinander zuzustoßen. Langsam, wie zwei Schnecken, kriechen sie umeinander herum, beobachten sich, ertasten sich. Ein herbstdunkles Psychogramm ist White Snail geworden, das in seiner leisen Metaphysik an Krzysztof Kieślowski erinnert, im Umgang mit dem transzendent Natürlichen und Mythischen spricht White Snail eine Sprache, die auch Ildikó Enyedi (Körper und Seele) spricht, zwischen nackter, harter Physis und dem Rätselhaften jenseits des Urbanen, Profanen, Erschlossenen.

Nicht als Anti, aber als Fast-Romanze lässt sich die Begegnung der beiden dann doch betrachten. Ein klassisches Annähern ist das natürlich nicht, umso interessanter, extravaganter und ungewöhnlicher erscheint hier die Möglichkeit, einander viel zu geben, ohne sich für die Zukunft zu irgendetwas bekennen zu müssen.

White Snail (2025)

Die Farben der Zeit (2025)

VOM ERAHNEN DER AHNEN

8/10


© 2025 Constantin Film


ORIGINALTITEL: LA VENUE DE L’AVENIR

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2025

REGIE: CÉDRIC KLAPISCH

DREHBUCH: CÉDRIC KLAPISCH, SANTIAGO AMIGORENA

CAST: SUZANNE LINDON, ABRAHAM WAPLER, VINCENT MACAIGNE, JULIA PIATON, ZINEDINE SOUALEM, PAUL KIRCHER, VASSILI SCHNEIDER, SARA GIRAUDEAU, CÉCILE DE FRANCE, CLAIRE POMMET U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN 


Natürlich hatten die Leute des vorvorigen Jahrhunderts so einiges nicht. Keine Versicherungen, keine Sozialhilfe, keine flächendeckende gesundheitliche Versorgung und vor allem keine Frauenrechte. Damals, im Schatten der Industrialisierung und der aufkommenden alternativen Medien wie jene der Fotografie und des Films, fielen ganz ähnliche Sätze wie sie heutzutage fortschrittskritischen Denkerinnen und Denkern in den Sinn kommen würden. „Wohin soll das alles führen?“, fragt in Die Farben der Zeit ein Kutscher die junge Adéle, und wundert sich, wie schnelllebig die Welt doch geworden ist. Würde dieser ältere Herr, der seinen Gaul gemächlich durch ein spätsommerliches Nordfrankreich treibt, das Heute erleben, würde er, bevor ihn womöglich der Schlag träfe, seine Ansichten relativieren. Denn das, was in diesem Heute so alles an Umbrüchen stattfindet, wäre damals nicht mal noch Science-Fiction gewesen.

Ein Haus als gemeinsamer Nenner

Im wohl aus meiner Sicht wunderbarsten französischen Film des Jahres wagt Autorenfilmer Cédric Klapisch (u. a. L’auberge espanol, Der Wein und der Wind) die Probe aufs Exempel – und konfrontiert das längst Vergangene mit der Gegenwart. Angesichts dieser Diskrepanzen und angetrieben von unserer Sehnsucht nach Entschleunigung und Wahrhaftigkeit, die dank KI immer mehr abhandenkommt, schafft man es einfach nicht, sich die romantisierende rosarote Brille vom Nasenrücken zu reißen, so pittoresk, geerdet und überschaubar mutet dieses Frankreich knapp vor der Jahrhundertwende an. Es ist die Kunstepoche des Impressionismus, des neuen Mediums der Fotografie. Inmitten dieser aufblühenden Ära verlässt die gerade mal zwanzigjährige Adéle nach dem Tod ihrer Großmutter das geerbte Zuhause inmitten der ruralen Normandie, um im umtriebigen Paris nach ihrer Mutter zu suchen, die sie Zeit ihres bisherigen Lebens niemals kennengelernt hat.

Das ist aber nur die eine Seite des Films, konserviert in einem für mehr als ein Jahrhundert leerstehenden Gebäude voller Schriften, Fotografien und einem Gemälde, das frappant an einen großen Meister erinnert. Die andere Seite ist die Gegenwart – kantig, blaugrau, schnelllebig. Adéles Nachfahren werden zu einem Notariatstermin zusammengerufen, rund fünfzig Personen, die sich untereinander kaum kennen, obwohl sie doch alle verwandt sind. Man sieht, was 100 Jahre Leben ausmachen. Ein ganzes kleines Dorf wird lebendig – mehrere Generationen, einander völlig fremd und doch vereint. Dieses Haus in der Normandie, lange Zeit leerstehend, soll einem Parkplatz weichen, doch geschieht das nur mit dem Einverständnis der Erben. Fünf der Nachkommen machen sich auf den Weg dorthin, knacken die Zeitkapsel – und stoßen auf nicht nur ein, sondern gleich auf mehrere verblüffende Begebenheiten aus dem Leben einer Ahnin, die das damalige Zeitbild wie keine andere mit ihrer eigenen Biographie verwoben hat.

Was vom Damals übrig bleibt

Wenn schon nicht die elegante, gemächliche, aber niemals langweilig werdende Geschichte einer erkenntnisreichen Städtereise auf narrativem Wege das eigene Gemüt berührt, so ist es zumindest die hommierende Bildsprache, welche die Zeit handkolorierter Fotografien lebendig werden lässt. Sehen wir die Rückblenden auf Adéle, sehen die Bilder aus wie gefärbte Schwarzweißfotografien, wie alte Postkarten, die man am Antiquitätenmarkt findet. Anfangs wandelt die bezaubernde Suzanne Lindon in einem herausstechend roten Kleid durch die liebevoll ausgestalteten Kulissen einer überidealisierten Theaterstadt. Das ist so ergreifend schön, dass man es kaum erträgt, wenn Klapisch diesen Traum vom Gestern wieder einstürzen lässt und die allzu vertraute Gegenwart aus ausdrucksloser Kleidung, schnellem Essen und Techno-Beats dagegensetzt. Nein, hier herrschen, obwohl man es erwartet hätte, keine sanften Übergänge vor, die das Vergangene mit dem Heute verschmelzen lassen – die Brüche schmerzen, und schaffen erst so die richtige Distanz zwischen den Zeiten. Als Brücke dienen allein die Erben, die in der Vergangenheit stöbern und das Bild eines Lebens rekonstruieren – und Sängerin Pomme, die, mit den fließenden Gewässern der Seine im Hintergrund, den Chanson in seiner melancholischen Zerbrechlichkeit zeitlos werden lässt.

Wie Klapisch dann diese für all die Nachkommen so bedeutende Existenz mit der Kunstgeschichte verknüpft und einem großen impressionistischen Meister auf blumige Weise huldigt, hätte zwar gar nicht mal sein müssen, macht das Werk aber noch spezieller, noch relevanter, letztlich einfach märchenhaft und so eindrucksvoll, dass man den Eindruck gewinnt, dass früher einfach alles besser gewesen sein muss. Die Farben der Zeit sind einfach die schöneren – keine Nuance fehlt, um ein Filmbildnis wie dieses perfekt zu machen.

Die Farben der Zeit (2025)

Leonora im Morgenlicht (2024)

DA LACHEN DIE HYÄNEN

6/10


© 2024 Alamode Film

ORIGINALTITEL: LEONORA IN THE MORNING LIGHT

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, MEXIKO, RUMÄNIEN, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: THORSTEN KLEIN, LENA VURMA 

KAMERA: TUDOR VLADIMIR PANDURU

CAST: OLIVIA VINALL, ALEXANDER SCHEER, RYAN GAGE, LUIS GERARDO MÉNDEZ, ISTVÁN TÉGLÁS, CASSANDRA CIANGHEROTTI, DENIS EYRIEY, WREN STEMBRIDGE U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Warum Leonora Carrington bisher so sang- und klanglos an mir, der in Sachen Kunstgeschichte durchaus seine Hausaufgaben gemacht hat, vorübergegangen ist, lässt sich nicht erklären. Carrington schuf schließlich Kunst, die sich zwischen der nordischen Renaissance eines Hieronymus Bosch und den progressiven Formen eines Marc Chagall widerfindet. Die schließlich auch mit den Mythen Mittelamerikas kokettierte und so einiges aus dieser alten Kultur in ihre Werke hat einfließen lassen. Bemerkenswert sind ihre Arbeiten aus jener Zeit, in der sie mit dem deutschen Surrealisten Max Ernst liiert war, der wiederum in den Dunstkreis von André Breton agierte, selbstredend in Paris, denn dort trafen sich stets alle, die sich Künstler nennen durften, da sie auch schon Renommee genug hatten, um sich in Szene zu setzen. Carrington war da auch mit dabei, als von allen vergötterte Muse. Selbst hat sie sich nicht so gesehen. Sondern Zeit ihres Lebens wohl eher als Tier empfunden, insbesondere als Pferd. Als Kind wollte sie schon die Hufe schwingen, doch ihr gestrenger, erzkonservativer Vater hat das unterbunden. So viel zur Freiheit der Entwicklung im Elternhaus nach der Jahrhundertwende.

Was da an Murks einem späteren Leben mitgegeben wurde, lässt sich längst nicht auf nur eine Leinwand pinseln. Sind deshalb so auffallend viele Künstlerseelen gleichzeitig auch gebrochene? Van Gogh, Alfred Kubin, Niki de Saint Phalle, Leonora Carrington – eine kleine Auswahl nur unter all jenen, die ihre eigene Weltsicht einem psychosozialen Defizit zu verdanken haben, das sie nicht selten in die geschlossene Anstalt brachte. So auch Leonora. Worunter sie genau litt, ist nicht so ganz klar. Schizoides Verhalten oder doch „nur“ ein Nervenzusammenbruch aufgrund der plötzlichen Trennung von Max Ernst, der kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Frankreich als verdächtiger Deutscher verhaftet wurde? Laut vorliegendem Film hat Leonora ihren Lebensmenschen nie wieder gesehen. Ob das nicht genau der Trigger war, um verschüttete Traumata aus der Kindheit hochkochen zu lassen?

Üppiger Film, schwerer Zugang

Thorsten Klein und Lena Vurma schenken diesem psychologischen Wendepunkt ihre meiste Aufmerksamkeit, finden aber genauso schwer ihren Weg in den Kopf einer Surrealistin wie meine Wenigkeit in den Film. Viel, sehr viel Geduld ist ratsam, wenn man Leonora Carrington nahekommen will. Spät, fast schon zu spät, knackt das Regie-Duo die holzige Nuss einer biografischen Skizze, die sich genauso wenig formen und beherrschen lassen will wie die dargestellte Künstlerin kurz vor ihrer Elektroschock-Therapie, die damals gang und gäbe war und von der man nicht wirklich sagen kann, sie hätte einen medizinischen Nutzen gehabt. Mit Olivia Vinall, die ich erstmals auf dem Schirm habe, und Alexander Scheer (enttäuschend unbeteiligt) fügen sich zwei Darsteller in ein formelhaftes Konzept biografischer Szenen, ohne aus ihrer Zweidimensionalität hervorzutreten. Weder Max Ernst noch Leonora selbst werden erfahrbar – je länger der Film läuft, desto weiter distanzieren sie sich. Einnehmend interessant kann man beide nicht nennen, wohl eher introvertiert. In ihrer elitären Künsterblase hockend, wollen sie nichts davon wissen, in einem Film zu spielen, der kunstgeschichtliche Lücken füllt. Und dann erhasche ich einen Blick auf ein Werk Carringtons, alleine ihre Bilder wecken mein Interesse. Und dann das: Die Wende, vor allem erzählerisch. Die Szene, in der Carrington in einen verschlossenen Raum der Heilanstalt vordringt, gleichzusetzen mit einer Reise in ihr Unterbewusstsein, sprengt endlich die Grenzen zwischen drögem, chronologischem Vortragskino und surreal anmutendem Psychodrama. Die Nuss ist geknackt, die Hyäne lacht, begleitet von Buschtrommeln. Der üppige mexikanische Regenwald, inmitten Vinalls verlorene und wiedergefundene Figur, lässt nun, in der letzten halben Stunde, die Kreativität fließen.

Ich kann Leonora im Morgenlicht wohl nicht als perfekten Film bezeichnen – zu viel geht anfangs schief. Und dennoch bleiben die Leinwände nicht weiß, die Künstlerin namens Carrington nicht unbekannt. Unsereins lotst sie am Ende in ein ungelenk präsentiertes, aber neugierig machendes Euvre einer viel zu unbekannten Individualistin.

Leonora im Morgenlicht (2024)

David Lynch: The Art Life (2016)

ALS DAVIDS BILDER LAUFEN LERNTEN

7/10


© 2016 Polyfilm


LAND / JAHR: USA, DÄNEMARK 2016
REGIE: OLIVIA NEERGARD-HOLM, RICK BARNES, JON NGUYEN
KAMERA: JASON SCHEUNEMANN
LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Bei aller Fairness. 2025 hat nicht gut begonnen. David Lynch würde sagen: Stimmt, das hat es nicht, aber es kann immer noch schlimmer kommen. Am 15. Januar, im Zuge der Evakuierungen in den Hollywood Hills aufgrund der verheerenden Brandkatastrophe, hat eines der größten Genies der Filmwelt und darüber hinaus den Eingang hoffentlich in die weiße Hütte gefunden. Die schwarze Selbige bleibt schließlich uns noch überlassen, mit all ihren Dämonen und roten Vorhängen, die einen schwarzweißen Zickzackboden begrenzen. Ein Muster, dass es bereits in David Lynchs Herzstück Eraserhead zu sehen gab und später im ewigen Fernsehkult Twin Peaks seine weitere Verwendung fand. Doch so akkurat wie das Design dieses Bodens sind seine Werke beileibe nicht. Man weiß schließlich auch: Lynch war nicht nur Filmemacher, sondern eben auch bildender Künstler und Musiker. Ich hatte mal das Glück, noch vor der Covid-Pandemie in Budapest einige von David Lynchs Werken zu besichtigen. Interessant dabei ist: Niemals, oder nur ganz selten, lässt er seine diffusen, oft sehr düsteren, bis ins Monströse deformierten Rätsel unkommentiert. Seine in unterschiedlich großen Lettern hingekritzelten Zwei- oder Einzeiler sind das Salz in der Suppe. Mit ihnen taucht man noch tiefer ein in einen Zustand der Wahrnehmung, den wir alle kennen. Es ist der eines unbequemen, flüchtigen Traumes, der aber noch kein Alptraum ist, der zum Alptraum erst in den letzten Momenten vor dem Aufwachen wird. Die Zeit davor, dieses Anbahnen einer Manifestation unbewusster Ängste, die so viel mit dem eigenen subjektiven Leben zu tun haben und uns erst zu dem machen, wer wir sind: dieses Unkontrollierbare im Hinterkopf – das ist David Lynch. Niemand hat das jemals so virtuos auf den Punkt gebracht. Niemand wird das jemals wieder so auch wieder auf den Punkt bringen.

Es wäre nur der halbe Reiz des Ganzen, hätten diese surrealen Traumwelten nicht eine gewisse bittersüße, melancholische Dualität, nämlich auch eine gewisse verletzliche Schönheit und Bedürftigkeit nach Errettung. Man ist fasziniert und verstört gleichermaßen – in David Lynchs oft reliefartigen Bildern und Collagen tritt diese Wirkung schon auch, aber nicht ganz so stark zutage wie im Medium Film. Lynch wusste das seit der Arbeit an Eraserhead. Diese Metamorphose von der Kreation im Atelier bis hin zur Arbeit hinter der Kamera an einem verlassenen Fabriksgebäude nahe Los Angeles nehmen sich die Filmemacher Olivia Neergaard-Holm, Rick Barnes und Jon Nguyen als roten Faden ihres Gesprächs mit einem kettenrauchenden Housesitter und Wohnungseremiten, der gar nie irgendwo in der Weltgeschichte hätte herumreisen müssen, sind seine Reisen oder die, die sich für ihn lohnen, gemacht worden zu sein, jene, die ins Unterbewusstsein führen, an die Quelle der Kreativität.

So sehen wir in David Lynch: The Art Life den Meister überwiegend in der Pose des Denkers und Sinnierers, langsam den Glimmstängel an die Lippen führend, aus dem Off dann seine Stimme, ebenso verzögert, bedächtig und scheinbar um die richtigen Worte ringend, als wäre es ihm kein leichtes, sich verbal zu offenbaren. Oder aber kein leichtes, das Vergangene rekapitulieren zu lassen, was aber verwundern würde, hatte Lynch doch, so sagt er selbst, das Glück einer intakten Familie und die Möglichkeit, seiner eigenen Bestimmung zu folgen. Wie er das gemacht hat, schildert er, in einem Kellerraum sitzend vor einem Mikrophon, als wäre er an einem Set seines eigenen Films. Es ist, als spräche er zu sich selbst, als gäbe es kein Filmteam, das ihm Beachtung schenkt. Als wäre, bis auf seine kleine Tochter, niemand da, dem er diese biographischen Notizen diktiert.

Wer vom Euvre Lynchs außer den Filmen noch wenig weiß, kann hier sein Defizit ausbügeln: In diesem Künstlerportrait sammelt sich so einiges an, von der Fotografie über lasierte Kreidezeichnungen bis zum Stop-Motion und den ersten, natürlich bizarren Kurzfilmen, die ihm dann auch den Weg nach Hollywood ebnen. Als biographischer Etappensieg lässt sich dieser Film erachten, er holt das frühe Geheimnis eines Visionärs und Avantgardisten wie Lynch aus der wachschlafenden Grauzone bis dorthin, wo der Rest seines Lebens beginnt, Filmgeschichte zu schreiben.

David Lynch: The Art Life (2016)

Paint (2023)

DIE BERGE DES PROPHETEN

5/10


paint© 2023 AMC+


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: BRIT MCADAMS

CAST: OWEN WILSON, MICHAELA WATKINS, WENDI MCLENDON-COVEY, CIARA RENÉE, STEPHEN ROOT, LUSIA STRUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Bob Ross, der legendäre Fernsehmaler, wurde zum Superstar des entschleunigten Entspannungs-TV, zum Vorreiter des Hobby-Manierismus und Verfechter simpler Maltechniken, anhand derer so manche Landschaften in fröhlich-pittoresker Kitschigkeit die Leinwände eroberten. Mit Lockenkopf und graurot meliertem Bart plauderte er während des Malens stets vor sich hin, in einschläfernder Monotonie, sehr leise und pinselnd, als wären Freunde zu Besuch und längst kein Millionenpublikum vor den Schirmen, die mit The Joy of Painting das Fernsehschlafen zelebrieren konnten, wenn die Space Night gerade mal nicht zur Verfügung stand. Owen Wilson hat sich ebenfalls Mähne und Bart zugelegt. Doch er ist nicht Bob Ross, sondern Carl Nargle, eine Alternativversion des bekannten Popkultur-Quotenkaisers, der einem Fernsehsender in Vermont die besten Zuschauerzahlen beschert, mit Pfeife im Mundwinkel und streichelweich gespülter Stimme. Niemand kann sich diesem Sog an einlullender Harmlosigkeit entziehen. Und niemand würde dabei jemals beanstanden, dass Carl Nargle immer den gleichen Berg malt, einmal bei Sonnenauf-, dann wieder bei Sonnenuntergang. Schneebedeckt, im Nebel oder bei Regen. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und dennoch ist der Mann ein Hit, und das fast schon drei Jahrzehnte lang.

Dass Zeiten sich ändern und frischer Wind den TV-Sender aus seinem Erfolgstief holen soll, ist der Lauf der Dinge. Es können sich zwar Diktatoren ganze Menschenleben lang an die Macht binden – bei Medienstars sieht das anders aus. Also muss sich Nargle bald mit einer weitaus pfiffigeren und künstlerisch deutlich begabteren Konkurrentin herumschlagen, die nicht nur Berge, sondern auch anderes Zeug malt. Die Vorzüge, die Nargle bislang genießen durfte, werden weniger, die Sendungen auf ein Minimum reduziert und dann ganz gestrichen. Der Yoga-Maler muss sich behaupten, um wieder im Rennen zu sein. Kein leichtes Unterfangen, da dieser streng nach den binsenweisen Lehrsprüchen „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ und „Alte Besen kehren gut“ alle möglichen Züge abfahren ließ, die ihn an den Zeitgeist angepasst hätten. So bleibt Nargle ein lebendes Fossil in einer Welt der Kurzlebigkeit und der schnellen Trends. Die Kontinuität seiner stets kontanten Masche wird ihm zum Verhängnis. Wie ein prähistorischer Exot, der dem Wandel seines ihn umgebenden Ökosystems nur kommentieren kann, ohne proaktiv Zeichen zu setzen.

Tatsächlich fand sich das Skript, verfasst und folglich auch inszeniert von Brit McAdams, der manches, was er selbst erlebt hatte, in seine Arbeit einbrachte, seit längerer Zeit schon auf der sogenannten Hollywood Black List, die die besten, noch nicht verfilmten Drehbücher enthält. Letztlich verwundert es dann doch, dass einem Film wie Paint die Bravour gelang, dort überhaupt aufzuscheinen, denn so richtig die Post geht hier nicht ab. Owen Wilson als Bob Ross-Imitat, das sich auf seinen Lorbeeren so lange ausruht, bis ihm jemand diesen Ruhmeskranz unter dem Hintern wegschnappt, ist in seiner gemächlichen Liebenswürdigkeit wie Klaustrophobie vertreibende Fahrstuhlmusik im Smooth-Jazz der Siebziger. McAdams entwirft für seine Schnurre das aus der Zeit gefallene Setting eines kleinen Fernsehsenders in einer aus der Zeit gefallenen Kleinstadt als angestaubte Hinterhof- und Joint-Analogie. Viel tut sich nicht in dieser schlendernden Komödie, die in ihrer Motorik aber vor allem ein höchst eigenwilliges Flair erzeugt, so wie Bob Ross‘ Fernsehshow. Paint ist nostalgisch und dann wieder nicht, zwischendurch treibt einen Owen Wilsons wortreiche Lethargie in eine Unruhe, die aber nur darüber Aufschluss gibt, wie wenig das Charakterdrama seine Ansprüche erfüllen kann. Gleichzeitig aber kann man davon nicht lassen, denn wie Ross selbst in immer gleicher Technik die immer gleichen, generischen Landschaften aus dem Ärmel schüttelte, so probt Paint genau das gleiche. Nichts davon ist wirklich gut, nichts von Wilsons Filmcharakter lässt sich greifen, und dennoch staunt man über dieses obskure Gesamtbildnis, das so manche Gedanken über verlorenen Zeitgeist, Fankult und Stagnation wie gedeckte Farbakzente über das zugrundeliegende Indie-Filmchen kleckert.

Paint (2023)

Alma & Oskar (2022)

DER HARTE UND DIE ZARTE

7/10


almaundoskar© 2023 Pandafilm


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2022

REGIE: DIETER BERNER

DREHBUCH: DIETER BERNER, HILDE BERGER, NACH IHREM ROMAN „DIE WINDSBRAUT“

CAST: EMILY COX, VALENTIN POSTLMAYR, ANTON VON LUCKE, MEHMET ATESÇI, MARCELLO DE NARDO, CORNELIUS OBONYA, TÁNA PAUHOFOVÁ, GERHARD KASAL, GERALD VOTAVA U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


A Show Biz ans Ende – so nennt sich Paulus Mankers Polydrama Alma rund um die Muse des 20. Jahrhunderts. Seit gefühlten Ewigkeiten schon hinterlässt das Enfant Terrible der österreichischen Bühnen als einer, der sich niemals nicht ein Blatt vor den Mund nehmen würde, nur um dem Mainstream zu entsprechen, mit diesem interaktiven Event sowohl hierzulande als auch in Übersee ziemlichen Eindruck. Ich selbst kam leider noch nicht in den Genuss dieser Aufführung – diese Möglichkeit hätte ich allerdings längst wahrnehmen sollen, da ist mir, so habe ich mir sagen lassen, einiges entgangen. Vor rund zwei Jahrzehnten gab es mal eine Zeit, da war Alma Mahler-Werfel in aller Munde. Neben Mankers epischem Treiben gabs da noch jede Menge Fernsehstücke, Biografien kamen auf den Markt. Alma hin, Alma her, man möchte gegenwärtig meinen, dass die eindrucksvolle und charismatische Dame, die sie gewesen sein muss, mit allen Kunstrichtungen liiert war, von der Musik eines Gustav Mahler über die architektonische Avantgarde eines Walter Gropius bis hin zu den bemalten Leinwänden eines Oskar Kokoschkas und am Ende dann Franz Werfel – der große Literat, dem wir unter anderem Die 40 Tage des Musa Dagh zu verdanken haben. Alma war immer und überall dabei, ein It-Girl der damaligen Zeit, mit allen befreundet und im Bett. Selbst auch komponierend, aber niemals malend. Eine erotische, sinnliche Muse, schwer zu greifen, schon gar nicht als Besitz zu verstehen. Eine, die ihrer Zeit als selbstbestimmte Frau voraus war und all die Männer weit hinter sich ließ, in ihrem chauvinistischen Denken, was selbiges der Frauen anging.

Obwohl die Person der Alma Mahler-Werfel eigentlich schon längst eine gewisse Omnipräsenz erreicht hat und so ziemlich von jedem, der etwas dazu zu sagen hatte, aufs Tapet gebracht wurde, ist immer noch nicht genug. Denn jetzt, jetzt ist Dieter Berner dran. Einer, der sich mit den Künstlern des österreichischen Expressionismus auskennt. Der bereits für Egon Schiele in Egon Schiele – Tod und Mädchen eine Lanze brach und nun in die derben Welten eines Oskar Kokoschka eintaucht. Für genau jene Zeitspanne, während dieser sich dessen Weg mit jener Alma Mahlers gekreuzt hat. Der Film setzt an und er endet mit einer wilden Beziehung, deren Brachialität eigentlich nur in den phantastischen Besitzansprüchen des Künstlers begründet liegt, der Mahler verteufelt und sich mit Gropius fast schon duelliert. Basierend auf dem Roman Die Windsbraut von Hilde Berger zeichnet Dieter Berner zwei Psychogramme gleichzeitig – und lässt einmal der Dame und dann wieder dem Herrn den Vorzug. Dieser abwechselnde Rhythmus tut dieser biographischen Skizze richtig gut. Es ist ein Rhythmus, der behagt, nicht anstrengt und einen erzählerischen Fluss entwickelt, von welchem man sich nur zu gerne mitreißen lässt. Weder gerät Alma & Oskar ins Stocken, noch wirken die Szenen sperrig oder verklärt – was leicht der Fall gewesen wäre, hätte man hier noch eine sphärische Metaebene eingezogen, die das knappe Stück von 88 Minuten heillos überfrachtet hätte. Doch Berner bleibt fokussiert, hält beide Charaktere nie zu weit auseinander, auf die Gefahr hin, den Film in zwei Teile zerbrechen zu lassen.

Mit Valentin Postlmayr, der sonst vorwiegend in Serien und auf Bühnen zu sehen ist, wird dieser grobschlächtige, ungestüme und obsessive Bär von einem jungen Mann lebendig genug, um ihm mit Vorsicht zu begegnen. Dieses Unberechenbare, Fanatische ist aber genau das, was Alma Mahler anziehend findet. Ihr integrer, intellektueller und berechnend leidenschaftlicher Charakter ist wie Medizin für den Avantgardisten, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg Bühnenshows hinlegt, die ihrer Zeit weit voraus sind. Emily Cox wiederum sieht der echten Alma ähnlich – ihr Spiel ist reizvoll und chargierend. Beide sind eine Klasse für sich.

Sie geben und sie nehmen: Dieser Emotionen-Pingpong unterhält als kunstgeschichtlicher Einkehrschwung mit historischen, leicht verwaschenen Bildern, einem Stück alten Wien und  verschlungenen, nackten Körpern, die an das Gemälde (und nicht den Roman) Die Windsbraut erinnern – Kokoschkas Meisterstück. Schön, dass dabei das sprachliche Kolorit auch nicht zu kurz kommt. Wenn der Künstler im ostösterreichischen Dialekt zetert und schmachtet, ist das genau jene bizarre Authentizität, die man sich als Ergänzung einer Retrospektive sehnlichst wünscht.

Alma & Oskar (2022)

The Burnt Orange Heresy

DIE KUNST DES KRITIKERS

8/10


the-burnt-orange-heresy© 2019 Sony Pictures Classics


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: GIUSEPPE CAPOTONDI

CAST: CLAES BANG, ELIZABETH DEBICKI, MICK JAGGER, DONALD SUTHERLAND U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Alles ist Kunst. Kommt nur darauf an, ob und – wenn ja – wer es dazu erklärt. Da reicht ein Blick in die Kunstgeschichte, um Marcel Duchamps Pissoir hier als Querverweis zu vermerken. Ein Baum, der inmitten eines Waldes einfach umfällt und keiner war dabei, um es zu sehen – fällt nicht um. Erst durch die Beobachtung bekommt etwas seine Tatsächlichkeit. Durch die Beobachtung alleine aber wird etwas vom Menschen Erschaffenes noch nicht zur Kunst. Erst durch das Echo von außen bekommt Kunst überhaupt erst sein Bewusstsein. Durch den kritischen Beobachter wird diese als wertvoll – oder wertlos getauft. Eine Hymne auf den Kritiker? Wohl nicht zwingend eine Hymne – vielmehr die Klärung einer gerne verdrängten Tatsache, dass der akkreditierte Kritiker viel mehr Macht über Kunst hat, als ihm selber womöglich lieb ist. Wird die Kunst nicht offenbart, hat der Kritiker auch keine Macht.

Was Yasmina Reza bereits mit ihrem Theaterstück KUNST so sehr auf den Punkt gebracht hat, wird in dieser für mich völlig überraschenden Filmentdeckung noch um die Komponente eines leisen Thrillers ergänzt, der den Suspense einer Patricia Highsmith in sich trägt und eine egozentrisch-versponnene Gesellschaft an die Ufer des Comer Sees chauffiert. Es trifft sich dort der zynische Kunstkritiker James in Begleitung der amourösen Zufallsbekanntschaft Berenice in der stattlichen Villa von Kunstsammler John Cassidy. Dieser bietet schon seit längerem einem ganz besonderen Maler Zuflucht auf seinem Anwesen, der Zeit seines Lebens vom Pech verfolgt gewesen war, da seine Ateliers immer wieder mal in Flammen aufgingen. Kunstwerke von Jerome Debney gibt es also so gut wie keine. Zumindest keine für die Öffentlichkeit. Cassidy stellt James ein Interview mit dem exzentrischen Künstler in Aussicht – unter der Voraussetzung, er würde ihm eines der seltenen Gemälde des Mannes beschaffen, die dieser aber niemals herausgeben oder gar herzeigen würde. Kunstkritiker James, vom Eifer und der Gier nach Ruhm und Erfolg getrieben, versucht alles, um in das Atelier des eleganten Eigenbrötlers zu gelangen.

Filme wie diese sind selten. Sehr selten sogar. Dabei ist das Hinterfragen von Kunst ein hochgradig sozialphilosophisches Thema, das gleichzeitig auch viel über menschliches Verhalten und die Manipulation der Masse aussagt. Guiseppe Capotondi findet für diesen wunderbar scharfsinnigen und zur rechten Zeit hitzig formulierten Film genau die richtigen Darsteller. Claes Beng (als Dracula auf Augenhöhe mit Christopher Lee) ist wie geschaffen für diese eitle Figur des intellektuellen Machos, der weiß, was für eine Bedeutung seine Worte haben können. Elisabeth Debicki (Tenet, The Night Manager) ist als nicht weniger intellektuelle Schönheit sozusagen das Bindeglied zwischen dem Kritiker und dem Künstler – für diesen wiederum darf Donald Sutherland nochmal ordentlich den kecken Provokateur und Andersdenker mimen, während – wer hätte das gedacht – Mick Jagger nach langer Zeit wieder mal einen Ausflug vor die Kamera wagt. Exzentrik trifft also auf noch mehr Exzentrik – sein geckenhaftes Gehabe lässt ihn wie einen Gamemaster erscheinen, der das Perpetuum Mobile nur anzutauchen braucht, schon treten Naturgesetze in Kraft, die bald niemand mehr wird steuern können.

The Burnt Orange Heresy – benannt nach dem Titel eines Bildes besagten Malers – ist süffisantes und zugleich perfides Denkerkino, elegant erzählt, voll schwarzem Humor und entlarvender Analysen, die letztendlich eine Warnung davor sind, den Wert einer Sache nicht allzu sehr von privilegierten Obrigkeiten diktieren zu lassen.

The Burnt Orange Heresy

Wolfwalkers

EINE LANZE BRECHEN FÜR ISEGRIM

6/10

 

wolfwalkers© 2020 apple tv

 

LAND / JAHR: IRLAND, LUXEMBURG, USA 2020

REGIE: TOMM MOORE, ROSS STEWART

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): HONOR KNEAFSEY, SEAN BEAN, EVA WHITTAKER, SIMON MCBURNEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Zeichentrick ist nicht gleich Zeichentrick. Ist auch nicht gleich Disney. Bei dieser Art von Kunstfilm lassen sich im Gegensatz zum Live-Act-Film unendlich viele Stile kreieren. Beim Zeichentrick ist dem Erfindungsreichtum keine Grenze gesetzt. Das ist einfach nur großartig, und vor allem inspirierend. So einen Film zu machen erfordert auch sagenhaft viel Sitzfleisch und Zeit – die Digitalisierung verkürzt da auch schon den Aufwand beträchtlich – doch es bleibt immer noch genug zu tun. Beim irischen Animationsmärchen Wolfwalkers sieht man wieder, wie sehr es möglich ist, sich von gängigen Manierismen zu entfernen und viel lieber darauf zu setzen, Techniken und Macharten aus der Kunstgeschichte neu zu interpretieren. Das ist hier zum Beispiel passiert.

Wolfwalkers bildet den Abschluss der sogenannten „Irischen Trilogie“ des Studios Cartoon Saloon. Zu dieser Trilogie zählte bislang Brendan und das Geheimnis von Kells und Die Melodie des Meeres Abgesehen davon widmen sich Tomm Moore und sein Team sehr wohl auch gesellschaftspolitisch relevanten Themen wie zum Beispiel im oscarnominierten Film Der Brotverdiener über eine Kindheit unter der Knute der Taliban. Kann gut sein, dass Wolfwalkers ebenfalls eine Oscarnominierung erhält – gegen das Meisterwerk Soul wird dieser visuell recht außergewöhnliche Film aber kaum keine Chance haben. Und das trotz einer berauschenden Bildsprache, die weitaus innovativer scheint als die bereits etablierte perfekte und für ihre Art wunderbare Animationswelt von Pixar.  Die Machart von Wolfwalkers zitiert dabei antike irische Holzschnitttechnik – entsprechend grob und als geometrische Form konzipiert wirken die Figuren dann auch. Was aber nicht heißt, dass sie einer gewissen Starre unterworfen sind. Das Kunststück liegt darin, genau diese Grundformen zu verbinden und erfrischend lebendig in Bewegung zu versetzen. Jenseits der Figuren eröffnen sich herbstfarbene Aquarelle von magischen Wäldern, Bäumen, Ranken.

Im Grunde aber erzählt Wolfwalkers eine auf den Mythen der Wolfsmenschen basierende, sehr simple Geschichte rund um ein Mädchen, das ihren Vater im 17. Jahrhundert in der irischen Stadt Kilkenny davon abhalten muss, alle Wölfe des Waldes auszurotten, nachdem der jungen Herumtreiberin (Kinder dürfen nicht jenseits der Stadtmauer) klar wird, das nicht nur knurrende Vierbeiner, sondern auch Mischwesen wie die kleine rothaarige Mebh, eben eine Wolfwandlerin, diesen Wald zu einer beseelten Oase des lebendigen Miteinanders werden lassen. Dem bösen Lord Protector muss Paroli geboten werden – da hilft alles nichts. Was aber hilft, sind Freundschaft, Familiensinn und Respekt – vor allem Respekt einer nicht zu bändigenden Natur und ihrer Kräfte gegenüber. Die Sache mit Isegrim ist in Sachen Artenschutz immer noch traurig genug. Da hat sich seit Jahrhunderten anscheinend nichts verändert. Umso relevanter ist es, das nicht gesellschaftsfähige Tier in eine moralische Erzählung zu integrieren und ihm das Image des gefährlichen Heulers etwas zu nehmen.

Was seltsamerweise, trotz all der visuellen Raffinesse, dem Film selbst im Wege steht, ist genau das: die Bildsprache, die von der eigentlichen Geschichte ablenkt. Klar, dem Plot zu folgen ist kinderleicht – faszinierender aber ist das lebendige Bilderbuch, das Szene für Szene immer wieder neue Ideen präsentiert. So bleibt es schwierig, in das Abenteuer so richtig zu versinken – die Balance zwischen Optik und Inhalt hängt im Ungleichgewicht, und so fesselt stets die Kunst der Zeichnung und der Animation, nicht aber die kindliche Mär, die stets von der innwohnenden Seele in Zwei- und Vierbeinern schwärmt, selbst aber weniger davon vermitteln kann als erwartet.

Wolfwalkers

Paula – Mein Leben soll ein Fest sein

AUS DER FORM, AUS DER NORM

7/10

 

paula© 2016 Polyfilm Verleih

 

LAND: DEUTSCHLAND 2016

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: CARLA JURI, ALBRECHT ABRAHAM SCHUCH, ROXANE DURAN, JOEL BASMAN U. A.

 

Heutzutage echauffiert sich kaum jemand mehr über diverseste Pioniere der Kunst, egal welches Ding sie drehen und auf welche noch so seltsamen Ideen sie kommen. Damals war das anders. Also damals, vor weit mehr als hundert Jahren. Da hieß es: Kunst kommt von Können – und malst du nicht nach der Natur, hast du kein Talent. Und falls du doch Talent hast, bist du verrückt. Nun, Vincent van Gogh als seiner Zeit voraus, der war psychisch doch etwas labil, sah die Welt mit komplett anderen Augen, und hatte obendrein noch technisches Talent, was Farbe und die Abstraktion der Form betraf. Scheel angesehen ist er dafür trotzdem worden. Seine Bilder: zu Lebzeiten nicht mehr als Kritzeleien eines Durchgeknallten. Doch der Anfang von etwas ganz großem. Einer Zeit, in der Kunst zum Ausdruck innerer Befindlichkeiten wurde. Wo Malerei sich so darzustellen begann, wie der Künstler sie sieht, mit all ihrem subjektiven Kontext.

Für diesen Expressionismus war Paula Modersohn-Becker selbst noch zu früh dran. Im deutschen Künstlerdorf Worspwede hatte man die junge Dame permanent angehalten, doch bitte natürlicher zu malen, die Realität abzubilden, und nicht so deformiertes Zeug abzuliefern. Hände wie Löffel, Nasen wie Kartoffeln, verrenkte Haltungen. Das Verständnis dafür: gleich null. Paula ließ sich aber nicht beirren. Schön, wenn jemand seinen Stil finden kann, obendrein noch dazu steht. Das ist die halbe Miete in der Kunst. Nichts nachzuahmen, weder die Natur noch sonstige große Meister. Selbst die eigene Sicht der Dinge kreieren. Um nicht zuletzt als Künstler gerne im Mittelpunkt zu stehen. Regisseur Christian Schwochow, der erst letztes Jahr mit der eigentlich grandiosen Literaturverfilmung von Siegfried Lenz‘ Deutschstunde sein Händchen für urdeutsche, schwere Stoffe unter Beweis stellen konnte, hatte sich ein paar Jahre zuvor eben jener wegweisenden Künstlerin angenommen, die ein viel zu kurzes Leben hatte, in diesem aber sich selbst als moderne Frau und die Kunst des Neuen gefunden hat.

Wie in Deutschstunde erschuf Schwochows Kameramann Frank Lamm eine erdige, naturalistische, kontrastreiche Bilderwelt. Schatten sind hier unergründliche Nischen, Schwarz so richtig Schwarz. Aber auch die Sonne erzeugt schweres, goldenes Licht, das Grün der Landschaft ist gesättigt bis zur Fäulnis. Alles in allem schafft Lamm eine intensive Lebendigkeit, die dem Wesen von Paula entspricht. Quirlig, rastlos, gedankenverloren. Voller eigenen Idealismus, voller Sturheit und der Fähigkeit, sich zu begeistern. Carla Juri verleiht der Querdenkerin und Aussteigerin aus herkömmlichen Sozialmustern ein authentisches Gesicht, schenkt dieser künstlerischen Ikone enorme Sympathie. Lässt sie ganz auf sich selbst konzentrieren. Natürlich, mit dieser Egozentrik fällt Familienplanung extrem schwer, das Miteinander wird zum Nebeneinander. Aber welcher Künstler, der sich präsentiert, hat diese Egozentrik nicht? Diesen Drang, sich und sein Werk aller Welt zu zeigen? Um auch als abgehobenes Unikum wahrgenommen zu werden, das mit den Konventionen bricht, und somit auch seine Werke nicht nur kreiert, sondern diese auch lebt. Schwochow findet gleich von Anfang an seinen Zugang zu dieser Person, Juri ebenso – beide bringen ihre Biographie formschön, erlesen getextet und trotz aller inneren Aufgeregtheit angenehm unaufgeregt auf den Punkt.

Faszinierend ist diese Lebensgeschichte ohnehin allemal, und wieder ist es so, dass ich jetzt, nach Filmen wie diesen, liebend gerne meine Sachen zusammenpacken und ins Museum gehen würde, um diese Bilder auch selbst zu sehen, die auch ich, ein Freund dieser Kunstepoche, für sagenhaft gelungen halte, und die auch in Paula – Mein Leben soll ein Fest sein in ausladender Großzügigkeit vor die Kamera gehalten werden. Eine zeitverlorene Galerie erlebt hier ihre Vernissage, gesteckt voll mit unzähligen bunten Leinwänden und dem Esprit prinzipiellen künstlerischen Schaffens. Dazwischen Paula, die hinter einer Staffelei hervorguckt, um sich in Erinnerung zu rufen als eine große, emanzipierte Künstlerin, die Hand in Hand mit berühmten Frauen wie Colette das Heimchen hinterm Herd aus dem Hause peitscht. Einfach, um sich selbst zu verwirklichen.

Paula – Mein Leben soll ein Fest sein

Portrait einer jungen Frau in Flammen

DAS BILDNIS DER EURYDIKE

7,5/10

 

jungefrauflammen© 2019 Filmladen

 

LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: CÉLINE SCIAMMA

CAST: NOÉMIE MERLANT, ADÈLE HAENEL, VALERIA GOLINO U. A. 

 

Eine junge Frau müht sich die französische Steilküste hoch, mit Sack und Pack, und einer Holzkiste über den Schultern, die sie einfach nicht verlieren darf. Darin sind zwei Leinwände, denn Marianne, die junge Dame, ist Malerin. Das Anwesen, das sie besucht: weitab vom Trubel der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Darin lebt eine italienische Gräfin, die das Hochzeitsbild ihrer Tochter anfertigen will, die aber eigentlich für ein Leben im Kloster bestimmt war, nun aber den Platz ihrer Schwester einnehmen muss, die den Freitod gewählt hat. Geheiratet muss trotzdem werden, diese Zwangsjacke ihrer Zeit muss sich die junge Héloïse überziehen, es hilft alles nichts. Dementsprechend ungern will sie gemalt werden, dementsprechend zurückgezogen lebt sie. Das Knifflige an der Sache: Künstlerin Marianne muss ein Bild anfertigen, ohne dass die gnädige Frau Modell sitzt. Ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, Frau hat die Fähigkeit, sich das Gesicht der Zwangsverlobten einzuprägen und später nachzuzeichnen. Lässt sich jedes Detail des Konterfeis aus den Erinnerungen abrufen, dürfte der Auftrag kein Problem darstellen. Nur kommt es wie es kommen muss, die beiden jungen Frauen mögen einander, und das immer mehr. Während die Gräfin tagelang auf Ausgang ist, steht der körperlich-geistigen Annäherung nichts mehr im Wege. Maximal das lodernde Lagerfeuer eines Volksfestes.

Dieses lodernde Feuer, das ist längst nicht der einzige, sondern einer von vielen Symbolismen in dieser historischen Liebesgeschichte, die sich auf ihre prägnante Bildsprache verlässt. Zwar auch genug Worte findet, die Amour fou aber mit ikonischen, stilistisch leicht identifizierbaren Versatzstücken aus der Zeit der Frühromantik ausstattet. Maler Kaspar David Friedrich zum Beispiel findet sich in den Küstenbildern immer wieder. Gegen das strenge Interieur der herrschaftlichen Räume, stets in pastelligen Farben und getaucht in helles Licht, steht die ungestüme Natur des Windes, der Wellen und der Flammen. Emotion, innere Erregtheit, Leidenschaft und Sehnsucht, überbordende Gefühle. Regisseurin Céline Sciamma zwängt das raue Verhalten der Landschaft, die aus dem Filmformat herauswill, mit harten Schnitten in einen menschengemachten Zwinger der Zurückhaltung – dafür stehen die Räumlichkeiten, der Bilderrahmen, die eher unbeholfenen, zaghaften Versuche, Gefühle zu artikulieren.

Sciamma setzt in ihrem langsam erzählten, sachten Portrait aber in Sachen Metaphorik noch eines drauf: Sie verwebt ihr Portrait einer jungen Frau in Flammen mit den Mythen einer griechischen Sage – nämlich jener von Orpheus und Eurydike. Orpheus, der Dichter, Künstler und Musiker, der in die Unterwelt absteigt, um von Hades seine Geliebte Eurydike zurückzuholen. Zum Verhängnis wird diese legendäre und vielfach interpretierte, tieftraurige Geschichte durch die fatale Ungeduld des Herzens. Denn Hades, der gibt Eurydike frei – unter der Bedingung, das Orpheus sich auf dem Weg ins Diesseits kein einziges Mal nach seiner Geliebten, die hinter ihm hergeht, umdrehen darf. Natürlich tut er es. Doch: warum? Diese Frage steht auch bei Sciammas Film im Raum, und wird aus mehreren Blickwinkeln gesehen. Letzten Endes hättes es Eurydike sein können, die Orpheus dazu gebracht hat, sich umzudrehen, da sie ihr Schicksal akzeptiert hat. Das Bild ihrer Erinnerung gibt sie ihrem Geliebten mit auf den Weg. Die Exegese dieses Mythos ist ein weiteres Schlüsselthema im Portrait einer jungen Frau in Flammen. Es heißt aufmerksam bleiben, beobachten, denn dieser Film lebt von der drängenden Aufforderung, interpretiert und verstanden zu werden.

Das Portrait einer jungen Frau in Flammen, Gewinner der Goldenen Palme für das beste Screenplay, erinnert in ihrer Bildsprache und dem Verzicht von Musik und unnötigem Bombast an den Stil von Jessica Hausner. Sciammas Film ist haarklein und bedächtig aufgedröselt, hat keine Eile, auch wenn ich mir manchmal mehr Unmittelbarkeit gewünscht hätte, aber diese Eile macht die Filmemacherin mit der unorthodoxen Art, ihre Szenen zu verknüpfen, wieder wett. Das ist das Korsett, in dem beide stecken – Adéle Haenel als ein Engel in Ketten, als eine Art Geistwesen, die sich ihrer Bestimmung hingibt, wie Eurydike. Und Noémie Merlant (u. a. Der Himmel wird warten) als weltgewandtere Künstlerin, die wie Orpheus auf Sehnsucht und Erinnerung setzt. Erst am Ende erschließt sich das Spiel der visuellen Deutungen und Bedeutungen, und wenn Vivaldis Jahreszeiten erklingen, mit dem Blick auf Adéle Haenels bebenden Lippen, dann wird klar, das Sciammas zarter Liebesfilm eigentlich ein Vexierspiel mit den Erinnerungen an eine unmögliche Zukunft ist, mit denen sich gesellschaftlich untragbare Liebe damals wie vielerorts auch heute noch begnügen muss.

Portrait einer jungen Frau in Flammen