The Toxic Avenger (2023)

GIFTSTOFFE, AUS DENEN HELDEN SIND

6,5/10


© 2025 Legendary Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: MACON BLAIR

DREHBUCH: MACON BLAIR, NACH DER VORLAGE VON LLOYD KAUFMAN

KAMERA: DANA GONZALES

CAST: PETER DINKLAGE, JACOB TREMBLAY, TAYLOUR PAIGE, KEVIN BACON, ELIJAH WOOD, JULIA DAVIS, JONNY COYNE U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Troma – was bedeutet das? Klingt ungefähr so wie Trauma, und die Frage ist, ob die Assoziation gewollt war oder nicht, jedenfalls könnten Zartbesaitete und auch weniger Zartbesaitete, die zumindest alle menschlichen Extremitäten anatomisch richtig an ihrem Platz wissen wollen, traumatische Erfahrungen gemacht haben, hätten sie zum Beispiel Filme wie Bloodsucking Freaks, Surf Nazis Must Die oder Cannibal! The Musical gesehen. Troma ist schlicht und ergreifend eine Produktionsfirma für grenzwertigen Stoff, der vorallem Gorehounds abholt – Freunde und Liebhaber körperlicher Zerstörungswut. Diese durchaus erfolgreiche Firma wurde, passend für diese Zeit, in den Siebzigern gegründet und hat im Laufe ihrer Erfolgsgeschichte vor allem einen Superhelden hervorgebracht, der weder ins Marvel- noch ins DC-Universum und wenn, dann am Ehesten noch ins Universum der Boys passen würde, doch auch dort wäre der rabiate Quasimodo mit dem Herzen aus Gold immer noch ein Außenseiter. Die Rede ist vom Toxic Avenger, oder auch Atomic Hero – so der Titel des damals, 1984, veröffentlichten Splatter- und Gore-Hits, der mittlerweile längst Kultstatus genießt und Peter Jackson, Quentin Tarantino oder Takashi Miike nicht unwesentlich beeinflusst hat. Gerade bei Jackson erkennt man spätestens bei Sichtung seiner Filme, die vor der Verfilmung der Tolkien-Romane das Licht der Leinwand erblickten, eine wenig zimperliche Besinnung auf das Portfolio TromasBad Taste oder insbesondere Braindead sprechen dabei für sich.

Pimp up the Trash

The Toxic Avenger – und ich schreibe hier von der Neuverfilmung – hatte seine Premiere schon 2023, verschwand aber danach aus unerfindlichen Gründen zwei Jahre lang in einem temporären Giftschrank, um nun doch nochmal voll mit einem österreichweit regulären Releasedatum durchzustarten. Ich selbst konnte die Österreichpremiere im Rahmen des Slash-Festivals genießen – und ja, dieses Verb trifft die Gemütslage durchaus, denn Peter Dinklage, von Grund auf ein unendlich sympathischer Charakter, egal, was er spielt, verleiht dem grüngesichtigen, entstellten Berserker, der an die schrille LSD-Version eines Charles Laughton aus Der Glöckner von Notre Dame erinnert, so viel Herzenswärme, dass man ihm seine radikale Vorgehensweise bösen Buben gegenüber durchaus verzeiht – auch wenn das eine oder andere Mal ganze Gedärme ihren Weg durch den Anus ans Tageslicht finden oder Köpfe munter drauflosexplodieren, wenn der Avenger mit seinem giftklumpigen Besen ausholt, um irreparable Schädelfrakturen zu verpassen. Man möchte es ja kaum für möglich halten, aber so knuffig und liebevoll kann ein Gorefilm sein, der seine zahlreichen Gewaltspitzen als grelle Himbeersaft-Orgie komponiert, und zwar so weit und so sehr intensiv, dass sie Teil dieser ganzen völlig irrealen Überzeichnung werden, die hier stattfindet.

Macon Blair, der 2017 die bemerkenswerte Thrillerkomödie Fremd in der Welt schrieb und inszenierte (abrufbar auf Netflix), später aber mit einer unsäglichen Komödie wie Brothers (mit Peter Dinklage und Josh Brolin) den Totalabsturz riskiert, holt sich für diese fast schon salonfähige und massentaugliche Sause eine ganze Reihe namhafter Schauspieler ans Set – mit Dinklage und Elijah Wood hat er schließlich schon gearbeitet gehabt, jetzt kommen noch Kevin Bacon und Jacob Tremblay als des Avengers Stiefsohn hinzu – so schillernd kann gewolltes Underground-Kino sein, das aber ordentlich Budget gehabt haben muss.

Viel Herzblut, viel Kunstblut

Mit diesem Budget bringt sich die Story eines Putzmanns in einem skrupellosen Chemiekonzern in Position: Als Winston Gooze muss er feststellen, dass all die Jahre inmitten giftiger Dämpfe seinen Tribut gefordert haben. Nur noch knapp ein Jahr, dann wird der Hirntumor lethale Ausmaße erreichen. Winston hofft auf Entschädigung von einem Konzern, der hochgiftigen Abfall in die Umwelt entlässt, ohne Rücksicht auf Verluste, was wiederum an Trumps Nachhaltigkeitsbewusstsein erinnert. Natürlich lässt man ihn hängen, und während er seinem Vorgesetzten Kevin Bacon eine Lehre erteilen will, schmeißt man ihn kurzerhand in den Sondermüll. Nach Tim Burton werden manche zum Joker, andere eben zum grünen Gnom, der seinen Wischmopp schwingt und völlig unerwartet zum Helden wird, nachdem er mit einer Verbrecherbande im wahrsten Sinne die Wände eines Fast Food-Restaurants dekoriert. Die Bösen machen bald Jagd auf ihn, und so kann die Geschichte ihren natürlich vorhersehbaren Lauf nehmen, denn inhaltlich originell ist The Toxic Avenger beileibe nicht.

Schließlich kann man sich nicht auf alles konzentrieren, und schließlich muss ja auch dem Troma-Spirit gehuldigt werden, denn all die grenzwertigen „Meisterwerke“ von damals sind allesamt wohl kaum drehbuchpreiswürdig, da es doch vorrangig um die visuelle Grenze geht, um den blutigen Dekor, um den Gladiatorenkampf an sich. Plakativität hat hier seine Daseinsberechtigung wie  nirgendwo sonst, und nur Peter Dinklage, Jacob Tremblay und ja, auch Taylour Paige ist es zu verdanken, dass diese Herzenswärme und dieser Feel-Good-Faktor all diese obszöne Gewalt so sehr durchdringt, dass man den Gore-Faktor nur noch peripher wahrnimmt.

The Toxic Avenger (2023)

Last Contact (2023)

NAH AM WASSER GEBAUT

4/10


lastcontact© 2023 Weltkino


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ESTLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: TANEL TOOM

DREHBUCH: MALACHI SMYTH

CAST: KATE BOSWORTH, THOMAS KRETSCHMANN, LUCIEN LAVISCOUNT, MARTIN MCCANN U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Natürlich ist im Kino unsere Welt längst aus dem Gleichgewicht geraten. Aus dem Schneeball Erde ist dank unseres Zutuns und eines rasanten Klimawandels ein dampfender Wasserball geworden, der um die Sonne seine Runden dreht. Filmtechnisch hat man so ein radikales Szenario längst aufgegriffen: Für Kevin Reynolds war Waterworld allerdings ein Sprung in unbekannte Gewässer, und selten entwickelte sich ein Monumentalprojekt wie dieses, das, anstatt CGI einzusetzen, alles per Hand geschnitzt hat, so derart zum finanziellen Debakel, dass der Film mit Kevin Costner allein dadurch zum Kult wurde. Eine Katastrophe wie diese, inhaltlich wie produktionstechnisch, musste man irgendwann mal gesehen haben. Wer das noch nicht getan hat: Bitte nachholen. Denn qualitativ gesehen hat der dystopische Mad Max-Streifen zu Wasser durchaus seine Guilty Pleasure-Momente.

Filme mit ganz viel Wasser drumherum sind also ganz sicher nicht leicht auf die Beine zu stellen – es sei denn, man begnügt sich damit, das ganze Abenteuer in seiner Spielfläche erheblich einzuschränken. Statt ganze Wasserdörfer und rostige Öltankern wie die Exxon Valdez, auf der Dennis Hopper als einäugiger Smoker-Pirat sein Unwesen treibt, ragt in der postapokalyptischen Sci-Fi des estnischen Regisseurs Tanel Toom lediglich eine auf drei mächtigen Pfeilern errichtete, an ein Baumhaus erinnernde Plattform aus dem Wasser, die bewacht werden muss. Oder anders formuliert: nicht die Plattform selbst wird bewacht, sondern das, was im Inneren wohnt. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um eine Kernwaffe handeln könnte und ja, richtig – genau das ist es. Eine Bombe, die nur darauf wartet, gezündet zu werden, wenn die Chancen jener Partei, die seit gefühlten Ewigkeiten einen Krieg um die letzten Reste trockenen Bodens führt, zu schlecht stehen, um sie auf andere Weise wieder aufzubessern. Zu diesem Zweck sind eine Frau und drei Männer als militärische Sondereinheit dazu verdonnert, Wache zu schieben, den Außenposten zu warten und der baldigen Ablöse entgegenzuharren, denn je länger hier ein menschliches Gemüt der Monotonie eines wenig erquickenden Alltags ausgesetzt sein muss, je eher droht der Lagerkoller. Als der heiß ersehnte Stichtag zur Abreise endlich schwarz auf weiß am Kalender steht – tut sich nichts. Kein Schiff holt sie ab, keine Meldung gibt’s von jenseits der weiten Wasserwüste. Was tun angesichts einer wohl ewig andauernden Hölle des Wartens und Nichtstuns? Ein Disput scheint vorprogrammiert, und Kommandant Thomas Kretschmann einer, der sich dem militärischen Gehorsam verpflichtet hat, komme, was wolle. Eine Einstellung, die sonst niemand hier teilt, einsam und verlassen auf hoher See.

Ein Gefühl der Verlassenheit bemächtigt sich auch beim Betrachten eines Waterworld für Arme, der das psychologisch hochinteressante Dilemma der Ungewissheit einfach nicht nutzen will, um vielleicht eine wendungsreiche Geschichte zu erzählen. Was fehlt, sind nicht nur von außerhalb einwirkend höhere Mächte, wenn man mal von einer perfekten Welle absieht, die gleich zu Beginn des Films hereinbricht. Was fehlt, ist auch die Lust daran, sich angesichts dieses klaustrophobischen Settings soweit auszutoben, um vielleicht gar einen Psychothriller daraus entstehen zu lassen, der mehr zustande bringt als Maschinenöl, raue Seeluft, einen herrischen Machtmenschen und einem an der Tagesordnung stehenden Misstrauen gegen alles und jeden und überhaupt gegen eine Gesamtsituation, die sich schwertut, einer auf der Hand liegenden Initiative, die jeder noch bei Sinnen befindliche Mensch wohl ergriffen hätte, aus dem Weg zu gehen. Um diese Möglichkeit, die den Film wohl nach einer halben Stunde beendet hätte, zu vereiteln, konstruiert Tanel Toom einen unempfundenen Konflikt, dem sich der Zuseher stellen muss.

Die Gefahr eines Atomsprengkopfes erscheint vernachlässigbar angesichts einer globalen Katastrophe, so weit draußen im Nirgendwo. Die Gewichtung der Prioritäten schlägt fehl, und die Zuspitzung auf einen erwartbaren Showdown birgt die freudvolle Vermutung, die auf der Stelle tretende Gesamtsituation neu zu würfeln. Last Contact – oder im Original: Last Sentinel (eigentlich passt beides irgendwie) – mag handwerklich sauber inszeniert sein, und auch das stahlgraue Gesamtbild eines verlorenen Postens mag Freunde technisch-utopischer Soldatenfilme milde stimmen. Ein bisschen etwas versucht Toom aus dem Endzeit-Klassiker Das letzte Ufer zu übernehmen, diese strapazierte Hoffnung auf Erlösung und einen besseren Ort. Allein: Das Zusammenspiel von Bosworth, Kretschmann und Konsorten birgt keinerlei Zwischentöne, sondern lediglich formelhaftes Spiel.

Last Contact (2023)

When Evil Lurks (2023)

DER TEUFEL LIEBT DILETTANTEN

6,5/10


© 2025 Drop Out Cinema


ORIGINALTITEL: CUANDO ACECHA LA MALDAD

LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA 2023

REGIE / DREHBUCH: DEMIÁN RUGNA

CAST: EZEQUIEL RODRÍGUEZ, DEMIÁN SALOMON, SILVIA SABATER, LUIS ZIEMBROWSKI, MARCELO MICHINAUX, EMILIO VODANOVICH, VIRGINIA GARÓFALO, PAULA RUBINSZTEIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Wohin mit unliebsamen Dämonen? Tja, das ist eine Frage, die wir uns sicher alle schon einmal gestellt haben. Das ist eine Frage, die Ash Williams, dem kettensägenschwingenden Helden aus der Evil Dead-Reihe längst schon auf der Zunge brennt. Bevor klar wird, wie man sie fachgerecht entsorgt – und zwar nicht im Sondermüll und auch nicht am Straßenrand wie ein lästig gewordenes Hündchen, das schließlich überhaupt nichts dafür kann – muss klar sein, wie man sie bändigt. Und ganz wichtig dabei: Wer sich dieser Drecksarbeit letztlich annimmt. Denn Dämonen, die schlagen ja deshalb meistens im Diesseits auf, weil sie den Menschen gerne quälen. Allesamt sind das ungute Gesellen (außer im Buffyverse, da gibt’s auch Humanisten), meistens körperlos, mächtig, voll des Wissens in Sachen schwarzer Magie. Angesichts dessen sucht so manch gottgläubige Seele in embryonaler Stellung Bodenkontakt, nur um nicht besessen zu werden. Durch Besessenheit gelangt die unheilstiftende Entität schließlich in jene unsere Dimension und lässt den Wirtskörper Dinge tun, die dieser im Normalzustand niemals vollbringen würde wollen. Entsetzliche, destruktive Dinge.

Irgendwo im Nirgendwo Argentiniens, in der buchstäblichen Pampa sozusagen, hat es ein Dämon schließlich geschafft, sich des Körpers von Uriel zu bemächtigen – eines Sohnes der alten Maria Elena, die schon so lange auf Erden weilt, um zu wissen, wen man ruft, wenn das Böse sich heranschleicht (so der Titel). Dumm nur, wenn der Exorzist niemals ankommt, und stattdessen ein unbedarftes Brüderpaar, das unweit ihre eigene Farm bewirtschaftet, des Besessenen ansichtig wird. Dieser liegt als aufgedunsene und entstellte Kreatur auf seiner Bettstatt, aus ihm spricht das Böse. Trotz mahnender Hinweise der Alten wollen die beiden das Problem lieber mit der Logik amateurhafter Laien aus der Welt schaffen – keine gute Idee. Denn je mehr sie versuchen, dem Schrecken Herr zu werden, umso mehr entgleitet das Ganze. Ganz nach dem Prinzip: Es juckt – und man kratzt. Man kratzt und kratzt und irgendwann blutet es. Es wird schlimmer statt besser. When Evil Lurks wird zum verheerenden Anti-Tutorial, zur verstörend-erstaunlichen Katastrophe, wie ein spielfilmlanges Fail-Video auf Youtube, wo man hinsehen muss obwohl man nicht will, weil schiefgeht, was nur schiefgehen kann. Weil die Fehler, die passieren, irreversibel genug sind. Weil sie einen mächtigen Rattenschwanz an Ereignissen nach sich ziehen, die diesen ohnehin gottverlassenen Ort noch tiefer ins Grauen stürzen.

Dabei hat When Evil Lurks durchaus schadenfrohen Witz, so bierernst ist der Horror nicht, ungefähr genauso wenig wie Sam Raimis Fratzenreigen. Das Böse ist unerbittlich, und nur derber Zynismus kann dagegen helfen. Mit literweise Blut, ekligen Substanzen und Tabubrüchen schickt Regisseur Demián Rugna die paranormale Naturgewalt in die Zielgerade Richtung Apokalypse, naturalistischer Bodyhorror und erstklassiges Makeup garantieren ein Troubleshooting ohne Plan, ein Hinterholz 8 für Möchtegern-Dämonenjäger. Das Böse wabert dabei wie ein Virus durch die Welt und kann weder durch Aderlass noch durch anderen Good Will gebändigt werden. Rugna feiert den Nihilismus mit ganzer Inbrunst – deftig, gewalttätig, unheilig.

When Evil Lurks (2023)

The Last Stop in Yuma County (2023)

DYING IN THE DINER

7/10


laststopinyumacounty© 2024 Pandastorm Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: FRANCIS GALLUPPI

CAST: JIM CUMMINGS, JOCELIN DONAHUE, RICHARD BRAKE, NICHOLAS LOGAN, FAIZON LOVE, MICHAEL ABBOTT JR., GENE JONES, ROBIN BARTLETT, SIERRE MCCORMICK, CONNOR PAOLO U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Wir alle erinnern uns noch an die längst zum Kult gewordene Szene, mit welcher der Klassiker Pulp Fiction sein episodenhaftes Schauspiel eröffnet: Pumpkin und Honey Bunny finden sich als Bonnie & Clyde-ähnliches Räuberpaar in einem Diner wieder, um diesen auszurauben. „Everybody be cool, this is a robbery“ – so tönt Bill Roth durch den Konsumationsbereich. Nimmt man diese Szene und löst sie los von ihrem Film, variiert sie und nutzt sie als Prämisse für einen ganz anderen, dann könnte so etwas ähnliches entstehen wie The Last Stop in Yuma County, ein versteckt im Retail-Segment verbratenes kleines Juwel von einem Thriller, der die Faktoren Isolation, Abhängigkeit und einen begrenzten Spielraum für sich nutzt, um den Plot wie ein reißfestes Spinnennetz über eine von Gott verlasse Tankstelle am Rande von New Mexiko zu spannen – bevor es weitergeht nach Kalifornien, einem Bundesstaat, wo alle hinwollen. Denn in New Mexico hat keiner was verloren, das ist nicht erst seit Breaking Bad bekannt. Was aber, wenn die letzte Tankstelle für die nächsten hundert Meilen kein Benzin mehr hat, und der Tank des eigenen Autos gefährlich leer? Ums Auftanken kommt man nicht drum rum, also heisst es warten, bis der versprochene Nachschub eintrifft. Was aber, wenn der Tankwagen auch nicht kommt, sondern irgendwo auf dem Weg hierher im Straßengraben liegt, während der Treibstoff ins Erdreich plätschert?

Davon weiß keiner was, weder der Tankstellenbetreiber, der aus seinen wenigen Quadratmetern nicht herauskommt, noch die Bedienung im Diner, die hübsche Charlotte. Noch der verhaltensauffällige Handelsvertreter ohne Namen oder das ältere Ehepaar, dass die Mehlspeise des Tages konsumiert, um die Wartezeit nicht nur mit einem Nickerchen totzuschlagen. Sie alle warten. Und es wäre eine langweilige Warterei, wenn da nicht an diesem Tag auch noch ein Raubüberfall stattgefunden hätte und das Fluchtauto mit – wie kann es anders sein – leerem Benzintank ebenfalls hier parken muss. Die beiden zwielichtigen Kriminellen ändern den Status Quo der idyllischen Diner-Tristesse natürlich grundlegend. Was folgt, ist ein Geiseldrama als Kammerspiel, eine knackige sozialpsychologische Belastungsprobe, in die sich auch noch die Provinzpolizei mischt, die wohl den Polizeifunk nicht richtig abgehört hat.

Autorenfilmer Francis Galluppi hat sich zweifelsohne von den Werken Quentin Tarantinos inspirieren lassen, allerdings auch von den Arbeiten Sidney Lumets oder Ben Wheatleys. Die Betonung liegt dabei auf „inspirieren“, denn Galluppi trägt der blutigen Situationsironie seinen eigenen verqueren Stempel auf. Das liegt vorallem an den undurchschaubaren Charakteren, die sich hier versammeln. Jim Cummings als Salesman ist ohnehin nicht zu trauen, den jungen ungestümen und bewaffneten Turteltauben, die an Harrelson und Lewis aus Natural Born Killers erinnern, ebenso wenig. Selbst die Alten könnten anders sein, als sie vorgeben. Nur Charlotte hinter dem Tresen hofft hier noch auf die Harmonie eines ereignislosen Tages in der Gluthitze der Wüste, wenn das Standoff jedes Mal um neue, unerwartete Ereignisse oder Personen ergänzt oder reduziert wird. Faktoren wie Aktion und Reaktion unter Zeitdruck oder menschliche Verhaltensmuster in Ausnahmesituationen führen eine Dynamik herbei, von der man schon erwartet, dass alles in einem großen Knall enden muss. Und man ertappt sich dabei, wie erwartungsvoll man dem Desaster entgegenfiebert.

Als hundsgemeine Sarkasmusperle lässt sich The Last Stop in Yuma County genüsslich empfehlen. Galluppi lässt einen bescheidenen kleinen Weltuntergang über ein Nirgendwo hereinbrechen, der gleichsam überrascht und drohende Erwartungen erfüllt.

The Last Stop in Yuma County (2023)

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

DIE STIMME ERHEBEN

8/10


morgenistauchnocheintag© 2023 Tobis


LAND / JAHR: ITALIEN 2023

REGIE: PAOLA CORTELLESI

DREHBUCH: FURIO ANDREOTTI, GIULIA CALENDA, PAOLA CORTELLESI

CAST: PAOLA CORTELLESI, VALERIO MASTANDREA, ROMANA MAGGIORA, EMANUELA FANELLI, GIORGIO COLANGELI, VINICIO MARCHIONI, GABRIELE PAOLOCÀ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Im Jahr des Herrn 2023 war der Sommer geprägt von einem Phänomen im Kino, wie es das kein zweites Mal geben wird: Barbenheimer. Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schrieben Geschichte – der eine, Nolans Oscar-Sieger, begab sich auf biografische Spurensuche und ließ den Vater der Atombombe, nämlich Oppenheimer, dank Cillian Murphys eindringlichem Spiel zu Wort kommen. Auf der anderen Seite verbog eine pinke Puppe namens Barbie sämtliche Stereotypen bei Männern und bei Frauen zu einer knallbunten, aber subversiv charmanten Musical-Satire. Dem Stiefel Europas war das aber herzlich egal. Dort übertrumpfte ein anderer Film das Box-Office-Verhalten Hollywoods in Übersee: Ein Melodrama namens Morgen ist auch noch ein Tag von Paola Cortellesi, die sich in diesem Meisterwerk gleich selbst besetzt hat – als vom Manne unterjochte, kleingehaltene und physisch wie psychisch gequälte Hausfrau im Nachkriegsitalien.

Wir schreiben das Jahr 1946, und Italien steht politisch wie gesellschaftlich vor einem Umbruch. Kann es sich in eine neue Ära retten oder bleibt es in einer Regression gefangen? Wie geht es den Frauen, die bis dato nicht das Recht hatten, ihre Stimme abzugeben? Die bis dato dem Ehemann gehorsam sein mussten, da sie doch nur tun durften, was vom Hausherrn erlaubt war? Eine Zeit war das, feministisch betrachtet das tiefste Mittelalter, die reinste Anarchie, lediglich die Kraft des Stärkeren dirigierte den Alltag. Drei Kinder muss Delia durchfüttern, während der Kriegsheimkehrer seine Angetraute gleich zu Beginn des Filmes präventiv für den Rest des Tages ohrfeigt. Diese Gewalt zum Einstand einer Emanzipationsgeschichte voller Charme, Trotz und Mut läutet die Wiederkehr eines Neorealismus ein, den der junge Federico Fellini oder Vittorio de Sica (u. a. Gestern, heute und morgen) in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Genre des Kinos so maßgeblich etabliert hatten. Statt Paola Cortellesi wäre es damals wohl Sophia Loren gewesen, die sich als Hausfrau der Unterschicht zu behaupten versucht. Der Mechaniker, dem sie schöne Augen macht, wäre wohl Marcello Mastroianni gewesen. Die Zeiten haben sich geändert, nicht aber die Lust daran, dem blanken und unschönen Realismus einer sozial benachteiligten Familie, die im Keller eines Hauses in Rom ein Leben wie das des gut betuchten Schwiegersohns in spe anstrebt, melodiöse Verfremdungen und anachronistische Stilmittel entgegenzusetzen.

Cortellesi stellt die patriarchale Gewalt als abstrahierte Tanzeinlage dar, die einer klischeehaften Nachkriegsromantik eins auswischt. Wenn Delia resoluten Schrittes auf den Straßen Roms unterwegs ist, um ihre Stimme zu erheben, ertönen die Rhythmen zeitgenössischen Hiphops der Gegenwart. Mit diesen feinen Methoden bettet der Film das sozialkritische Betroffenheitskino in das zeitgemäße Gewand einer temperamentvollen Retro-Interpretation, ohne vorgestrig oder angestaubt zu wirken. Die Leidenschaft für den Feminismus, die Wut auf den Chauvinismus, all diese Emotionen triefen dem Film aus jeder Pore. Dabei fesselt Cortellesis Spiel genauso wie die Dynamik zwischen den einzelnen Darstellern eines spielfreudigen Ensembles, das sich selbst kritisch betrachtet und so manche Figur manchmal der Parodie aussetzt, obwohl es gar nichts zu lachen gibt. Diese Grenzen lotet Morgen ist auch noch ein Tag mit Scharfsinn und Verve, mit Vergnügen und Kampfgeist in eine Richtung aus, die keinesfalls nur Ambitionen gutheißt, sondern auch die Umsetzung engagierter Ideen.

Schwer auszuhalten, wie Delia sich drangsalieren und erniedrigen lässt. Jede Sekunde ist es das Warten und Bangen aber wert. Am Ende triumphiert so vieles auf so vielen Ebenen, es bleibt einem nur, hin und weg zu sein.

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

Kill (2023)

TRAUERZUG DER BÖSEN BUBEN

7/10


kill© 2024 Lionsgate

LAND / JAHR: INDIEN 2023

REGIE: NIKHIL NAGESH BHAT

DREHBUCH: AYESHA SYED, NIKHIL NAGESH BHAT

CAST: LAKSHYA, RAGHAV JUYAL, ASHISH VIDYARTHI, ABHISHEK CHAUHAN, HARSH CHHAYA, TANYA MANIKTALA U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Vor zwei Jahren brachte Actionspezialist David Leitch Bullet Train in die Kinos, einen spektakulären Actionfilm, der in den beengten Gängen und zwischen den Sitzreihen eines Hochgeschwindigkeitszuges Radau macht. Als Passagiere: Typen wie Brad Pitt, Aaron Taylor-Johnson oder Brian Tyree Henry – letztere als Buddies ganz im Tarantino-Stil. Ein intaktes Genre-Glanzstück ist Leitchs Film geworden. Fügt man zu so einem Setting noch ein ganz schönes Quäntchen Stirb langsam hinzu und jemanden wie John McLane, nur noch martialisch so tüchtig und unverwüstlich wie ein Hindi-Gott und verfrachtet das Ganze an den Subkontinent Indien, hat man einen Film, der diese Komponenten mit denen Bollywoods vereint. Fertig ist ein Knaller wie Kill, dessen Titel Programm sein darf – was man anfangs nicht ganz glauben will. Denn da fliegen erstmal die Fäuste, wenn schon nicht die schmachtenden Blicke eines Liebespaares den Besitzer oder die Besitzerin wechseln.

Die Rede ist von der schönen Tulika, deren Augen man niemals wieder vergessen wird, und Fani, einem Elite-Soldaten und Meister im Kampfsport jedweder Art. Natürlich sind die beiden nicht nur ineinander verliebt, nein, sie lieben sich und wollen heiraten. Nur Tulika kommt aus einer reichen, einflussreichen Familie, wo der Vater das Sagen und längst eine Ehe arrangiert hat mit einem völlig Unbekannten. Auf dem Weg zur Hochzeit besteigen allesamt – Sowohl Fani als auch Tunika und ihr Familie – den Mitternachtsexpress nach Delhi. Soweit nun reinstes Bollywood-Kino. Bis jene an Bord kommen, die nichts Gutes im Schilde führen: Ein ganzer Haufen Räuber und Banditen, auch sie allesamt miteinander verwandt und verschwägert und was weiß ich noch alles. Ihr Ziel ist von niederträchtiger Natur, und als sie sehen, wer da noch im Zug sitzt – denn Tulikas Vater ist kein Unbekannter – kommt die Idee der Geiselnahme ins Spiel. Fani, mit seinem Kompagnon zur Falschen oder eben richtigen Zeit am Falschen oder eben richtigen Ort, stellt sich den bösen Buben in den Weg. Aus dem Hickhack wird nach einem schmerzlichen Schicksalsschlag für Fani bitterer Ernst. Die Bösen sollen nicht nur mit Blessuren davonkommen, sondern allesamt das Zeitliche segnen.

Wie er das macht, erfahren wir relativ spät, ungefähr um die Mitte des Films herum. Genau dann erst blendet Regisseur Nikhil Nagesh Bhat das Insert des Titels ein, und genau ab dann findet literweise dünnes Kunstblut seine Verwendung. Man muss dabei wissen: Immer noch ist Kill reinstes Bollywood-Kino, distanziert sich aber von der knochentrockenen und expliziten Akurratesse von Filmen wie The Raid. Kill ist die schwülheisse, emotional dick aufgetragene und aufgeladene Stirb langsam-Version aus dem Monsun: üppig, schwülstig und so deftig wie mit den Händen verschlungenes Lammcurry im Schärfegrad hartgesottener Millionenstädter. Es fliegen die Messer, es knacken Genicke und Gelenke. Kill macht das Dahinschlachten insofern erträglich, da er das Ganze in einem pulsierenden Gedränge erstickt. Letztlich geht es aber nicht nur darum, die Bösen nur zu dezimieren. Was Nagesh Bhat gelingt, ist es, all die Verbrecher insofern leiden zu lassen, da sie vorrangig um ihre Liebsten trauern, die ebenfalls diesem Höllenritt angehören. Da heult der Sohn um den Vater, der Vater um den Bruder, der Neffe um den Onkel. Allesamt stimmen sie ein Lamento an, das man so noch nicht gesehen hat. Viel mehr schmerzt hier das seelische Ungleichgewicht, das die Bösen entmutigt, immer schwächer, fahriger und unkontrollierter werden lässt. Das Impulsive spielt dem Protagonisten in die Hände. Auch er heult und trauert angesichts deftiger Tragödien, die sich in dieser Tropennacht alle zutragen. US-Action, darunter eben Stirb Langsam oder Alarmstufe Rot, hätte sich mit ihrer Helden-Mentalität nie so weit aus dem Zugfenster gelehnt, geschweige denn derartige Opfer gebracht. Genau das heizt aber die Emotion des Zuschauers an, so funktioniert indisches Kino. Gemeinsam mit der grandios choreographierten Action auf engstem Raum kann man Kill als das blutige Filetstück eines theatralischen Hardcore-Thrillers betrachten, absolut nicht jugendfrei, dafür aber umso opulenter, farbenfroher und so stark gewürzt, dass es nicht nur zweimal brennt.

Kill (2023)

Die Fotografin (2023)

DAS MODEL IN HITLERS BADEWANNE

6/10


diefotografin© 2024 Constantin Filmverleih


ORIGINALTITEL: LEE

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: ELLEN KURAS

DREHBUCH: LEM DOBBS, LIZ HANNAH, JOHN COLLEE & MARION HUME

CAST: KATE WINSLET, ANDY SAMBERG, ALEXANDER SKARSGÅRD, MARION COTILLARD, JOSH O’CONNOR, ANDREA RISEBOROUGH, NOÉMIE MERLANT, VINCENT COLOMBE, SAMUEL BARNETT, ZITA HANROT U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Als Charakterdarstellerin und als jemand, der biografischen Figuren Seele verleiht, ist Kate Winslet wohl nach wie vor und ungebrochen an der Spitze weiblicher Schauspielgrößen vorzufinden, die ihren Charakteren wie aus dem Ärmel geschüttelt eine ganze Biografie verleihen, ohne sie darstellen zu müssen. Da reichen Auszüge im Rahmen eines zweistündigen Dramas, die wissen lassen, dass davor schon eine ganze Menge passiert sein muss. Komplette Lebensgeschichten sind das geworden, eine komplette Lebensgeschichte wird auch die Chronik des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht von Model, Künstlerin und Kriegsreporterin Lee Miller, die als eine der ersten und an der Seite der Alliierten die ganze grausame, himmelschreiende Wahrheit hinter dem Hitler-Regime dokumentieren konnte. Als Berufene und im Auftrag der Allgemeinheit ihre Pflicht erfüllende Reporterin leistete Miller ganze Pionierarbeit. Schließlich waren Frauen an der Front etwas Undenkbares, waren Frauen abseits des Lazaretts aus der Sicht der Männer entweder eine Gefahr für sich selbst oder eine Gefahr für andere. Miller setzte neue Maßstäbe, etablierte wohl einen ganzen weiblichen Berufszweig. Zeigte überdies Mut, Selbstbewusstsein und Leidensfähigkeit. Vor allem die der Psyche. Schließlich muss ein Mensch, reich an Werten und progressiv-humanistischen Idealen das unangekündigt Grausame, das hinter den Mauern der Konzentrationslager von Buchenwald und Dachau zum Vorschein kam, erstmal verarbeiten. Miller konnte das niemals so richtig, all diese Bilder begleiten sie bis ins hohe Alter. Zu diesem Zeitpunkt sitzt sie in ihrer Wohnung einem Journalisten gegenüber, der über ihr Leben so einiges wissen will. Auf einem Couchtisch ausgebreitet sämtliche Fotografien, ihm gegenüber Kate Winslet hinter missglückten Latexfalten, aber immer noch greifbar erfahren und müde von einem Leben voller menschlicher Dramen zwischen Kunst, Egomanie und höheren Aufgaben im Dienste der ganzen Menschheit.

Im Original betitelt Regisseurin Ellen Kuras, die als Kamerafrau wohl am Set von Eternal Sunshine of the Spotless Mind auf Kate Winslet traf und seither immer wieder mit ihr zusammenarbeitet, ihren Film schlicht als Lee. Die Art der Betrachtung einer Künstlerin wie Miller eine war, mag weder huldigend noch deutlich kritisch ausfallen. Die Selbstinszenierung in Hitlers Badewanne war, und das steht außer Frage, eine Aktion, die gemischte Gefühle hervorruft. Geschmacklos oder nicht: das Foto ist wohl als Triumph über das diktatorische Böse zu sehen. Körperpflege an Hitlers statt zu vollziehen, könnte aber auch als unbeabsichtigte Anbiederung durchgehen, sofern man Miller nicht auf diese Weise kennenlernt, wie Kuras es sich vorgenommen hat: Kettenrauchend, nonkonform und zäh genug für den Job, die Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht zu bringen. Winslet portraitiert die Ikone souverän.

Wirklich nahe kommt man der Person aber dennoch nicht. Wenig greifbar bleiben auch all die anderen Nebenfiguren wie Alexander Skarsgård als Künstler Roland Penrose oder Andy Samberg als Millers Arbeitskollege David E. Scherman. Sie sind Gaststars im Laufe eines erfüllten Lebens, das dicht mit den Ereignissen um den Zweiten Weltkrieg verwoben ist und auch mit dazu beigetragen hat, das Schwarzbuch der Menschheit zu illustrieren. Als informativer biografischer Spielfilm macht Die Fotografin augenscheinlich nichts verkehrt. Vor allem jene Szenen, die das Entdecken der Konzentrationslager schildern, gehen unter die Haut, ertappt man sich doch dabei, unter furchterfüllter Neugier Miller auf dem Fuß zu folgen und über deren Schulter zu blicken, als wäre man selbst dabei. Darüber hinaus aber berührt der Film wohl weniger, als dass er Aufschluss gibt. Miller bleibt auf Distanz, es bleibt weitestgehend unklar, was sie bewegt oder antreibt. So gesehen fehlt die Lust an der Interpretation, letztlich sind es nur biographische Notizen eines Lebens, das in Filmform und mit weniger Fokus auf die Psyche nur schwer zu fassen ist.

Die Fotografin (2023)

Memory (2023)

DIE DUALITÄT DES ERINNERNS

7,5/10


memory© 2024 MFA+ Filmdistribution


LAND / JAHR: MEXIKO, USA 2023

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION: MICHEL FRANCO

CAST: JESSICA CHASTAIN, PETER SARSGAARD, BROOKE TIMBER, MERRITT WEVER, ELSIE FISHER, JESSICA HARPER, JOSH CHARLES U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Die einen wollen vergessen und können nicht. Die anderen vergessen und wollen nicht. Selten ist es so, dass jene, die vergessen wollen, es auch tatsächlich tun. Zu tief stecken hier traumatischen Erfahrungen in der eigenen Biografie fest, zu sehr beeinflussen diese die Gegenwart. Jene, die vergessen, obwohl sie jede Erinnerung behalten möchten, leiden vermutlich an kognitiven Störungen, die zur Demenz führen. Oft wird diese Erkrankung mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, doch Filmemacher Michel Franco sieht das anders. Er wirft Peter Sarsgaard als Saul in einen vernebelten Alltag, der allein nicht mehr zu meistern ist. Abhängig vom eigenen Bruder, erlebt er mal helle Momente, dann wieder Phasen der völligen Desorientierung. Und: Der Mann steht mitten im Leben. Auf der anderen Seite muss Sylvia (Jessica Chastain) als ehemalige Alkoholikerin, die schon seit dreizehn Jahren trocken ist, ein Trauma mit sich herumtragen, welches sich einfach nicht wegsperren lässt. Das hat auch starken Einfluss auf die eigene Tochter, die weder mit Freunden abhängen noch zu Partys gehen darf. Francos Romanze will es, dass sich beide – Chastain und Sarsgaard – auf einem Klassentreffen über den Weg laufen. Oder anders gesagt: Saul sucht Sylvias Nähe und folgt ihr aus welchen Gründen auch immer (später erfährt man auf einer geschickt eingeflochtenen Meta-Ebene, warum) bis vor ihre Haustür – wo er, bei Sturm und Regen, Wurzeln schlägt. Sylvia ahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt, allerdings nichts, was ihr bedrohlich werden könnte. Nächsten Morgen stellt sich heraus: Der Mann leidet an dementen Schüben, die ihn völlig aus der Bahn werfen. Ohne Betreuung geht es nicht, also nimmt Sylvia auf Bitten von Sauls Bruders den Job an, sich um ihn zu kümmern. Während also Erinnerung und Vergessen aufeinandertreffen, ziehen sich diese Gegensätze sehr bald an.

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Wie ein einziger Tag oder sentimentalem Taschentuchdrama, wenn ich nicht wüsste, dass Michel Franco hier nicht nur die Story ersonnen, sondern eben auch inszeniert hat. Dessen letzter Film – Sundown – Geheimnisse in Acapulco – kann, wenn man sich einlässt, zu einer speziellen Filmerfahrung werden – mit der dramaturgischen Taktik, fast die gesamte Laufzeit des Films seine Zuseher im Unklaren zu lassen, was Tim Roth wohl antreibt, um aus seinem bisherigen Leben auszusteigen und alle Verbindungen zu kappen. Dieses Mysterium steht und fällt mit der hypnotischen Gelassenheit und stillen Melancholie des Hauptdarstellers, den ruhigen, fast ereignislosen Szenen und dem vielen Platz, den Franco lässt, um eigene Ideen hineinzuinterpretieren. Bei Memory macht er es ähnlich. Die Art, wie Franco seine Filme reduziert, und wie er dabei nach eigenem System die Kamera einsetzt, mag bereits zu seiner unverkennbaren Handschrift geworden sein. Was dabei auffällt: Sobald seine Figuren in einen Konflikt geraten, zieht er sich zurück – wir sehen die Szene in der Totalen, distanziert und als stiller Beobachter. Sind die Gefühle im Reinen, hat Franco auch den Wunsch, sich zu nähern. Menschen, die negative Emotionen auslösen, stehen vorrangig mit dem Rücken zur Kamera oder werden erst gleich gar nicht gezeigt. Ein haarfeines, akkurates, psycho-symbolisches Konzept liegt hier vor, während – wie bei Sundown – all die Szenen in unerzwungener Konsequenz fast schon fragmentarisch aneinandergereiht werden. Nie werden diese auserzählt, sondern enden an dem Punkt, an dem wir selbst als Zuseher, ob wir wollen oder nicht, das Geschehen gedanklich ergänzen. Trotz der Bruchstücke – wie beim assoziativen Erinnern – entsteht so ein Ganzes, eine unaufgeregte, nicht karge, aber pietätvolle Erzählung, die mit lamentierender Schwermut nichts anzufangen weiß. Memory widmet sich einschneidenden Schicksalsschlägen, ohne die Schwere auszunutzen. Er erzählt sie anders, und probt damit das symptomatische Empfinden seiner eigenen Themen. Wie Film und Inhalt sich dabei ergänzen, ist wie Vergessen und Erinnern. In der Mitte liegt eine pragmatische Balance für ein gutes Leben.

Memory (2023)

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

DIE PRACHT DES SPÄTEN FRÜHLINGS

7,5/10


amsel_brombeer© 2023 Stadtkino Filmverleih


ORIGINALTITEL: BLACKBIRD BLACKBIRD BLACKBERRY

LAND / JAHR: GEORGIEN, SCHWEIZ 2023

REGIE: ELENE NAVERIANI

DREHBUCH: ELENE NAVERIANI, NIKOLOZ MDIVANI

CAST: EKA CHAVLEISHVILI, TEMIKO CHINCHINADZE, PIKRIA NIKABADZE, ANKA KHURTSIDZE, TAMAT MDINARADZE U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


In diesen titelgebenden Brombeerstrauch hat sich die 48jährige Ethero längst heillos verheddert – und gleichzeitig damit abgefunden. Dieses patriarchale Georgien mit seinen tief verwurzelten Glaubenssätzen, was Frauen- und Männerrollen betrifft, wäre schon genug an Erschwernis für eine umgangssprachlich als „Alte Jungfer“ zu bezeichnende Person, die, so meinen die anderen, sowieso nie mehr einen Mann abbekommen wird. Nein, bei Ethero hat das Schicksal noch einen draufgesetzt und ihr die Mutter genommen. Was blieb, waren Vater und Bruder, beide keine Feministen, beide herrisch und unterdrückend, beide das Patriarchat auf respektlose Weise ausübend – bis auch der Rest der Familie unter der Erde liegt und Ethero allein dasteht. Doch sie weiß sich zu behaupten, stemmt sich grimmig gegen entbehrliche Umstände. Zumindest hat sie es vollbracht, ihren eigenen Drogeriemarkt aus dem Boden zu stampfen. Wenn es die Zeit erübrigt, geht sie an den Fluss, um Brombeeren zu pflücken. Die Amsel inmitten des Geästs, die es schafft, dem dornigen Gestrüpp zu entfliehen, wird zur waghalsigen Idee einer längst in der Mitte des Lebens Angekommenen, wird zur gefährlichen Metapher, die ihr gleich zu Beginn fast das Leben kosten soll. Und dennoch ist dieser Moment der Imperativ zu einer Wende. Den sie nutzt, indem sie sich an ihren Lieferanten ranmacht, den verheirateten Murman, der ihr auch, versteckt im Lager des Ladens, die Jungfräulichkeit nimmt. Wie es aussieht, könnte dies der Beginn einer späten ersten Liebe sein, die Ethero tunlichst geheim halten will. Denn das Dorf ist klein, ein jeder kennt hier jeden und ein jeder und eine jede zerreißt sich das Maul über andere, die sowieso schon einer gewissen Nonkonformität entsprechen. Ethero ist dabei der Freak, der Sonderling, die Einzelgängerin. Was all die anderen nicht wissen: Ethero ist zwar stark und zäh und wirkt nach außen hin vielleicht sperrig – doch wie jeder Mensch, der Zeit seines Lebens vom Glück außen vorgelassen wurde, trägt auch sie eine Sehnsucht mit sich herum, die, käme der rechte Augenblick, dieser ohne zu zögern gestillt werden würde.

In einem Land, in welchem Gesetze gegen Andersdenkende und Andersfühlende erst kürzlich erlassen wurden, wundern Filme wie diese gleich doppelt. Dabei fällt mir das erst kürzlich in den Kinos gezeigte queere Drama Crossing ein, in welchem Transsexualität auf völlige Akzeptanz stößt. Amsel im Brombeerstrauch hat keine queeren Themen in petto, dafür aber einen stolzen, bekennenden und authentisch zelebrierten Feminismus, der auf zutiefst lakonische wie warmherzige Weise über eine wundersame Chance berichtet, die, egal wann sie im Leben auch gewittert wird, ergriffen werden kann. Dieser späte Frühling, den Ethero hier erlebt, hat etwas zauberhaft Verschrobenes, erdiges und Authentisches – was nicht nur an Elene Naverianis offenherzige und von allen Stereotypen befreiten Herangehensweise an ihre zentrale Figur liegt, sondern eben auch an die unverwechselbare Eka Chavleishvili, die eine nuancierte Charakterstudie zulässt und dabei auch keinerlei falsche Scham an den Tag legt. Naveriani setzt ihren Körper, der auf erfrischende Weise eben erst recht nicht einem in den Medien kommunizierten Schönheitsideal entspricht, respektvoll in Szene. Chavleishvili ist stolz auf ihren Körper und auf sich selbst. Der Unzufriedenheit im Leben, wenn Frau das Gefühl hat, dass alle Züge bereits abgefahren sind, lässt sich so vehement und träumerisch entgegentreten, dass Amsel im Brombeerstrauch als kleine, unangepasste, märchenhafte Ode an die Weiblichkeit bestens funktioniert, ohne diese Ideale nur zu kolportieren. Das gelingt aufgrund einer leicht unbeholfenen Zärtlichkeit, die diesem Film innewohnt. Als wäre Aki Kaurismäki wieder mal einer seiner kauzigen Gesellschaftsportraits gelungen, hat auch Naveriani einen eigenen Minimalismus in ihren Bildern, eine eigene Farbgebung und eine pointierte Dramaturgie. Ein prachtvoller, zutiefst romantischer Film, der von einer Selbstfindung berichtet, die auf eigenen, unangepassten Wegen völlig richtig liegt. Und Ethero, die hat dabei das Zeug zur Ikone des eigenen emanzipierten Willens.

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

Strange Darling (2023)

DER FEIND IM FREMDEN BETT

7,5/10


Strange Darling© 2024 Miramax


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JT MOLLNER

CAST: WILLA FITZGERALD, KYLE GALLNER, BARBARA HERSHEY, ED BEGLEY JR., ANDREW SEGAL, MADISEN BEATY, BIANCA SANTOS, EUGENIA KUZMINA, STEVEN MICHAEL QUEZADA, SHERI FOSTER, GIOVANNI RIBISI U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Nie, wirklich niemals, ist das Objekt genau dort, wo man es vermutet. Weder unter dem einen noch unter dem anderen Hütchen. Das liegt wohl daran, dass einige von denen, die mit namentlichem Spiel draufgängerische Passanten um ihr Kleingeld erleichtern, Trickbetrüger sind. Da lassen sich die Rochaden noch so genau beobachten – letztlich blickt man ins Leere.

Es gibt Filme, die ähnlich konstruiert sind. Die nicht wollen, dass ihr Publikum viel zu früh ahnt, welche Taktik hier ihre Anwendung findet. Die es darauf ankommen lassen, dass unkonventionelle Erzählweisen nicht immer willkommen sind. Doch diejenigen, die gerne erfrischend Neues erleben und sich mit einem Lächeln an der Nase herumführen lassen wollen, haben mit Strange Darling eine gute Partie – vorausgesetzt, der Versuch, aus der Gewohnheit auszuscheren, wirkt letztlich nicht allzu gewollt. So ein Zerstückeln des Erzählflusses braucht schließlich Geschmeidigkeit, muss sich anbieten und nicht so wirken, als hätte man erst viel zu spät entschieden, ein konventionelles B-Movie mit besonderem Twist zwangszubeglücken. Das merkt auch das Publikum. Bei Strange Darling merkt es das nicht. Denn der Thriller fuhrwerkt mit seinen sechs Kapiteln ebenso herum wie eingangs erwähnter Hütchenspieler. Dabei starten wir gleich mal mit Kapitel Nummer Drei. Und nein, vorne fehlt nichts, hinten fehlt nichts – dieses Puzzleteil wirft uns sogleich mit Anlauf hinein ins Geschehen. Wir sehen eine Blondine, die, blutverschmiert und gehetzt, mit einem roten Sportwagen über die Landstraße brettert. Hintendrein das Böse: ein grimmiger, toxisch-männlicher Killer, Sexualstraftäter, Psychopath – keiner weiß, was dieser Mann sonst noch alles in sich vereint. Er wirkt wie ein Rednex, wie ein diabolischer Hinterwäldler aus Beim Sterben ist jeder der Erste. Er hat es beinhart auf die junge Frau abgesehen, er will sie nicht entkommen lassen, sie ist schließlich seine Beute.

So viel kann sich das Publikum schon denken: Wenn Kapitel Drei den Thriller startet, ist nicht alles so, wie es scheint. Regisseur JT Mollner gibt nur so viel preis, damit es reicht, um bewährte Rollenbilder zu etablieren. Der stereotype böse Mann, die hilflose Blondine, es könnte ein gediegener, generischer Reißer sein, hätte Mollner nicht noch anderes im Sinn. Und da stecke ich aber als Filmblogger und Reviewer in einem Dilemma, denn Strange Darling ist ein Machwerk jener Sorte, über das man so wenig wie möglich schreiben und erzählen sollte. Don’t worry, ich werde das auch nicht tun, denn so lässt sich dieser Beitrag hier sowohl vor als auch nach dem Film bedenkenlos lesen. Was ich erwähnen kann: Der Kick an der Sache liegt im ausgeklügelten Hinauszögern an Informationen, im Zurückhalten wichtiger Wendungen und auch der Geduld, dieses Zögern durchzuhalten. Vielleicht lässt sich Strange Darling ein bisschen mit dem Roadmovie-Albtraum Hitcher – Der Highwaykiller vergleichen. Vielleicht auch nicht. Zumindest aber kam er mir in den Sinn. Und natürlich kommt einem auch Tarantino in den Sinn, denn dieser Mann zählt zu den großen Avantgardisten – was dieser an Stilideen nicht schon alles auf den Weg gebracht hat, damit andere diese variieren können, nimmt zumindest die Hälfte neuzeitlicher Filmchroniken ein. Bei Pulp Fiction pfiff dieser auf chronologische Akuratesse und etablierte das nonlineare Erzählen bei einer weitgehend durchgehenden Handlung, wenngleich das Episodenhafte noch viel stärker in den Vordergrund tritt als bei Strange Darling, bei welchem die Kontinuität einen Filmdreh wie aus einem Guss voraussetzt. Mollner setzt dabei fünf scharfe Schnitte, wirbelt diese aber nicht willkürlich durcheinander, sondern wohlüberlegt. Im Kopf ordnen sich die Fragmente sowieso in die richtige Reihenfolge, das macht das Hirn ganz von allein. Diese Fähigkeit nutzt Mollner auf irrwitzige Weise. Durch diese Methode konterkariert er die Wahrnehmung von Opfer sowie Täter, von Macht und Ohnmacht, Schwäche und Stärke. Angereichert mit perfiden, aber passgenauen Gewaltspitzen und einer Hauptdarstellerin in Höchstform, entwickelt sich Strange Darling zu einem pfiffigen Meta-Thriller, der sich Zeit lässt und dem die Laune am Spiel mit den Konventionen in jeder Szene anzumerken ist.

Man könnte das nonlineare Experiment sogar noch weiterführen. Nach Harald Zettler vom Online-Filmmagazin uncut.at könnten sich die Kapitel eines Films, wenn man es denn hinbekommt, jedes Mal neu ordnen. Was da herauskäme, wäre erfahrenswert. Jedenfalls ein sich ständig veränderndes Erzählen. Strange Darling macht schon mal den Anfang.

Strange Darling (2023)