Anemone (2025)

EIN FILM ÜBER WOLKEN

6/10


© 2025 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: RONAN DAY-LEWIS

DREHBUCH: RONAN DAY-LEWIS, DANIEL DAY-LEWIS

KAMERA: BEN FORDESMAN

CAST: DANIEL DAY-LEWIS, SEAN BEAN, SAMANTHA MORTON, SAMUEL BOTTOMLEY, SAFIA OAKLEY-GREEN, ADAM FOGERTY, KARL CAM, MATTY LUMSDEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Der König des Method Actings ist zurück: Daniel Day-Lewis. Was ihn wohl bewogen hat, wieder vor die Kamera zu treten? Natürlich der eigene Sohnemann, Ronan Day-Lewis, der angesichts dieses vielfach oscarprämierten Einflusses gar nicht anders kann, als nicht im Filmbiz seine berufliche Zukunft zu verorten. Nach Kurzfilmen und einem Musikvideo geht der Mittdreißiger nun seinen ersten abendfüllenden Spielfilm an, in den er alles mögliche hineinsteckt, was auch nur irgendwie dramatisches Gewicht hat. Wer könnte das alles nicht besser stemmen als der eigene erfahrene Schauspielvater, der sich vielleicht sogar hat lange bitten lassen, sogar vom Nachwuchs. Doch nun ist es geschafft, die Hürde genommen, Day-Lewis ist wieder da, mit grauem Haar, partiellem Vollbart und argwöhnischem Blick. Der Vater spielt einen Vater, doch einen, der den eigenen Sohn gar nicht mal kennt. Day-Lewis Senior und Junior haben dieses Projekt gemeinsam durchgezogen, zumindest das Drehbuch, während Freund Brad Pitt mit seiner Firma Plan B das Ganze produziert hat. Anemone nennt sich dieses düstere Wetterpanorama von Psychodrama, in dem sich die Wolken türmen und alles andere erdrücken.

Der Papa wird’s schon richten?

Zugegeben, einem Wetter wie diesem hier im Film kann ich einiges abgewinnen, ist gefühlt zehntausendmal besser als blauer Himmel. Der Sturm knechtet den düsteren, feuchtnassen Wald irgendwo im Norden Englands, regenschwere Drohkulissen schieben sich übers Meer, die Witterung nimmt die gepeinigte Seele eines Aussteigers in die Mangel, der, fernab der Zivilisation in der Wildnis sein restliches Dasein fristet. Dieser knorrige und grimmige Mann ist Ray – eine dankbare Rolle für Day-Lewis, mit der er improvisieren kann wie es ihm gefällt. Alles hat er hinter sich gelassen: den nordirischen Krieg gegen die IRA, ein ihm angelastetes Kriegsverbrechen, die Desertierung aus dem Militär, die Partnerin, den Sohn, das ganze bisherige Leben. Als ob die Verfolgung durch all die Dämonen nicht reicht, steht eines natürlich düsteren Tages Bruder Jem (Sean Bean) vor der Tür. Ebenso wortkarg, ebenso skeptisch, und vielleicht gar viel zu viel fordernd. Denn Rays unbekannter Sohn steckt in einer Krise. Niemanden dringender würde er nun an seiner Seite brauchen als den eigenen Vater. Tja, warum auch immer. Doch womöglich sind es ähnliche Dämonen, die Stoker Junior verfolgen wie die, die dem Senior Albträume bescheren.

Reden wir nicht übers Wetter

Betrachtet man Anemone aus einiger Entfernung, schrumpft das auf Spielfilmlänge gedehnte, bitterernste und kantige Superdrama, das sich mit dunklen, schweren, gesättigten Bildern schmückt, von denen man am liebsten kosten möchte und jeden Moment darauf wartet, dass der Regen von der Leinwand tröpfelt, auf eine Momentaufnahme zusammen. Viel Handlung hat Ronan Day-Lewis‘ Film daher keine. Wettgemacht wird der Umstand durch Kontemplation und Entschleunigung – und Wolken. Ganz vielen Wolken. Das Wetter ist in Anemone das Um und Auf, entspricht es doch den Gefühlszuständen eines ganze seitenlange Textblöcke rezitierenden Daniel Day-Lewis, der sowas womöglich schon immer machen wollte: Reden, reden, reden. Und er redet, redet, redet, anfangs zwar nicht, aber dann sprudelt es aus ihm heraus. Was man so hört, sind keine schönen Sachen, sie handeln von Missbrauch und Gnadenschüssen, von ewiger Reue und einem gequälten Gewissen. Sean Bean hört zu, bekümmert und mitfühlend. Beide halten ihre Gesichter in das Zwielicht des Tages, zerfurcht, verbraucht, versteinert.

Entspannung durch Niederschlag

Ronan Day-Lewis hatte für seinen ersten Langfilm ganz sicherlich eine Vision. Sein Handwerk versteht er, vor allem dann, wenn die schwer vom Fleck kommende Story mit dem Mysteriösen, Metaphysischen, Allegorischen kokettiert. Schöne Bilder sind da, abgelöst von einem irren Naturschauspiel, in dem es zum Glück keine Frösche regnet wie in Magnolia. Dann endlich entlädt sich die ganze aufgestaute, gravitative Energie, um einen wie ein Tornado um sich selbst kreisenden reumutigen Daniel Day-Lewis zurück auf den Boden eines kollektiven Neuanfangs zu bringen. Anemone ist wagnerische Katharsis und Schauspielvehikel für einen gern gesehenen Wiederkehrer, sich selbst aber immer wieder erdrückend und manchmal scheint es, als würde man keine Luft holen können.

Anemone (2025)

Sentimental Value (2025)

FAMILIE SPIELT EINE ROLLE

8/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEl: AFFEKSJONSVERDI

LAND / JAHR: NORWEGEN, DÄNEMARK, SCHWEDEN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2025

REGIE: JOACHIM TRIER

DREHBUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

KAMERA: KASPER TUXEN

CAST: RENATE REINSVE, STELLAN SKARSGÅRD, ELLE FANNING, INGA IBSDOTTER LILEAAS, CORY MICHAEL SMITH, CATHERINE COHEN, ASH SMITH, JESPER CHRISTENSEN, JONAS JACOBSEN, ANDERS DANIELSEN LIE U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Durchs Reden kommen die Leute zusammen, heisst es so schön. Das ist, so weiß die skandinavische Filmwelt, der bessere Weg, um mit sich und den anderen ins Reine zu kommen. Das Ungesagte blieb bei Ingmar Bergman auf weltvernichtende Weise als unüberbrückbarer Graben eine seelenlandschaftliche topografische Grenzmarkierung, bevölkert von den Gespenstern der eigenen Ängste und Wahrnehmungen – mittlerweile jedoch, im Zeitalter der nicht nur analogen Interaktion, ist die verbale Auseinandersetzung wieder hochinteressant. Und schließlich wissen vor allem die Norweger, wie sie es anstellen, mit ihresgleichen ins Gespräch zu kommen, ohne leere Phrasen zu dreschen oder die stilistischen Must Have-Parameter eines Genres zu bedienen.

Der Norden feiert das Gespräch

Joachim Trier ist einer von denen, die mit der Hand auf den Tisch hauen, wenn es ums Zuhören geht. Damit aber ist er nicht alleine. Womöglich inspiriert durch Triers Der schlimmste Mensch der Welt, machte diesjährig Triers Landsmann Dag Johan Haugerud auf sich aufmerksam – seine Oslo-Trilogie über Beziehungen, Liebe und der dabei neu ins Licht gerückten Identität von Menschen, die, obwohl man sie nicht kennt, einem selbst plötzlich nahestehen, hat den Richtwert für den Dialogfilm neu gesetzt. Haugeruds Arbeiten sind aber deutlich radikaler als jene von Joachim Trier, vielleicht, weil sie ihre Handlung vollständig ins Gespräch betten und man den Film, sofern im Original, fast schon mehr liest als ansieht. Das hindert das Publikum, oder zumindest mich, nicht daran, ordentlich viel Diskussionsstoff mitgenommen zu haben, der nachhaltig die Gemüter erhitzt.

Die omnipräsente Abwesenheit des Vaters

Joachim Trier strebt in seinem bei den Filmfestspielen von Cannes voraufgeführten neuen Film Sentimental Value aber nicht Haugeruds Purismus an, sondern verschafft sich mit federnden narrativen Schritten Zugang in eine familiengeschichtsträchtige Immobilie, die in ihrer ruhenden, statischen, beobachtenden Gleichgültigkeit wie ein Schwamm Tragödien und Dramen einer seit jeher gebeutelten Familie durch den Verputz gesaugt hat. In den Grundfesten bleiben diese Erinnerungen omnipräsent – sie schüren die Enttäuschung von Theaterschauspielerin Nora, deren übermächtig wirkender Vater das Weite gesucht hat, während sie selbst und ihre Schwester in ihrer Kindheit niemanden dringender gebraucht hätten als ihn. Dieser Vater, eine Figur, inspiriert von den großen skandinavischen Bühnendramen eines Ibsen oder Strindberg, ist längst ein Regiegott des Kinos, dem man mittlerweile Retrospektiven gönnt und der die Aufmerksamkeit junger Starlets genießt, die gerne mit ihm arbeiten wollen. Im Zuge des Begräbnisses von Noras Mutter muss auch der Verschollene wieder seine Präsenz zeigen und nutzt diese Begegnung gleich, um seine Älteste dazu zu überreden, in seinem nächsten Film mitzuwirken – als Hauptfigur, als Star, sei doch dieses Drehbuch für sie verfasst. Und das, obwohl es, wie er beteuert, keinerlei autobiografischen Bezug hat. Wer‘s glaubt. Nora stellt sich quer, will von Papa nicht viel wissen, nur vielleicht, warum er sie und ihre Schwester verlassen hat. Die Antworten schuldig bleibend, versucht sich Regiestar Gustav Borg mit einer alternativen Besetzung zu trösten – der weltberühmten Schauspielerin Rachel Kemp, gespielt von Elle Fanning, die in diesem familiären Reigen aus Emotionen wie ein Fremdkörper wirkt, der nichts zu suchen hat in dieser sehr privaten Angelegenheit, die in der Aufarbeitung dysfunktionaler Umstände offene Wunden versorgt, die sonst niemanden etwas angehen.

Familie als Rollenspiel

Joachim Trier hat dafür wieder auf Renate Reinsve zurückgegriffen, mit der er bereits Der schlimmste Mensch der Welt gedreht hat. Ihr gegenüber: ein Kapazunder wie Stellan Skarsgård, dominant, erkenntnisgewinnend, müde vom Ruhm, doch dem Drang des Filmemachens ausgeliefert, das nun zur Projektionsfläche seiner eigenen Fehler wird. Dreh und Angelpunkt ist dabei dieses Haus, darin das Reflektieren von Erinnerungen und emotional, aber nicht bewusst Erlebtem – die Tragik eines Suizid, der Zusammenbruch eines familiären Gefüges. Viel Thema, viel Stoff, doch Trier setzt zu Beginn bereits die Aufdröselung eines Knotens an, der alle willenlos miteinander verstrickt, bis das Instrument des Films die Entwirrung schafft, bis die Kunst der kollateral am wenigsten zunichte machende Weg scheint, um ein unentschuldbares Drama verstehen zu können.

Sentimental Value bändigt diesen Wulst an Unverarbeitetem ohne Stillstand, ohne Ratlosigkeit, Triers Ensemble zieht die Sache durch, hält sich dabei nicht mit redundanten Leerläufen auf, sondern entwickelt ein gestochen scharfes, tief in die Vergangenheit reichendes Vater-Tochter-Drama, das den Dialog so beherrscht wie Haugerud, dabei aber auch die Kunst der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem anderen feiert, dem Übermächtigen, Verkrusteten. Familie ist hierbei nicht das Offensichtliche, das sich verurteilen oder feiern lässt, sondern auch das längst nicht Reflektierte.

Sentimental Value (2025)

Miroirs No. 3 (2025)

DIE LEBENDEN LOSLASSEN

7,5/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN PETZOLD

KAMERA: HANS FROMM

CAST: PAULA BEER, BARBARA AUER, MATTHIAS BRANDT, ENNO TREBS U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Miroirs No. 3 – ohne nachzuforschen, könnte man mit diesem Filmtitel, der wohl zu den rätselhaftesten dieses Jahres zählt, überhaupt nichts anfangen. Was soll der bedeuten? Und würden jene, die der französischen Sprache nicht mächtig sind, vielleicht gar vermuten, das englische Wort für Mirrors wäre einfach nur absichtlich falsch geschrieben, wie bei Inglourious Basterds? Nein, alles nicht so wie vermutet. Miroirs No. 3 bezieht sich auf ein Klavierstück von Maurice Ravel, stammt aus einer Reihe von Werken aus einer mit „Spiegelbilder“ betitelten Klammer und nennt sich, übersetzt, Ein Boot auf dem Ozean. Liest man die ausführlichen Interviews mit Christian Petzold, einem Vertreter der filmischen Sachlichkeit, auch Berliner Schule genannt, wird seiner Interpretation nach dieses Boot zum Symbol für eine „gekenterte“ Familie, deren Individuen, umherdriftend auf einer unkontrollierbaren Wassermasse, wieder zueinanderfinden müssen. Andererseits aber könnte sich dieses Spiegelbild, ungeachtet des Bootes, einfach auf Paula Beer beziehen, Petzolds Muse, die schon seit Transit an seiner Seite weilt. Sie ist im übertragenen Sinn in Miroirs No. 3 gleichsam lebendig als auch tot, ein mysteriöser Ausnahmezustand von Mensch, mit der Tür ins Haus fallend und für jemanden wie Barbara Auer, die hier allerdings, auch wenn Paula Beer am Filmplakat prangt, den Blickwinkel vorgibt.

Die Instanz des Unvorhergesehenen

Petzolds Arbeiten sind stets intuitive Schicksalssymphonien, jedoch keine, die mit Pauken und Trompeten den Zufall bemühen, sondern klaviergeklimpernd, melodisch, dem Rhythmus des Schauspiels untergeben. Das Schicksal aber wirkt wie eine Entität, wie eine Entscheidungsmacht, die jedoch nicht als etwas Göttliches zu verstehen ist, sondern mehr dem Natürlichen verhaftet ist, das durch ein nicht näher begreifbares inhärentes Bewusstsein den Gestrauchelten etwas in die Hand gibt, dass sie entweder als nutzbar erkennen können oder gar nicht. In Miroirs No. 3 fällt dieser Wink des Schicksals oder das Ergebnis einer herausfordernden Koinzidenz in den Schoß von Betty, die Zeuge eines Autounfalls mit Todesfolge wird. Allerdings: Es saßen zwei Personen in diesem Cabriolet, eine davon ist Laura, die den Unfall ohne größere Beeinträchtigungen überlebt und in die Obhut von Betty gelangt, auf eigenen Wunsch hin. Wir wissen vorher bereits: Laura scheint mit den Dingen in ihrem Leben nicht mehr glücklich gewesen zu sein, weder mit ihrem Freund, noch mit diesem Ausflug an diesem schicksalsträchtigen Tag, der vieles verändern wird.

Die Poesie der Berliner Schule

Petzold schickt seine Figuren so gut wie ohne Vergangenheit in sein rätselhaftes Spiel, nur langsam legt er Krümel aus, die zu einer Erkenntnis führen, welche die Parameter für eine eigenwillige Konstellation neu justiert. Die Berliner Schule mag, sehr gut erkennbar auch in den Arbeiten von Thomas Arslan, Charakterliches und Erzähltes vorwiegend andeuten und vieles dem Betrachter überlassen, inmitten einer unverfälschten akustischen wie sensorischen Beobachtung eines wie auch immer gearteten Alltags. Wie schon bei Undine oder Roter Himmel vermengt Petzold auch hier wieder jenen Stil mit der von ihm so akkurat eingewobenen Metaphysik, die nur ganz zart oszilliert und etwas nur intuitiv wahrzunehmendes Märchenhaftes mit sich bringt. Diese Märchen sind aber nicht lieblicher Natur, sie sind geerdet und greifbar, progressieren allein durch zwischenmenschliche Interaktion und dem Beisein einer vielleicht gar nur scheinbar höheren Ebene. Man merkt, wie Petzold seinem Ensemble die Freiheit lässt, zu empfinden und nicht die Anweisungen des Regisseurs, sondern auch sich selbst einzubringen.

Am Ende ganz anders

Ursprünglich hätte Petzold gar ein anderes Ende vorgesehen gehabt  – zum Glück hat er es sich anders überlegt, denn auf diese Weise gerät die psychologische Suspense alles andere als banal. Vom Loslassen der Lebenden als Heilmittel gegen Verlust und Trauer erzählt Miroirs No. 3, vom ungeplanten Trost der anderen, um die Akzeptanz eines Schicksals und letztlich dem Zueinanderfinden nach dem Schiffbruch auf der instabilen Ebene des Ungeplanten. Ein feines Stück deutsches Gefühlskino.

Miroirs No. 3 (2025)

22 Bahnen (2025)

DIE ZUVERSICHT LIEGT IM SAFE SPACE

7/10


© 2025 Constantin Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: MIA MAARIEL MEYER

DREHBUCH: ELENA HELL, CAROLINE WAHL

KAMERA: TIM KUHN

CAST: LUNA WEDLER, ZOË BAIER, LAURA TONKE, JANNIS NIEWÖHNER, SABRINA SCHIEDER, LUIS PINTSCH, ERCAN KARACAYLI, BERKE CETIN, EDITH KONRATH U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Der deutsche Film kann mit Genrekino nur bedingt etwas anfangen. Ausreißer gibt es immer, natürlich, doch meist ist es die lebensweise Tragikomödie mit viel Problemewälzen und dem Suchen nach einem Sinn im Leben. Die Schicksalsschläge sind meist erschütternd, es bleibt keine Auge trocken. Bestes Beispiel aus der jüngsten Filmgeschichte: Zikaden von Ina Weisse. Nina Hoss und Saskia Rosendahl übertrumpfen sich dabei gegenseitig, wer hier nicht das schwerere Los gezogen hat. Beide zusammen nehmen die gesamte bedrückende Schwere des deutschen Gegenwartkinos mit sich, auch wenn die Sommersonne hell vom Himmel brennt. Zu viel der Bedeutung, zuviel der Lebensberatung, zu nah an der Realität. Aber schön, dass die Deutsche Filmförderung gerade bei solchen Filmen ordentlich Budget springen lässt, andererseits lässt sich der Hang zum ewig ähnlichen Betroffenheitskino gar nicht erklären.

Mit geordneten Bahnen gegen das Chaos

Wie gerufen kommt da natürlich Caroline Wahl und ihr geschmeidiger Sozialrealismus, der sich mit Sicherheit ausgesucht und gleichermaßen gefällig liest. Bestseller sind das, die funktionieren auf der Leinwand natürlich genauso, ganz besonders mit Publikumslieblingen, die erst vor Kurzem schon auf der Leinwand zu sehen waren, um gelernte Gesichter nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Eines muss ich dabei zugeben: Luna Wedler ist ein Gesicht, das vergisst man ohnehin nicht, auch wenn sie im Kino länger abstinent war, was letztlich nicht der Fall ist. Letztes Jahr noch im Marianengraben unterwegs, wird ihr das nasse Element schon noch vertraut sein, wenn diesjährig alles in geordneten Bahnen laufen soll. Es sind dieser nämlich 22, die ihre Filmfigur Tilda wenn möglich täglich schwimmen möchte – im sommerlichen Freibad, zu einer Uhrzeit, zu welcher noch nicht die halbe Schule das Planschen zelebriert, denn schließlich stehen die Ferien an, was dazu führt, das die um einiges jüngere Schwester Ida deutlich viel mehr Zeit im Dunstkreis der ewig besoffenen Mutter verbringen muss. Diese ist schließlich wie einst Harald Juhnke schwere Alkoholikerin, was sie selbst natürlich nicht so sieht. Männer wechselt sie wie Unterwäschen, die mütterliche Aufsicht wird tunlichst ignoriert und wenn es mal soweit kommt, und Mama schürt das Feuer am Dach, folgt das Entschuldigungsfrühstück auf dem Fuß. Tilda und Ida glauben längst nicht mehr dran, dass die Erwachsene in ihrem Haus noch irgendwann die Kurve kriegt. Also müssen sie sich zusammentun, sind gemeinsam das Ganze, und jede die Hälfte. Schöne Worte, die man gleich zu Beginn des Filmes hört. Und man folgt den Gedankengängen von Luna Wedler noch weiter, was beruhigend wirkt, einnehmend und sympathisch.

Das Problem dominiert nicht die Person

Sicherlich packt Regisseurin Mia Maariel Meyer auch hier eine ganze Bandbreite an Problemen aus, von Trauer und Verlust über Alkoholismus bis zum Fall für die Jugendfürsorge. Ganz schön belastend all das, und in Wahrheit will diese schweren Umstände niemand wirklich sehen, sind sie doch zu real, allgegenwärtig und alles andere als eskapistisch. Die andere Seite ist allerdings: Wahls Roman hat zwar all diese Schwierigkeiten zu bewältigen, beschäftigt sich aber viel lieber um ganze Charakterstudien als um das Hinbiegen von Missständen und Traumata. Vergleichbar ist 22 Bahnen mit dem intensiven Psychodrama Wenn das Licht zerbricht von Rúnar Rúnarsson, in welchem eine junge Frau den Tod ihres geliebten Menschen auf ungewöhnliche Weise verarbeiten muss. Dort liegt der Reiz des Films in der psychologischen Betrachtung einer ganzen Persönlichkeit, die sich in der Bewältigung eines Schicksals festigt. Wunderschön daher auch die zart skizzierte Beziehung zwischen einer atemberaubend authentischen und unprätentiösen  Luna Wedler und Jannis Niewöhner.

Dass Wedler heuer in Venedig den Marcello Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin für Stille Freundin mitnehmen konnte, ist mehr als verdient, gilt der doch auch irgendwie stellvertretend für ihr bisheriges Schaffen. Nicht zu übersehen in dieser Selbstfindung, die vom Safe Space eines jeden Menschen erzählt und davon, Veantwortung zu reflektieren, ist Jungstar Zoë Baier. Alle vier, einschließlich Laura Tonke, schaffen stimmungsvolles Schauspielkino mit Sinn für Menschenkenntnis.

22 Bahnen (2025)

Wenn der Herbst naht (2024)

DIE MORAL DER SÜNDIGEN TAT

7,5/10


© 2025 Weltkino


ORIGINALTITEL: QUAND VIENT L’AUTOMNE

LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: FRANÇOIS OZON

DREHBUCH: FRANÇOIS OZON, PHILIPPE PIAZZO

KAMERA: JÉROME ALMÉRAS

CAST: HÉLÈNE VINCENT, JOSIANE BALASKO, LUDIVINE SAGNIER, PIERRE LOTTIN, GARLAN ERLOS, MARIE-LAURENCE TARTAS U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Endlich kein Sommer mehr – obwohl, das muss ich sagen, dieser gerade so ausfiel, als wäre er meinetwegen einige Kompromisse eingegangen. Natürlich Unsinn, Sommer muss auch sein, keine Frage, doch wie in so vielen Fällen ist die Betrachtung dieser Umstände, dass es nun kühl und windig und verregnet ist, eine, die ambivalente Emotionen erzeugt. Der goldene Herbst ist derzeit nicht greifbar, der düstere, trübe allerdings schon. Und beides ist dennoch Herbst in seiner reinsten Form. Schön, wenn man etwas nicht so genau bestimmen kann, davon könnte sich die Moral ein Stückchen abschneiden. Was ist rechtschaffen, was ist niederträchtig oder gar sündig?

Von Pilzen bekommt man Bauchweh

In diesem breiten Spektrum ist für François Ozon die Jahreszeit natürlich als meteorologisches Sinnbild für eine Zwischenwelt schlechthin zu finden – äußerlich wie auch im Inneren eines Menschen, diesmal insbesondere in der Psyche einer älteren Dame namens Michelle, die im wunderschön herbstlichen Burgund ihren Lebensabend verbringt. In Rufweite ihre beste Freundin Marie-Claude (Josiane Balasko), und der geliebte Enkel wird auch bald in die traute Provinz hineinschneien, schließlich sind Herbstferien und beide sind schon seit jeher auf einer Wellenlänge. Anders verhält es sich mit Tochter Valérie (Ludivine Sagnier). Vom Bruch, den die beiden nicht überwinden können, erfährt man anfangs reichlich wenig – ein Grund mehr, um diese ganze familiäre Konstellation in ein schwer deutbares Licht zu rücken, das wie eine tiefstehende Sonne eine nicht unbedingt eiskalte Dunkelheit ankündigt. Erahnen lässt sich hier schon etwas, doch die herbstliche Diffusität lässt keine klaren Verhältnisse zu. Gut so – Ozon, der auch das ausgeklügelte Drehbuch schrieb, gönnt sich, um den Stein ins Rollen zu bringen, den Verdacht eines vielleicht gar vorsätzlichen Mordanschlags, als das Pilzgericht von Oma nicht jedem bekommt – in diesem Fall ausschließlich Tochter Valérie. Natürlich ein Versehen, beteuert die Dame, ihre Verzweiflung ob der unglücklichen kulinarischen Verwechslung wirkt durchaus ehrlich. Zurück aus dem Spital, reist die Tochter, ohnehin schon distanziert, diesmal erbost ab – ihren Sohn im Schlepptau, der aber noch bleiben will. Gar nicht gut für Michelle, ihre Freundin steht ihr bei. Diese wiederum hat einen Sohn, gerade frisch aus dem Knast entlassen, der seit jeher mit Michelles Familie verbunden ist und den Unfrieden ein für alle Mal klären will.

Das Böse meint es gut

Wenn der Herbst naht spinnt ein taufrisches, beängstigend kaltes wie auch nachmittagwarmes Geflecht an Schicksalsfäden, die ineinanderlaufen und niemals lose enden. Während viele Figuren in diesem sensenschwingenden Theater des melancholischen Untergangs ganz klar ihre Ambitionen darlegen, bleibt die innere Welt von Oma Michelle, herrlich undurchschaubar dargeboten von Hélène Vincent, der man im Grunde überhaupt gar nichts oder ungefähr so wenig vorwerfen kann wie Miss Marple, moralisches Moorgebiet. Nichts weiß man jemals genau, und dennoch ist die subversive Metaebene dieser ausgesuchten französischen Suspense eine, die Schwarz und Weiß niemals vorsieht. Das Niederträchtige, ich will gar nicht sagen Böse, meint es gut, das Gute sucht sich den harmvollen Weg der zumindest psychischen Gewalt. Die Frage bleibt dabei – und nimmt die Antwort eingangs mit der Rezitation aus dem Neuen Testament rund um Maria Magdalena bereits vorweg: Wo beginnt der gute Mensch und wo endet er? Oder: Wie viel Gewicht hat die Sünde, und wann ist Amoral jemals durch andere definierbar, außer durch einen selbst?

Auch wenn Ozons meisterlich durchdachter Schicksalsreigen auf laubraschelnden Schritten daherkommt, ist dessen innerstes Wesen ein hochgradig provokantes und zum Nachdenken anregendes. Sozialphilosophisch lässt sich einige Male darüber diskutieren, und genauso wie der Herbst, der niemals nur so ist, wie er scheint, mag auch dieses komplexe Werk in all seiner formalen Schönheit letztlich als schummernde, aber in sich ruhende Grauzone wahrgenommen werden.

Wenn der Herbst naht (2024)

Conjuring 4: Das letzte Kapitel (2025)

THE REAL GHOSTBUSTERS

7/10


© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved


ORIGINALTITEL: THE CONJURING: LAST RITES

LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: MICHAEL CHAVES

DREHBUCH: DAVID LESLIE JOHNSON-MCGOLDRICK, IAN GOLDBERG, RICHARD NAING

KAMERA: ELI BORN

CAST: PATRICK WILSON, VERA FARMIGA, MIA TOMLINSON, BEN HARDY, REBECCA CALDER, ELLIOT COWAN, KÍLA LORD CASSIDY, BEAU GADSDON, PETER WIGHT, STEVE COULTER, SHANNON KOOK U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Who You Gonna Call? Natürlich die… na?… Ghostbusters! Wen denn sonst? Nur: Wer sind sie, diese Geisterjäger? In der Pop-Kultur fest verankert stehen Venkman, Stanz, Spengler und Zeddemore vor Dämonen und Gruselgeschöpfen aller Art, bewaffnet mit Energiekanonen, die den bösen Metawesen gefälligst das Ektoplasma aus den Windungen saugen sollen. So richtig cool ist in den Achtzigerjahren, genau genommen zwei Jahre später, nachdem Ivan Reitman seinen Blockbuster auf die Welt losließ, das Ehepaar Warren leider nicht. Selbst im Film kommen sie nicht umhin, sich diesem Vergleich stellen zu müssen. Dabei sind sie die echten, die wahren, die wirklichen Ghostbusters. Lorraine, ausgestattet mit dem sechsten Sinn, spürt schon seit den Sechzigerjahren das Paranormale in so manchen alten Mauern auf, erkennt das manifestierte Böse in Artefakten aller Art, wären es nun Puppen, Ethnografika oder Möbel. An ihrer Seite der gute alte Ed, investigativ ein As, allerdings, im Laufe der Jahrzehnte, immer mal wieder mit Herzproblemen kämpfend. Die beiden müssen sich wohl oder übel damit abfinden, dass vier knackige Kerle die Oberhand gewonnen haben, auch wenn das alles nur Geschichten sind. Im echten Leben muss die linke Hand aber nicht unbedingt wissen, was die rechte tut, also seis drum. Die beiden tun das für den guten Zweck, doch irgendwann ist überall die Luft draußen, und die geisterfreie Pension winkt bereits mit weißen Laken.

Es bleibt in der Familie

Man kann schon erahnen, dass die Mission der Familie Warren, eine Ordnung in das Dies- und Jenseits zu bringen, mit diesen beiden nicht enden wird. Tochter Judy ist erwachsen, ist verlobt und scheint mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Auch sie hat den Code geknackt, wie man den sechsten Sinn nutzt, und seit jeher quälen Erinnerungen an Annabelle die junge Frau mit Visionen, die schlecht schlafen lassen. Ein letztes Mal noch werden die betagten Eltern zu Hilfe gerufen, nachdem ihr guter Freund, Pater Gordon, bei der Lösung eines kniffligen Falles – auch der beruht angeblich auf Tatsachen – das Zeitliche segnet. Wegschauen geht da nicht mehr, während das Hinsehen verstört. Denn auch diesmal wieder schenkt Michael Chaves seinen Fans durchaus gruselige Individuen, die jede Geisterbahn behübschen und mit begleitendem Sounddesign sein Publikum aus den Sitzen heben.

Horror auf der großen Leinwand

Interessant dabei war, zu beobachten, wie der Horror im Kino anders wirkt als daheim auf dem Flatscreen – die vorangegangenen Conjuring-Teile genoss ich in den vertrauten vier Wänden, immer auf Abstand, die Hand an der Remote Control. Im Kino ist man mehr oder weniger ausgeliefert, und muss nehmen, was kommt, in gleichbleibender Intensität und überdimensioniert. Natürlich wird der Effekt zum großen Meister, der Schrecken zum Erlebnis, und so manches Popcorn fällt aus der Tüte. Dabei ist Conjuring 4: Das letzte Kapitel zum Glück für mich, der das Genre des Horrorfilms erst vor Kurzem erst entdeckt hat, nicht die härteste Kost. Am Ende der Reise, die Vera Farmiga und Patrick Wilson in ausgesuchtem Engagement und Liebe zu ihren Rollen bezwungen haben, setzt Chaves auf viel familiäre Identität; er setzt auf Abschied, Neuanfang und dem Umgang mit der Angst, die schließlich zum Leben gehört. Conjuring 4: Das letzte Kapitel wird durchaus zum großen Drama, wird am Ende geradezu spektakulär auf eine Weise, wie man es aus dem Conjuring-Universum gewohnt ist. Der menschliche Faktor, die integren Helden in einer Welt, die gerne True Storys erzählt, mit denen man sich wohlig gegruselt schlafen legt, bieten genug Identifikationsfläche, um sich fallen zu lassen in diesen dämonischen Strudel, denn man kann gewiss sein, dass das Gute obsiegen wird. Da bleiben grinsende alte Omas und axtschwingende Massenmörder die schaurigen Gestalten einer Bühne, während die Warrens zwar immer an ihre Grenzen gehen, jedoch so viel Ideal besitzen, um scheinbar auf ewig weiterkämpfen zu können.

Mit diesen Parametern lässt sich der melodramatische Horror in jedem Fall genießen, und in den letzten Minuten beschleicht einen gar ein bisschen Wehmut, wenn der Vorhang fällt und das letzte Rumoren und Flüstern im Gebälk verstummt. Vielleicht macht es sich ja auch nur bereit, um die nächste Generation zur Séance zu bitten.

Conjuring 4: Das letzte Kapitel (2025)

Night Always Comes (2025)

BARGELDLOS DURCH DIE NACHT

5/10


© 2025 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: BENJAMIN CARON

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON WILLY VLAUTIN

KAMERA: DAMIÁN GARCÍA

CAST: VANESSA KIRBY, JENNIFER JASON LEIGH, ZACK GOTTSAGEN, RANDALL PARK, STEPHAN JAMES, JULIA FOX, MICHAEL KELLY, ELI ROTH U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Neben dem omnipräsenten Pedro Pascal ist wohl Vanessa Kirby spätestens seit ihrer Oscar-Nominierung für Pieces of a Woman in gefühlt jeder zweiten Filmproduktion dabei. Gerade eben durfte sie als Sue Storm den wasweißichwievielten Versuch, die integren Fantastischen Vier endlich mal erfolgreich auf die Leinwand zu bringen, tatkräftig unterstützen. Zwischendurch widmet sich die gebürtige Londonerin aber nach wie vor dem Arthouse-Film und produziert auch gerne selbst das eine oder andere Projekt – ganz besonders schien ihr die Verfilmung des Romans Night Always Comes von Willy Vlautin am Herzen gelegen zu haben, der eine Frauenfigur in den Fokus rückt, die ambivalent genug ist, um sie schauspielerisch ordentlich auszufüllen. Nichts eindimensionales, sondern facettenreich und mit einer ordentlichen Portion Verzweiflung, denn ohne diese würde Night Always Comes gar nicht erst mal in die Gänge kommen. Prämisse ist also eine ausweglose Situation, und wie in den meisten ausweglosen Situationen, wenn es sich dabei nicht um eine Krankheizt oder einen Survival-Unfall handelt, geht es folglich um den Mammon. Dieses ist nicht da, oder besser gesagt: wäre da, wenn Mutter Jennifer Jason Leigh nicht das notwendige Kleingeld für einen Neuwagen verprassen würde, das eigentlich dafür bestimmt war, die familiäre Immobilie zu sichern. Schließlich ist auch noch der nach besonderen Bedürfnissen verlangende Bruder Kenny mit von der Partie, der rund um die Uhr Betreuung braucht.

Dass die ganze Familie auf der Straße steht, ist ein No-Go. Und Lynette, so die Rolle der verzweifelten jungen Frau, die eine zwielichtige Vergangenheit mit sich herumschleppt, muss binnen einer Nacht ein ganz schönes Sümmchen auftreiben, damit das Undenkbare nicht passiert. Wie sie das macht, hätte ich dieser Person gar nicht zugetraut. Und auch während sie versucht, mit dem Mut der Verzweiflung sogar in die kriminelle Düsternis Portlands einzutauchen und so einige Straftaten zu begehen, natürlich alles für den guten Zweck: Kirby ist all das nicht zu glauben. Vielleicht liegt es an dieser Sanftmütigkeit, mit der sie ihre Rolle untermauert. Die dunklen Jahre minderjähriger Prostitution und Abhängigkeit hinterlassen im Charakterbild Kirbys keine Spuren, letztlich fehlt es an der notwendigen Portion Zynismus, um zu glauben, was man sieht. Ähnlich vage bleibt Jennifer Jason Leigh als dem Schicksal die kalte Schulter zeigende Zynikerin, die keine Vorstellung von einer grimmigen Zukunft hat. Einerseits wirkt sie versoffen, dann wieder völlig resignierend wie jemand, der im White Trash-Milieu nichts mehr zu verlieren hat – was aber nicht den Tatsachen entspricht. Wohin Benjamin Caron (u. a. Sharper mit Julianne Moore) seine Familie positioniert, mag diffuses Terrain sein. Einzig Zach Gottsagen, der Schauspieler mit dem Down-Syndrom, der schon an der Seite von Shia LaBeouf in The Peanut Butter Falcon brilliert hat, wirkt wie ein stoischer Fels in der Brandung, der von allen Beteiligten, obwohl orientierungslos, noch die beste Orientierung hat.

Zu sehr gefällt sich Kirby in der Rolle der Verzweifelten, im nachtschwarzen Milieu zwischen Drogen, Geldraub und längst nicht verjährter Traumata. Sie selbst hat sich von Arbeiten wie Good Time der Gebrüder Safdie und dem deutschen One-Shot Victoria inspirieren lassen – beiden Filmen fehlt aber das Gemächliche, die bausteinartige Struktur, die dem Chaos einer Nacht zuwiderläuft. Kirbys Erlebnisse greifen nicht ineinander, sondern folgen nacheinander, Virtuosität weicht gefälligem Existenzialismus, der wohl lieber die Emanzipation aus der Verantwortung probt als sich dem Thrill zu unterwerfen. Der Effekt dabei: Night Always Comes unterhält zwar und hat einige Spitzen auf Lager, die dicht genug sind, um dranzubleiben und nicht wegzudriften. Im Ganzen aber bleibt diese Nacht trotz seiner prekären Abenteuer eine unter vielen.

Night Always Comes (2025)

Vermiglio (2024)

DER LÄNDLICHE SEGEN DES PATRIARCHATS

8/10


© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE / DREHBUCH: MAURA DELPERO

KAMERA: MICHAIL KRITSCHMAN

CAST: MARTINA SCRINZI, RACHELE POTRICH, ANNA THALER, TOMMASO RAGNO, GIUSEPPE DE DOMENICO, ROBERTA ROVELLI, CARLOTTA GAMBA, ORIETTA NOTARI, SARA SERRAIOCCO U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Aushalten, herhalten, durchhalten. Als Frau in den Dekaden vor dem Zweiten Weltkrieg geboren zu werden, da fordert das Schicksal schon mal sämtliche Abzüge und jede Menge Unterwürfigkeit in einer Gesellschaft, die vom Manne bestimmt wird und von nichts anderem. Verlässt man dabei noch die urbanen Gefilde und dringt in die Provinz vor, wird der Missstand noch deutlicher. Noch mehr Abenteuer in Sachen Diskriminierung und Fügsamkeit lassen sich hoch oben in den Bergen erleben, wo die Gerichtsbarkeit fast nicht mehr hinkommt, wo einer wie Elias Alder aus Schlafes Bruder sein wundersames Gehör entwickelt oder die Selbstjustiz wie in Das finstere Tal pechschwarze Blüten treibt. Auf dem Berg, da gibt’s genug Sünd‘. Und die wird auch rigoros betraft, weil der Herrgott es will und die Buße nach der Beichte es verlangt.

Was waren das für Zeiten, die im prachtvollen, zerklüfteten und immersiven Epos Vermiglio wieder lebendig werden, so als hätten Peter Turrini und Wilhelm Pevny Louisa May Alcotts kultverdächtigen Jugendroman Little Women neu interpretiert und nochmal eine ganz andere Alpensaga aus der Schneeschmelze gehoben. Anders als bei Alcott rücken hier nicht vier, sondern drei Geschwistermädchen in den Fokus. Es sind dies die dreizehnjährige, blitzgescheite Flavia, die einen gewissen religiösen Fanatismus zelebrierende sechzehnjährige Ada und die nun volljährige und auch heiratsfähige Lucia, die sich prompt in einen Süditaliener namens Pietro verliebt, der gegen Ende des Krieges einen einberufenen, schwer traumatisierten jungen Mann aus dem Dorf als Deserteur in die Heimat begleitet. Dieser Fremde findet auch an Lucia Gefallen, und es dauert gar nicht lange, da läuten die Hochzeitsglocken.

Wem diese Bergdorf-Romanze beim Lesen dieser Zeilen zu rustikal vorkommt und wer den Förster vom Silberwald hinter der nächsten Ecke vermutet, darf durchatmen: Vermiglio hat nichts davon, weder die Melodramatik, noch den Pathos noch überzogene Alpenromantik. Diese eindringliche Familiengeschichte, geschrieben und inszeniert von Maura Delpero, betört mit aus musealen Archiven hervorgekramten, historisch akkuraten Bildern, wuchtigen Panoramen und der erdig-feuchten Muffigkeit den Witterungen ausgesetzter Gemäuer. Nur dort, wo der Patriarch herrscht, nistet die große weite Welt. Über allem thront nämlich Cesare (Tommaso Ragno), die Verkörperung des Wissens und der Vernunft. Und eines Weltbildes, das Frauen Freiheit, Entfaltung und Individualität versagt. Während die eine unter die Haube muss, sonst nimmt sie kein Mann mehr, darf nur eine der übrigen Bildung genießen, während die andere dazu verdammt wird, den Hof zu hüten. Das Bildnis einer Frauengesellschaft und einer Gesellschaft an sich, in dem verknöcherte Hierarchien unverrückbar scheinen, ist düster und unwirtlich. Andererseits aber schenkt ihnen Delpero genug Persönlichkeit, um sich selbst zu definieren. In erzählerisch perfektionierter Ausgewogenheit wandert das volkskundliche Ensemblestück zwischen den Familienmitgliedern hin und her, entdeckt aufkeimende Auflehnung, Funken der Selbstfindung und die Ideen einer ganz anderen Ordnung, die kaum eine der jungen Frauen für möglich hielt.

Diese Art des klassischen Erzählkinos will auch in Zeiten überbordender filmischer Innovationen nicht verloren gehen, denn gerade diese Form versteht sich darin am besten, einem vergangenen Sitten- und Gesellschaftsbild mit Sinn für Nuancen hinter die knarrenden Holztüren zu blicken, ist der Schnee mal beiseite geschaufelt. Die Jahreszeiten fegen über die Alm, mit ihnen Schmerz,  Zuversicht, Geburt und Tod. Vermiglio ist ein stilistisch vollendetes Lamento über eine Epoche weiblichen Devotismus, als hätte Ingmar Bergman (Fanny und Alexander) Karl Schönherr oder Anzengruber inszeniert, mit dem Augenmerk auf Psyche, Tradition und der Wechselwirkung zwischen beidem.

Vermiglio (2024)

Zikaden (2025)

LAUTER ZIRPEN ALS DIE ANDEREN

4,5/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: INA WEISSE

KAMERA: ANNETTE FOCKS

CAST: SASKIA ROSENDAHL, NINA HOSS, VINCENT MACAIGNE, THORSTEN MERTEN, CHRISTINA GROSSE, ALEXANDER HÖRBE, BETTINA LAMPRECHT U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Bei den Zikaden sind es ausschließlich die Männchen, die mit voller Dröhnung ihr Zirpen durch Wald und Wiese erklingen lassen. Das tun sie, um entweder Weibchen anzulocken oder ihr Revier zu markieren. Interessant, dass Ina Weisse gerade diese Gattung der Insekten zum Titel ihres Films gemacht hat, da doch zwei Frauen im Zentrum des Geschehens agieren. Vielleicht ist es dann doch nur eine Metapher darauf, sich selbst zu behaupten und aus dem Dickicht eines gemeinsam mit anderen Menschen geführten Lebens, in das man mehr oder weniger geworfen wird, hervorzutreten. Sei es nun akustisch oder auf andere Art. Ich nehme mal hin, dass mit diesen Zikaden wohl Nina Hoss und Saskia Rosendahl (u. a. Sterben) gemeint sind, auch wenn sie eben weiblich sind. Ihr Zirpen ist anfangs noch recht verhalten, man hört es vielleicht nur, wenn alles andere um sie herum verstummt. Irgendwann im Laufe des Films, der sich anfühlt, als würde er drei Stunden dauern, bleibt Zeit genug, um den Lautstärkepegel etwas aufzudrehen. Hoss und Rosendahl zirpen also, doch sie zirpen aneinander vorbei und scheinen nur kurze Zeit der falschen Annahme zu erliegen, dass dieses Geräusch der jeweils anderen gilt.

Oder zirpt vielleicht jemand ganz anderer – und die beiden Frauenfiguren in diesem sommerlichen Dilemma aus Schicksalen aller Art dürfen die Allgegenwart der Insekten als akustischen Richtungsweiser in sich aufnehmen? Beide laufen sich nämlich im ländlichen Brandenburg über den Weg, wo es ganz viel Wald und Wiese gibt. Die eine, Isabella, ist gescheiterte Architektin und kümmert sich um das elterliche Landhaus, das der eigene Papa, kein gescheiterter Architekt, damals eigenhändig aufgebaut hat. Jetzt ist der Patriarch ein Pflegefall und andauernd gibt es Zores mit den Heimhilfen. Die andere, Anja, ist überhaupt ein Mysterium. Alleinerziehend, in Untermiete bei anderen wohnend, die ihr die kalte Schulter zeigen. Und noch dazu gerade gekündigt. Mehr scheitern geht wohl kaum, doch da kann Isabella auch nochmal mitziehen, denn ihre Ehe steht kurz vor dem Aus. Beide haben nichts zu lachen, doch lächeln sich an, weil sie irgendetwas aneinander entdecken, das sie Leidensgenossinnen im Geiste werden lässt.

Ich hingegen kann diese Gemeinsamkeiten nicht entdecken. Vielleicht ist das Gemeinsame doch nur das Scheitern am Leben. Vielleicht ist es der Trotz der beiden, das Aufmüpfige, doch auch diese Verhaltensmuster sind nur vage konturiert. Womit Zikaden aber am meisten überfordert zu sein scheint, ist die Ambition, zwei parallele Existenzzustände zu entwerfen, die ihrer eigenen Biografie ausweichen. Ina Weisse, die schon in Das Vorspiel mit Nina Hoss zusammengearbeitet hat, verankert ihre Figuren bewusst nicht. Sie treiben durch ihre Leben ohne viel Bodenhaftung, vor allem Rosendahls Charakter der Anja ist ein einziges Fragezeichen, findet weder Ursachen noch wagt sich Weisse an das Innenleben dieser vielschichtigen, ambivalenten Person, deren Hintergründe wert gewesen wären, sie näher zu betrachten. Es scheint, als wolle dieser Sommer mit seinen Problemen und schicksalhaften Wendungen nicht enden, überall blickt Weisse nur ungenau hin, es fällt kaum möglich, sich zu fokussieren. Das Publikum wird von einer Tristesse in die nächste geschickt, alles Mögliche findet Erwähnung, nur nicht das Wesentliche – die Personen selbst.

In diesem komplexen, aber zunehmend langatmigen Wirrwarr aus aufeinanderfolgenden kurzen Szenen, die von Nina Hoss zu Saskia Rosendahl wechseln und wieder zurück und dabei vieles offen lassen, fragt man sich, warum hier zwei parallele Geschichten erzählt werden, die sich nur manchmal kreuzen, und nicht das Abenteuer einer beginnenden Freundschaft, die letztlich viel zu kurz kommt.

Zikaden (2025)

The Woman in the Yard (2025)

DIE PSYCHE IM SONNENLICHT

4/10


© 2025 Blumhouse


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: JAUME COLLET-SERRA

DREHBUCH: SAM STEFANAK

KAMERA: PAWEL POGORZELSKI

CAST: DANIELLE DEADWYLER, OKWUI OKPOKWASILI, PEYTON JACKSON, ESTELLA KAHIHA, RUSSELL HORNSBY U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Normalerweise beschäftigt sich Regisseur Jaume Collet-Serra eindeutig mehr mit hemdsärmeligen Actionthrillern, kunterbunten  Gehversuchen im DC-Universum oder halblustigen Dschungelfahrten. Auch der eine oder andere B-Movie-Horror geht auf seine Kappe – doch so etwas wie The Woman in the Yard ist im Grunde völlig fremdes Terrain. Was hat Collet-Serra also dort verloren, in diesem metaphysischen, spielfilmlangen Arthouse-Konstrukt, in dieser Homestory einer mysteriösen Heimsuchung, die sich trotz ihrer fantastischen Elemente ernüchternd profan gibt. Ein Psychothriller aus dem populärwissenschaftlichen Nachschlagewerk über psychologische Krankheitsbilder, gerne wohl einsortiert im wohnzimmerlichen Einbauschrank, falls mal irgendetwas mit Vater, Mutter oder Kind nicht stimmen sollte. Und ja, in diesen vier Wänden läuft vieles nicht mehr, wie es sollte, nachdem der gute Ehemann und Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Ramona (Danielle Deadwyler, u. a. Till – Kampf um die Wahrheit) stemmt mehr schlecht als recht den Haushalt und betreut ihre nun halbwaisen Kinder, Mädel und Bub, wobei letzterer seiner jüngeren Schwester immer wieder Angst einjagt.

Das aber wäre das geringste Problem, da die am Unfall beteiligte Mutter, selbst noch in der Rehabilitationsphase, den Alltag nur schwer auf die Reihe bekommt. Unbezahlte Rechnungen, ein desolates Auto und ein leerer Kühlschrank mobilisieren den Ausnahmezustand, Strom gibt’s auch keinen mehr und gerade in diesem Moment, wo man wirklich keine anderen Probleme mehr benötigt, bekommen die drei Besuch von einer Unbekannten. Unweit des Hauses, vor dem Zufahrtsweg, sitzt eine komplett in Trauerflor gehüllte Dame in einem eigens mitgebrachten Stuhl. Sie sitzt hier bei strahlendem Sonnenschein und wartet. Was das zu bedeuten hat, lässt sich nicht so recht in Erfahrung bringen. Ramona will die Verhüllte zur Rede stellen, doch diese spricht nur davon, dass dies nun endlich der Tag sei. Welcher Tag? Was wird passieren? Wie eine Prophetin aus einer anderen Dimension markiert sie als eine Botin des Schicksals den Wendepunkt einer Existenz voller Selbstvorwürfe, Schuldgefühle und ohnmachtsanfälliger Depressionsschübe.

Diese einer Ahnfrau nachempfundene Schreckensgestalt hat ein großes Problem: Sie ist nicht konsistent. Die Figur in ihrer Erscheinung passt nicht zu ihrem Handeln. Natürlich schaffen Drehbuchautor Sam Stefanak und Collet-Sera einen hohen Faktor des Unberechenbaren, doch genau darin wirkt The Woman in the Yard wenig durchdacht. Mal wirkt das Horrordrama wie moderner Gothic-Grusel, dann aber bemüht man psychologischen Surrealismus, der die bislang subtile Erzählweise in plakativer Bedeutungsschwermut übermalt und übertüncht. Als sinnbildliches Psychodrama will The Woman in the Yard zu viel abbilden und überlässt so gut wie nichts der eigenen Vorstellungskraft. Die generischen Charakterbilder einer vom Schicksal gebeutelten Familie genießen hier keinerlei Fine-Tuning, und so wird klar, dass Collet-Sera im Eigentlichen auf einer ganz anderen Klaviatur spielt, auf einer eher soliden, physisch und nicht psychisch starken. Die Schwäche in der Handhabung eines so schwerwiegenden Stoffs, für die es behutsame Dramaturgie braucht, verursacht ein vertracktes Durcheinander voller Budenzauber und langen Schatten – das ist weder neoromantisch noch empathisch, sondern vor allem verwirrend und allzu grob durch diverse Realitäten jagend.

The Woman in the Yard (2025)