Das tiefste Blau (2025)

AUGENTROPFEN FÜR ALTERSWEITSICHT

5/10


© 2025 Alamode Film


ORIGINALTITEL: O ÚLTIMO AZUL

LAND / JAHR: BRASILIEN, MEXIKO, CHILE, NIEDERLANDE 2025

REGIE: GABRIEL MASCARO

DREHBUCH: TIBÉRIO AZUL, GABRIEL MASCARO

KAMERA: GUILLERMO GARZA

CAST: DENISE WEINBERG, RODRIGO SANTORO, MIRIAM SOCARRÁS, ADANILO U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Jair Bolsonaro sitzt in dieser nahen Zukunft Gott sei es gedankt nicht mehr am Ruder. Der rassistische Umweltsünder hätte, wäre der Film die Realität, entweder eine nahe Zukunft wie diese verantwortet oder er säße, wenn nicht im Gefängnis, dann längst in einer dieser als euphemistisch bezeichneten Kolonien der über 75jährigen, die von der jüngeren Gesellschaft einfach nicht mehr er- und mitgetragen werden sollen. Es hemmt die Wirtschaft, heisst es in diesem Brasilien, denn die muss florieren. Da hat wohl niemand etwas davon, wenn die Alten von den Jungen ausgehalten und gepflegt werden müssen und dadurch das Bruttosozialprodukt nicht gesteigert werden kann. Natürlich fällt mir dabei Geier Sturzflug ein mit ihrem Klassiker der Neuen Deutschen Welle. „Wenn Opa sich am Sontag aufs Fahrrad schwingt und heimlich in die Fabrik eindringt“ – schon damals wusste man, das die ältere Generation irgendwann um ihre Pension kämpfen muss, würde diese es nicht möglich machen, bis zum Abnippeln an der Kurbel von wasweißich auch immer zu drehen, nur um, gezwängt zwischen Zahnrädern wie einst Charlie Chaplin, den prosperierenden Staat am Laufen zu halten.

Für die Alten das Abstellgleis

Was im Ganzen so aussieht, als wäre das eine menschenverachtende, ungerechtfertigte Erniedrigung jener, die Zeit ihres Lebens ihr Soll erfüllt haben, ist im Detail noch viel erniedrigender und bitterer. In den Städten des Amazonas kurven Pickups mit Käfigen hinten drauf durch die Straßen, um abgängige Alte, die nicht ins Lager geschickt werden wollen, einzusammeln. Tereza meint, auf die Archivierung ihrer selbst noch fünf Jahre warten zu dürfen, ist sie doch erst 75. Doch die Regeln haben sich geändert – die rüstige und keinesfalls inaktive Dame wird demnächst abgeholt, eine Woche Zeit bleibt ihr noch – um ihr selbst noch einen einzigen Wunsch zu erfüllen, bevor gar nichts mehr geht, nämlich zu fliegen, womit auch immer. Dafür begibt sie sich gegen den Willen ihres töchterlichen Vormunds an den Amazonas, fliegen und Bahnfahren darf die Entmündigte schließlich nicht ohne Genehmigung. Auf ihrer kleinen Odyssee trifft sie auf einen entrückten Bootsmann, völlig verpeilten Flugpiloten, rangelnden Süßwasserfischen (wie seltsam!) und einer längst pensionsfähigen, aber autarken Bibelverkäuferin, mit der sie Freundschaft schließt – und die es irgendwie geschafft hat, ihrem aufgehalsten Schicksal zu entkommen.

Die Tropen machen müde

Eine bittere, seltsam entschleunigte Zukunft ist das hier am südamerikanischen Megastrom, der mitunter eine Schnecke zu seiner Fauna zählt, die ein blaues Sekret absondert, welches das Bewusstsein erweitert und die Zukunft erahnen lässt – daher auch der Titel des Films. Als hätte Werner Herzog in der schwülen Tropenluft Brasiliens zwischen mehreren Nickerchen im Zustand des trägen Erwachens einen Film gedreht, tuckert Das tiefste Blau in entspannter Unentspanntheit und leicht erratisch durch einen Lokalaugenschein gar nicht vorhandenen Wirtschaftsenthusiasmus. Ist es nicht das Glücksspiel, bleiben die Jüngeren letztlich untätiger als die Alten. Eine gewisse Apathie macht sich hier breit, in der die ungestüme Tereza Spielraum genug findet, um sich aus dem Kreislauf einer deterministischen Zukunft durch einen ideenreichen Abschneider in die Wagemut herauszukatapultieren.

Mag sein, dass Das tiefste Blau die Welt nach der Arbeit zu einem einzigen Altersheim werden lässt und damit warnende Signale setzen will, nicht so unachtsam mit denen umzugehen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und dennoch engagiert sich Gabriel Mascaro in seiner Coming of Overage-Fantasterei zu wenig, sondern lässt seine auseinanderklaffenden Szenen, die viel Nichterzähltes voraussetzen, wie Wachepisoden einer viel dichteren Geschichte erscheinen. Das macht das Ganze bruchstückhaft, den Blick in eine Richtung setzend, die das Publikum nicht trifft.

Das tiefste Blau (2025)

Armand (2024)

NACHSITZEN FÜR ELTERN

3/10


© 2024 Pandora Film


LAND / JAHR: NORWEGEN, NIEDERLANDE, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2024

REGIE / DREHBUCH: HALFDAN ULLMANN TØNDEL

KAMERA: PÅL ULVIK ROKSETH

CAST: RENATE REINSVE, ELLEN DORRIT PETERSEN, ENDRE HELLESTVEIT, THEA LAMBRECHTS VAULEN, ØYSTEIN RØGER, VERA VELJOVIC U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Als schlimmster Mensch der Welt konnte sich Renate Reinsve in Joachim Triers tragikomischen Beziehungsklassiker auf niemanden wirklich einlassen. Mittlerweile ist die Norwegerin auch dank dieses Films längst in Hollywood angekommen. Zuletzt war sie an der Seite von Sebastian Stan in der bizarren Psychokomödie A Different Man zu sehen, nachdem sie in Handling the Undead ihren untoten Sohn pflegt. Mit Armand begibt sich die mit unbändigem Esprit ausgestattete, kraftvolle Schauspielerin in Gefilde, die bereits Yasmina Reza mit dem Kammerspiel Der Gott des Gemetzels ausgelotet hat. Was sehr nach antiker Tragödie klingt, ist in Wahrheit eine Nabelschau der Befindlichkeiten zeitgeistiger Erwachsener, deren Lebensinhalt sich ausschließlich um sie selbst dreht; die zwar Kinder haben, aber diese nur als Spiegel ihrer eigenen Komfortgrenzen betrachten. Wichtig sind sie ihnen nicht, und deshalb hat Reza auch in keiner Minute ihres Stücks das Auftreten derer eingeplant, die diese Zusammenkunft zweier Elternpaare überhaupt erst notwendig werden lassen. Schließlich scheint es nicht wert, die Heranwachsenden selbst zu befragen oder sie als vollwertige Person zu betrachten.

Armand tickt vom Konzept her sehr ähnlich wie dieses von Roman Polanski bereits verfilmte und prunkvoll besetztes Stück. Kate Winslet, Jodie Foster und Christoph Waltz konnten dabei ihre tragikomisch-dialogwitzige Ader pulsieren lassen. Armand hat den unterschwelligen Witz zur Gänze außen vorgelassen. Im Film von Halfdan Ullmann Tøndel gibt es so etwas wie augenzwinkernde Distanz nicht. Das kann doch nicht daran liegen, dass Tøndel der Sohn von Liv Ullmann und Ingmar Bergman ist? Bergman ist aus der Filmgeschichte nicht mal minutenweise wegzudenken, das wäre so, als würde man hundert Jahre menschlicher Entwicklung streichen. Bergmans Filme sind legendär, surreal, psychologisch durchdacht und völlig anders als das, was Hollywood jemals zustande brachte. Mit ihm lässt sich auch das skandinavische Filmschaffen fast schon als eigenes Genre betrachten. Doch zurück zu Tøndel, denn der ist nicht Ingmar Bergman. Oder doch? Beeinflusst scheint ihn das Gesamtwerk seines Vaters aber sehr wohl zu haben. Daher auch diese drückende, bedeutungsvolle, selbstverliebte Schwere, in die sich Renate Reinsve bettet, als wäre sie Medea.

Dabei muss Reinsves Figur der narzisstischen Schauspielerin, die alle Welt kennt, kurz vor Ferienbeginn doch nur in der Schule ihres Sohnes antanzen, um einen Sachverhalt zu klären, der auch die Eltern ihres Neffen betrifft. Zwischen diesen beiden Jungs herrscht schließlich ein Gefälle im Kräfteverhältnis, und der Stärkere – titelgebender Armand – soll den Schwächeren sexuell unterdrückt haben. Wenn Erwachsene solche Situationen ausbaden müssen, ohne ihre Kinder miteinzubeziehen, geht es bald nur noch ums jeweilige Ego. Pädagogisch spannend ist Armand daher in keiner Weise.

Wenn Eltern im Clinch liegen und recht behalten wollen, kann das so funktionieren wie in Gott des Gemetzels. Nicht aber bei Tøndel. Sein Versuch, einen dialogstarken Psychokrieg vom Zaun zu brechen, missglückt insofern, da dieser sich irgendwann, und das sehr bald, nur noch für seine Schauspielerin als Schauspielerin interessiert, deren soziale Inkompetenz von niemandem sonst außer dem Regisseur selbst ergründet werden will. Wenn Reinsve als Elizabeth mit dem Putzmann durchs leere Schulhaus tanzt oder sich einem minutenlangen Lachanfall hingibt, kräuselt sich meine Stirn. Im falschen Film? So würde ich es nennen. Wer glaubt dabei in ein emotional starkes Vexierspiel zu geraten wie seinerzeit Mads Mikkelsen im brillanten Schulthriller Die Jagd von Thomas Vinterberg, der darf bald gähnend einer Solo-Performance beiwohnen, die sich für ihr eigentliches Thema nicht mehr interessiert, sondern nur noch in bedeutungsschweren Sinnbildern herumhechelt, und das für einen psychisch labilen Charakter, der längst nicht so interessant ist wie er sich selbst nimmt. Diese Arroganz kickt den schwer zu ertragenden, lähmend irrelevanten Kunstfilm leider ins Aus.

Armand (2024)

All We Imagine as Light (2024)

DIE HEILENDE KRAFT DER ILLUSION

9/10


allweimagineaslight© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: INDIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE, LUXEMBURG 2024

REGIE / DREHBUCH: PAYAL KAPADIA

CAST: KANI KUSRUTI, DIVYA PRABHA, CHHAYA KADAM, HRIDHU HAROON, AZEES NEDUMANGAD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Imagine all the people… livin‘ life in peace. John Lennon hat sich Anfang der Siebziger Jahre eine Welt vorgestellt, frei von Gewalt und prädestiniert für ein friedliches Miteinander. Sein zeitloser Song verkörpert die Illusion einer Menschheit, die gelernt hat, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen. Lennons Imagine symbolisiert den Imperativ des Humanismus, der dann sichtbar wird, wenn viele von uns, geballt an einem Ort, ein individuelles Schicksal bestreiten. Imagine wird zum Leitbegriff auch in einem Film, der womöglich schon jetzt als einer der schönsten und besten des Jahres angesehen werden kann. Womöglich wäre er unter den besten drei bereits im letzten Jahr zu finden gewesen, hätte ich All We Imagine as Light bei der letztjährigen Viennale gesichtet. Nun aber führt dieses Meisterwerk, und das prognostiziere ich jetzt schon, sehr wahrscheinlich die besten des Jahres 2025 an. Denn sieht man sich Payal Kapadias Spielfilmdebüt an, wird man feststellen müssen, dass große Filmkunst nicht unbedingt das Ergebnis langjähriger Erfahrung sein muss, sondern schon von vornherein ein talentiertes Verständnis mit sich bringen kann, Farben, Bilder, Klang und Schauspiel auf eine Weise miteinander zu kombinieren, die nicht üblichen Stilen entspricht, sondern völlig losgelöst von dieser Mainstream-Machart des Bollywood-Kinos einen Subkontinent präsentiert, der mit einer Lebensphilosophie klarkommt, die die westliche Welt womöglich als Selbstbetrug wahrnimmt. Hier, in Indien, ist die Kunst, aus seinen Illusionen Kraft zu tanken, eine Methode, um auch in bescheidensten Verhältnissen und in der Unmöglichkeit, eigene Lebenswünsche in die Realität umzusetzen, zu sich selbst zu finden.

Hätte John Lennon jene Bilder gesehen, die Kameramann Rabanir Das unter Kapadias Regie von der Millionenmetropole Mumbai eingefangen hat, er wäre begeistert gewesen. Er hätte gesehen und festgestellt, dass es doch möglich wäre, dicht gedrängt und fern jeglicher Privilegien, eine achtende Gesellschaft des Miteinander zu führen. In diesem Mumbai flirren die Lichter, strömen Menschen in alle Himmelsrichtungen, suchen Schutz vor dem täglich wiederkehrenden Regen, zollen sich dabei Respekt, feiern und essen miteinander. Lieben sich, hoffen und leben den Moment. Dieses Indien ist kein Dritte Welt-Betroffenheits-Indien. Es stochert nicht im Missstand oder Morast eines völlig überfordernden Landes herum. Es zeigt Mumbai als eine Stadt der Illusionen. Das aber in keiner ernüchternden Resignation, sondern als Tugend.

In diesem Licht, dass sich wahrnehmen lässt, oszillieren die Träume und Wünsche von Prabha und Anu, zwei Krankenschwestern in einem Spital in ebendieser Stadt. Beide teilen sich eine Wohnung, beiden haben die Illusion eines erfüllten Lebens. Prabha, durch eine arrangierte Hochzeit vermählt, weiß ihren Ehemann in Deutschland, doch dieser lässt nicht mehr von sich hören. Anu hingegen, deutlich jünger, liebt einen malayischen Muslim – eine Liaison, die Anus Eltern nie erlauben würden. Doch sie tut, was sie für richtig hält. Wenn man so will, gibt es da noch eine dritte: die Witwe Parvaty, die, schon deutlich älter, ihren Mann bereits zu Grabe getragen hat und nun delogiert wird, da es für die gemeinsame Wohnung keine Belege gibt. Sie ist bereit dafür, ihre Illusion der Realität weichen zu lassen und begibt sich zurück in ihr Heimatdorf. Prabha und Anu begleiten sie ans Meer, raus aus der Stadt, die in diesem Film eine Hommage erlebt wie sonst nur New York unter der Regie Woody Allens, versetzt mit urbanen Klavierklängen, die an George Gershwin erinnern. Auch akustisch lädt der Film dazu ein, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Kapadia mischt die dokumentarischen Stimmen von Mumbais Bewohner unter ihr traumverlorenes, tropisches Monsun-Erlebnis. Sie findet Szenen von einer Aussagekraft, die ohne Worte auskommt und die Tiefe der Empfindungen ihrer beobachteten Individuen zeigt. Womöglich inspiriert von den metaphysischen Welten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Cemetery of Splendour) lässt sich All We Imagine as Light zu einer impressionistischen, magischen Odyssee in die Wunschwelten von Prabha und Anu bewegen – wer Tempo und Stakkato sucht, ist bei We All Imagine as Light fehl am Platz. Hier dominiert die Entschleunigung, die Kontemplation eines feministischen Psychodramas, das in ernüchternder Traurigkeit versinken könnte, allerdings den Weg innerer Befreiung wählt. Weit jenseits eines sentimentalen Rührstücks ist der Film voll kraftvoller Zuversicht, die sich in diesem Imagine wiederfindet – als schillernde, bunte Oase einer Taverne am Strand im gegenwärtigen Moment, der zeitlos erscheint.

All We Imagine as Light (2024)

Omen (2023)

AFRIKA ALS NÄCHSTE DIMENSION

8/10


omen© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, NIEDERLANDE, SÜDAFRIKA, DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO 2023

REGIE / DREHBUCH: BALOJI

CAST: MARC ZINGA, YVES-MARINA GNAHOUA, MARCEL OTETE KABEYA, ELIANE UMUHIRE, LUCIE DEBAY, DENIS MPUNGA U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Erschreckend und wunderschön, verstörend und faszinierend: Der Afrikanische Kontinent, näher an unserem Ursprung dran wie kein anderer Ort, ist das Unterbewusstsein dieser Welt. Ein Ort, an dem nicht nur die Knochen unserer evolutionären Ahnen ausgegraben wurden, sondern auch ein gutes Stück der archaischen Seele des Menschen. Mit freigelegt werden Pforten in metaphysische Reiche, von denen man nicht behaupten kann, dass sie nicht existieren. Trance und Geister, die Wucht der Natur und deren Dunkelheit: Auch der Mensch gehört da dazu, und kaum aus einer Laune heraus hat Joseph Conrad seine Reise in die Finsternis ins Herz Afrikas verlegt, in den Kongo. Als rätselhaftes, wütendes, wildes und kriegerisches Land präsentiert es sich. Vieles ist dort im Argen, vieles lässt sich dort aber bewundern, was es anderswo nicht gibt. Es sind Dinge, die tiefe Erkenntnisse bringen, die einen auf sich selbst zurückwerfen. In diese Raum-Zeit taucht der Film Omen – Im Original Augure – ein, und zwar ganz ohne touristentaugliche Folklore, schmeichelndem Afrika! Afrika!-Kitsch oder beschönigend romantischer Gefälligkeit. Was Omen präsentiert, ist eine Welt nach eigenen, aber strengen Regeln, die den unseren – europäischen – zuwiderlaufen. Diese Diskprepanz erfährt Koffi (Marc Zinga), ehemals aufgewachsen genau dort, wo er nun nach Jahren zurückkehrt, an eigenem Leib. Womöglich alles schon verdrängt, steigen tief verwurzelte Dogmen hoch, die die eigen Sippe betreffen. Da kommt natürlich nicht gut an, wenn Koffi, längst wohnhaft in Belgien, mit seiner weissen Ehefrau aufschlägt, die noch dazu demnächst – man sieht es schon – Zwillinge erwartet. Die Gastfreundschaft lässt zu wünschen übrig, herablassende Verhaltensweisen prägen die erste Begegnung. Bis etwas Unaussprechliches passiert und Koffi ein Sakrileg begeht, das anderswo wirklich nicht der Rede wert gewesen wäre. Koffi ist ohnehin das schwarze Schaf der Familie, dann auch noch das. Einzig Schwester Tshala (Eliane Umuhire) hält zu ihm, während Koffi versucht, seinen verschwundenen Vater zu finden.

Letztes Jahr auf der Viennale präsentiert, ist Omen, geschrieben und inszeniert vom kongolesischen Rapper Baloji, nun endlich auch in den Wiener Kinos zu sehen. Und ist ein Muss für alle, die den Mythen, Riten, den Menschen und der Bedeutung Afrikas seit jeher schon einiges abgewinnen können. Die Afrika so sehen wollen, wie es ist, und, weil sie vielleicht selbst schon dort gewesen sind, nachspüren können, zu welchen Vibes man sich dort bewegt. Baloji teilt seinen Film in mehrere Kapitel, immer wieder stehen andere Personen und deren Schicksale im Mittelpunkt, zusammen ergeben sie aber eine wechselwirkende kleine Gemeinschaft, die im Todesfall zueinanderfindet und ihre Beweggründe offenbart. Diese Schicksale taucht Baloji in hypnotische Bilder voller Zauber und bizarrer Bandenwelten, pink qualmendem Rauch und schwarzer Erde. Archaische Masken und irre Kostüme legen die Planken ins Transzendente, über die man wandeln muss, will man sich diesem ambivalenten Drama hingeben.

Es ist berauschend, da einzutauchen. Es ist ernüchternd, zu sehen, wie dominant das Patriarchat, wie gnadenlos die Familie fordert. Der Kongo scheint verloren wie ein Trabant, der ums eigene Weltgeschehen kreist. Doch diese Sphäre ist Teil des ganzen, Omen weiss diese Botschaft zu transportieren. Wer von Oberflächlichkeiten genug hat und bereit ist für einen Trip, der dank seiner Entrücktheit gottlob nicht imstande ist, als bleischweres Drama das Gemüt in die Tiefe zu ziehen, sollte sich auf Omen einlassen. Der Film ist sperrig, fordernd, unnahbar und durchwegs seltsam, aber genau das ist Afrika, genau das erlebt man bei einem Culture Clash wie diesen, in welchem Lebenswelten hinterfragt und wenig Gemeinsames gefunden werden kann. Dieses Bisschen zu entdecken, erweitert aber den Horizont.

Omen (2023)

Krazy House (2024)

DER TRITT INS ALLERHEILIGSTE

6/10


Krazy-House© 2024 Splendid Films

LAND / JAHR: NIEDERLANDE 2024

REGIE / DREHBUCH: STEFFEN HAARS & FLIP VAN DER KUIL

CAST: NICK FROST, ALICIA SILVERSTONE, KEVIN CONNOLLY, GAITE JANSEN, WALT KLINK, JAN BIJVOET, CHRIS PETERS, MATTI STOOKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Vom Stilmittel der Sitcom, um den American Way of Life zu demaskieren, war schon Oliver Stone überzeugt. In Natural Born Killers turtelten Juliette Lewis und Woody Harrelson unter dem Gelächter eines gebuchten Konserven-Auditoriums in generischen Einfamilienhaus-Kulissen herum, um dann eine blutige, aber medientaugliche Spur durchs Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu ziehen, ganz im Sinne eines Donald Trump, den man trotzdem wählen würde, hätte er auf offener Straße einen Menschen erschossen. Statt den beiden damaligen Jungstars wuchtet sich diesmal ein gottergebener, erzkatholischer Biblebelt-Hausmann namens Nick Frost (diesmal ohne seinen Partner Simon Pegg) von der Palmsonntags-Zeremonie ins traute Eigenheim zurück, mitsamt der nahe am Burnout nagenden Business-Ehefrau Alicia Silverstone und den beiden Kindern, die zwar Papas christliche Affinität mittragen, mittlerweile aber auf den selbstgestrickten Jesus-Pulli verzichten. Der Patriarch sieht das gar nicht gern, und er wundert sich obendrein, was Sohnemann Adam in seinem Zimmer chemischen Experimenten unterzieht. Die klare Sicht auf die Dinge, die die (allem Anschein nach) amerikanische Familie so umtreibt, wovor sie sich fürchtet und was sie niemals hinterfragt, bleibt Nick Frost alias der gutmütig brummige Bernie, verwehrt. Der konservative Glaube ist alles, und gerade in der Karwoche wird dieser blinde sakrale Gehorsam alles wieder ins richtige Lot bringen. Es sei denn, das Schreckgespenst einer russischen Invasion steht ins Haus. Diese wird verkörpert von drei Pfuschern aus dem weit entfernten, kommunistischen Osten – der Vater samt Nachwuchs. Anstatt den Wasserschaden in der Küche zu beheben, zerstören sie nach und nach die gesamten geheiligten vier Wände. Das alles eskaliert, die Gattin versinkt im Burnout und in der Tablettensucht, Adam frönt dem Crystal Meth und Tochter Sarah lässt sich schwängern. Kein Stein bleibt auf dem anderen, und selbst Holy Fucking Jesus, der Bernie immer mal wieder erscheint, um ihn an seine Demut im Glauben zu erinnern, trägt letztlich nichts dazu bei, die Vorstadt-Apokalypse auch nur ein klein wenig zu vereiteln.

Das niederländische Regie-Duo Steffen Haars und Flip van der Kuil klotzen einen farbenfrohen, derben Gewalt-Exzess vor die Kamera, stets Nick Frost im Fokus bewahrend, der eine Wandlung in drei Etappen durchmacht, die durch ein jeweils anderes Bildformat zumindest den Anschein einer Struktur bewahrt. Blickt man hinter das so bluttriefende wie blasphemische Stakkato grotesker Zustände, erkennt man zwei Autorenfilmer, die durchaus bereit sind, die vom bigotten Westen so stolz gelebten Dogmen und geduldeten Laster von Grund auf zu hinterfragen. Warum der fanatische, evangelikale Gottesglaube, warum die Lust an der Droge, die Sucht nach Tabletten, die Heiligkeit des familiären Vierbeiners, das Feindbild aus dem Osten. Krazy House geht sogar so weit, um Verhaltensmanierismen wie das Kaugummikauen, den Putzfimmel und die heuchlerische Allwetter-Freundlichkeit zu verlachen und auf den gebohnerten Boden zu schmettern. Mit Nick Frost, dessen Zahn- und Zahnlosprothese herrlich irritiert, hat Krazy House gerade aufgrund all der befremdenden Polemik eine Identifikationsfigur zwischen biblischem Hiob und amoklaufendem Normalo gefunden, der in die Fußstapfen eines untätigen Versager-Christus stapft, um all das Übel dieser Welt aus der Bequemlichkeitsblase zu treiben.

In diesem satirischen Enthusiasmus treiben es Haars und van der Kuil so sehr und so unbedingt auf die Spitze, dass am Ende das Chaos zu gewollt erscheint, zu erzwungen verrückt und häretisch – es ist die Inflation bizarrer Einfälle, die sich gegenseitig ihre Wirkung nehmen, die dann nur noch als dauerfeuernde Destruktionsorgie zwar die Hartgesottenen unterhält, die aufgrund ihrer selbstbewussten Gelassenheit gut damit leben können, dass dem Haushund die Birne weggeschossen wird oder der Sohn Gottes dem Hirntod erliegt, letztlich aber weder wirklich aufregt oder vor den Kopf stößt. Ein Schmunzeln ob des reuelosen Rundumschlags mag Krazy House sicher sein. Doch viel mehr als lautstark herumzutrampeln steht dem pseudohämischen Streifen gar nicht im Sinn.

Krazy House (2024)

Tiger Stripes (2023)

AUS DEM DSCHUNGELBUCH DER ADOLESZENZ

7/10


tigerstripes© 2023 Jour2Fête


LAND / JAHR: MALAYSIA, TAIWAN, SINGAPUR, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, NIEDERLANDE, INDONESIEN, QATAR 2023

REGIE / DREHBUCH: AMANDA NELL EU

CAST: ZAFREEN ZAIRIZAL, DEENA EZRAL, PIQA, SAHEIZY SAM, JUNE LOJONG, KHAIRUNAZWAN RODZ, FATIMAH ABU BAKAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Filme aus Malaysia sind selten. Und wenn man sie zu Gesicht bekommt, meist Koproduktionen mit Ländern, die sonst auch so einiges im internationalen Kinogeschehen mitzureden haben. Das ist gut für Amanda Nell Eu, die mit ihrem Langfilmdebüt Tiger Stripes auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes den Hauptpreis der Kritikerwoche abräumen konnte. Gratulation, ein gewinnbringender Einstand, der hoffentlich so einige weitere Koproduktionen nach sich ziehen wird. Mit Tiger Stripes begibt sich die junge Filmemacherin in die malaysische Provinz irgendwo am Rande des Dschungels – was überall sein kann in diesem Land, denn es wuchert und gedeiht hier, wohin man auch nur blickt. Leicht kann es passieren, und nicht nur Nutztiere queren die Straßen, sondern auch mal ein Tiger, was wiederum den Verkehr zum Erlahmen bringt und das Volk aus den fahrbaren Untersätzen holt, damit diese ihren Tiktok-Account mit knackigen Reels füllen dürfen, den später junge Mädchen, in den Schulpausen auf den Mädchentoiletten versammelnd, abrufen können. Social Media hat dort längst das Zepter in der Hand, ein Smartphone hat fast eine jede, die Trends sind gefundenes Fressen, die Selbstinszenierung alles, wofür man den Rest des Tages opfern will. Doch wie das bei jungen Frauen eben so ist, sind manche früher dran in ihrer Adoleszenz als all die anderen. Die, die früher dran sind, haben die Arschkarte gezogen – sie müssen allen anderen vorleben, was später passieren wird. Größere Brüste sind nur ein Merkmal, die Monatsblutung das andere.

Dass die Geschichte der Menstruation eine Geschichte voller Missverständnisse gewesen sein soll, erklärte uns bereits schon in den 90ern das instruierte o.b.-Testimonial durch den Bildschirm in unsere Wohnzimmer hinein. Huch, was war das damals für ein Tabuthema. Und ist es immer noch, ganz egal, ob im Westen oder Osten oder sonst wo. „Wir müssen dich saubermachen, du bist schmutzig“, sagt Zaffans Mama, als diese das erste Mal in der Nacht zu bluten beginnt und ihr Laken wechseln muss. Ab diesem Zeitpunkt wird das junge Mädchen, das eben zu jenen gehört, die sowohl körperlich als auch geistig um einiges weiterentwickelt sind als ihre Kolleginnen, dieses gesellschaftliche Stigma nicht mehr los. Monatsblutung ist igitt, das wird so gelehrt, das wird so vermittelt. Wenn Zaffan unter der Dusche steht, ist das Blut nicht rot, sondern schwarz wie Dreck. Das Natürliche wird zum Unnatürlichen. Das „Opfer“, das die biologische Uhr fordert, ist nicht nur die Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut, sondern auch die soziale Ausgrenzung. So passiert es, und Zaffan wird nicht nur aufgrund ihres frei ausgelebten Frau-Seins skeptisch beäugt, sondern auch aufgrund ihres periodischen Umstands gehänselt, gemobbt und links liegengelassen. Vieles ändert sich, im und am Körper eines Mädchens. Tiger Stripes macht daraus einen subtilen, fast schon ans Naive grenzenden Body-Horror, der allerdings keinen ekligen, fast schon verstörenden Schrecken verursacht wie zum Beispiel Julia Ducournaus Raw, sondern vielmehr einer metaphorischen Legendenbildung beiwohnt, die eng mit den Mythen Malaysiens verbunden zu sein scheint und einen fauchende, zähnefletschenden Hauptcharakter ins Feld führt, dessen Augen rosafarben glühen und der sich entweder den archaisch anmutenden Parametern einer wilden Natur hingeben muss oder durch die Distanz zu eben selbiger zugrunde geht.

Die junge Zafreen Zairizal liebt es in diesem Film, die junge Wilde zu geben. Ihre Lust am Tierischen ist ansteckend; ihr Drang, die Hijab abzulegen, das schwarze Haar offen zu tragen und ins rohe Fleisch eines Waldtieres zu beißen, scheinbar getrieben von impulsiver Improvisation. Amanda Nell Eu gab ihr hier mit Sicherheit so einige Freiheiten. Tiger Stripes überhöht auf dem narrativen Niveau einer Graphic Novel den biologischen Coming of Age-Aspekt zu einer Chronologie der Mutation vom Menschen zum Tier. Das Zugeständnis zur Natur des Menschseins wird gleichermaßen eine Abkehr davon, es ist eine Zwickmühle, in der die jungen Mädchen stecken, denn es wird sie alle ereilen, diese Verlockung, dieses Bewusstsein, dieser Drang, sich von den lächerlichen Konventionen der Gesellschaft abzukoppeln, bevor sie diese sowieso wieder mittragen müssen. Ja, es ist auch Pubertät, die da mitspielt. Und nein, es ist nicht Stephen Klings Carrie – Zaffan hat keine telekinetischen Fähigkeiten, findet ihr Heil nicht in der Rache, sondern in der eigenen Selbstbestimmung.

Dass der Weg zum Tigermädchen das eine oder andere Mal unfreiwillig komisch wirkt, ist nicht Zufall, sondern Absicht. Die spielerische Leichtigkeit des metaphysischen Gleichnisses, die ironische Darstellung der Erwachsenenklischees (der träge Vater, der besserwisserische Guru) und überhaupt der ganzen Situation entspricht auch den gekritzelten Lettern im Vorspann. Tiger Stripes ist eine energetische Satire auf das altbekannte Dilemma des Erwachsenwerdens – es bringt zwar nichts Neues aufs Tapet, hat aber eine Freude daran, die Gesellschaftsfähigkeit der weiblichen Natur aus südostasiatischer Sicht als genauso obsolet zu deklarieren wie anderswo auf der Welt. Auch im Westen.

Tiger Stripes (2023)

Jauja (2014)

VERLOREN IN DER PAMPA

6,5/10


jauja© 2014 Arte


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA, NIEDERLANDE, FRANKREICH, MEXIKO, USA 2014

REGIE: LISANDRO ALONSO

BUCH: LISANDRO ALONSO, FABIAN CASAS

CAST: VIGGO MORTENSEN, GHITA NØRBY, VIILBJØRK MALLING AGGER, ADRIÁN FONDARI, ESTEBAN BIGLIARDI, BRIAN PATTERSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Ein Ex-Häftling irrt wortlos durch den Dschungel, auf der Suche nach seiner Tochter. Das ist ein Film des Argentiniers Lisandro Alonso aus dem Jahre 2004, mit dem ernüchternden Titel Los Muertos – Die Toten. Zehn Jahre später hat der eigenwillige Filmemacher, dessen Stil ganz sicher nicht den Mainstream bedient, ein Drama ähnlichen Inhalts gedreht. Allerdings prominent besetzt. Viggo Mortensen nämlich spielt Gunnar Dinesen, einen dänischen Ingenieur Ende des 19. Jahrhunderts, der in Argentinien auf Seiten Kolonial-Spaniens gegen die aufständische indigene Bevölkerung kämpft. Mit auf dem fernen Kontinent weilt seine Teenager-Tochter Ingeborg, die den Einheimischen schöne Augen macht und gar vorhat, mit einem der jungen Soldaten durchzubrennen. Vater Mortensen sieht sowas gar nicht gern, er will seine Tochter beschützen – vor ihrem eigenen Willen und vor den lüsternen Augen der anderen. Doch die Jugend hat nun mal ihren eigenen Kopf und so kommt es, dass sich Ingeborg tatsächlich irgendwann des Nächtens aus dem Staub macht. Gunnar Dinesen hinterher, zuerst noch auf dem Pferd, dann nur noch zu Fuß, und irgendwann verschlingt ihn die Pampa, das steppenhafte Hinterland Argentiniens, in dessen Weite man das Gefühl für Zeit und Raum verliert, wo Orientierung nur dem Namen nach existiert und nicht nur Vergangenheit und Zukunft, sondern auch alternative Universen einander überlappen. Aus dem streng komponierten Historiendrama wird ein metaphysisches Vexierspiel rund um Verwirrung und dem Zulassen seltsamer Begebenheiten.

Wenn man schon einen Filmemacher mit dem unverwechselbaren thailändischen Film-Visionär Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) vergleichen könnte, dann nur zu Recht Lisandro Alonso. Wie Weerasethakul Zeit und Raum auf lakonische und geheimnisvolle Weise aushebelt, ohne angestrengtes Effektgewitter zu bemühen, so weiß Alonso ebenso, das Unmögliche in eine nüchterne, völlig pragmatische Realität zu setzen. Wie eine Tatsache, die nicht ergründet werden, sondern nur akzeptiert werden darf. Dabei fordert Jauja – die Bezeichnung für ein Land, in dem Milch und Honig fließt, ähnlich dem Paradies oder einer Art Schlaraffenland – bereits zu Beginn eine gewisse Bereitschaft von seinem Publikum ein, seine unorthodoxe Erzählweise zu akzeptieren. Im Format 4:3 und mit abgerundeten Ecken sehen wir geradezu unbewegliche Landschaftstableaus irgendwo an der Küste Argentiniens. Naturalistische Details rücken in den Fokus, dann wieder uniformierte Männer, deren fixierte Blicke wohl auf das junge Mädchen gerichtet sind, die mit ihrem Vater stoisch verharrt. In der Ruhe findet sich eine gewisse erzählerische Tiefe, die allerdings Geduld erfordert; eine meditative Gelassenheit, wenn sie nicht als sperrig gelten will, was durchaus leicht passieren kann. Mortensen lässt sich fast intuitiv und assoziativ treiben, er scheint zu improvisieren, lässt sich fallen in diese seltsame Odyssee, in die er später verloren geht, auf der Suche nach seinem Kind, jenseits des Rationalen.

Alonso hat seine ganz eigenen Visionen und ist ein Filmemacher, der alle Freiheiten zu genießen scheint. Filmkunst ist hier das höchste Gut, Anbiederung an breit gefächerte Sehgewohnheiten verachtenswert. Wie Weerasethakul lädt er nur jene zu seinem Film ein, die willens sind, sich genauso treiben zu lassen wie Mortensen. Was sie bekommen, ist ein indirekt phantastischer Film im Gewand eines südamerikanischen Westerns, in welchem das Mysterium des Verschwindens in der Weite dieser Welt zur Attraktion wird.

Jauja (2014)

Moloch

DAS FLÜSTERN IM MOOR

6,5/10


moloch© 2022 Splendid Film


LAND / JAHR: NIEDERLANDE 2022

REGIE: NICO VAN DEN BRINK

BUCH: NICO VAN DEN BRINK, DAAN BAKKER

CAST: SALLIE HARMSEN, ANNEKE BLOK, MARKOES HAMWER, AD VAN KEMPEN, EDON RIZVANOLLI, JACK WOUTERSE, ALEXANDRE WILLAUME-JANTZEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Sie sind schon faszinierend: Moorleichen, die Jahrhunderte – wenn nicht gar jahrtausendelang – luftdicht verpackt unter einer Torfschicht gelegen haben und dann, unter welchen Umständen auch immer, ans Tageslicht treten. Sobald dies passiert, sollte man vorsichtig damit umgehen – an der Luft beginnt die Zersetzung, und irgendwann sehen die friedlich schlafenden, braunhäutigen Zeitzeugen nicht mehr so moorfrisch aus wie im Moment ihrer Entdeckung. Am beeindruckendsten ist der in Dänemark gefundene Tollund-Mann, rund 2000 Jahre alt. „Fun Fact“ am Rande: Moorleichen sind nicht selten Menschenopfer. Die niederländische Horrormär Moloch macht sich diesen Umstand zu eigen und schenkt den gewaltsam aus dem Leben geschiedenen Zeitgenossen endlich die gebührende Screentime. Ist es zuerst nur eine Leiche, sind es später mehrere. Allesamt sind es Frauen aus unterschiedlichen Generationen, und allesamt tragen sie die erkennbaren Zeichen ihrer Tötung: Eine senkrecht aufgeschlitzte Kehle. Schaurig genug, das Ganze. Aber es kommt noch dicker.

Denn nahe dieses vor allem in der Dämmerungszeit nebelverhangenen mystischen Ortes wohnt die alleinerziehende Betriek mit ihrer Tochter bei ihren Eltern im Haus ihrer Kindheit. Diese dürfte, wie wir bereits in der ersten Szene des Filmes erfahren, nicht ganz so gewaltfrei abgelaufen sein. Im Keller des Hauses wird besagte Betriek nämlich Zeuge eines schaurigen Mordes, und Regisseur Nico van den Brink zögert auch nicht, hier gleich mit klassischen Elementen aus dem Horrorkino in die Vollen zu gehen. Blut rinnt von den Wänden, als wären wir bei Shining. Unmenschliche Geräusche durchdringen die Holzlatten, während sich das kleine Mädchen, vor Schreck erstarrt, die Ohren zuhält. Nach diesem Schrecken schaltet van den Brink wieder einen Gang zurück, um einen folkloristischen Spuk ins Rollen zu bringen, der tief verankert zu sein scheint in der niederländischen Sagenwelt, von der wir hier in Österreich wenig bis gar nichts wissen. Recherchiert man hier online, stößt man kaum auf irgendwelche Einträge, welche die Legende von Freike und Helen zum Thema haben – außer eben in Moloch, und so schließt sich der Kreis der Ahnungslosigkeit, hätten wir diesen Film nicht, der uns sogar anhand eines von Kindern aufgeführten Theaterstücks die ganze Phantastik aus dem Torfmoor näherbringt.

Mit dem Freilegen der in schmerzlicher Aufbäumung verharrten Leichen scheint auch ein Kreislauf in Gang getreten zu sein, der Betrieks Mutter fast das Leben kostet: Ein wildfremder Mann dringt ins Anwesen ein und setzt alles daran, die betagte Dame über den Jordan zu schicken. Warum tut er das? Wie es scheint, dürfte er von einer geheimnisvollen Macht dazu gezwungen worden sein. Das Opfer der Attacke zeigt sich allerdings nicht sonderlich verstört – irgendwie kommt die Begebenheit nicht nur Beitrik bekannt vor, die sich naturgemäß Sorgen macht und dem Grund für das Verhalten des Fremden auf die Spur kommen will. Dabei stößt sie auf eine ruhelose Macht, die in ihrem Pakt mit etwas noch Größerem gefangen zu sein scheint, während sich jenseits des Nebels eine ganz andere Entität ihren Weg in die traute Familienidylle bahnt.

Moloch – das ist weniger eine Großstadt, in dessen Chaos und Sünde man versinkt, sondern vielmehr eine mit Stierkopf dargestellte Versinnbildlichung von Opferriten aus der Antike des Nahen Ostens. Wie diese Symbolik Einzug in die Niederlande gefunden hat, ist zwar etwas weit hergeholt, aber soll so sein. Anscheinend gibt es diese Legende wirklich. Nico van den Brink zeigt sich begeistert von der Tatsache, die Faszination für Moorleichen mit zelebriertem Volksglauben zu verknüpfen, der als immerwährendes Tauziehen zwischen transzendenten Kräften inszeniert wird. In diesem Dilemma steckt eine Familie, die wahrlich so einige Tragödien durchmachen muss. Und dennoch, trotz der teilweise intensiven, manchmal auch etwas überhöhten Dramatik, bleibt Moloch zwischendurch so erstaunlich nüchtern wie ein durchschnittliches Familiendrama um Neuanfang und Verarbeitung von Traumata, das man womöglich anderswo mit mehr Gespür für zwischenmenschliche Interaktion hinbekommen hätte.

Manche Stimmen meinen, der niederländische Horror sieht seine entfernte Verwandtschaft in Ari Asters Hereditary – Das Vermächtnis, doch mit Sicherheit (und ohne, dass ich Hereditary kenne) bleibt Moloch viel eher den bewährteren Grusel-Versatzstücken treu – plakativ, versehen mit aufdringlichen Soundeffekten und etwas plumpen Jumpscares, die ein bisschen nerven, weil sie gar so mit der Tür ins Haus fallen. Dezente Schaurigkeit zu verbreiten ist nicht van den Brinks Stärke. Die liegt viel eher in der stimmig auserzählten Geschichte, die auf perfide Art zwar, aber in einer gewissen Makellosigkeit die letzten Konsequenzen akzeptiert. Wer also auf Moore, Nebel und darin herumgeisternde Gestalten steht, ist bei Moloch gut aufgehoben.

Moloch

Close

DIE FURCHT VOR DEN GEFÜHLEN

7/10


close© 2022 Polyfilm


LAND / JAHR: BELGIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE 2022

REGIE: LUKAS DHONT

BUCH: LUKAS DHONT, ANGELO TIJSSENS

CAST: EDEN DAMBRINE, GUSTAV DE WAELE, ÉMILIE DEQUENNE, LÉA DRUCKER, IGOR VAN DESSEL, KEVIN JANSSENS U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Hätte ich gewusst, welche Richtung dieses Jugenddrama einschlagen wird, hätte ich mir womöglich keine Tickets dafür besorgt. Was aber nicht heißen soll, dass ich es bereue, im Rahmen der Viennale Lukas Dhonts zweite Regiearbeit gesichtet zu haben. Ganz und gar nicht. Der belgische Autorenfilmer weiß, was er will. Seine Arbeiten sind konzentriert, ungemein einfühlsam und stringent. Reduzieren die Dramaturgie auf das Wesentliche und lassen aber dennoch ein intensives Gefühlserlebnis zu. Vielleicht, weil Blicke eben mehr sagen als tausend Worte. Weil eine Geste oft alles ist, und das gesprochene Wort öfter missverstanden wird als die paraverbale Kommunikation. Obwohl gerade diese in Close an seine Grenzen stößt und eine Tragödie auslöst, die man selbst als Elternteil um nichts in der eigenen Welt und in allen anderen möglichen Parallelwelten erleben will. Und doch steht der paraverbalen Kommunikation der Dialog nur in bedingtem Ausmaß gegenüber. Sobald Gefühle mit im Spiel sind, hat keiner mehr eine Ahnung davon, wie man diese zur Sprache bringt.

Bevor die erschütternde Konsequenz auf den unbewusst losgelösten sozialen Teufelskreis trifft, sind Léo und Rémi ein Herz und eine Seele. Zwei Jungs, gerade mal Teenager, und Best Friends Forever. Der eine übernachtet beim anderen, der Weg zur Schule ist stets ein gemeinsamer. Man tauscht sich aus, man teilt die Fantasie beim Spielen. Ein Einklang, wie er in Jugendjahren immer wieder vorkommt, in einer Zeit, wo man glaubt, den Buddy fürs Leben gefunden zu haben, bevor das Erwachsenwerden jeden auf einen anderen Weg schickt. Obwohl sich die Jungs in Close einander kennen wie sich selbst, bleibt doch eine Ebene unberührt: Die der Gefühle. Und so scheint es, als würden sich beide mehr zueinander hingezogen fühlen als es bei Freunden wohl üblich ist. In der Schule darauf angesprochen, lehnt Léo seine Zuordnung als latent homosexuell entschieden ab, Rémi hingegen sagt nichts. Und muss in Folge zusehen, wie sein bester Freund sich distanziert. Das geht so weit, bis dieser ihn verstößt. Und das Drama erst so richtig seinen Anfang nimmt.

Der liebevolle, warmherzige Blick, den Léo im Rahmen eines musikalischen Auftritts von Rémi diesem zuwirft, ist eine Zuneigungsbekundung schlechthin. Ist viel Respekt, Anerkennung und vielleicht doch ein bisschen mehr. Dieser Umstand aber kommt nie zur Sprache. Weil in einer Welt wie dieser niemand beigebracht bekommt, Gefühle auszudrücken. Das weiß man als Kind nicht, das weiß man als Erwachsener schon gar nicht mehr. Vor allem Buben und Männer sind hier eher ratlos. „Irrationale“ Emotionen einzugestehen zeugen von Schwäche, darüber hinaus scheint es, als würde es das Umfeld wenig interessieren. Wie damit umgehen? Und wie damit umgehen, wenn so etwas wie die erste Liebe im Spiel ist?

Lukas Dhont (unbedingt sehenswert: Girl) hat das Dilemma des Empfindens allerdings nur zum Anlass genommen, um etwas anderes zu erzählen. Es ist eine Sache mit Verlust und Schuld, mit Schmerz und Widergutmachung. Close steht plötzlich ganz woanders, als er sich meines Wunsches nach hätte positionieren sollen. Vielleicht ist das die Unberechenbarkeit des Lebens selbst, die plötzlich in ein Leben donnert wie ein Himmelskörper – und irreversible Spuren hinterlässt. Womöglich ist es Dhont ein Anliegen, Emotionen niemals zu unterschätzen oder kleinzureden, schon gar nicht wegzudrängen. Nirgendwo sonst sind Gefühle ein so wichtiger Baustein ins Leben wie in der Jugend. Diese zu missachten, kann den Worst Case auslösen. In dieser Finsternis findet sich auch dieser Film wieder, und wir uns mit ihm. Close ist daher weniger ein queerer Film als ein universelles Drama, das in Bildern, die vorrangig versuchen, in Gesichtern zu lesen und sich an dem, was zwischen den Wörtern liegt, sattsieht, seine Botschaft verstärkt.  Doch es wäre wohl ratsam, sich irgendwann selbst emotional zu distanzieren vor einer nicht auszudenkenden Möglichkeit, die es unmöglich machen würde, glücklich weiterzuleben. Dhont will Gefühle als etwas anerkannt wissen, dass sich, frei von Floskeln, schamlos mitteilen lässt. Bevor es vielleicht zu spät sein kann.

Close

Pleasure

ALICE IM PORNOLAND

5/10


pleasure© 2022 Plattform Produktion


LAND / JAHR: SCHWEDEN, NIEDERLANDE, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: NINJA THYBERG

CAST: SOFIA KAPPEL, REVIKA REUSTLE, EVELYN CLAIRE, CHRIS COCK, DANA DEARMOND, KENDRA SPADE, MARK SPIEGLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Viele machen es, und kaum einer spricht darüber: Pornos schauen. Denn die Libido lässt sich schwer einsperren. Und Sex, wann immer Mann will, kann Mann schließlich nicht einfordern. Das war vielleicht in früheren Zeiten so, als Frauen den ehelichen Pflichten nachkommen mussten, was wiederum noch nicht so lange her ist. Die beste Alternative: Pornos eben. Mann weiß, wie Mann sich helfen muss – also gibt’s dafür eine Industrie, die Kohle scheffelt bis zum Abwinken. Ein Patriarchat ist das Ganze, viel mehr noch als das Model-Business. Zwischen beiden kann es durchaus zu Überlappungen kommen – je nachdem, wofür das eine oder andere Model gebucht werden will. Denn die Freiheit, zu entscheiden, was man wo und mit wem für Geld macht, ist in dieser Branche oberstes Gebot. Eine Art Persilschein, den die schwedische Regisseurin Ninja Thyberg für ihr Publikum klar verständlich an den Bildrand heften möchte.

Doch wer sind diese Kandidatinnen, die glauben, frei entscheiden zu können, was sie zeigen oder tun möchten? Junge Mädchen wie Linnéa, die sich den Künstlernamen Bella Cherry gibt und von weit her aus Schweden nach Amerika reist, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, um die Standfestigkeit amerikanischer Penisse zu überprüfen und dabei träumt, mit inszeniertem Sex ganz groß rauszukommen. Jede wie sie will, könnte ich meinen, es ist ja schließlich eine Sache der Freiheit – und natürlich lässt sich als 19jähriges Mädchen mit null Erfahrung in diesem Metier die ganze Sache realistisch sehen. Linnéa geht’s vermutlich so wie vielen anderen jungen Frauen mit gefälligem Äußeren, die als Model oder Schauspielerinnen Karriere machen wollen. Das Prinzessinnenoutfit liegt bereits parat, man muss nur die Treppen hoch und dabei nicht den Schuh verlieren, den der Prinz vielleicht vorbeibringt, doch so genau lässt sich das nicht prognostizieren. Heidi Klum hat daraus eine ambivalente Reality-Show gemacht, in der Mädchen vorgeführt und abgewählt werden, wenn sie nicht tough genug sind, Dinge zu tun, die unter ihrer Würde sind. Linnéa versucht es trotzdem. Weiß natürlich nicht, worauf sie sich einlässt, weiß aber, dass nur die harten Sachen wirklich zum Ziel führen. Und sei es, dass es Freundschaften kostet, die eigentlich mehr wert sein sollten als jeder Facial Cumshot.

Obwohl sich alles um Sex dreht, prickelt in Thybergs Film überhaupt nichts. Sex ist hier Technik und Schauspiel, als fixe Zeiteinheit zwischen Vertragsunterzeichnung und Vaginalspülung. Gut, dieser Umstand hinter den Kulissen feuchter Träume war zu erwarten. Dass hier manch ein Boy den besten Freund nicht hochkriegt, ebenso. Die Girls haben genauso wenig Freude dran. Schauspielerin Sofia Kappel lässt als Bella nicht nur einmal klar heraushängen, dass Wohlfühlen irgendwas anderes ist, nur nicht das. Nun, die Vorstellung von etwas und die dazugehörige Realität sind natürlich zwei Paar Schuhe. Das ist in jeder anderen Showbranche genauso. In diesem Business ist die Frau allerdings noch viel mehr ein Spielzeug im Gegensatz zum projektbeteiligten Akteur, denn der ist immer noch Vertreter eines dominanten Geschlechts, welches die Macht hat, die Weiblichkeit zu unterdrücken. Das liegt bei jedem Take unangenehm in der Luft, obwohl Pleasure weit davon entfernt ist, Männer als Monster hinzustellen. Nach Thyberg sind dies allesamt Profis, mit Respekt vor ihren Darstellerinnen und mit geradezu seelsorgenden Empathie. Thyberg bleibt da ebenfalls respektvoll und lässt den indirekt abgebildeten Sex auch nie zum Selbstzweck verkommen.

Dadurch, dass Pleasure aber im Grunde aber kaum Partei bezieht und auch sonst nichts Neues vom Adult-Set berichtet, bleibt das Karrieredrama überraschend flach. Es ist ein abturnendes Lustwandeln zwischen den Pornosparten, natürlich probiert Bella vieles aus, und manches wie Hardcore geht gar nicht. Dem Voyeur wird dabei die Tür vor der Nase zugeknallt, und jenen, die die xte Staffel von Germanys Next Top Model längst satthaben, könnten sich wundern, zumindest ansatzweise wieder dort gelandet zu sein. Nicht auszudenken, was der Österreicher Ulrich Seidl aus dem Stoff gemacht hätte. Doch da hält schon sein ungeschönter Blick Models für mehrere Jahrzehnte vor. Pleasure ist vom Tabu zu sehr abgelenkt, greift den eigentlichen Konflikt, den der ganze Film eigentlich zum Thema haben sollte, erst viel zu spät auf und weiß nicht, ob es dokumentieren oder dramatisieren soll. Ein eigentümlicher Hybrid also, so lustlos wie der Akt vor der Kamera.

Pleasure