One Battle After Another (2025)

DER DUDE DES UMBRUCHS

7/10


© 2025 Warner Bros. Pictures


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: PAUL THOMAS ANDERSON

DREHBUCH: PAUL THOMAS ANDERSON, NACH DEM ROMAN VON THOMAS PYNCHON

KAMERA: MICHAEL BAUMAN

CAST: LEONARDO DICAPRIO, SEAN PENN, CHASE INFINITI, TEYANA TAYLOR, REGINA HALL, BENICIO DEL TORO, WOOD HARRIS, ALANA HAIM, D. W. MOFFETT, TONY GOLDWYN, ERIC SCHWEIG U. A.

LÄNGE: 2 STD 42 MIN


Gerade noch auf der Couch, vernebelt bis dorthinaus, im Fernsehen läuft The Battle of Algiers, untermalt von den Takten eines Ennio Morricone, da läutet auch schon das Festnetz. Wie denn, was denn? Ein verfilzter Leo DiCaprio, der sich mal ordentlich gehen lassen darf, wird eiskalt abgeduscht, als sich Stimmen melden, die vor sechzehn Jahren zum letzten mal an sein Ohr drangen. Die Revoluzzer sind wieder da, und das niemals oder nur langsam älter werdende, unrasierte Babyface mit fettiger Mähne soll sich sputen! Natürlich kommt der Mann dann doch irgendwie in die Gänge, aber nur so, als wäre er hinter sich selbst her, ohne sich einzuholen. Doch wie heisst es so schön: Move your ass, your mind will follow.

Revolution ist geil

Nach diesem Leitsatz stolpert der Star also durch ein Chaos aus Staatsgewalt und den Morast der Verzweiflung ob vergessener Passwörter. Wir kennen das – wir scheitern, wenn wir uns bei unserem Lieblingsstreamer einloggen wollen, wenn der mal ein Update hatte. Es ist zum Haareraufen und Speichelspucken, zum Zetern und Schimpfen – all das, was DiCaprio gut kann und gerne tun will. Auf diese Weise wird uns allen aber klar: Auch wir könnten, wenn die Kacke so sehr am Dampfen ist, unseren inneren Schweinehund, der da als Couchpotato Wurzeln schlägt, ins Gesicht schlagen, uns aufraffen und den Widerstand besingen – gegen die weiße Herrenrasse, gegen den Faschismus, gegen die Indoktrinierung von rechtem Gedankengut. Denn: Revolution ist geil. Saugeil sogar. Paul Thomas Anderson findet das genauso cool. Zumindest so sehr wie den Autor Thomas Pynchon, aus dessen Schaffen er nun den zweiten, seiner Meinung nach einzig verfilmbaren Roman auf die Leinwand stemmt – allerdings nicht nur aus dem Grund, um nächstes Jahr bei den Filmpreisen groß abzuräumen. Sondern, weil sich Pynchon anscheinend maßlos gut dafür eignet, seinen individuellen Filmstil zu tragen, über hügelige Straßen, an militanten Nonnen vorbei, durch muffige Fluchtwege unter der Erde bis hin zu Sean Penns völlig entgleister Visage, dessen Mimik fast schon einen Film im Film darstellt.

Linksradikale Ballerfrauen

Diese Idee von der geilen Revolution, die muss Anderson ausschlachten. Die Agenden sind wohl zweitrangig, obwohl uns klar wird: Ja, es geht um Migration, ob illegal oder nicht, um Ausweisung, um Abschiebung, um die Brandmarkung aller nicht in den USA Geborenen als Drogenhändler, Katzenfresser und Streitsüchtige, die für Unreinheit in einer Reagan/Trumpwelt sorgen – schließlich sind die Ideen des Möchtegern-Alleinherrschers über die ganze Welt alle nicht neu, sondern halbwegs aufgetaut, um sie den Leuten zwischen Arsch und Couch zu schieben, als bequemes Kissen, weil die Sitzschwielen aufgrund der vielen Bequemlichkeit nicht mehr ausgesessen werden können. Doch anstatt sich den politischen Umständen, Umwälzungen und dem Kern der Sache hinzugeben, ist es wohl besser, die Ruppigkeit der Revolution als Ikonographien der gewaltbereiten Aufsässigkeit hinzustellen, ohne jemals darin die Chance ersichtlich machen zu können, dass all diese linksradikalen Ballerfrauen, ob hochschwanger oder im Tütü, mit ihrem Modus Operandi auch nur irgendetwas am System zu ändern.

Mehr als ein Thriller?

Revolution ist so ein Wort, das klingt nach Che Guevara und vielleicht auch Krieg der Sterne, nach rotzfrechen Heldinnen und Helden, die als schnöde Kriminelle die gute Sache nur noch kolportieren. Mit dieser Prämisse hat One Battle After Another so seine Probleme – als „Film der Stunde“, wie manche sagen, gibt Anderson seinem schauspielerischen Sprengkommando eine allzu lange Lunte in die Hand. Sie brennt und brennt, und währenddessen tut sich ein überraschend geradliniger und überhaupt nicht sonderlich komplexer Thriller auf, der in seinen besten Momenten die Absurdität von Breaking Bad atmet, orientierungslos grimassierend im Niemandsland des wüstenhaften Grenzgebiets – glutheisse Kulissen, die DiCaprio niemals dazu bewegen, seinen Bademantel abzulegen, denn der hat schließlich jetzt schon so sehr Kultstatus, dass sich das Outfit dieses Spätrevoluzzers bereits schon beim Faschingsprinzen bestellen lässt. Der Thriller aber ist handwerklich so sehr ausgereift, dass es allemal für denkwürdiges Kino reicht. Etwas gar penetrant mit Klavierklimpern unterlegt, sind nach einem grob gehobelten Epilog, der keine Chance dafür lässt, mit den Figuren warm zu werden, die Rechten und Linken positioniert. Erst jetzt sprudelt Anderson mit seinem Können nur so hervor, setzt groteske Sequenzen, Arthouse-Optik und Robert Altman-Stilistik, in Kubrick‘schem Weitwinkel und lakonischer Ironie.

Wenn am Ende die irre Suspense in einer schwindelerregenden Berg- und Talfahrt einer Autoverfolgungsjagd die niemals ihrem Schicksal entkommenden Gestalten aufeinandertreffen lässt, hat man das Gefühl, etwas Erfahrenswürdiges gesehen zu haben, etwas filmgeschichtlich Kultiges, und damit meine ich nicht zwingend Sean Penn, der hier als zum Femdschämen ideologisierter Tintifax DiCaprio die Show stiehlt. Wohl eher ist es die Erkenntnis, dass das Private, Intime, in dessen Dunstkreis sich jeder selbst der Nächste ist, weit mehr Priorität hat als der weltbewegende Umbruch, zu dem es nie kommt, weil immer wieder jemand anderer im Weg steht, dem das Hemd näher ist als der Rock.

One Battle After Another (2025)

One to One: John & Yoko (2024)

REVOLUZZER SEHEN FERN

7/10


© 1972 Bob Gruen / http://www.bobgruen.com


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: KEVIN MCDONALD, SAM RICE-EDWARDS

MIT ARCHIVAUFNAHMEN VON: JOHN LENNON, YOKO ONO, ANDY WARHOL, STEVIE WONDER, ALLEN GINSBERG, JERRY RUBIN, MAY PANG, GEORGE WALLACE, RICHARD NIXON, SHIRLEY CHISHOLM, CHARLIE CHAPLIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Niemandem braucht man noch erklären, wer die beiden sind: John Lennon und Yoko Ono, weltberühmte Ikonen des Umbruchs und für eine bessere Welt. Allround-Genies, Universaltalente, Massenbegeisterer, wenngleich Yoko Onos experimentelle Musik vielleicht nicht bei allen den Nerv trifft. Des weiteren soll ihr ja bis heute, so vermute ich mal, vorgeworfen werden, Mitschuld am Bruch der Beatles zu haben. Viel mehr waren wohl gesellschaftliche und vor allem persönliche Umbrüche und Differenzen innerhalb der Vier ausschlaggebend dafür, dass dem Pilzkopf-Rock nach zehn Jahren die Kraft ausging. Die Rolling Stones hingegen, die es auch schon gab, als die Halbgötter aus Liverpool Kreischalarm auslösten, setzten damals aufs richtige Pferd – auf den Rock, und auf die nötige Flexibilität, um auf dem Trend der Jahrzehnte mitzureiten. McCartney hatte danach seine Solokarriere, Lennon ebenso. Und um diesen Mann mit der runden bunten Brille und den hippen Koteletten geht es hier, der ein Jahr nach dem Beatles-Aus mit seiner Partnerin Yoko Ono in Greenwich Village, New York, ein Zweizimmer-Apartment bezog, und das für zwei Jahre, um sich ins Bett zu verkriechen und vorrangig fernzusehen, denn dieses Medium, das hatte Anfang der Siebziger noch einen gänzlich anderen Stellenwert und eine ganz andere sinnstiftende Bedeutung als heutzutage.

Heutzutage ist Fernsehen wohl eher Berieselung und Dokusoap-Eskapismus mit Schwerpunkt Kochen, damals war es, da es kein Internet gab, Informationsquelle Nummer eins. John und Yoko waren auf diese Weise wohl immer im Bilde, was gerade geschah in diesen Vereinigten Staaten unter Präsident Nixon, der kurz davor stand, zur zweiten Amtszeit gewählt zu werden. Unter Nixon lag vieles im Argen, der Vietnamkrieg tobte, Rassendiskriminierungen waren en vogue, Watergate bahnte sich an, Reporter pflügten mit ihrem revolutionär anmutenden Drang zur Investigation durch die finsteren Winkel einer westlichen Welt, von denen es viele gab – darunter Willowbrook, eine Anstalt für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, denen man aber aufgrund akuten Personalmangels alles andere als besondere Pflege zukommen ließ. Diese skandalösen, unmenschlichen und verstörenden Bedingungen führten dazu, dass Lennon und Ono ein Benefizkonzert gaben, dass wie Live Aid in die Musikgeschichte eingehen sollte. One to One hieß das damals, 1972 im Madison Square Garden abgehalten. Kevin McDonald, der als dokumentarischer Archivfilmer schon einige tüchtige Arbeiten vorzuweisen hat, darunter die Chronik des Olympiaterrors in München oder den Überlebenskampf eines Bergsteigers (fesselnd: Sturz ins Leere), widmet sich nun, gemeinsam mit Cutter Sam Rice-Edwards, nicht nur der Musik, sondern überhaupt einer ganzen Portion amerikanischer Zeitgeschichte zwischen Politik, Gesellschaft und Kultur. Das alles bewegt sich in Archivaufnahmen rund um die Persönlichkeiten von Lennon und Yoko herum, ohne sie bedeutend hervorzuheben. Er lässt die beiden lediglich interagieren, reagieren, die Initiative ergreifen dank idealistischer Visionen, die eine bessere Welt verheißen könnten als jene, die sich damals gebärdete.

Wie Sam Rice-Edwards (und weniger McDonald) es zusammenbringt, diese vielen kleinteiligen und oft nur sekundenlangen Sequenzen aneinanderzureihen, ohne sich notgedrungen in einer assoziativen, gar kontemplativen Collage zu verlieren – diese Fertigkeit verleiht dem dokumentarischen Essay ordentlich Kraft und auf gewisse Weise auch Strenge. Das akkurat gelegte Mosaik aus Unmengen an Archivmaterial bringt beruhigende Ordnung in ein beunruhigendes Zeitbild. Von vielen Dingen, von denen McDonald berichtet, war ich bislang nicht im Bilde – Willowbrook zum Beispiel sagte mir gar nichts. Ich wusste auch nichts von dem (nicht umgesetzten) Vorhaben Lennons, im Rahmen einer Tournee Kautionsgelder für womöglich unschuldig Inhaftierte zu zahlen, die sich ihre Freiheit niemals leisten konnten. Innovativ dabei, wie McDonald telefonisch geführte Interviews und Künstlergespräche rein als typografische Arrangements in sein geordnetes Kaleidoskop integriert. Die zurückhaltende Anordnung und die kommentarlose Betrachtung einer denkwürdigen Phase aus kreativen Synergien, eingebettet in den Programmpool amerikanischen Retro-Fernsehens, lassen One to One: John & Yoko, inspirierend und faszinierend zugleich, zu einem aufschlussreichen Realtraum eines abhandengekommenen Damals werden, in dem die Weltordnung genauso an der Kippe stand wie sie es heute tut.

One to One: John & Yoko (2024)

Dune: Part Two (2024)

IM SAND DER ZEITENWENDE

9,5/10


dune2© 2024 Warner Bros.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: DENIS VILLENEUVE

DREHBUCH: DENIS VILLENEUVE, JON SPAIHTS & CRAIG MAZIN, NACH DEM ROMAN VON FRANK HERBERT

CAST: TIMOTHÉE CHALAMET, ZENDAY, REBECCA FERGUSON, JAVIER BARDEM, STELLAN SKARSGÅRD, AUSTIN BUTLER, DAVE BAUTISTA, JOSH BROLIN, CHRISTOPHER WALKEN, FLORENCE PUGH, CHARLOTTE RAMPLING, LÉA SEYDOUX, SOUHEILA YACOUB, ANYA TAYLOR-JOY U. A.

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Der Wortwitz mit dem Wurm drin ist sicherlich nicht neu, und ja, in diesem Fall vielleicht sogar schon abgedroschen. Ich bemühe ihn aber trotzdem: Obwohl in Dune selbige Tiergattung in überdimensionaler, evolutionsbedingter Monstrosität wohl drinnen steckt, ist Denis Villeneuves Maßstäbe setzendes Meisterwerk gleichzeitig komplett frei davon. Jene Kritiker, die schon als allererste bei der Weltpremiere in London das Werk vorab sichten konnten, und die mich manchmal einem gewissen Erwartungsdruck aussetzen, wenn sie Filme über den grünen Klee hinaus loben, sollen letztlich recht behalten. Mit Dune: Part Two gelingt Villeneuve etwas Bahnbrechendes. Science-Fiction, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hat.

Dabei ignoriere ich den rund drei Jahre zurückliegenden ersten Teil. Der hat mich stilistisch zwar abgeholt, emotional jedoch nicht. Misslungen war Dune: Part One keinesfalls, schon allein deswegen nicht, weil Villeneuve als vorausschauender Perfektionist nichts dem Zufall überlässt und dramaturgisches Timing beherrscht wie vielleicht noch Martin Scorsese oder Christopher Nolan. An Dune: Part One gibt es nichts zu kritisieren – die Schwierigkeit darin bestand jedoch, mit den vielen Charakteren in diesem „Game of Thrones“ der Galaxis vertraut zu werden. Viele bekannte Gesichter reichen da nicht, und so sehr die exzentrisch-ästhetische Bildsprache auch den Atem raubt – den Zugang in diese Welt macht es schwerer als den Zugang in eine Welt, die mit der narrativen Mechanik eines europäischen Mittelalters arbeitet. Diese Welt in Dune liegt, anders als die Welt von Star Wars, weit, weit in der Zukunft. Die Erde ist womöglich nur noch diffuse Legende, ganz anders aber politische Machtstrukturen, die sich über die Jahrtausende erhalten haben und, nicht viel anders als in der Frühzeit des Menschen, immer noch die Machtgier des Alleinherrschers hervorbringen, ohne sich gesellschaftspolitisch weiterentwickelt zu haben. Insofern ist das Machtgefüge in der dystopischen Realität von Frank Herbert eine archaische, vorgestrige. In dieser stecken archaische, vorgestrige Figuren, die jede einem gewissen Zeremoniell folgt. Dieses unnahbare Ensemble kennenzulernen, dafür war Dune: Part One genau richtig. Ein Vorspiel sozusagen, eine Einführung, die Ambivalenz gerade zulassen, die polarisieren muss. Und nicht nur darauf aus war, zu gefallen.

Im ersten Teil ist dann auch nicht viel passiert, der Plot bleibt überschaubar, wenn auch grandios bebildert. Mit Antiheld Paul Atreides auf dem Weg in die Wüste endet dieser auch, um alle Erwartungen zu sammeln für den großen, gigantischen Clash, für den Ur-Krieg der Sterne, den schon Alejandro Jodorowsky mit irrer Besetzung, angefangen von Orson Welles über Mick Jagger bis Salvador Dali (!) als wohl größten Film, der je existiert haben wird, verfilmen wollte. In der Dokumentation Jodorowsky’s Dune erfährt man, dass das oberarmdicke Storyboardbuch nur darauf gewartet hätte, verfilmt zu werden. Doch „ohne Geld ka Musi“ – und so ist dieser Zug mit Villeneuves eigenem Jahrhundertprojekt abgefahren. Ein Remake wird es für Dune nicht mehr geben. Denn besser lässt sich Herbert kaum verfilmen.

Nicht nur, dass dieses heilige erste Buch, dass viele Fortsetzungen und Ableger fand und noch genug Stoff bieten würde für ein ganzes Franchise, endlich doch noch jene Verfilmung bekommen hat, die es, wie schon Der Herr der Ringe auch, verdient hat – die Maßstäbe für das Kino der Science-Fiction und überhaupt des Phantastischen werden neu gesetzt. Dune: Part Two ist ein Opus Magnum, indem alle hier Verwendung findenden Kunstrichtungen ineinandergreifen und sich gegenseitig antreiben. Da gibt es diese einzigartige Bildsprache, diese Vorliebe für Wüstenstürme, Staubnebel und den Rauch brennender Trümmer, die wie ikonische Kolosse tonnenschwer auf die Erde stürzen. Da gibt es die Grazie der Gravitation entronnener, technologischer Körper, bizarre Raumschiffe und Zweckmaschinen wie albtraumhafte Panzer, die an den Stil von H. R. Giger erinnern und eine Reminiszenz an Jodorowskys gescheiterte Träume sein könnten. Da gibt es Gestalten in formverändernden Kostümen, die in geometrischen Inneren eines architektonischen Brutalismus Welten verändern. Stellan Skarsgård zum Beispiel als levitierender Baron Harkonnen wird zum Zerrbild eines gewissen russischen Diktators, auf den die schwarze Sonne seines Heimatplaneten herabscheint, während ein psychopathischer Thronfolger mit schwarzen Zähnen Freude am Ausweiden seiner Opfer hat. Längst wird klar: Was J.R.R.Martin für die High Fantasy schwerterschwingender Nibelungen-Interpreten, ist Herbert wie demzufolge auch Villeneuve für die Science-Fiction. Das Portal zum Shakespeare’schen Königs- und Revolutionsdrama tut sich auf, zum geopolitischen Lawrence von Arabien Lichtjahre weit von seinem Ursprung entfernt. Aus Peter O’Toole wird Timothée Chalamet, dessen Augen immer blauer werden und der bald Geheimnisse kennen wird, von denen er lieber nichts gewusst hätte. Seine Figur bleibt strebsam, doch bereits ansatzweise ambivalent. Wie die doppelbödige Mutterfigur Sarah Ferguson. Mit ihr erhält Dune: Part Two die kritische Komponente einer Betrachtung von religiösem Fundamentalismus. Unschwer ist Kritik am Islamismus zu erkennen, andererseits aber auch das Hinterfragen der Selbstverständlichkeit, die Rolle eines Messias einzunehmen. Dune: Part Two ist somit ein nicht zu unterschätzendes Politikum mit ganz viel zwischenmenschlichem Drama, und selbst Zendaya tritt aus ihrer Celebrity-Blase heraus und gibt sich ihrer zornigen Figur hin, die als Katalysator dafür dient, letztendlich so sehr in den Sog des Geschehens gerissen zu werden, dass dieses Mittendrin zur Bewusstseinserfahrung wird – zum opernhaften Event aus schweren, unirdisch klingenden Geräuschen, einem wummernden Score, der die Wüste und ihre Beschaffenheit zu einem epischen Schlachtfeld werden lässt, wie in Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs die Ebene vor Minas Tirith, auf der die letzte Schlacht gegen Sauron geschlagen wird.

War Part One noch die Ruhe vor dem Wüstensturm, lässt Part Two der ganzen aufgestauten Energie freien Lauf. Wie das Herannahen eines Gewitters, das die ersten Sturmböen bringt, während hier nun das Unwetter mit all seiner Wut losbricht. Man braucht nicht glauben, dass die ganze Kraft einem freien Spiel unterliegt. Villeneuve kanalisiert sie, strukturiert sie, gibt ihr Raum. Will man sich als Kritiker einer fast schon arroganten Nörgelei auf hohem Niveau hingeben, ließe sich maximal der sprunghafte Wechsel zwischen den undefinierten Kapiteln anmerken – vom fließenden Übergang hält Villeneuve nicht viel. Wohl auch, um zeitlich nicht auszuufern. Diese Zügel sitzen fest, und geben dem Werk auch das entsprechende Fundament, um der Wucht an audiovisuellen Eindrücken standzuhalten.

Villeneuve weiß genau, dass er auf dieses Fundament seine Dramatis Personae stellt, dass er das Menschliche immer als allererstes hochhalten muss, um seine Figuren in all diese schwebenden Objekte einsteigen; um sie herunterblicken zu lassen von der Balustrade eines für die Ewigkeit errichteten Gebäudes. Geometrie, Symmetrie – und die Wildheit eines Planeten: Das, was sich ausschließt, entwickelt unter der durchgetakteten Arbeit des Filmemachers und seiner Crew ungeahnte Synergien, die es tatsächlich schaffen, diese fremde, bizarre Welt immersiv erleben zu lassen und als Ganzes zu begreifen. Und das nur in Folge von zwei Filmen, die letztlich den Großvater des Sandwurms reiten – felsenfest stehend, den Blick nach vorne, die Zügel fest im Griff. Dune: Part Two ist wie ein Ritt auf einem solchen Monster. Eine formvollendete, seinem System perfekt angepasste Monstrosität von Kino, die man reiten sollte, bevor das Leben vorbei ist.

Dune: Part Two (2024)

Leave the World Behind (2023)

DA IST WAS FAUL IM BUNDESSTAAT

8/10


leavetheworldbehind© 2023 Netflix


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: SAM ESMAIL

CAST: JULIA ROBERTS, ETHAN HAWKE, MAHERSHALA ALI, MYHA’LA HERROLD, FARRAH MACKENZIE, CHARLIE EVANS, KEVIN BACON, ERICA CHO, VANESSA ASPILLAGA U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Wochenend‘ und Sonnenschein und mit dem Notstand ganz allein. Irgendwas ist da faul im Staat, nur könnte die Familie rund um Julia Roberts, wenn’s hart auf hart geht, auch noch dumm sterben. In Zeiten wie diesen, wenn die Elektronik nicht mehr rund läuft, das Smartphone keine Verbindung aufbauen und Töchterchen ihre Friends-Folge nicht mehr zu Ende gucken kann, ist ein ganz anderes Ende nah. Zumindest fühlt es sich so an. Und es fühlt sich auch danach an, als würde uns M. Night Shyamalan wieder in die Irre führen. Denselben Stoff aber nochmal zu verbraten, den er schon mit Knock at the Cabin mehr recht als schlecht hingefriemelt hat, das würde er wohl nicht wagen.

Ganz genau. Von Shyamalan ist Leave the World Behind erstens mal nicht. Und zweitens auch nicht von Jordan Peele. Man könnte es anders formulieren und behaupten, auf gewisse Weise steht hinter dieser Mystery niemand geringerer als das Ehepaar Obama. Die beiden haben den Netflix-Streifen schließlich mitproduziert, doch inszeniert hat das Ganze Sam Esmail (Mr. Robot). Der hat auch gleich das Skript geliefert und ein bisschen was an Geld auch noch hineingebuttert. Gut war’s, und gelohnt hat sich’s obendrein. Das atmosphärische Kammerspiel mit Starbesetzung schlägt in der fiebernden Erwartung auf die Katastrophe, die alles auslöschen wird, sämtliche Filme des Genres in die Flucht. Leave the World Behind hat den Mut zum Innehalten, legt den Fokus auf soziale Interaktion und schürt mit seltsamen Vorkommnissen und manchmal albtraumhaften Zuständen die Furcht vor dem Kollaps, der irgendwann eintreten wird. Für welchen Bunker gebaut, Notfallboxen herangeschafft und vielerorts gebetet wird. In diesem Film treffen irrlichternde Covid-Fieberträume auf die hart erworbene Geduld quälenden Wartens, trifft das Trauma der Capitol-Stürmung auf die mutmaßliche Unterwanderung ganzer Brigaden, die von der Weltenachse des Bösen abgezogen wurden. Da sich keiner einen Reim darauf machen kann anhand dessen, was passiert; da die akute Ahnungslosigkeit folglich alle auf einen Nenner bringt, gelingt Esmails Szenario die tapfere Komprimierung auf ein Kammerspiel ohne Wände, in der die dreidimensionale Skizzierung der Charaktere fast schon mehr im Vordergrund steht als das kontinentale Dilemma.

Je länger Julia Roberts im Filmbiz mitmischt, umso besser wird sie. Schön, sie diesmal in einer ganz anderen, geradezu hemdsärmeligen Rolle zu bewundern, die an ihre Erin Brokovich erinnert, nur diesmal ist sie die Mutter zweier Kinder und verheiratet mit dem charmant-lässigen Ethan Hawke, dem das Bedürfnis nach Harmonie ins Gesicht geschrieben steht. Diese vierköpfige Familie also fährt übers Wochenende an die Küste und mietet über Airbnb das Haus des wohlhabenden Mahershala Ali, der, als die ersten Anzeichen aufpoppen, das irgendetwas nicht stimmt, gemeinsam mit seiner Tochter ebendort aufschlägt. Natürlich ist Mama Roberts angepisst, denn das ist schließlich ihre Zuflucht, zumindest für die gebuchten paar Tage. Da in den Städten nichts mehr zu funktionieren scheint und Vater und Tochter nirgendwo anders hinkönnen, müssen sich beide Familien irgendwie arrangieren. Während das geschieht, während das Misstrauen zwischen den Fremden wächst und selbst für den Zuseher alles möglich scheint, erfährt die Welt um sie herum einen Paradigmenwechsel der ganz anderen Art. Die Tierwelt scheint sich plötzlich abnormal zu verhalten, Schiffe fahren auf die Küste zu und immer mal wieder treiben schrille Geräusche das Ensemble in den Wahnsinn.

Sam Esmail weiß dabei ganz genau, worauf er in seinem unterschwelligen Katastrophenszenario achten muss. Er zeigt dabei nicht nur, was den urbanen Menschen in seiner Blase so abhängig hat werden lassen, er entzieht ihm auch die Grundlage dafür, sich sicher und geborgen zu fühlen. Das geht langsam vonstatten, dazu braucht es keine Eile, und während der Schrecken so langsam aber doch durch die Ritzen der Türen ins sichere Heim sickert, reagiert jeder Einzelne der Betroffenen ganz unterschiedlich auf diesen Ausnahmezustand. Wie Esmail die Reaktionen derer dafür verwendet, griffige Charaktere zu formen, ist das besondere Herzstück dieser Home Cinema-Überraschung. Leave the World Behind überzeichnet nichts, hält sich zurück, setzt Akzente, die zwischendurch mehr aufs Gas treten als in anderen Momenten, in denen man meinen könnte, nichts davon, was da draußen geschieht, könnte relevant sein. Ist es allerdings doch, und dann kommt noch Kevin Bacon ins Spiel, der so seine Ahnungen hat, und auch die sind nur Futter für Verschwörungstheorien, die vielleicht wahr sind oder auch nicht.

Schön ist, und das macht der Film ganz ausgezeichnet: Ein Perspektivwechsel findet nie statt. Der Story-Twist bleibt aus, schon allein deswegen ist das Ganze kein Shyamalan. Statt solcher erwartbaren Mechanismen geht Esmail dabei ordentlich in die Tiefe und rührt in der selbstverständlichen Auffassung der Wohlhabenden herum, niemals um die gesellschaftliche Ordnung bangen zu müssen. Hervor kommen Verhaltensweisen, die den Verzweifelten die Schamesröte ins Gesicht treibt. Entkommen kann man ihnen nicht, und letztlich liegt das Heil in der Zerstreuung. Wofür Esmail ein rundes, in seinem leisen Zynismus pointiertes Ende findet. Leave the World Behind ist mehr als eine Dystopie – es ist vor allem äußerst kluge Gesellschaftskritik.

Leave the World Behind (2023)

Zeit der Kannibalen (2014)

GEFANGEN IN DAGOBERTS GELDSPEICHER

4/10


zeitderkannibalen© 2014 Farbfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2014

REGIE: JOHANNES NABER

BUCH: STEFAN WEIGL

CAST: SEBASTIAN BLOMBERG, KATHARINA SCHÜTTLER, DEVID STRIESOW U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Johannes Nabers sarkastisches Stück deutscher Fremdschäm-Politik konnte mich vor zwei Jahren so ziemlich begeistern: Curveball – Wir machen die Wahrheit. Aufgespielt haben der sensationelle Sebastian Blomberg als einer, der nicht weiß, wie ihm geschieht, weiters Michael Wittenborn und Thorsten Merten. Alle drei wie für Satire gemacht, noch dazu vor dem erschütternden Hintergrund einer Realgroteske, die den Lauf der Geschichte nachhaltig verändert hat. Ich sage nur: Biowaffen im Irak. Und warum die USA letztendlich Saddam Hussein gestürzt und das Land in irreparables Chaos versinken ließ. Von so einer Brisanz ist Nabers zweiter Spielfilm, Zeit der Kannibalen, leider weit entfernt. Doch nichts für ungut, das ist nur meine Meinung, denn wenn man sich so umhört in den Nachrichtenarchiven rund um Kino und Kunst, so kommt Zeit der Kannibalen ziemlich gut weg – als ein auf den Punkt gebrachtes Kammerspiel zu Gier und Moral, Kapitalismus und Ausbeutung.

Der Inhalt liest sich zugegebenermaßen tatsächlich so, als wäre ein spannender Zermürbungskrieg zu erwarten, der die drei global agierenden Investment-Junkies Devid Striesow, Katharina Schüttler und natürlich wieder Sebastian Blomberg gegeneinander so lange aufhetzt, bis sie sich entsprechend zerfleischen. Schadenfreude garantiert, denn bei so viel kapitalistischer Arroganz macht es Spaß, die Verantwortlichen für die klaffende Arm-und-Reich-Schere sich selbst den Garaus machen zu sehen. Vielleicht aber hätte man nicht erwartet, dass Zeit der Kannibalen unbedingt so abstrakt sein will wie das Bühnenstück eines sich selbst überschätzenden Theatermachers. Naber bettet seine zynische Dialogkomödie nicht in eine Realität wie später bei Curveball, sondern lässt seine Protagonisten in generischen Hotelzimmern ihrer Arbeit nachgehen, während draußen vor den Fenstern eine aus Würfeln errichtete Skyline ebenso generischer Dritte-Welt-Städte das Gefühl von Internationalität vermittelt. Wenn schon die Kulisse der Hotels als wohlige Blase für Gier und Missgunst anmutet, ist die künstliche Außenwelt eine zweite, die das ganze Geschehen von der Wahrhaftigkeit abschirmt. Mag sein, dass diese Reduktion den Fokus viel mehr auf das Erstarken und Fallen einer geldmachenden Welt reduziert – die Rechnung geht dennoch nicht auf.

Dabei ließe sich allerhand aus diesen Spinnereien, die in diversen Kämmerleins gesponnen werden, abschöpfen. Der Plot ist nämlich dieser: Striesow und Blomberg geben zwei Wirtschaftsvertreter einer ominösen Company, die für alle Konzerne dieser Welt stehen kann – ins Detail geht Naber dabei nie. Diese erfahren, dass sie statt ihres dritten Kollegen Hillinger, der, wie sich später herausstellen wird, Suizid begangen hat, eine aufstrebende Quereinsteigerin namens Bianca zugeteilt bekommen. Während sie von einem zu schröpfenden Staat in den nächsten reisen, entsteht so das satirische Bild eines Trio Infernal, das sich gegenseitig aufhetzt, erniedrigt oder belehrt. Währenddessen allerdings scheint die Company, für die sie arbeiten, seltsame Entwicklungen zu durchleben, die nicht gerade sinnbildlich sein sollen für das goldene Zeitalter des Kapitalismus.

Naber hätte eher beim Sezieren realer Ereignisse bleiben sollen, anstatt den Zynismus gefühlskalter Globalisierungssöldner in ein ebenso zynisches Lehrstück zu packen. Dabei bringen die verbalen Duelle keine der Figuren weiter, sie sind in ihren Ansichten genauso gefangen wie wir als Zuseher in diesen unleidigen sterilen Räumlichkeiten. Zeit der Kannibalen bleibt viel zu künstlich, kaltschnäuzig und unnahbar. Als die kleine Chronik eines selbstgemachten Untergangs vermag lediglich die am Ende hereinbrechende Anarchie eines Krieges ein bisschen Menschlichkeit in Form von Panik aus den zweidimensionalen Figuren herauszukitzeln.

Zeit der Kannibalen (2014)

Die Aussprache

DIE ENTBEHRLICHKEIT DER MÄNNER

6/10


womentalking© 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SARAH POLLEY

BUCH: SARAH POLLEY, NACH DEM ROMAN VON MIRIAM TOEWS

CAST: ROONEY MARA, CLAIRE FOY, JESSIE BUCKLEY, BEN WISHAW, FRANCES MCDORMAND, JUDITH IVEY, SHEILA MCCARTHY, KATE HALLETT, LIV MCNEIL, EMILY MICTHELL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Alle Männer sind böse. Zumindest hat das Jessie Buckley zuletzt in Alex Garlands surrealem Kunsthorror Men so erlebt. Jeder Mann, dem Buckley da begegnet war, hat das selbe Gesicht getragen. Wie gruselig. Und beklemmend obendrein. Jetzt ist Jessie Buckley wieder dieser Testosteron-Hydra ausgesetzt. In Sarah Polleys Regiestück Die Aussprache (im Original: Women Talking) ist aber dann doch nicht jeder einzelne innerhalb dieses genitalgesteuerten Patriarchats so richtig schlecht. Ben Wishaw zumindest nicht. Doch der ist aus seiner Sicht ein Verlierer, ein ehemaliger Verstoßener, der nur deswegen zu seiner mennonitischen Gemeinde irgendwo in Bolivien zurückkehren durfte, weil er für jene als Lehrkraft von Nutzen sein kann. Er ist es auch, der Protokoll führt, sitzend auf einem Ballen Stroh, das Notizbuch vor sich liegend und als einziger des Alphabets mächtig. Die Frauen sind das nicht, aber zumindest dem Willen Gottes unterworfen oder besser gesagt jenem Willen, denn die evangelische Freikirche den Männern zugestanden hat. Man sieht wieder: Religion und Gleichheit vertragen sich nicht. Und haben es niemals getan. 

Und eines Nachts ist es dann passiert: Einer der Männer aus der Gemeinde wird während eines sexuellen Übergriffs ertappt – um sich aus der Sache rauszuwinden, verpfeift er alle anderen, die dasselbe getan haben – jahraus, jahrein. Der Glaube sagt: duldet nur, dafür kommt ihr ins Himmelreich. Die Frauen meinen: Mumpitz, so geht das natürlich nicht weiter. Also werden all die Männer angeklagt, die übrigen versuchen, eine Kaution für all die Verbrecher zusammenzubekommen, also bleiben nur die Frauen in der Gemeinde zurück, um zu beraten, was sie nun tun sollen. Da gibt es drei Möglichkeiten: Alles so belassen wie es war und den Männern vergeben (was die Freikirche auch verlangt), zu bleiben und zu kämpfen oder alles Notwendige zusammenzupacken und wegzuziehen. Irgendwohin, wo keine Männer sind, denn die sind ohnehin entbehrlich. Über das Für und Wider zur kommenden Entscheidung wird diskutiert, geredet und geweint, geschrien und gelacht. Dann wieder vorgeworfen und um Verzeihung gebeten. Am Ende wird der Schlussstrich in welcher Form auch immer gezogen werden. Hoffentlich aber im Sinne der Menschlichkeit, der Gleichheit und der Freiheit für das weibliche Geschlecht.

Woher die Kraft beziehen, um die Konventionen zu brechen? Woher den Mut zur Selbstbestimmung? Sarah Polley (u. a. Take this Waltz) will Antworten und hat sich dem auf Tatsachen beruhenden Roman von Miriam Toews angenommen, der sich aber weniger nach Prosa sondern vielmehr nach Bühne anfühlt. Kann sein, dass im Roman die Vorgeschichten der dargestellten Frauen ebenfalls geschildert werden, doch man kann sich insofern glücklich schätzen, in Polleys Film fast keinen Gewaltdarstellungen ausgesetzt zu sein. Auf Vergewaltigung, Missbrauch von Minderjährigen und Schlägen ist man ohnehin nicht neugierig. Es ist mehr als genug, zu sehen, welche Narben und Wunden all die Frauen zu ihrer Aussprache mitbringen. Das reicht von der ungewollten Schwangerschaft bis zum womöglich aus Inzest entstandenen, missgestalteten Kind. Dazwischen Blessuren und blutende Unterleiber. Die wenigen Momente, in denen wir Zeuge von solchem Gräuel werden, reichen, um sowieso einen Hass auf alles Männliche (mit Ausnahme von Ben Wishaw) zu entwickeln, umso mehr auch deswegen, weil Männer ansonsten in diesem Film gesichtslos bleiben und auch keine Chance bekommen, sich zu äußern. Ist das aber nicht eine viel zu einseitige Darstellung? Könnte man meinen – doch kein einziges Wort würde solche Gewalt rechtfertigen. Missstände wie diese lassen sich in einer erzkonservativen Männerwelt leicht für möglich halten. Demnach hätte dem Film auch daran gelegen sein müssen, mit den erstarrenden Dogmen einer Freikirche aufzuräumen, von denen es viele gibt in den Vereinigten Staaten, und die reaktionärer nicht sein könnten. Doch Gott weist hier immer noch den Weg, die Frauen wollen ihm näher sein, hinterfragen aber viel zu wenig ihre eigene Position innerhalb ihres Glaubens. Was sie bewegt, ist die Frage des Befreiens, weg vom Mann. Die Abstimmung um die Ausgliederung aus einer Paargesellschaft gestaltet sich in entsättigten, dunklen Bildern und mutet an wie das Dialogdrama der Zwölf Geschworenen von Reginald Rose – nur im #MeToo-Kontext. Bis alle einer Meinung sind, vergehen Stunden des Diskurses, doch vieles dreht sich auch im Kreis. Wirklich in die Tiefe gehen die Gespräche nicht.

Doch was zählt, ist das aufgebrochene, verkrustete Machtsystem. Polley hilft ihren gezeichneten Gestalten behutsam aus dem Sumpf des Leidens und sucht den Neuanfang; mal panisch, mal resignierend, mal zuversichtlich. Die Aussprache scheint vieles, was zur #MeToo-Thematik filmisch bereits dargestellt wurde, zusammenzuzählen und auf gleichen Nenner zu bringen. Die Konsequenz daraus mag vielleicht nicht unbedingt die richtige Lösung sein. Aber zumindest eine, die auf idealistische Weise etwas verändern kann.

Die Aussprache

Athena

DIE PLEBEJER PROBEN DEN AUFSTAND

6,5/10


athena© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: ROMAIN GAVRAS

BUCH: ROMAIN GAVRAS, LADJ LY

CAST: DALI BENSSALAH, SAMI SLIMANE, ANTHONY BAJON, ALEXIS MANENTI, OUASSINI EMBAREK U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Natürlich beginnt jede Revolution damit, dass einer, der sich vom System unverstanden und ausgenutzt fühlt, nicht auf stilles Kämmerlein macht, sondern diesen Missmut in die Welt hinausposaunt. Dazu braucht es Mumm und den notwendigen Groll. Dazu braucht es einen impulsgesteuerten Antrieb und auf gar keinen Fall Vernunftdenken. Denn würde man das tun, gäbe es Alternativen, die nicht sofort die Anarchie beschwören würden, sondern taktisch vorgehen ließen. Aber so gelingt keine Revolution. Ein Aufstand lässt sich nur mit unkontrollierten Emotionen vom Zaun brechen – der wiederum niederbricht, wenn die Exekutive versucht, dieser Wucht an Wut Herr zu werden, indem sie kühlen Kopf bewahrt. Hitzköpfe haben dabei weniger zu verlieren, geben aber lediglich dem Gefühl ihrer persönlichen Kränkung nach, ohne wirklich ein höheres Ziel zu verfolgen. Dass damit ein ganzes Viertel mit in den Untergang gerissen wird, nehmen Wutbürger in Kauf, die niemals gelernt haben, besonnen zu reagieren. So geht Revolution. Ob das als Auszeichnung für den denkenden Menschen zu werten ist?

Zumindest scheint es nicht so, als würde der halbwüchsige Rabauke Karim nach dem gewaltsamen Tod seines kleinen Bruders Idir durch angeblich zwei Polizisten seinen Denkapparat wirklich nutzen. Für ihn zählt Rache, Gewalt und Anarchie. Und die Befriedung der eigenen Befindlichkeit. Oder viel besser noch: Durch dessen Fähigkeit, das altersgenössische Volk als Anführer um sich zu scharen, wie ein mittelalterlicher Heerführer aus Zeiten, in denen Stärke das einzige Argument einer Gesellschaftspolitik war, fühlt sich Abdel trotz seiner Trauer als ein martialischer Heros, der politische Reformgedanken wie Katapulte vor sich herschiebt. Reform ist etwas, dass sich am einfachsten mit Schwert und Schild durchsetzen lässt. Führung mag zwar Karims Stärke sein, Erfahrung ist es nicht. Und somit haben wir den Salat: Der Mob besetzt die Barrikaden eines Wohnblocks und fordert die Herausgabe der Polizisten, die Idir auf dem Gewissen haben. Das aber wäre als Plot zu simpel: Es gibt da noch Bruder Abdel. Der aber arbeitet für die Polizei, findet sich also auf der anderen Seite wieder und setzt alles daran, Karim vom Weg des Hasses, der Gewalt und der Rache abzubringen. Doch wie verbohrt und stur so ein Junge sein kann, der die Jugend des Viertels um sich schart, zeigt Romain Gavras, Sohn von Constantin Costa-Gavras (Z, Vermisst), in einem postmodernen Schlachtenepos, das trotz seines gegenwärtigen Settings ein Flair wie aus dem Hundertjährigen Krieg vermittelt, fernab jeglichen Fortschritts und gefangen in einer granitharten Rechthaberei, die keiner der Parteien auch nur um Millimeter abrücken lässt.

Athena, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig gar eine Einladung zum Wettbewerb um den Goldenen Löwen erhalten hat, erinnert nicht von ungefähr an den Oscar-Anwärter Die Wütenden – Les Misérables von Ladj Ly. Dieser verfasste für Athena mit Romain Gavras gemeinsam das Skript, und diesmal haben seine kaum klar definierbaren Pro- und Antagonisten noch weniger zu verlieren als im Thrillerdrama aus dem Jahr 2019. Diesmal entfesselt Gavras ein in Rage geratene Menge in einem hitzigen Spektakel aus Nacht und Nebel; aus Tränengas, Feuerwerkskörpern und Projektilgeschoßen. Der Krieg in Athena fühlt sich echt an, rabiat und natürlich auch dumm. Wie jeder Krieg. Dabei gestaltet es sich äußerst schwierig, für die zentrale Figur des Karim, und dann später auch für Abdel, der im letzten Dritten des Films eine völlig radikale, aber wenig glaubwürdige Wandlung durchläuft, auch nur ansatzweise irgend so etwas wie Nähe, Sympathie oder Verständnis zu empfinden. Wer so vorgeht, zu dem hält man Distanz. Zumindest mir erging es so. Denn die Gewalt, die führt zu nichts, das sieht man als Zuseher von der ersten Minute an, als der Mob das Polizeirevier stürmt und den Waffenschrank plündert. Da sieht man schon, wie wenig vorausschauend das ist. Da wundert man sich nur, zu welchen Widersprüchen und zu welchem autoaggressiven Egoismus dieses Vorgehen führt. Denn: Auch wenn der Tod des jungen Bruders den Bürgerkrieg entfacht, ist das Unglück der Mutter keinen Cent wert.

Diese groteske Unlogik erschwert den Zugang zu einer ansonsten wuchtigen Tragödie, die, mit brachialen gewalttätigen Exzessen gespickt, den Menschen als ein Wesen erkennt, dass sich wohl bis auf ewig von seinen Impulsen wird steuern lassen.

Athena

Je suis Karl

DAS ANAGRAMM DES HAKENKREUZES

5,5/10


jesuiskarl© 2021 Pandora Film Medien GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: LUNA WEDLER, JANNIS NIEWÖHNER, MILAN PESCHEL, MARLON BOESS, AZIZ DYAB, ANNA FIALOVÁ, MÉLANIE FOUCHÉ U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Re / Generation nennt sich die freiheitliche, europabewusste Organisation, die in Je Suis Karl bereits staatenübergreifend operiert. Dabei fällt deren Logo sofort ins Auge, und man kommt nicht umhin, darin zweifelsfrei das Hakenkreuz zu erkennen, das ehemalige Zeichen der NSDAP, das wiederum eigentlich von ganz woanders abgekupfert und zweckentfremdet wurde, nämlich aus dem Hinduismus. Das eigentliche Zeichen Swastika bedeutet so viel wie Glücksbringer. Tatsächlich besteht das Logo im Film aus vier rechten Winkeln, die ganz einfach anders angeordnet sind. Um die wahre Ambition aber zu verbergen – dafür braucht es schon andere Ideen. Die gibt es. Und die sind so dermaßen perfide, dass sich kein halbwegs vernünftig denkender Mensch vorstellen könnte, auf so etwas eine funktionierende politische Gemeinschaften zu gründen, ohne gefühlt alle Menschenrechte zu verletzen.

Doch Homo sapiens lernt nicht dazu, und deswegen ist der Weg der Gewalt angeblich immer derjenige, der einzig und allein etwas bewegen kann. Glaubt man zumindest. Im kürzlich erschienenen mexikanischen Revolutionsthriller New Order wird klar, wie wenig bockiges Blutvergießen auch nur irgendetwas bewirken kann. In Christian Schwochows politischem Reißer – was anderes ist der Film leider nicht geworden – schlängelt sich der Weg zur nationalsozialistischen Macht der Jungen durch ein Dickicht aus Intrigen, Lügen und trivialer Kolportage. Erschreckend, dass diese Methoden auf fruchtbaren Boden fallen. Eine der „Opfer“ des führenden Orators Karl ist die junge Studentin Maxi Baier, die bei einem Terroranschlag ihre Mutter und ihre beiden Brüder verliert. Von diesem entsetzlichen Schicksal natürlich völlig aus der Bahn geworden ist auch Papa Milan Peschel, der sich in seiner untröstlichen Verlorenheit an sein einzig verbliebenes Fleisch und Blut klammert. Dieses jedoch fällt alsbald in die Hände des vorhin erwähnten Charismatikers Karl, der Maxi zu einer internationalen Tagung seines Vereins einlädt. Dort fährt sie auch hin – und fühlt sich in ihrer Trauer und ihrer Wut mehr als verstanden. Natürlich entstehen zwischen den beiden auch romantische Gefühle, sodass Maxi nicht mehr von Karls Seite weicht. Der allerdings verfolgt ganz andere Pläne, nämlich richtig subversives Zeugs durch die Hintertür, die andere, wüssten sie es nicht besser, als reinste Verschwörungsmythen abtun würden.

Als Bildnis einer Verschwörung ist Je Suis Karl am besten zu verstehen. Aber auch als ein Konstrukt, das Verschwörungsmythen neuen Zunder gibt. Wie Jannis Niewöhner, der den aalglatten, um kein Wort verlegenen Blender Karl durchaus glaubhaft verkörpert, als wilder Fanatiker das große Ganze über alles andere stellt, und vor allem mit welchen Mitteln, ist von ernüchternder Gewissenlosigkeit. Luna Wedler begnügt sich als manipulierbares Nervenbündel, das mit ihrer Trauer ringt, mit einer enervierenden, fast ein bisschen zu deutlich selbstverliebtem Performance, die sie genauso wenig wie fast alle anderen zur Identifikationsfigur macht. Inmitten dieser pseudorevolutionären Eitelkeit halten Milan Peschel und Aziz Pyaf das Zepter der Vernunft als einzige hoch, während ganz Europa in seiner Dummheit ertrinkt. Thomas Wendrichs Drehbuch stuft die Jugend von heute als durch den schönen Schein von Werbung und Social Media bereits vorverweichlichte und daher leicht dirigierbare Lemminge ein, die anscheinend in Windeseile die Macht über einen ganzen Kontinent übernehmen könnten. Diese Sicht der Dinge ist dann doch etwas sehr plakativ und überzogen, und raubt dem politischen Dilemma seine Glaubwürdigkeit. Der polnische Film The Hater ist im Gegensatz dazu die Sache ganz anders angegangen. Dort sind die Sozialen Medien das eigentliche Schlachtfeld. Wie sehr dort gewütet werden kann, zeigt Regisseur Jan Komasa auf geduldigere und deutlich duchdachtere Weise.

Je Suis Karl ist die Antwort auf den ebenfalls deutschen Film Und morgen die ganze Welt, der sich mit – mehr oder weniger – lokalem Linksradikalismus beschäftigt. Auch hier fußt das Handeln der Generation Facebook auf einer zum Scheitern verurteilen Weltsicht. Hätte Schwochows Film nicht gleich ganz Europa mit ins sinkende Boot geholt, wäre die Vision einer Bewegung der neuen Nazis vielleicht fokussierter und spürbar unbequemer geworden. Doch andererseits: vielleicht sind die recht trivial dargestellten Mechanismen politischer Sturmwinde genau deswegen so, damit man sie anfangs nicht ernst nimmt. Und sich demnach nicht dagegen wappnen kann.

Je suis Karl

Judas and the Black Messiah

VERRAT AM VOLKSZORN

7/10


judasblackmessiah© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: SHAKA KING

CAST: DANIEL KALUUYA, LAKEITH STANFIELD, JERMAINE FOWLER, JESSE PLEMONS, DOMINIQUE FISHBACK, DARRELL BRITT-GIBSON, MARTIN SHEEN, ASHTON SANDERS U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Es kommt nicht oft vor, dass Academy Award-Filme, insbesondere, wenn sie für den besten Film nominiert sind, sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden und zumindest hierzulande in Österreich nicht mal einen Kino-Release wahrnehmen können. Daran hat natürlich auch Corona Schuld, doch nichtsdestotrotz hätte sich das zumindest mit zwei Trophäen geadelte Werk eine große Leinwand verdient. Ich kann mich noch erinnern, da war The Hurt Locker von Kathryn Bigelow längst auf Silberscheibe draußen, gabs erst nach dessen großem Triumph die bemüßigung, diesen Film nochmal in die Lichtspielhäuser zu bringen. Aber ich kann auch verstehen – angesichts dieser aufgrund des Rückstaus angehäuften Schwemme an Filmen kann der eine oder andere nicht mal mehr als vermisst gelten, weil es ohnehin (fast) niemandem auffällt.

Judas and the Black Messiah lässt sich nunmehr relativ bequem streamen, und wie erwartet tischt Regisseur Shaka King uns interessiertem Publikum eine durchaus packende Kriminaltragödie auf, die im weiteren Sinne Konflikte Bahn brechen lässt, die wir unter anderem aus Departed – Unter Feinden kennen. Es geht um Treue und Verrat, um Idealismus und Politik. Es geht zum Glück weniger um Ehre, denn die ist für ein Vaterland, das in seiner schnöden Version einer subversiven Apartheid Andersfarbige zumindest politisch unterdrückt, praktisch nicht vorhanden. Das wussten Leute wie Martin Luther King oder Malcolm X, bevor sie ermordet wurden. Und das weiß auch Fred Hampton, Bürgerrechtler und Aktivist für die Black Panther Party, die dem FBI schon seit längerem ein Dorn im Auge scheint. Wir schreiben Ende der 60er Jahre, und wie es der Zufall so will, findet FBI-Agent Mitchell (gefährlich jovial: Jesse Plemons) in dem findigen Autodieb William den richtigen Spitzel, um näher an den „Black Messiah“ ranzukommen. Zwischen diesem und Hampton entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft auf Vertrauensbasis, die Ideale für Black Panther werden selbst für William zur ernstzunehmenden Agenda, jedoch hindern ihn diese nicht daran, einen folgenschweren Verrat zu begehen.

Freundschaft, Feindschaft und die Sache mit Judas. Um bei diesem Vergleich zu bleiben: in der Bibel war dem Jünger der Verrat an seinem Herrn einen Beutel voll Silberlinge wert. Wer weiß, unter welchem Zugzwang der Mann wohl noch gestanden hat. Tatsächlich erinnert die neutestamentarische Figur an den ebenfalls von Reue, Angst und Idealismus gebeutelten Afroamerikaner William O’Neal – auch dieser wird sich einige Zeit später das Leben nehmen. Lakeith Stanfield (Knives Out, Der schwarze Diamant), genauso als Nebendarsteller für den Oscar nominiert wie Daniel Kayuula, der ihn ja schließlich erhalten hat, lässt das eigene Heil über volksvereinigenden Idealismus obsiegen, dabei ist ihm ersteres, so wie er es darstellt, nicht zur Last zu legen. Das inkonsistente Changieren der Black Panther zwischen unverhohlenen Terror-Ambitionen, Revolutionsgedanken und sozialem Engagement hat es damals nicht leicht gemacht, das eigene Leben unter eine militanten Linie zu stellen. Daniel Kayuula, seit Get Out im Kino nicht mehr wegzudenken, hat nicht weniger Charisma als Che Guevara, trägt auch artig das Barett und wettert gegen Polizisten – eine starke Performance. Gemeinsam meistern die beiden einen Film, der im Vergleich zu anderen derartigen Politfilmen ungewohnt ausdauernd beim Thema bleibt. Natürlich alles in gewohnten inszenatorischen Bahnen, mit reichlich Zeitkolorit und Privatem dazwischen. Doch Shaka Kings Film wirkt neben seinen rekapitulierenden Auftrag auch in Anbetracht gegenwärtiger Umstände nicht wenig empört.

Judas and the Black Messiah

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution

WAS FRAUEN WOLLEN

7/10


misswahl© 2020 eOne Germany


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, IRLAND, AUSTRALIEN 2020

REGIE: PHILIPPA LOWTHORPE

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, JESSIE BUCKLEY, GUGU MBATHA-RAW, GREG KINNEAR, RHYS IFANS, LESLEY MANVILLE, SUKI WATERHOUSE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Wer ist die Schönste im ganzen Land? Diesen Umstand im Rahmen einer Gala fürs Establishment zu zelebrieren, ist nicht das eigentliche Problem. Schönheit, so subjektiv sie auch sein mag, muss sich nicht verstecken. Das wirkliche Problem, mit dem die Frauenrechtlerinnen Anfang der Siebziger Jahre und auch heute noch zu kämpfen haben, ist der Umstand, dass diese Frauen eben nur als das gesehen werden: als reizvolle Objekte mit den richtigen Maßen und Kurven. Das, finden diese anderen Frauen, ist einfach zu wenig. Ist vielleicht gut, aber zu wenig. Gleiche Chance für das weibliche Geschlecht in Beruf, Bildung und Karriere wäre wichtiger: da lässt sich selbst heute noch ordentlich dran feilen – wie prekär muss die Lage  wohl vor 50 Jahren gewesen sein? Da hieß es: nichts wie raus auf die Straße und demonstrieren. Aufstehen für etwas, das endlich mal Sinn macht.

Das britische BBC Entertainment, das ja stets eifrig dabei ist, historische Biographien und ebensolche Wendepunkte kinematographisch aufzubereiten, um so Unterhaltung und Allgemeinwissen für das filmaffine Volk zu kombinieren, nimmt sich mit Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution (besserer Titel wie so oft im Original: Misbehaviour) den Aktionismus medienwirksamen Ungehorsams zur Brust, indem Regisseurin Philippa Lowthorpe jene Ereignisse nacherzählt, die dem wütenden Zwischenfall bei der Miss World Zeremonie 1970 vorausgegangen waren (Keine Sorge: das Happening selbst bekommt sehr wohl auch seine Sendezeit). Die Misswahl beobachtet auf mehreren Fronten gleichzeitig – insgesamt sind es vier. Da wäre die Storyline rund um Entertainer Bob Hope (großartig herablassend und gleichzeitig charmant: Greg Kinnear), der letzten Endes auf der Showbühne die meiste Häme kassiert. Da wäre die Storyline rund um den Miss World-Organisator Eric Morley, gespielt von Notting-Hill-Faktotum Rhys Ifans als geschäftiger Allrounder. Da wäre die Storyline rund um Gugu Mbatha-Raw als Grenadas Schönheitsgöttin und eben jene um Keira Knightley sowie die draufgängerische Jessie Buckley, die anfangs das eine und das andere Ende der Frauenbewegung bilden, letzten Endes aber an einem Strang ziehen, wenn die Katze aus dem Sack soll. Ein klug gecastetes Ensemble vereint sich um ein straffes Script, dessen Szenen richtig getimt und genau da sind, wo sie hingehören 

Die Misswahl überlässt als zeitgeschichtliche Chronik natürlich nichts dem Zufall – wie denn auch. Die Fakten stehen geschrieben, das ist es nur gut und recht, ihnen auch emotional und wohlrecherchiert gerecht zu werden – künstlerische Freiheiten außen vorgelassen, die müssen sein, sonst wär´s recht trocken. Was Die Misswahl sicher nicht ist. Vielmehr ein kluges Panoptikum aus eigenwilligen Patriarchen, dem schillernden Showbiz und nachhaltigen Mutmacherinnen.

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution