Miroirs No. 3 (2025)

DIE LEBENDEN LOSLASSEN

7,5/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN PETZOLD

KAMERA: HANS FROMM

CAST: PAULA BEER, BARBARA AUER, MATTHIAS BRANDT, ENNO TREBS U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Miroirs No. 3 – ohne nachzuforschen, könnte man mit diesem Filmtitel, der wohl zu den rätselhaftesten dieses Jahres zählt, überhaupt nichts anfangen. Was soll der bedeuten? Und würden jene, die der französischen Sprache nicht mächtig sind, vielleicht gar vermuten, das englische Wort für Mirrors wäre einfach nur absichtlich falsch geschrieben, wie bei Inglourious Basterds? Nein, alles nicht so wie vermutet. Miroirs No. 3 bezieht sich auf ein Klavierstück von Maurice Ravel, stammt aus einer Reihe von Werken aus einer mit „Spiegelbilder“ betitelten Klammer und nennt sich, übersetzt, Ein Boot auf dem Ozean. Liest man die ausführlichen Interviews mit Christian Petzold, einem Vertreter der filmischen Sachlichkeit, auch Berliner Schule genannt, wird seiner Interpretation nach dieses Boot zum Symbol für eine „gekenterte“ Familie, deren Individuen, umherdriftend auf einer unkontrollierbaren Wassermasse, wieder zueinanderfinden müssen. Andererseits aber könnte sich dieses Spiegelbild, ungeachtet des Bootes, einfach auf Paula Beer beziehen, Petzolds Muse, die schon seit Transit an seiner Seite weilt. Sie ist im übertragenen Sinn in Miroirs No. 3 gleichsam lebendig als auch tot, ein mysteriöser Ausnahmezustand von Mensch, mit der Tür ins Haus fallend und für jemanden wie Barbara Auer, die hier allerdings, auch wenn Paula Beer am Filmplakat prangt, den Blickwinkel vorgibt.

Die Instanz des Unvorhergesehenen

Petzolds Arbeiten sind stets intuitive Schicksalssymphonien, jedoch keine, die mit Pauken und Trompeten den Zufall bemühen, sondern klaviergeklimpernd, melodisch, dem Rhythmus des Schauspiels untergeben. Das Schicksal aber wirkt wie eine Entität, wie eine Entscheidungsmacht, die jedoch nicht als etwas Göttliches zu verstehen ist, sondern mehr dem Natürlichen verhaftet ist, das durch ein nicht näher begreifbares inhärentes Bewusstsein den Gestrauchelten etwas in die Hand gibt, dass sie entweder als nutzbar erkennen können oder gar nicht. In Miroirs No. 3 fällt dieser Wink des Schicksals oder das Ergebnis einer herausfordernden Koinzidenz in den Schoß von Betty, die Zeuge eines Autounfalls mit Todesfolge wird. Allerdings: Es saßen zwei Personen in diesem Cabriolet, eine davon ist Laura, die den Unfall ohne größere Beeinträchtigungen überlebt und in die Obhut von Betty gelangt, auf eigenen Wunsch hin. Wir wissen vorher bereits: Laura scheint mit den Dingen in ihrem Leben nicht mehr glücklich gewesen zu sein, weder mit ihrem Freund, noch mit diesem Ausflug an diesem schicksalsträchtigen Tag, der vieles verändern wird.

Die Poesie der Berliner Schule

Petzold schickt seine Figuren so gut wie ohne Vergangenheit in sein rätselhaftes Spiel, nur langsam legt er Krümel aus, die zu einer Erkenntnis führen, welche die Parameter für eine eigenwillige Konstellation neu justiert. Die Berliner Schule mag, sehr gut erkennbar auch in den Arbeiten von Thomas Arslan, Charakterliches und Erzähltes vorwiegend andeuten und vieles dem Betrachter überlassen, inmitten einer unverfälschten akustischen wie sensorischen Beobachtung eines wie auch immer gearteten Alltags. Wie schon bei Undine oder Roter Himmel vermengt Petzold auch hier wieder jenen Stil mit der von ihm so akkurat eingewobenen Metaphysik, die nur ganz zart oszilliert und etwas nur intuitiv wahrzunehmendes Märchenhaftes mit sich bringt. Diese Märchen sind aber nicht lieblicher Natur, sie sind geerdet und greifbar, progressieren allein durch zwischenmenschliche Interaktion und dem Beisein einer vielleicht gar nur scheinbar höheren Ebene. Man merkt, wie Petzold seinem Ensemble die Freiheit lässt, zu empfinden und nicht die Anweisungen des Regisseurs, sondern auch sich selbst einzubringen.

Am Ende ganz anders

Ursprünglich hätte Petzold gar ein anderes Ende vorgesehen gehabt  – zum Glück hat er es sich anders überlegt, denn auf diese Weise gerät die psychologische Suspense alles andere als banal. Vom Loslassen der Lebenden als Heilmittel gegen Verlust und Trauer erzählt Miroirs No. 3, vom ungeplanten Trost der anderen, um die Akzeptanz eines Schicksals und letztlich dem Zueinanderfinden nach dem Schiffbruch auf der instabilen Ebene des Ungeplanten. Ein feines Stück deutsches Gefühlskino.

Miroirs No. 3 (2025)

Dragonfly (2025)

EIN HUND KAM IN DIE KÜCHE

8/10


© 2025 AMP International


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: PAUL ANDREW WILLIAMS

KAMERA: VANESSA WHYTE

CAST: ANDREA RISEBOROUGH, BRENDA BLETHYN, JASON WATKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Die ausgewählten Features im Rahmen des Slash Filmfestivals in Wien haben wirklich alles zu bieten – und kein Werk gleicht dem anderen. Das ist das Besondere an diesen elf Tagen, da man nie genau weiß, was man denn nun vorgesetzt bekommt, da auch Autorenfilmerinnen und -filmer auf der großen Leinwand reüssieren können, von denen man noch gar nichts weiß, zuvor vielleicht nur peripher etwas gehört hat und die das Zeug, die Ideen und vor allem die Narrenfreiheit haben, um wirklich und wahrhaftig für Überraschungen zu sorgen. Einer dieser Arbeiten ist Dragonfly des Briten Paul Andrew Williams, der seinem Wiener Genrepublikum auch leibhaftig alle Ehre erwiesen hat und es sich nicht nehmen ließ, uns seinen Film zu präsentieren – und das, obwohl Dragonfly gar nicht mal als typischer Genrefilm betrachtet werden kann. Oder vielleicht gerade deswegen?

Zwei, die sich gefunden haben

Wir haben es hier weder mit reinem Horror, noch mit einem Thriller, noch mit Fantasy oder Science-Fiction zu tun. Was bleibt dann noch – und wo ist der Slash-Faktor? Nun, es bleibt, was den Feature Film im Essenziellen ausmacht:  das große, erzählte Drama, die Substanz zwischen dem Spiel der Protagonistinnen. Dragonfly lässt anfangs völlig unklar, wie beide Charaktere einzuschätzen wären. Die eine nämlich, das ist Brenda Blethyn, eine Klasse für sich seit Mike Leighs Lügen und Geheimnisse und oscarnominiert für ihre exaltierte Darstellung im intensiven Talentedrama Little Voice. Die andere nicht weniger eine Koryphäe, die Vielseitigkeit in Person, authentisch bis ins Mark und so nuanciert, dass die eine Rolle und sonst keine, und zwar jene, die gerade auf der Leinwand zu sehen ist, die einzige sein mag, die Andrea Riseborough je gespielt hat. Mit weitem Spielraum zur freien Interpretation ihrer Figur gibt sie in Dragonfly die desillusionierte, mit sich selbst und der Welt arrangierte Colleen, der ihr tristes, durch Sozialhilfe finanziertes Dasein wohl vorwiegend für die stattliche Hündin an ihrer Seite bestreitet, ein ehrfurchtgebietender Vierbeiner, vor dem Nachbarin Elsie zuerst zurückschreckt, bevor sie sich an die Tatsache gewöhnt, dass Colleen und ihr Anhang wohl von nun an zu ihrem Leben gehören. Die ständigen Heimhilfen, die keine Ahnung von Elsies Bedürfnissen haben und wohl auch wenig persönliche Beziehung in ihre automatisierte Pflege einfließen lassen, hat die alte, gehbehinderte Dame endgültig satt. Welch ein Glück, dass die wortkarge, etwas zynische, aber aufopferungsvolle Nachbarin die Zügel in die Hand nimmt und rund um die Uhr genau das macht, was vor allem zur Corona-Zeit während des Lockdowns agilen Hausparteien angeraten wurde für ihr vulnerables Umfeld zu tun.

Leigh, Fassbinder und die Mystery dazwischen

Corona ist aber längst vorbei, das Tribute fordernde Alter aber bleibt – und so entwickelt sich zwischen den Beiden nicht nur eine Zweckgemeinschaft, sondern auch so etwas wie eine Freundschaft, von der man aber nie so genau weiß, wie tief sie geht, wie ehrlich sie ist, wie eigennützig. Lange Zeit ist Dragonfly kein Genrekino, sondern immersives Autorenkino im Realismus eines Mike Leigh, dass dank seiner beeindruckenden Schauspielerinnen die Routine eines scheinbar monotonen Alltags zu einer psychosozialen Revue der Gesten, Momente und Blicke werden lässt. So faszinierend kann emotionale Annäherung sein, so fesselnd der zaghafte Seelenstriptease, der immer tiefer vordringt und sich gerne auch im Dunkeln verläuft, bis es dann doch so weit ist und der gespenstische Terror einer Fremdbestimmung über dieses unscheinbare Zweiparteienhaus am Rande der Industrie durch die verschlissenen Zwischenräume eines Werteverständnisses bricht und in gallig-bitterem Zynismus fast schon eine Fassbinder’sche Geschichte erzählt, die den Trost in der Autonomie findet, jenseits davon aber vergeblich danach sucht.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, Wegsehen geht nicht, das Schauspiel der beiden ist so mächtig, da sehnt man sich kein bisschen nach dem großem Knall oder altbekannten Elementen, welche die Eskalation eines Psychothrillers markieren. In der Eintracht des Kaffeekränzchens, der mildtätigen Helping Hand und dem Zweck der entkommenen Einsamkeit liegt der Suspense, das erschütterliche Vertrauen, das so leicht in einen missverstandenen Horror kippen kann. Der symbolische Titel Dragonfly mag zwar nur schwer interpretierbar sein, das grandiose Schauspielkino um den Störfall in einem sozialen System bei weitem nicht.

Dragonfly (2025)

Wenn das Licht zerbricht (2024)

MEHR ALS NUR DAS ENDE EINER LIEBE

7/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: LJÓSBROT

LAND / JAHR: ISLAND, KROATIEN, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: RÚNAR RÚNARSSON

CAST: ELÍN HALL, MIKAEL KAABER, KATLA NJÁLSDÓTTIR, ÁGÚST WIGUM, GUNNAR HRAFN KRISTJÁNSSON, BALDUR EINARSSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 22 MIN


Die wohl besonderste Rubrik bei den Filmfestspielen von Cannes ist meines Erachtens jene, die den „gewissen anderen Blick“ auszuloben weiß. Un Certain Regard nennt sich diese Schiene, und dort lässt sich alles finden, was man gut und gerne als innovativ, um die Ecke gedacht oder mutig bezeichnen könnte. Von Filmemacherinnen und Filmemachern, die bekannte Themen aus einer anderen, selten oder noch gar nie eingenommenen Position betrachten. Filme wie diese sind eine Frischzellenkur, weil sie keinen bereits betretenen Pfaden folgen, sondern ganz neue ins Dickicht schlagen. Einer davon ist Wenn das Licht zerbricht, im isländischen Original einfach nur Lichtbrechung. Die sieht man ganz besonders, wenn man bei niedrig stehender Sonne aufs Meer blickt, vor allem dann, wenn man dem Gestirn direkt gegenübersteht. Die leuchtenden Reflexionen auf den Wellen sehen aus, als würde die Sonne in hunderte, tausende kleine glühende Teile zerfallen. Ein Anblick, den Una und Diddi gemeinsam genießen, an diesem letzten Abend – weil sie Liebende sind. Und weil die Zukunft ihnen offen steht. Denn Diddi wird am nächsten Tag mit Klara Schluss machen. Keiner weiß noch von Unas und Diddis Beziehung, alles ist geheim und soll erst bekannt werden, nachdem Diddi getan hat, was er eben tun muss. Doch soweit kommt es nie. Ein verheerender Autounfall kostet dem jungen Mann das Leben. Die Trauer ob dieses Verlustes wird von allen getragen, die Diddi kannten – und es sind nicht wenige, eine eingeschworene Gruppe an Freunden und Studenten teilen den Schmerz. Darunter natürlich auch die völlig aufgelöste Klara, die nichts davon weiß, wie Una darunter leidet. Und Una selbst – muss sie die Starke, Unbeteiligte spielen? Oder kann sie davon berichten, auf welche Weise ihr Diddi wichtig gewesen war?

Alleine dem Titel nach könnte man vermuten, dass Rúnar Rúnarssons Trauerdrama schwerer, heftiger Tobak sein muss, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Filme über Trauer und Verlust – die muss man sich nicht antun, schon gar nicht, wenn sich das echte Leben ohnehin so entbehrungsreich darstellt. Nicht umsonst ist Wenn das Licht zerbricht in ebenjener Cannes-Kategorie zu finden, in welcher Lebenssituationen eben anders erzählt werden. Im Zentrum steht natürlich die aparte, faszinierende Elín Hall als trauernde Una – Rúnarsson kreist um sie herum, beobachtet sie von hinten, von der Seite. Unas Erscheinung ist allgegenwärtig. Der Blickwinkel ist ausschließlich der ihre. Es ist beeindruckend, wie Rúnarsson ihre Gefühle einfängt, lakonisch und verbal aufs Wesentliche beschränkt. Wie man Trauer empfindet, bleibt auch im Film im Moment der erschütternden Nachricht wie ein Kloß im Hals – wie man sie auslebt, zeigt der Film dann mit einer kuriosen Unbeschwertheit, sie reicht vom Schockzustand bis hin zum wilden Tanz, vom Alkohol (der literweise fließt) bis zum Experiment der Wahrnehmung. Eine Aktion, die Una und Karla gemeinsam durchführen. Denn Karla lockt Una aus der Reserve – sie lässt sie erkennen, wie Trauer ins Gegenteil verkehrt werden kann, wenn man sie nicht alleine in diesem Ausmaß tragen muss.

Wie das zerbrochene Licht zerbricht auch die Schwere eines Verlustes, zuerst unbeabsichtigt, dann sehnsüchtig und wollend. Zum Zeitpunkt des Todes und im Moment eines Neuanfangs zeigt sich der zersplitternde Schein in den Lichtern des Tunnels, in welchem das Feuer ausbricht – und dann eben am Ende eines emotional aufwühlenden Tages, bevor klar wird, dass der Schmerz trotz einer niemals auslebbaren Rivalität zu zweit getragen werden kann. Der Tod eines geliebten Menschen bringt vieles auf Neustart. Es wird klar, worauf es ankommt im Leben – nämlich einander zu haben, nicht alleine zu sein, in schwierigen Situationen wie dieser.

Ein unkonventionelles psychologisches Konstrukt schafft Rúnarsson und lässt Spielraum in seinem kleinen Film auch für lange, manchmal etwas zu lange Szenen, die in ihrer Gleichförmigkeit eine innere Ruhe dort ausstrahlen, wo man eigentlich am liebsten irgendwas würde tun wollen, um auf andere Gedanken zu kommen. Dieses Innehalten ist dezent provokativ. Schafft aber auch die Möglichkeit, aus Verhaltensnormen auszubrechen.

Wenn das Licht zerbricht (2024)

Beating Hearts (2024)

LA BOUM ALS SOZIALKRIMI

4/10


© 2024 Studiocanal / Cédric Bertrand


ORIGINALTITEL: L’AMOUR OUF

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE: GILLES LELLOUCHE

DREHBUCH: AUDREY DIWAN, AHMED HAMIDI, JULIEN LAMBROSCHINI, GILLES LELLOUCHE

CAST: FRANÇOIS CIVIL, ADÈLE EXARCHOPOULOS, MALORY WANECQUE, MALIK FRIKAH, ALAIN CHABAT, BENOÎT POELVOORDE, VINCENT LACOSTE, JEAN-PASCAL ZADI, ÉLODIE BOUCHEZ, KARIM LEKLOU U. A. 

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Sie sind jung, sie sind verliebt. Am Anfang dieser angeblich wilden Love-Story scheint sich tatsächlich etwas Welt- und Herzbewegendes abzuspielen. Die junge Mallory Wanecque, die, um es gleich vorwegzunehmen, Adèle Exarchopoulos in pflichterfüllender Routine zurücklässt, spielt die blutjunge, resolute Jackie – nicht auf den Mund gefallen, schlagfertig und selbstbewusst. Doch wo die Liebe hinfällt, wird auch ein Charakter wie dieser weich. Kein Wunder, wenn man Malik Frikah als Taugenichts Clotaire in die Augen sieht. Dieser verführerische Blick, dieses ebenfalls lose Mundwerk, und diese Frechheit, jemanden wie Jackie herauszufordern. Da tut sich einiges in der Welt der französischen, zuckersüßen, aber nicht ganz abgehobenen Romanze. Hier sind Liebe, Interesse und Zuneigung im Spiel. Was sich aber liebt, neckt sich zuerst. Und würde man dazu noch Richard Sandersons Reality hören, würde man sich in einem späten Aufguss des La Boum-Wahnsinns aus den Achtzigern wähnen. Der jungen Sophie Marceau hätte die Rolle der Jackie übrigens gut gestanden, als Love Interest habe ich Alexander Sterling aus dem Teenie-Schmuse-Original gerade nicht im Kopf. Vielleicht hätte es ein junger Vincent Cassel getan, wer weiß. Doch Frikah gibt den anarchischen Wilden mit dem Herzen am rechten Fleck überaus charismatisch.

Es bahnt sich also einiges an, und statt Reality tönt The Cure in den Kinosaal, während sich die jungen Verliebten in reminiszierender Flashdance-Optik körperbetonten Ausdruckstanz zelebrieren. Es könnte sein, dass Schauspieler und Regisseur Gilles Lellouche (u. a. Ein Becken voller Männer) aus der knospenden Schicksalsabhängigkeit einen wildromantischen Wild at Heart-Reigen hinlegt, nur ohne David Lynch-Vibes, dafür viel mehr in Richtung Oliver Stone. Doch nichts davon passiert. Clotaire, der draufgängerische Junge, unsterblich verknallt, liebt das krumme Business aber noch mehr. Dort trifft er auf Benoît Poelvoorde als plakativem Gangsterboss-Verschnitt, der warum auch immer an dem Hitzkopf einen Narren frisst, und zwar so lange, bis er ihn verrät und ins Gefängnis bringt. Jackie, aus gutem Hause und Halbwaise, die aber stets gelehrt bekam, welche Werte wie und wo ihren Platz haben, scheint rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, um aus großer Liebe nichts Dummes zu tun. Das Dumme ist aber genau das, was wir sehen wollen. Das Dumme ist Symptom einer Leidenschaft und Liebe, die, wie bei Shakespeare, alle Grenzen sprengt. Bei Beating Hearts bleiben die Grenzen aber gesteckt. Ungefähr nach dem ersten Drittel des Films geht jeder seiner Wege, die Liebe scheint erloschen oder in einer Stasis konserviert. Lellouche verliert seinen Film, warum auch immer. Wo ist sie hin, diese zärtliche Verschwörung auf Lebenszeit? Nach sämtlichem Romantikkitsch vor unter- oder aufgehender Sonne, nach der ersten Liebe in den Gräsern französischer Küstenlandschaften. Nach pochenden Herzen und melodramatischem Herzgeflüster wird diese Everlasting Love zum krächzenden Stimmchen, zur pragmatischen Wende hin zu Schicksalen, die sich untereinander nichts mehr zu sagen haben.

13 Cesar-Nominierungen hat Beating Hearts erhalten – ein Tophit in Frankreich. Einer dieser Preise wird wohl für die satte Überlänge eingeplant worden sein. Mit 164 Minuten strapaziert der Film nicht nur die nostalgischen Erinnerungen an La Boum und an die eigene Liebe. Der Leerlauf in der zweiten Hälfte ist unüberbrückbar, die Metaebene der Emotionen wird zur Behauptung, die Adèle Exarchopoulos und François Civil zwar aufstellen, aber nicht spüren. War da jemals was? Ist da immer noch was? Beide vermitteln dem Publikum keine Überzeugung. Das umständliche Skript, das den Mythos vom Verlieren und Wiederfinden einfangen will und an welchem wiedermal mehrere Leute herumgewerkelt haben (was, wie schon öfters von mir erwähnt, kein gutes Zeichen sein kann), verliert sich in einer To-do-Liste bewährter Versatzstücke aus dem Romantik- und Thrillergenre. Die Bilder mögen für sich sprechen und manchmal wirklich betören – die Liebe selbst tut das nicht.

Beating Hearts (2024)

Der Brutalist (2024)

DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE

5/10


© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, UNGARN 2024

REGIE: BRADY CORBET

DREHBUCH: BRADY CORBET, MONA FASTVOLD

CAST: ADRIEN BRODY, GUY PEARCE, FELICITY JONES, JOE ALWYN, ISAACH DE BANKOLÉ, ALESSANDRO NIVOLA, RAFFEY CASSIDY, STACY MARTIN, EMMA LAIRD, MICHAEL EPP, JONATHAN HYDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 35 MIN


Da stehe – oder besser gesagt sitze ich – im dunklen Kinosaal, und zwar so lange, dass mir der Allerwerteste schon schmerzt, vor einem Problem, das ich als Grundproblem bei der Betrachtung von Filmen erachte, die durch internationale Kritikerlorbeeren niemals auch nur anders betrachtet werden wollen als vollendet. Für zehn Oscars nominiert, begleiten Der Brutalist Pressestimmen, die wie folgt klingen: „Ein monumentales Meisterwerk von nahezu unendlicher Schönheit“, schreibt Christoph Petersen von filmstarts. „Der zehnfach nominierte Oscarfavorit ist jene Art von Film, wie es ihn nur alle paar Jahre im Kino gibt“, schreibt Jakob Bierbaumer im österreichischen Medienmagazin TV Media. „Ein Film voller Leidenschaft, der in seiner Kühnheit vertraute Sehgewohnheiten sprengt“, schreibt Ralf Blau in der aktuellen Ausgabe von cinema. Blau umschreibt den Film aber bereits schon etwas differenzierter und räumt ein, ihn sowohl minimalistisch als auch monumental zu erachten.

Bei solchen Lorbeeren wappnet man sich natürlich im Vorfeld, demnächst einem Kinoereignis beizuwohnen, das einem die Sprache verschlagen wird. Doch andererseits: Erreichen diese gezielt marketingtauglichen Lobhudeleien manchmal nicht genau das Gegenteil? Kann man denn glauben, was man liest? Macht dieser Review-Aktivismus Kinogeherinnen und Kinogeher, die diese Kunstform regelmäßig genießen und schon viel gesehen haben, nicht eigentlich skeptischer? Letzten Endes wäre Skepsis bei Sichtung eines minimalistischen Monumentalfilms wie Der Brutalist durchaus angebracht gewesen. Vielleicht, um nicht enttäuscht zu werden, wenn man im Vorhinein erwartet, künstlerisch und qualitativ, und das im positiven Sinn, geplättet zu werden. Filme wie Der Brutalist manipulieren und dekonstruieren die Erwartungshaltungen – die gibt es gerade hier in unterschiedlichsten Formen und Varianten. Letzten Endes ist Brady Corbets über einen langen Zeitraum erdachte und entwickelte Pseudo-Biographie genauso wie einer dieser brutalistischen Gebäude-Klötze, die der fiktive Flüchtling László Tóth bereits errichtet hat und errichtet haben wird: reduktionistisch, avantgardistisch, kühl und unnahbar. Tóth wird in Der Brutalist, der sich sonst allerdings vor historisch korrektem Hintergrund bewegt, in einer alternativen Realität zu einem weltweit angesehenen Zampano in Sachen Architektur. Das war er schon vor dem Krieg, und wird es wieder nach dem Krieg sein. Nur wo und wie, wird Corbet in diesem Film auf einer Länge von über dreieinhalb Stunden beantworten wollen. Ist diese Länge für diese Erzählung denn gerechtfertigt? Nein.

Während das letzte Dreistunden-Epos, nämlich Der Graf von Monte Christo, trotz seiner Laufzeit fast schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Handlung, erhält Brady Corbet, der bereits Natalie Portman in Vox Lux als schwer fassbare Operrolle inszenierte, für sein Werk genug Raum, um sich auszudehnen und seine psychosoziale Nachkriegsstudie aufzublasen. Das tut er auch, er kleckert dabei nicht, sondern klotzt im wahrsten Sinne des Wortes. Der Baugrund ist enorm, man blickt in alle Richtungen bis zum Horizont und noch weiter. Im Zentrum dieser Fläche soll das Einzelschicksal eines jüdischen Architektur-Genies errichtet werden, dass fast schon verloren wirkt und die Traumata des Konzentrationslagers, des Weltkriegs und der Flucht in sich trägt. Es werden diesem László Tóth ganz andere Betonblöcke in den Weg gelegt werden, nämlich jene des Neuanfangs, der Integration und der Selbstbehauptung. Was man dabei nicht vergessen darf: Es gibt auch noch Ehefrau Erzsébet und die rätselhafte, weil anfangs mutistische Nichte Zsófia, die Schwierigkeiten haben, auszureisen. Auf die beiden muss László jahrelang warten, währenddessen aber belohnt ihn das Schicksal in Gestalt eines wohlhabenden Unternehmers namens Harrison Lee van Buren, der seine Zeit braucht, um zu begreifen, welchen Nutzen der Jude für ihn haben kann – und diesen als Haus- und Hofarchitekt für ein Mega-Projekt nahe Philadelphia engagiert.

Der Brutalismus selbst mag ein Architekturstil sein, der ab 1950 mit mehreren Ausrufezeichen hintendran darum bemüht war, im Stechschritt Richtung Moderne alles Gestrige hinter sich zu lassen. Dieses Gestrige war schließlich hässlich genug, also auf zu neuen Ufern. Ob es ein Stil war, der breitenwirksam Gefallen gefunden hat? Wohl eher weniger. Dafür aber hat diese Andersartigkeit mit Sicherheit fasziniert, kann man bei solchen Konstrukten – ähnlich wie bei Unfällen – einfach nicht mehr wegsehen. Dieses Gestrige hat die von Adrien Brody meisterhaft gespielte Figur schon in Europa versucht, hinter sich zu lassen, jetzt schleppt er die Innovation im Doppelpack mit einem zerrütteten Altleben in die neue Welt – in eine Gesellschaft, die längst nicht mehr das Land unbegrenzter Möglichkeiten verkörpert und jüdische Immigranten wie diesen da maximal duldet, sofern sie von Nutzen sind. Dieses toxische Kräftemessen zwischen Neuanfang und etabliertem Establishment rückt Corbet in den Mittelpunkt, braucht dafür Platz und den künstlerischen Willen, sowohl das epische Erzählkino eines Sergio Leone (Es war einmal in Amerika) oder Bernardo Bertolucci (1900 – Gewalt, Macht, Leidenschaft) stilistisch aufzugreifen als auch mit den Methoden weitestgehend unabhängiger Autorenfilmer bewährte Erzählstrukturen aufzubrechen.

Beide Ansätze stehen sich im Weg. Monumental an Der Brutalist bleibt lediglich die Laufzeit, der Konflikt zwischen Brody und Guy Pearce, der meines Erachtens nach seiner diabolischen Rolle des übersättigten Machtmenschen nur schwer das nötige Charisma entlockt, ist so bruchstückhaft wie alle anderen szenischen Teile des Films. Anfangs gelingt Corbet noch ein dramaturgischer Aufbau, er bringt die Situation ins Rollen, die Thematik rund um Cousin Attila (Alessandro Nivola) gestaltet sich vielversprechend und deutlich interessanter, doch Nivola verschwindet von der Bildfläche viel zu früh, während Felicity Jones viel zu spät auf der Bildfläche erscheint – auch sie stets bemüht, ihrer Rolle Würde, Verletzlichkeit und Inbrunst zu verleihen. Das Timing des Erscheinens und Abtretens so manchen Charakters lässt immer wieder eine Leere zurück, die Brody auffüllen muss, daher wirken viele Szenen wie Bauelemente auf einem Grundstück, die schon mal da sind, aber noch nicht verarbeitet werden können. Dazwischen wortlastige Dialoge ohne driftigem Mehrwert, sie treiben den Film in die satte Überlänge, ohne Notwendigkeit.

Selbst epische Filme so wie wir sie kennen haben eine gewisse dramaturgische Topographie, doch Der Brutalist lässt diese tiefen Täler und reizvollen Höhepunkte vermissen. Auch will er alles Mögliche in sein Werk hineinpacken, darunter nicht unwesentlich Lászlós Drogensucht. So gesehen wird Der Brutalist immer mehr zum Drogendrama und schwächelt dabei als Künstlerdrama mit Migrationshintergrund. Schon klar, das eine kann nicht ohne dem anderen, doch unterm Strich möchte Der Brutalist sein Publikum nicht abholen, sondern will erarbeitet werden. Der Oscar-Favorit ist somit ein sperriges, klobiges Baustellenkino, unfertig und lückenhaft, ein hartes Stück Arbeit, kein einfaches Werk – und nein, das soll es auch gar nicht sein. Doch die Wahrscheinlichkeit, letztlich irgendwann nicht mehr an dieser „Oper im Dschungel“ mitkonstruieren zu wollen wie seinerzeit Fitzcarraldo, ist dementsprechend hoch. Dabei von „nahezu unendlicher Schönheit“ zu schwärmen – dafür fehlt mir die Sichtweise und auch die Vorstellungskraft. Der Brutalist ist manchesmal, und vorallem in der Wahl seines Scores, gewaltig und großformatig, lässt Adrien Brody vor Kraft nur so strotzen, gilt aber wahrlich nicht als schön, genauso wenig wie der Baustil selbst.

Der Brutalist (2024)

All We Imagine as Light (2024)

DIE HEILENDE KRAFT DER ILLUSION

9/10


allweimagineaslight© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: INDIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE, LUXEMBURG 2024

REGIE / DREHBUCH: PAYAL KAPADIA

CAST: KANI KUSRUTI, DIVYA PRABHA, CHHAYA KADAM, HRIDHU HAROON, AZEES NEDUMANGAD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Imagine all the people… livin‘ life in peace. John Lennon hat sich Anfang der Siebziger Jahre eine Welt vorgestellt, frei von Gewalt und prädestiniert für ein friedliches Miteinander. Sein zeitloser Song verkörpert die Illusion einer Menschheit, die gelernt hat, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen. Lennons Imagine symbolisiert den Imperativ des Humanismus, der dann sichtbar wird, wenn viele von uns, geballt an einem Ort, ein individuelles Schicksal bestreiten. Imagine wird zum Leitbegriff auch in einem Film, der womöglich schon jetzt als einer der schönsten und besten des Jahres angesehen werden kann. Womöglich wäre er unter den besten drei bereits im letzten Jahr zu finden gewesen, hätte ich All We Imagine as Light bei der letztjährigen Viennale gesichtet. Nun aber führt dieses Meisterwerk, und das prognostiziere ich jetzt schon, sehr wahrscheinlich die besten des Jahres 2025 an. Denn sieht man sich Payal Kapadias Spielfilmdebüt an, wird man feststellen müssen, dass große Filmkunst nicht unbedingt das Ergebnis langjähriger Erfahrung sein muss, sondern schon von vornherein ein talentiertes Verständnis mit sich bringen kann, Farben, Bilder, Klang und Schauspiel auf eine Weise miteinander zu kombinieren, die nicht üblichen Stilen entspricht, sondern völlig losgelöst von dieser Mainstream-Machart des Bollywood-Kinos einen Subkontinent präsentiert, der mit einer Lebensphilosophie klarkommt, die die westliche Welt womöglich als Selbstbetrug wahrnimmt. Hier, in Indien, ist die Kunst, aus seinen Illusionen Kraft zu tanken, eine Methode, um auch in bescheidensten Verhältnissen und in der Unmöglichkeit, eigene Lebenswünsche in die Realität umzusetzen, zu sich selbst zu finden.

Hätte John Lennon jene Bilder gesehen, die Kameramann Rabanir Das unter Kapadias Regie von der Millionenmetropole Mumbai eingefangen hat, er wäre begeistert gewesen. Er hätte gesehen und festgestellt, dass es doch möglich wäre, dicht gedrängt und fern jeglicher Privilegien, eine achtende Gesellschaft des Miteinander zu führen. In diesem Mumbai flirren die Lichter, strömen Menschen in alle Himmelsrichtungen, suchen Schutz vor dem täglich wiederkehrenden Regen, zollen sich dabei Respekt, feiern und essen miteinander. Lieben sich, hoffen und leben den Moment. Dieses Indien ist kein Dritte Welt-Betroffenheits-Indien. Es stochert nicht im Missstand oder Morast eines völlig überfordernden Landes herum. Es zeigt Mumbai als eine Stadt der Illusionen. Das aber in keiner ernüchternden Resignation, sondern als Tugend.

In diesem Licht, dass sich wahrnehmen lässt, oszillieren die Träume und Wünsche von Prabha und Anu, zwei Krankenschwestern in einem Spital in ebendieser Stadt. Beide teilen sich eine Wohnung, beiden haben die Illusion eines erfüllten Lebens. Prabha, durch eine arrangierte Hochzeit vermählt, weiß ihren Ehemann in Deutschland, doch dieser lässt nicht mehr von sich hören. Anu hingegen, deutlich jünger, liebt einen malayischen Muslim – eine Liaison, die Anus Eltern nie erlauben würden. Doch sie tut, was sie für richtig hält. Wenn man so will, gibt es da noch eine dritte: die Witwe Parvaty, die, schon deutlich älter, ihren Mann bereits zu Grabe getragen hat und nun delogiert wird, da es für die gemeinsame Wohnung keine Belege gibt. Sie ist bereit dafür, ihre Illusion der Realität weichen zu lassen und begibt sich zurück in ihr Heimatdorf. Prabha und Anu begleiten sie ans Meer, raus aus der Stadt, die in diesem Film eine Hommage erlebt wie sonst nur New York unter der Regie Woody Allens, versetzt mit urbanen Klavierklängen, die an George Gershwin erinnern. Auch akustisch lädt der Film dazu ein, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Kapadia mischt die dokumentarischen Stimmen von Mumbais Bewohner unter ihr traumverlorenes, tropisches Monsun-Erlebnis. Sie findet Szenen von einer Aussagekraft, die ohne Worte auskommt und die Tiefe der Empfindungen ihrer beobachteten Individuen zeigt. Womöglich inspiriert von den metaphysischen Welten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Cemetery of Splendour) lässt sich All We Imagine as Light zu einer impressionistischen, magischen Odyssee in die Wunschwelten von Prabha und Anu bewegen – wer Tempo und Stakkato sucht, ist bei We All Imagine as Light fehl am Platz. Hier dominiert die Entschleunigung, die Kontemplation eines feministischen Psychodramas, das in ernüchternder Traurigkeit versinken könnte, allerdings den Weg innerer Befreiung wählt. Weit jenseits eines sentimentalen Rührstücks ist der Film voll kraftvoller Zuversicht, die sich in diesem Imagine wiederfindet – als schillernde, bunte Oase einer Taverne am Strand im gegenwärtigen Moment, der zeitlos erscheint.

All We Imagine as Light (2024)

80 Plus (2024)

DAS SCHICKSAL ÜBERHOLEN

7/10


80 Plus© 2024 Orbrock Film/ Tivoli Film/ Jovan Stevanovic


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: SABINE HIEBLER, GERHARD ERTL

CAST: CHRISTINE OSTERMAYER, MARGARETHE TIESEL, MANUEL RUBEY, LAURA HERMANN, JULIA KOSCHITZ, THOMAS MRAZ, PETRA MORZÉ, JULIA JELINEK, STEFANIE SARGNAGEL, REINHARD NOWAK, DAVID SCHEID, GÜNTER TOLAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Die Jungen werden es nie verstehen. Oder doch? Wenn man alt wird, erweckt man seltsamerweise stets den Eindruck, immer knapp vor der Entmündigung zu stehen. Warum man als Greisin oder Greis nicht mehr das tun darf, was man will, liegt an unreflektierten Glaubenssätzen, die stets Demenz, Verwirrtheit und Arthritis in ihrem Wortschatz wissen. Die Jungen wollen dann für die Alten nur das Beste, in Wahrheit aber für sich selbst – aufgrund von Schuldgefühlen, falschem Gewissen oder einfach nur aus Eigennutz. Warum im Alter Selbstbestimmung so schwer zu erkämpfen ist und wie sich diese aber einfordern lässt, davon erzählt ein launiges und beherztes Roadmovie quer durch Österreich. Das klingt nun recht simpel, vielleicht auch vorhersehbar. Doch da ist noch eine andere Ebene, eine viel wichtigere Botschaft, die auch als Gebrauchsanweisung verstanden werden kann.

Denn nicht nur ums hohe Alter geht es hier, sondern natürlich auch um den Tod, der sich am Ende aller Lebensstraßen letztlich abzeichnen wird und den Helene bereits ausmachen kann. Der ehemalige Kinostar mit Stil und Noblesse hat sich dank des Erlernens sämtlicher Bühnen- und Filmrollen eine so gepflogene Aussprache angeeignet, dass man sich selbst dabei vorkommt wie ein röhrender Urmensch. Helene hat Krebs und hat die Krankheit schon einmal in ihre Schranken verwiesen, doch jetzt ist sie wieder da. Noch einmal diese schwere Therapie über sich ergehen zu lassen, ist keine Option. Von daher winkt das Nachbarland Schweiz, in welchem Sterbehilfe straffrei in Anspruch genommen werden kann, sind die Parameter dafür erfüllt. Das Problem: Helene sitzt in einer Seniorenresidenz und ist in ihrer Mobilität eingeschränkt, überdies quält sie ihr Neffe (ambivalent: Manuel Rubey) mit scheinbar fürsorglichen Sanktionen. Womit er nicht gerechnet hat: Zimmernachbarin Margarete Tiesel als Toni. Sie ist das genaue Gegenteil zu Diva Helene, ist bodenständig, urwienerisch und raucht wie ein Schlot. Es sieht niemals danach aus, als würden die beiden einen gemeinsamen Nenner finden, doch in Paul Harathers Indien gaben Alfred Dorfer und Josef Hader ebenfalls zwei wie Tag und Nacht. Ein Film wie dieser lebt davon, das sich Gegensätze anziehen und schließlich ergänzen. Und so suchen beide mit dem Oldtimer Helenes das Weite Richtung Westen, während Neffe Rubey und später auch die Polizei den beiden im Nacken sitzen. Klingt nach Thema & Louise? Vielleicht ein bisschen. Das Alter sollte dabei keine Unterschiede machen.

Nicht alles in 80 Plus ist, wie vermutet, vorhersehbar. Und auch wenn es das wäre: Christine Ostermayer und Margarete Tiesel sind das neue Dreamteam am österreichischen Filmhimmel. Beide spielen ihre Rollen mit Hingabe, erfrischender charakterlicher Kontinuität und einer Sympathie füreinander, die über den Dreh hinausgehen muss. Die 88jährige Ostermayer strahlt vor Schönheit und Anmut – die Dame hat Stil bis in die Fingerspitzen, sie weiß auch den Frust und den Drang ihrer Figur in der richtigen Balance zu halten und entsprechend auf Tiesels eher rabiatere Lebenseinstellung einzugehen. Tiesel wiederum, bekannt aus Ulrich Seidls Paradies: Liebe, gibt sich als scheinbar lebensfrohes, bodenständiges Original, das sich als Genussmensch mit Hang zur Autoaggression dem Hier und Jetzt verschrieben hat. Damit stehen zwei Philosophien anfangs gegeneinander, um später einander zu bereichern: Das Innehalten in der Gegenwart und das Versöhnen mit einer nicht mehr fernen Zukunft. Beides könnte einen Lebensabend voll innerer Zufriedenheit garantieren, trotz so mancher Dunkelheit, die sich anbahnt oder längst da ist. Worauf es dabei ankommt, um auch damit fertigzuwerden, bringen Sabine Hiebler und Gerhard Ertl (Sargnagel – Der Film, Anfang 80) auf traditionelle, wenn nicht gar deutlich konventionelle, aber entwaffnend liebenswürdige Weise ihrem Publikum in klar verständlicher Chronologie näher. Es ist nichts, was wir nicht ohnehin schon gewusst hätten, zumindest in der Theorie. Hätte Manuel Rubeys Filmfigur Josef diesen Film gesehen, würde er mir zustimmen. Doch die Praxis ist immer anders, spätestens dann weiß man es nicht mehr besser, sondern ist mittendrin. Vielleicht wirken Filme wie diese deswegen so selbstverständlich in ihrer Conclusio.

Dass 80 Plus auch Tränen mit sich bringt und sich zu Sentimentalitäten hinreissen lässt, die in trivialeren Fernsehformaten meist besser funktionieren, mag man skeptisch betrachten. Gefühle richtig darzustellen, ohne sie zu verseifen, ist schwierig. Hiebler und Ertl retten sich aber schnell wieder da raus, somit sei gesagt: Keine Scheu vor Alter und Tod, schon gar nicht in diesem Film, in welchem es dann doch viel mehr um das Leben geht.

80 Plus (2024)

Sew Torn (2024)

NUR NICHT DEN FADEN VERLIEREN

7/10


Sew Torn© 2024 The Playmaker

LAND / JAHR: USA, SCHWEIZ 2024

REGIE: FREDDY MCDONALD

DREHBUCH: FREDDY & FRED MCDONALD

CAST: EVE CONNOLLY, CALUM WORTHY, JOHN LYNCH, K. CALLAN, RON COOK, THOMAS DOUGLAS, CAROLINE GOODALL, WERNER BIERMEIER, VERONIKA HERREN-WENGER U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Dass Zwirnfäden so reißfest sein können, ist erstaunlich. Ich dachte stets, dieses hauchdünne Nähzubehör hält keinen größeren Einflüssen stand, doch eigentlich tut es das, und zwar in jedem Kleidungsstück. In Sew Torn (übersetzt: zerrissene Naht) spielt der handwerklich genutzte Nähfaden eine große Rolle, fast noch mehr als der Spinnenfaden bei Spiderman Peter Parker, wenn er sich wieder mal an senkrechte Hauswände heftet. Um den Zweck der Fäden zu nutzen, muss man erstens räumlich gut denken können und zweitens mit geschlossenen Augen den Zwirn ins Nadelöhr bringen – das wiederum in Sekundenschnelle. Man muss auch das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung verstehen, das Prinzip einer Kugelbahn oder des Dominoeffekts. Wäre dem nicht so, wäre Schicksalsschneiderin Barbara (Eve Connolly, u. a. The Other Lamb) wohl sehr schnell über ihr eigenes, komplex geflochtenes Netz gestolpert, das letztlich Dinge in Bewegung bringt, die wie in Kevin – Allein zu Haus unliebsamen Aggressoren das Handwerk legen soll. Eine Art „McGyver“ wäre an Barbara verloren gegangen – hätte sie ihn nicht rechtzeitig entdeckt, nachdem ein einziger kleiner, scheinbar nichtiger Umstand das restliche Leben infrage stellen wird. Dieser Umstand ist ein kleiner, weißer Knopf, der Barbara beim Anprobieren des Hochzeitskleides einer sichtlich längst entnervten Kundin aus der Hand fällt. Vor einem Lüftungsgitter am Boden macht er Halt – die Frage ist: Fällt er durch den Spalt oder bleibt er auf dem Gitter liegen? Barbara fordert das Schicksal heraus – und lässt den Knopf in die Finsternis kullern. Da sie nochmals zurück in ihre Schneiderei fahren muss, um einen neuen Knopf zu holen, wird sie auf der Landstraße zur Zeugin eines kriminell motivierten Unfalls. Auf dem Asphalt der Fahrbahn liegt ein Koffer voller Geld, am Straßenrand zwei schwer verletzte, männliche Individuen, unweit von ihnen entfernt zwei Pistolen. Was soll Barbara also tun? Den Geldkoffer an sich nehmen, um neu anzufangen? Einfach weiterfahren? Oder die Polizei rufen?

An diesem Punkt spaltet sich Sew Torn auf. Ein dramaturgisches Spiel, das durchaus auch an Tom Tykwers experimentellem Thriller Lola rennt erinnert. Dort muss Franka Potente immer und immer wieder und ohne dabei zwingend in einer Zeitschleife gefangen sein zu müssen einen missglückten Raubüberfall durchexerzieren und dabei unterschiedliche Entscheidungen treffen. Der Qual der Wahl muss sich in Freddy McDonalds Film- und Regiedebüt auch Barbara aussetzen und behält die Übersicht über drei Möglichkeiten. Sew Torn näht sich dabei sein Insert zu den jeweiligen Episoden formvollendet selbst – um immer vom selben Punkt weg neu durchzustarten. McDonald setzt dabei auf den Nähkoffer seiner Heldin, die alles enthält, was auch Mary Poppins braucht, um aussichtslose Situationen meistern zu können – oder auch nicht. Sew Torn erhält durch diese kreative Komponente – nämlich: sich die Skills einer Näherin märchengleich zunutze zu machen – ein Alleinstellungsmerkmal und verhält sich auch sonst so, als wäre der Film selbst das Schneidern eines komplizierten Kleidungsstücks, während der Teufel hinter einem her ist. Die Nähmaschine rattert, die Spule entrollt den Zwirn, der geradezu ein Eigenleben entwickelt und es so scheint, als müsste Mission Impossible-Agent Tom Cruise als nächstes einen Weg durch ein Wirrwarr an Fäden finden, ohne auch nur an einen einzigen anzustreifen. Dergleichen Spannung erreicht Sew Torn auffallend früh – und McDonald kann sie halten. Neben vielen originellen und verblüffenden Einfällen, die Barbara zu einem Improvisationstalent hochstilisieren, ist die stets auf dem Gaspedal befindliche Inszenierung auch angesichts einer Erstlingsarbeit eine beeindruckende Leistung. Die Ursache für die handwerkliche Raffinesse des Werkes liegt wohl auch daran, dass McDonald, völlig eins mit dem Rhythmus seines Films, auch für den Schnitt verantwortlich war. Eine Aufgabenverteilung, die sich bezahlt macht.

Sew Torn ist schließlich der Glücksfall eines leidenschaftlichen Handwerks, das über ein anderes unterschätztes Handwerk erzählt, dass sich zweckentfremden lässt, um das Schicksal neu zu schneidern. Die Schwerpunkte sind richtig gesetzt, Eve Connolly als Barbara vielleicht in so kurzer Zeit manchmal zu einfallsreich, doch das ist in dieser Realität des Films eine Prämisse, die man annehmen muss, sonst funktioniert das ganze Konstrukt nicht. Lässt sich damit gut zurechtkommen, sitzt die Naht perfekt. Im Übrigen: von Freddy McDonald, da bin ich mir sicher, wird man noch einiges hören.

Sew Torn (2024)

Mothers‘ Instinct (2024)

DAS KIND DER ANDEREN

6/10


mothers-instinct© 2024 Ascot Elite


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: BENOÎT DELHOMME

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON BARBARA ABEL

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANNE HATHAWAY, ANDERS DANIELSEN LIE, JOSH CHARLES, EAMON O’CONNELL, CAROLINE LAGERFELT, BAYLEN D. BIELITZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Werden wir kurz mal biblisch. Denn gäbe es nach den zehn Geboten, die Moses von Gott höchstselbst ausgehändigt bekommen hat, noch ein elftes Gebot, würde dies vermutlich lauten: Du sollst nicht begehren der anderen Kind. Manche würden meinen: Mit diesem Gesetzt würde man offene Türen einrennen, denn als Mutter oder Vater ist man mit dem eigenen Nachwuchs wohl schon genug gesegnet, und gäbe es mal keinen, so ist das der Wille der Erwachsenen oder aber, sofern der Nachwuchs nicht auf natürlichem Wege auf die Welt kommen kann, kann Adoption immer noch ein Ausweg sein. Gott würde wohl mit seinem elften Gebot jene traurigen Gestalten ansprechen, die, längst glücklich mit Tochter oder Sohn, plötzlich kinderlos dastehen. Wenn das Schicksal erbarmungslos zuschlägt, dann ist das das Schlimmste, was einem widerfahren kann: Der Tod des eigenen Kindes. Kultstar Romy Schneider hat das erleben müssen. Sie wird sich davon niemals mehr erholt haben.

Im hochdramatischen Psychothriller Mothers‘ Instinct schickt Kameramann Benoît Delhomme in seinem Regiedebüt zwei schillernde Stars in den Nachbarschaftskrieg und lässt sie zu desperaten Hausfrauen mutieren, die sich beide nichts schenken – schon gar nicht das eigene Kind. Bereits die längste Zeit sind Jessica Chastain als Alice und Anne Hathaway als Celine dicke Freundinnen, die, jeweils gesegnet mit einem Sohn, bereits sowas wie Familie sind. Auf allen möglichen Festivitäten kann die eine nicht ohne die andere. Was wie ein idyllisches, harmonisches Miteinander aus der Epoche der biederen 60er Jahre aussieht, wird wohl bald einer Naturkatstrophe ausgesetzt sein, die das Fundament nicht nur einer Existenz, sondern auch einer innigen Freundschaft zerbrechen lässt. Celines Sohn schließlich, draufgängerisch und unachtsam, fällt von der Balustrade der hauseigenen Loggia mehrere Meter tief. Ein Unglück, das der Kleine nicht überleben und eine ganze Familie in den Abgrund reissen wird. Auf der anderen Seite bleibt Alice – schockiert, tröstender Worte nur schwer mächtig, aber immer noch einen lebendigen Spross an ihrer Seite. Eine Konstellation, die ungute, intuitive Gefühle hochkommen lässt – vorallem jene von Celine, die mitten in ihrer zermürbenden Trauer neidvoll zusehen muss, wie andernorts das Leben weitergeht. Was aus diesem Neid erwächst, der sich kontinuierlich in eigennützigen Aktivitäten Bahn bricht, die den Sohn der anderen stärker an die Trauernde binden soll, nimmt hochdramatische Züge an.

Rein theoretisch hätte man es in Mothers‘ Instinct beim Drama belassen können. Andererseits ist Belhommes verhaltenspsychologischer Thriller das Remake eines bereits 2018 erschienenen belgischen Films selben Titels. Die Thriller-Komponente war wohl auch im Original vorhanden, und vielleicht hat sich diese unter Olivier Masset-Depasses Regie besser integriert. Beurteilen kann ich das nicht, das Remake habe ich dem Original dann doch vorgezogen. Und ja – eine Zeit lang entwickelt Delhommes Interpretation einen ungeheuerlichen, geradezu reißerischen Sog, wenn es darum geht, das tragische Schicksal einer Mutter darzustellen. Anne Hathaway mag in ihrem Schauspiel zwar immer wieder dick auftragen – solange sie die Qual einer Trauer hinter gesellschaftsfähiger Fassade verbirgt, kann sie überzeugen. Chastain steht Hathaway um nichts nach, ihre Paranoia wirkt greifbar – beide liefern sich ein Kopf an Kopf-Rennen, es ist wie das Ringen zweier Profis, zuletzt ähnlich gesehen in May December – zwischen Julianne Moore und Natalie Portman.

Und dann das Abrutschen ins generische, weil routinierte Thrillerkino: Wie so oft in diesem Genre sind psychologische Aspekte sowie die Entwicklung eines pathologischen Verhaltens nichts, womit sich Drehbuchautoren auch wirklich ausführlich beschäftigen wollen. Meist verändern im Laufe der Handlung tragende Charaktere ihre Persönlichkeit um hundertachtzig Grad, was wenig plausibel erscheint. Mothers‘ Instinct spitzt sich zu und ist effektiv, mag aber zu sehr auf Worst Case Szenario gebürstet sein, um die feinen Nuancen der ersten Filmhälfte beizubehalten. Was als Familien- und Freundschaftsdrama beginnt, endet als zynische Schicksalsgroteske. Wer beide Ansätze gut miteinander vereinbaren kann, mag an Mother‘ Instinct Gefallen finden. Ich für meinen Teil finde das Abgleiten ins Triviale nicht nur vorhersehbar. Als sich die Befürchtung, es könnte vielleicht so kommen, bewahrheitet, verliert der Streifen doch etwas an Niveau.

Mothers‘ Instinct (2024)

Eureka (2023)

FRAGMENTE ÜBER DAS VERSCHWINDEN

7/10


eureka© 2023 Grandfilm


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, FRANKREICH, PORTUGAL, MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LISANDRO ALONSO

CAST: VIGGO MORTENSEN, CHIARA MASTROIANNI, SADIE LAPOINTE, ADANILO R, JOSÉ MARIA YAZPIK, ALAINA CLIFFORD, VIILBJØRK MALLING AGGER, RAFI PITTS U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein Mädchen verschwindet. Genau genommen die Tochter des dänischen Landvermessers Gunnar, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Argentinien weilt. Gespielt wird dieser verzweifelt suchende Mann, der sich in der argentinischen Raumzeit verliert, von „Aragorn“ Viggo Mortensen. Die Rede ist dabei aber vom Film Jauja von Lisandro Alonso, der 2014 ebenso auf der Viennale lief wie letztes Jahr das neueste Werk des Argentiniers: Eureka. Auch in diesem überlangen Werk, welches zwar anmutet wie ein Episodenfilm, es bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht ist, gibt Mortensen jemanden, einen abgewrackten Revolverhelden mit schweißnasser Stirn, der seine Tochter sucht. Er durchquert dabei die Prärie und geht dabei über Leichen, das alles gefilmt in 4:3 und in Schwarzweiß. Die Mission des Mannes wird dabei von einem nordamerikanischen Indigenen beobachtet, der frühmorgens seine Trommel ertönen lässt und dabei auf die Welt blickt. So beginnt ein Film, der sich willig dazu entschlossen hat, sich selbst treiben und seine Geschichten zerfransen zu lassen, ohne dem narrativen Dogma nachzugeben, alles auserzählen zu müssen. Bei Eureka braucht man getrost auf gar nichts warten. Denn alles hat kein Ende, und falls doch, dann ist es das vorläufige des Verschwindens.

Es ist ja nicht nur Mortensens Filmtochter, die fehlt. Im gewichtigen Mittelteil des avantgardistischen Werks befinden wir uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota während eines klirrend kalten Winters. Der trostlose Ort ist nur noch ein Schatten seiner Begrifflichkeit. Sozialen Missstand gibt es an allen Ecken und Enden, und schon wieder verschwinden Menschen wie zum Beispiel die kleine Mackenzie, die niemand gesehen haben will. Lisandro Alonso verfolgt dabei Lakota-Polizistin Debonna, die für Recht und Ordnung sorgt während der langen Winternacht und nicht nur von dieser sozialen Verwahrlosung, sondern auch von ihren Kollegen bitter enttäuscht ist. Ihre Nichte Sadie (faszinierend: Sadie Lapointe) arbeitet im Jugendheim, um den desorientierten Nachwuchs mit Sport und Spiel auf dem rechten Weg zu halten. Was mit diesen beiden Frauen passieren wird, bleibt offen. Auch sie verschwinden, auf ihre jeweils ganz eigene Art. Zuletzt findet sich Eureka im brasilianischen Dschungel der Siebzigerjahre wieder: Ein Goldwäscher, nach einer Bluttat geflohen von seinem Stamm, muss sich seiner Tat stellen. Auch er ist auf der Suche. Vielleicht nach Absolution, vielleicht nach einem sicheren Leben. Die Allegorie des Verschwindens macht auch hier nicht Halt, in dieser letzten Episode.

So seltsam das alles auch klingt: Eureka ist seltsamer. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) kennt, wird ungefähr erahnen können, was es zu bedeuten hat, wenn ich meine, dass Alonso in seinen verharrenden, teils unerträglich langen Einstellungen die Essenz des wahrgenommenen Moments, des Daseins, der Existenz einfach nur durch stoische Betrachtung intensiviert. Tatsächlich gelangt er dadurch in die Tiefe, und je länger man hinblickt, um so mehr verändert sich das Bild. Oder es blickt das Bild, frei nach Nietzsche, geradewegs zurück. Das Transzendente dringt in die entbehrungsreiche Wirklichkeit, der Aminismus der Indigenen spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn Eureka ist schwer mysteriös. Wonach Alonso genau auf der Suche ist, das könnte vieles sein. Kulturelle Identität, Geschichte, Familie, Stammbaum. Eine sichere Zukunft? Schließlich wissen wir: Eureka, vermutlich von Archimedes ausgesprochen, kommt aus dem Griechischen und heisst so viel wie Ich hab’s gefunden. Letztlich aber bleiben alle diese Figuren im Film auf der Suche nach etwas Verschwundenem, das auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da ist oder da sein will.

Unbefriedigender Existenzialismus als zerfranstes Geduldsspiel, das sich seinem Fluss hingibt, egal, welche Bahnen er nimmt: Gefunden hat in Eureka niemand etwas. Doch vielleicht ist es die Lösung aller Probleme, in einem gewissen kapitulierenden Pragmatismus den Abgesang zuzulassen.

Eureka (2023)