In die Sonne schauen (2025)

VEREINT IN DER ZEIT

9/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: MASCHA SCHILINSKI

DREHBUCH: MASCHA SCHILINSKI, LOUISE PETER

KAMERA: FABIAN GAMPER

CAST: HANNA HECKT, LEA DRINDA, LENA URZENDOWSKY, LAENI GEISELER, SUSANNE WUEST, LUISE HEYER, FLORIAN GEISSELMANN, GRETA KRÄMER, ZOË BAIER, CLAUDIA GEISLER-BADING, GODE BENEDIX U. A.

LÄNGE: 2 STD 29 MIN


Mascha Schilinski war da. Ganz leger in Mantel, Haube, Schal, als wäre sie lediglich in der Fluktuation der Besuchenden Gast einer Vernissage, dessen Bilder längst nicht die ihren sind. Ob sie ihrem Publikum noch etwas sagen wolle, bevor ihr Film beginnt, stellt die Moderatorin der Viennale nach kurzer Begrüßung die letzte Frage. Einfach treiben lassen, reinfallen lassen, sehen, was kommt, so die Antwort. Nicht das offensichtlich Verworrene hinterfragen, keine Verwandtschaftsverhältnisse, kein Warum oder Weshalb. Einfach wahrnehmen. Dann, nur dann, und das dann garantiert, bekommt In die Sonne schauen Struktur, erkennt man Muster, einen gewissen Rhythmus, dafür sollte man aber seinen Geist öffnen, zulassen, Vorurteile hintanstellen, Erwartungen sowieso gar nicht erst gehabt haben. Und so habe ich mir diese letzten Worte zu Herzen genommen, habe mich zurückgelehnt, die Augen und Ohren geöffnet, meine Sinne auf Empfang justiert, mich sozusagen in eine meditative Vorstufe begeben.

Die Mathematik einer narrativen Sprengung

Das darauffolgende Eintauchen im Schilinskis vielfach prämiertes Opus Magnum – und ja, das ist es auf alle Fälle – ist wie der Besuch in einem fremden Land, das Hineingleiten in einen Fluss, das Erspüren des Waldbodens mit bloßen Füßen. Es riecht nach alten Möbeln, nach Heu, nach Schweiß, nach Tod. Nach Pflaumen, Sommersonne und Blut. Was Ludwig Ganghofer, Ludwig Anzengruber, Franz Innerhofer und Robert Schneider schon immer hätten schreiben wollen, ist Mascha Schilinski mit ihrer Co-Autorin Louise Peter über Jahre hinweg gelungen: Einen Zeit und Raum sprengenden Heimatfilm, der sich von allem bisher Dagewesenen abwendet, um nichts in der Welt einem Genre zugeordnet werden möchte und womöglich selbst durch ein intuitives Erspüren der Dinge und Wesenheiten überhaupt erst entstanden ist. Gleichermaßen aber erfordert eine Struktur wie diese, die in In die Sonne schauen sichtbar wird, fast schon mathematische Genauigkeit. Beides zusammen in ein sich gegenseitig begünstigender Widerspruch, der im Betrachten dieser metaphysischen Chronologie etwas bewegt.

Hin und hergerissen

Pauschalisiert gesehen sind es Emotionen, und zwar nicht nur solche, die sich dem Gezeigten gegenüber wohlwollend verhalten. Mitunter ist es Ablehnung, da ich vermutet hatte, dass Schilinskis Anspruch, Filmkunst zu verwirklichen, diesem Zweck genügt und nicht mehr. Manchmal bin ich wütend, dann verwirrt, verstört – ein Entwicklungsprozess tritt in Gang, der, betrachtet man das Konzept des Films, genau so gewollt war. Das Wechselbad der Empfindungen spiegelt sich in der Gesinnung dieser Frauen, zeitlich auseinandergerissen in vier Epochen, weit voneinander entfernt, physisch vielleicht, aber nicht psychisch, denn da schlagen die vier Episoden ihre Brücken zueinander, ziehen sich gegenseitig an und verschmelzen zu einem ineinander verschachtelten Mosaik aus Szenen, die je nach Lichteinfall einmal nur die einen, dann wieder die anderen Steine sichtbar werden lassen, je nach Schliff, je nach Tonalität.

Diese vier Epochen erscheinen in ihrer Gleichzeitigkeit, von den Jahren des Ersten Weltkriegs über das bittere Ende des zweiten Krieges an den Achtzigerjahren vorbei bis in die Gegenwart. Vier weibliche Persönlichkeiten stehen da an der Schwelle eines Umbruchs, einer Offenbarung, eines Paradigmenwechsels. Schauplatz ist stets ein altmärkischer Vierkanthof, die Zeiten und ihre Lebensweisen können unterschiedlicher nicht sein. Umso auffallend aber das, was die vier Menschen miteinander verbindet – manch Worte, das Vergängliche, die Ahnung von etwas größerem Ganzen, vielleicht den eigenen Ahnen.

Ein Donnern durch die Zeit

Wie klingt der Urknall, hat sich Schilinski gefragt, als sie nach dem Film über die bedeutende Ebene der Klangwelten spricht. Etwas Gewaltiges ist im Gange, das Grundrauschen des Universums, das Dehnen physikalischer Gesetze, die, begleitet von einem gepeinigten Wummern, den Wechsel zwischen den Existenzblasen ermöglicht. Das Experimentelle des Tons findet seine Entsprechung in der experimentellen Visualisierung abstrakter, sinnlicher Wahrnehmungen, zwischen Unschärfen, entsättigten Traumsequenzen und alternativer Visionen.

Das Durchbrechen der vierten Wand führt dazu, dass wir uns angesprochen fühlen, doch vielmehr ist es das Durchbrechen der den Figuren eigenen zeitlichen Dimension, um in eine andere zu blicken, nur einen kurzen Augenblick – um gewahr zu werden, dass die Zeit dich nicht trennt von denen, die da waren und jenen, die noch werden. In die Sonne schauen wird fast schon zu einem Spukfilm, ein Geisterreigen, stets begleitet von einer gewissen folgenschweren, melancholischen Düsternis. Auch der Tod als epigenetischer Übergang in eine andere Existenz ist nicht die einzige Naturgewalt, die Schlussstriche zieht. Da ist noch etwas anderes, diese Gleichzeitigkeit. Zeit ist in Schilinskis Film ein abstrakter Begriff, eine verschiebbare Trennung, ein Kreislauf, wie in Denis Villeneuves Science-Fiction-Film Arrival. Überrumpelt stelle ich fest, dass In die Sonne schauen letztendlich zu einer oszillierenden, ständig in Bewegung befindlichen, bahnbrechenden Erfahrung von Film geworden ist – eine audiovisuelle, symphonische Anordnung als wohl ungewöhnlichstes Werk im Rahmen der Viennale und vielleicht auch des Jahres. Am Ende hat Schilinskis völlig recht mit ihrer Empfehlung. Antennen öffnen, Sinne schärfen, Film hineinlassen. Am Ende, den Boden unter den Füßen verlierend, sieht man klar.

In die Sonne schauen (2025)

After the Hunt (2025)

DIE QUADRATUR DES MEINUNGSKREISES

6,5/10


© 2025 Sony Pictures


LAND / JAHR: USA, ITALIEN 2025

REGIE: LUCA GUADAGNINO

DREHBUCH: NORA GARRETT

KAMERA: MALIK HASSAN SAYEED

CAST: JULIA ROBERTS, AYO EDEBIRI, ANDREW GARFIELD, MICHAEL STUHLBARG, CHLOË SEVIGNY, LÍO MEHIEL, DAVID LEIBER, THADDEA GRAHAM, WILL PRICE U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Alle sind sie sowas von klug. Studierend, studiert, auf der Höhe der Zeit und ihrer Bedürfnisse: Akademiker eben, und davon nehme man die intellektuellste und wortgewandteste Elite, und davon wieder die Liga des Ruhms. Angelangt sind wir dann bei einer wie Julia Roberts, einem wie Andrew Garfield und vielleicht auch noch einem wie Michael Stuhlbarg, der aber nicht den Philosophen, sondern den Psychologen gibt, den subversiv-süffisanten Attitüden eines weisen Klassik-Hörers ergeben, dem es nur um sich selbst geht. Die anderen sind da aber auch nicht besser, wenn nicht gar noch schlimmer, denn Stuhlbargs Figur ist immerhin die eines treuen, manchmal fürsorglichen Ehemanns, der wirklich liebt, nämlich Julia Roberts. Die scheint fast aus Gewohnheit eine jahrzehntelange Beziehung zu führen, neben ihrer eigentlichen als Universitätsprofessorin in Yale mit ihren Studentinnen und Studenten. Protegé von Roberts Figur der Alma Imhoff ist die scheinbar ehrgeizige Maggie Resnick (Ayo Edebiri), die für ihre Professorin mehr empfindet als man empfinden sollte. Störfaktor ist dabei Almas liebgewonnener Arbeitskollege Hank, gespielt von Andrew Garfield, ein eitler Geck von einem Professor, blitzgescheit, charmant, aufdringlich. Dieses Aufdringliche, Notgeile, das ihn umgibt, wird ihm zum Verhängnis, als er nach einer von Alma geschmissenen Houseparty für die Uni-Elite besagte Maggie nicht nur nachhause bringt, sondern, sturzbesoffen, gleich noch hochkommt in ihre Wohnung und dort, wie kann es anders sein, sexuell übergriffig wird.

Im Zweifel gegen den Angeklagten

Damit gerät ein Stein ins Rollen, der alles mitzureißen scheint – vor allem Almas Integrität, ihre Souveränität und Glaubwürdigkeit. Denn schließlich ergibt sich jene Pattsituation, in der, wie Schirach es in seinem Stück Er sagt. Sie sagt ausführlich umschreibt, eine wie immer auch geartete Wahrheit unmöglich ans Licht dringen kann, es sei denn, eine der beiden Wahrheiten (denn Hank betört seine Unschuld) kommt der sozialphilosophischen Bestrebung zugute, dem weißen Patriarchat ein für alle Mal den Teufel auszutreiben. Dass dabei persönliche, natürlich egoistische Interessen dabei nutznießen wie nicht blöd, mag eine willkommener Nebeneffekt sein.

Julia Roberts steht also zwischen den Fronten und weiß nicht wohin mit ihrer Meinung, geschweige denn ihrer bezogenen Stellung. Es beiden Parteien recht zu machen, geht nicht. Fragt sich nur: Auf welcher Seite lässt sich der eigene Erfolg denn am wenigsten trüben, steht doch eine der heißbegehrten Anstellungen ins Haus, die auch Hank bekommen könnte. Der jedoch ist diskreditiert bis auf alle Ewigkeit, das woke Meinungssystem zieht ungehindert seine vorverurteilenden Kreise.

Kluger Rede kurzer Sinn

Kreise, die man als Zuseher langsam aus den Augen verliert oder aber man kann ihnen nicht ganz folgen, wenn Luca Guadagnino sein Ensemble hochgradig philosophische Ansichten rezitieren lässt, die nah an der Unverständlichkeit einen Nichtstudierten wie mich ziemlich blöd dasitzen lässt. Am liebsten würde man zurückspulen und das eine oder andere Gespräch nochmal hören, es fragt sich auch, wohin die hochtrabende Wortklauberei führen soll, wenn nicht dort hin, Akademiker und solche, die es werden wollen, als Geistesriesen zu etablieren, deren Niveau einen eigenen Olymp pchtet, auf welchem gottähnliche Philosophen ihren Scharfsinn schleifen wie ein Schwert, um daraufhin die Klingen zu kreuzen. After the Hunt sonnt sich damit natürlich in gesellschaftspolitischer Brisanz und umkreist das Dilemma der woken manipulativen Zweckentfremdung, mit der siegessicher brandmarkiert wird, wer in die entsprechende Clique passt.

Ja, Männer sind Schweine, sehr viele sogar. Frauen müssen zusammenhalten, wenn es um Missbrauch geht, auch wenn der Verdacht nur im Raum steht. Oder nicht? Guadagnino hinterfragt dieses bewährte Konstrukt der unbewiesenen Ächtung – oder er hinterfragt es gleichzeitig auch nicht. Er hinterfragt Erfolg, Eitelkeit und die Aufrichtigkeit im Willen zur Veränderung der Welt, wie sie die studierende Elite besserwisserisch vorantreibt – und er hinterfragt es gleichzeitig auch nicht.

Julia Roberts hält die Zügel

After the Hunt bezieht selbst keine Stellung. Die wahren Identitäten seiner Figuren, deren Beweggründe und deren Aufrichtigkeit – sie bleiben unentdeckt, unerforscht, alle sind verdächtig, sich selbst nur im Vorteil zu sehen. Abgehoben ist das richtige Adjektiv für einen intriganten Gesellschaftsthriller, der wahnsinnig viel Diskussionsstoff aufs Tapet bringen will, ohne ihn auszuarbeiten. Bündel an Akten, Fotos und Schriften sind das, egal wo und wie man blättert, splittern fiktive biografische Fragmente ab, die nur ansatzweise irgendwo hinführen, wo man Antworten vermutet. Mit gekonnter, kinematographischer Kraft, kühler, fast schon abweisender Bildsprache und intellektueller Kaltschnäuzigkeit rührt Guadagnino in seinem Krisenspiel ordentlich um, und ja, Julia Roberts ist wiedermal ein As, eine Rolle, in der sie sich während es Spiels sichtlich erst selbst entdecken hat müssen, so sehr kämpft sie sich durchs Dickicht subjektiver Befangenheit. Messerscharfe Dialoge wechseln mit vehementer Suspense, es ist düster, die Figuren berechnend und allesamt klugschwätzend in diesem Uni-„Dallas“ aus einem Zeitalter ereifernder, moralgesteuerter Manipulation.

After the Hunt (2025)

Vermiglio (2024)

DER LÄNDLICHE SEGEN DES PATRIARCHATS

8/10


© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2024

REGIE / DREHBUCH: MAURA DELPERO

KAMERA: MICHAIL KRITSCHMAN

CAST: MARTINA SCRINZI, RACHELE POTRICH, ANNA THALER, TOMMASO RAGNO, GIUSEPPE DE DOMENICO, ROBERTA ROVELLI, CARLOTTA GAMBA, ORIETTA NOTARI, SARA SERRAIOCCO U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Aushalten, herhalten, durchhalten. Als Frau in den Dekaden vor dem Zweiten Weltkrieg geboren zu werden, da fordert das Schicksal schon mal sämtliche Abzüge und jede Menge Unterwürfigkeit in einer Gesellschaft, die vom Manne bestimmt wird und von nichts anderem. Verlässt man dabei noch die urbanen Gefilde und dringt in die Provinz vor, wird der Missstand noch deutlicher. Noch mehr Abenteuer in Sachen Diskriminierung und Fügsamkeit lassen sich hoch oben in den Bergen erleben, wo die Gerichtsbarkeit fast nicht mehr hinkommt, wo einer wie Elias Alder aus Schlafes Bruder sein wundersames Gehör entwickelt oder die Selbstjustiz wie in Das finstere Tal pechschwarze Blüten treibt. Auf dem Berg, da gibt’s genug Sünd‘. Und die wird auch rigoros betraft, weil der Herrgott es will und die Buße nach der Beichte es verlangt.

Was waren das für Zeiten, die im prachtvollen, zerklüfteten und immersiven Epos Vermiglio wieder lebendig werden, so als hätten Peter Turrini und Wilhelm Pevny Louisa May Alcotts kultverdächtigen Jugendroman Little Women neu interpretiert und nochmal eine ganz andere Alpensaga aus der Schneeschmelze gehoben. Anders als bei Alcott rücken hier nicht vier, sondern drei Geschwistermädchen in den Fokus. Es sind dies die dreizehnjährige, blitzgescheite Flavia, die einen gewissen religiösen Fanatismus zelebrierende sechzehnjährige Ada und die nun volljährige und auch heiratsfähige Lucia, die sich prompt in einen Süditaliener namens Pietro verliebt, der gegen Ende des Krieges einen einberufenen, schwer traumatisierten jungen Mann aus dem Dorf als Deserteur in die Heimat begleitet. Dieser Fremde findet auch an Lucia Gefallen, und es dauert gar nicht lange, da läuten die Hochzeitsglocken.

Wem diese Bergdorf-Romanze beim Lesen dieser Zeilen zu rustikal vorkommt und wer den Förster vom Silberwald hinter der nächsten Ecke vermutet, darf durchatmen: Vermiglio hat nichts davon, weder die Melodramatik, noch den Pathos noch überzogene Alpenromantik. Diese eindringliche Familiengeschichte, geschrieben und inszeniert von Maura Delpero, betört mit aus musealen Archiven hervorgekramten, historisch akkuraten Bildern, wuchtigen Panoramen und der erdig-feuchten Muffigkeit den Witterungen ausgesetzter Gemäuer. Nur dort, wo der Patriarch herrscht, nistet die große weite Welt. Über allem thront nämlich Cesare (Tommaso Ragno), die Verkörperung des Wissens und der Vernunft. Und eines Weltbildes, das Frauen Freiheit, Entfaltung und Individualität versagt. Während die eine unter die Haube muss, sonst nimmt sie kein Mann mehr, darf nur eine der übrigen Bildung genießen, während die andere dazu verdammt wird, den Hof zu hüten. Das Bildnis einer Frauengesellschaft und einer Gesellschaft an sich, in dem verknöcherte Hierarchien unverrückbar scheinen, ist düster und unwirtlich. Andererseits aber schenkt ihnen Delpero genug Persönlichkeit, um sich selbst zu definieren. In erzählerisch perfektionierter Ausgewogenheit wandert das volkskundliche Ensemblestück zwischen den Familienmitgliedern hin und her, entdeckt aufkeimende Auflehnung, Funken der Selbstfindung und die Ideen einer ganz anderen Ordnung, die kaum eine der jungen Frauen für möglich hielt.

Diese Art des klassischen Erzählkinos will auch in Zeiten überbordender filmischer Innovationen nicht verloren gehen, denn gerade diese Form versteht sich darin am besten, einem vergangenen Sitten- und Gesellschaftsbild mit Sinn für Nuancen hinter die knarrenden Holztüren zu blicken, ist der Schnee mal beiseite geschaufelt. Die Jahreszeiten fegen über die Alm, mit ihnen Schmerz,  Zuversicht, Geburt und Tod. Vermiglio ist ein stilistisch vollendetes Lamento über eine Epoche weiblichen Devotismus, als hätte Ingmar Bergman (Fanny und Alexander) Karl Schönherr oder Anzengruber inszeniert, mit dem Augenmerk auf Psyche, Tradition und der Wechselwirkung zwischen beidem.

Vermiglio (2024)

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

OBEN OHNE GEGEN PUTIN

5/10


© 2024 X Verleih AG


LAND / JAHR: FRANKREICH, UKRAINE, UNGARN 2024

REGIE: CHARLÈNE FAVIER

DREHBUCH: DIANE BRASSEUR, CHARLÈNE FAVIER, ANTOINE LACOMBLEZ

KAMERA: ERIC DUMONT

CAST: ALBINA KORZH, MARYNA KOSHKINA, LADA KOROVAI, OKSANA ZHDANOVA, YOANN ZIMMER, NOÉE ABITA, MARIIA KOKSHAIKINA, OLESYA OSTROVSKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Das Kino nimmt nicht nur zeitgemäße, sondern auch längst überfällige Agenden ernst. Und keine davon erfährt derzeit mehr Unterstützung quer durch alle Genres wie jene, die zum Ziel hat, die Frau dem Mann endlich gleichzustellen. Das beginnt stets immer damit, erstmal darüber zu berichten, was alles jahrhunderte- und jahrzehntelang im Argen lag. Das beginnt bei historischen Werken wie dem italienischen Familienepos Vermiglio und reicht mit Arbeiten wie Wunderschöner proaktiv und zukunftsweisend bis in die direkte Gegenwart, die gar keine Gegenwart mehr sein will, sondern eine zuversichtliche Zukunft, in der vieles längst besser gemacht und so manch diskriminierender Gap fast schon überwunden scheint. Weil alle zusammenhalten, alle Frauen, und vielleicht auch ein paar Männer.

Dazwischen gibt es biographische Werke wie Oxana – Mein Leben für Freiheit. Deutschsprachige Titel-Anhängsel wie diese sind meist zu generisch, um wirklich mehr Aufschluss darüber zu geben, worum es in diesen Filmen eigentlich geht. Für ein Publikum, das sich schon seit jeher interessiert und aufgeschlossen hinsichtlich feministischer Bestrebungen gezeigt hat, braucht es das nicht, da reicht der Name Oksana Schatschko und der Überbegriff Femen, um zu wissen, welche gesellschaftspolitische Wissenslücke hier geschlossen werden kann. Bei Femen weiß man vielleicht noch so ungefähr, dass hier Aktivistinnen mit textilfreier Oberweite konservativen Apparatschniks das Leben schwer gemacht hatten, natürlich gewaltfrei und bereit dafür, selbst Gewalt zu erleiden, denn abgeführt wurden sie immer. Dann aber war das Ziel bereits erreicht – europäische Medien und auch jene darüber hinaus hatten, was sie brauchten. Femen wurde weltbekannt, der Finger lag in den offenen Wunden, die Saat zum Aufstand war ausgebracht. Hinter all diesen Bemühungen, Entbehrungen und offener Rebellion stand Oksana Schatschko als Gründungsmitglied einer Initiative, die das Zeug hatte, starre patriarchale Krusten aufzubrechen.

Ihr schenkt Regisseurin Charlène Favier ein filmisches Denkmal, chronologisch geordnet und gleichsam auch wieder nicht, denn was wiegt schon schwerer als das Datum des freiwillig herbeigeführten Todes? Dabei präsentiert sich Oksana nicht als Opfer für den guten Zweck, nicht als Märtyrerin oder gar moderne Heilige, die bis zur letzten Sekunde für die gute Sache kämpft. Favier stellt die junge Ukrainerin, die sich mit 31 Jahren das Leben nahm, vorallem als Künstlerin dar, die mit der Eigendynamik ihrer mitersonnenen aktivistischen Idee letztlich nicht klarkommen konnte.

Als Künstlerin oder Künstler ist man vorrangig mit sich selbst beschäftigt, der Geltungsdrang und die Selbstbestätigung durch die Bewunderung anderer ist die Ernte, die man einfahren will. Da geht es weniger um die Sache an sich als um das Ego, das im Mittelpunkt bleiben will. Seltsamerweise hätte, zumindest laut Film, Oksana dank ihrer virtuosen Darstellung provokanter Ikonen nur durch offene Türen treten müssen, um nochmal ganz groß durchzustarten – das Problem aber lag offensichtlich woanders. Eine Dunkelheit, die Favier scheinbar ausspart und nicht näher ergründen will. Somit bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit sehr an der Oberfläche, scheint fast schon Furcht davor zu haben, das Kind beim Namen zu nennen. Viel anderes muss hier in diesem Leben schiefgelaufen sein, doch das Psychodrama bleibt außen vor. Als Biografie, die sich in den letzten Lebenstag des 23. Juli 2018 einbettet, bleibt Oxana – Mein Leben für Freiheit konventionell und routiniert. Die Ukrainerin Albina Korzh gibt der Femen-Ikone ein hübsches Gesicht, doch das ist auch schon alles. Bewegend mögen, wie so oft in Biografien, die Fakten sein, der Bezug zur jüngeren Geschichte Europas, die in einer Dokumentation aber genauso zu finden sind.

Oxana – Mein Leben für Freiheit (2024)

Wunderschöner (2025)

DIE TRUGBILDER WEIBLICHER FREIHEIT

7,5/10


© 2025 Warner Bros. Entertainment


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: KAROLINE HERFURTH

DREHBUCH: KAROLINE HERFURTH, MONIKA FÄSSLER

CAST: KAROLINE HERFURTH, NORA TSCHIRNER, ANNEKE KIM SARNAU, EMILIA SCHÜLE, EMILIA PACKARD, DILARA AYLIN ZIEM, ANJA KLING, GODEHARD GIESE, FRIEDRICH MÜCKE, MALICK BAUER, MAXIMILIAN BRÜCKNER, LEVY RICO ARCOS, SAMUEL SCHNEIDER U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Wenn sich ein Mann als Frauenversteher deklariert, ist ja das alleine schon ein überheblicher und gleichsam herablassender Begriff – als wären Frauen ein Rätsel, das Mann knacken muss, um von einer Frau das zu bekommen, was diesem vorschwebt ergattern zu müssen. Wenn schon Frauenversteher, dann wären es Frauen selbst, die sich dieses „Prädikat“ aneignen könnten. Und im ganz besonderen Karoline Herfurth. Dabei interessiert sie gleichermaßen, wenn nicht brennender, wie ein Mann vielleicht tickt. Was ihn bewegt, was ihn erregt, was ihn scheitern lässt. Wunderschöner, die Fortsetzung von Wunderschön, lässt sich auch ganz ohne Vorkenntnis des ersten Teils betrachten, schließlich sind es ganz andere Fallbeispiele, die hier erörtert werden. Wunderschöner ist bei Weitem nicht nur ein Frauenfilm, was das Werk in eine Nische drängen würde, wo es gar nicht und vor allem nicht ausschließlich hingehört. Genauso gut will Herfurth alles von Männern wissen und vor allem von dieser Diskrepanz zwischen beiden Geschlechtern, die zu überbrücken proaktive Anstrengungen erfordert – von beiden Seiten, dabei deutlich mehr von Seiten der Frau, denn die ist immer noch die Unterdrückte, Missbrauchte, Diskriminierte, während sich der Mann in seiner Machtposition gefällt.

Während Frauen sich längst schon repositionieren und dabei versuchen, aus ihrem Rollenklischee herauszukommen, haben Männer gehörig viel Aufholbedarf. Das Bequemliche an diesem Patriarchat, dieses Ruhekissen, zieht Herfurth den Männern unter dem Hintern weg. Und veranschaulicht auf schmerzliche, liebenswürdige und tragikomische Weise, und ohne jemals mit dem Finger zu zeigen, dass es in auf- und umbruchsbereiten Zeiten wie diesen keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt, dass im Grunde alles, was die geschlechterbezogene Gesellschaft betrifft, obsolet erscheint. Dieses Miteinander wird in Wunderschöner zu einer komplexen Baustelle im Zeitstrahl der sozialen Entwicklung – eine Baustelle, die nicht mal noch als Fundament wahrgenommen werden kann. Was existiert, mag vielleicht ein Team sein. Ein Ensemble aus Schauspielerinnen und Schauspielern, so wie in diesem Fall, um einen Film zu verwirklichen, der die Grenzen dieser Baustelle absteckt. Der zumindest ersichtlich macht, woran gearbeitet werden muss. Um queere Verhältnisse geht es dabei diesmal nicht.

Wunderschöner erzählt in episodenhaften Sequenzen, deren Erzählfäden aber miteinander verflochten sind, von fünf Frauen unterschiedlichen Alters, die selbst erst erkennen müssen, welche Rollen genau sie in diesem System erstens gerade einnehmen und zweitens einnehmen sollten. Sie positionieren sich, erklären sich, behaupten sich – und begreifen erst so richtig, woran es krankt. Fremddefiniert durch den Mann ist der einzige Weg der der Emanzipation, jedoch nicht auf eine kämpferische Art und Weise, die gerne belächelt wird, sondern auf eine ganz natürliche, fast schon geschlechtsunabhängige. Karoline Herfurth als Familienmutter Sonja, die von ihrem Mann getrennt lebt, von welchem sich aber, aus beiderseitigem Interesse, kein Abstand gewinnen lässt, stellt das Zentrum der mannigfaltigen Erzählung. Nora Tschirner als Lehrerin Vicky wartet, bis ihr Partner von einem Selbstfindungstrip endlich heimkehrt. Anneke Kim Sarnau als die wohlsituierte Politikergattin Nadine muss das Fremdgehen ihres Mannes verkraften und setzt sich mit dem Thema Prostitution auseinander. Emilia Schüle als Julie, die gerne beim Fernsehen arbeitet, muss sich einer toxischen Männlichkeit im Betrieb erwehren, die frappant an Weinstein erinnert. Und schließlich Schülerin Lilly, die sich als junge Frau zwar frei fühlt, den Begriff weiblicher Selbstbestimmung aber erst noch überdenken muss. Alle zusammen, und dazu noch einige tragende und wichtige Randfiguren, erschaffen das komplexe und vielschichtige Bild eines Ist-Zustandes, der nicht darauf aus ist, sein Publikum mit neuen Erkenntnissen zu erhellen. Wunderschöner hat keinen Aha-Effekt, allerdings aber, und das ist viel wichtiger, ruft er geduldete Verhältnisse in Erinnerung, die im Argen liegen. Herfurth führt ihr Ensemble mit Sorgfalt, sie weiß im Vorhinein, was und wie sie es sagen will, ohne plattes Betroffenheitskino zu veräußern.

Wunderschöner distanziert sich auch von den aalglatten Tragikomödien eines Schweighöfers oder Schweigers, sogar von den Ensemblestücken eines Simon Verhoeven oder Wortmann. Am ehesten noch erinnert ihre Arbeit an Doris Dörrie zu ihren besten Zeiten, und dennoch ist Herfurths Film noch immersiver, weil sie Emotionen abbildet, die sonst nur innerhalb der vier Wände bleibt. Das ist charmant und aufrichtig, und auch wenn manchmal der Imperativ zur Veränderung fast schon so präsentiert wird wie ein Werbespot für Frauenrechte, so kann es, genauer betrachtet, selbst davon nicht genug geben. Letztlich will auch Herfurth, das alles gut wird, und man fragt sich, ob angesichts dieser offenen Wunden und Problemzonen im Rahmen eines abendfüllenden Spielfilms jemals irgendetwas davon auf heilsame Bahnen gerät. Herfurth gelingt das Kunststück, ihre Ambitionen nicht überzustrapazieren und auch nichts unter Zeitdruck zu überladen. Letztlich staunt man, wie es ihr gelingt, zumindest Hoffnung und Zuversicht zu schöpfen. Und nein, es ist gar nichts gut, das Happy End ist nur ein neuer Status Quo, die Romantik die Vergessenheit eines Moments. Die Probleme bleiben, denn alles andere wäre ein Affront zur Realität.

Wunderschöner (2025)

Parthenope (2024)

DIE EINSAMKEIT DER SIRENEN

8,5/10


© 2024 Polyfilm / Gianni Fiorito


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: PAOLO SORRENTINO

CAST: CELESTE DALLA PORTA, SILVIO ORLANDO, LUISA RANIERI, PEPPE LANZETTA, ISABELLA FERRARI, GARY OLDMAN, DANIELE RIENZO, DARIO AITA, SILVIA DEGRANDI, STEFANIA SANDRELLI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Der gute alte Odysseus – Christopher Nolan wird nächstes Jahr den antiken Helden aufs Mittelmeer hinausjagen – lässt sich an den Schiffsmast binden, um dem Gesang der Sirenen zu lauschen, natürlich ohne sich dabei ins Verderben zu stürzen. Eine davon – Parthenope – gefiel das gar nicht. Aus Verzweiflung, den Herren von Ithaka nicht angelockt zu haben, stürzt sie sich todessehnsüchtig ins Meer – um an die Küste des heutigen Neapel angespült zu werden. Dank ihres Leichnams trägt die Metropole am Vesuv nicht nur diesen mythischen Namen, die atemberaubend schöne Sängerin ist von daher auch Stadtgöttin dieses italienischen Ecks der Welt – ein Ort, dem Filmemacher Paolo Sorrentino einiges abgewinnen kann. Für ihn dürfte Neapel Fluch und Schicksal, Wiege und Inspiration sein. Neapel sehen, sich verlieben und dann sterben. Schmerz und Freude, Ekstase und Trauer. Dieses Neapel bietet laut Sorrentino alles, was man fühlen kann. Und dennoch entscheidet eine wie Parthenope, ein mythologisches Wesen, reinkarniert in eine atemberaubende, betörende, ewige Schönheit, das Leben der Anderen und gleichsam ihr Glück. Dem Künstler ist das zu wenig, er will Parthenope nicht als ein ätherisches Etwas in ungreifbarer Entrücktheit das über mehrere Dekaden reichende Treiben am westitalienischen Ufer beobachten lassen. Er will die Göttin vermenschlichen und lässt sie zu Beginn seines neuen Films aus dem Wasser steigen, fast so wie Aphrodite, aber eben nicht ganz, weil Parthenope, und das werden wir im Laufe des Films erfahren, nichts darauf gibt, mit ihrer makellosen Schönheit diesen einen, und zwar ihren ganz eigenen, Lebensweg zu bestreiten.

Und so perlt das Wasser von ihrer makellosen Haut, ihr makelloses Lächeln unter der heißen, fast schon tropisch feuchten, mediterranen Sommersonne, angehimmelt vom Sohn der Haushälterin, geliebt vom eigenen Bruder, und zwar so, wie man sich unter Geschwistern nicht lieben sollte. Parthenope aber bleibt unerreichbar, unberührbar, ein Mysterium für eine ganze Familie und dem Comandante, der als kuriose Mafioso-Parodie im weißen Dreiteiler und Sonnenbrille symbolisch für ein ganzes Syndikat agiert, das mit Neapel so verwoben ist wie die Gezeiten mit dem Mond. Jeder, der Sorrentino kennt, weiß, welcher Bildertraum das Publikum einholen wird. Antike Statuen, goldene Kutschen, das blaue Meer, der weißgraue Fels, wehende Vorhänge, dazu melancholische italienische Klänge eines verliebten Schlagers. Wenig später ein versoffener Ernest Hemingway, der die Schönheit des Lebens nicht kennt und sehnsüchtig nach ihr verlangt – Gary Oldman stattet dem Film einen bittersüßen Besuch ab. Parthenope fühlt sich von dieser Antithese eines schönen Lebens angezogen, sie will überhaupt verstehen, was das ist, dieses Menschsein, diese Lehre vom Homo sapiens, kurzum: Die Anthropologie. Sorrentino scheint es selbst nicht zu wissen, denn er nimmt die atemberaubende Celeste Dalla Porta, die erstmals in einem Spielfilm wie diesen zu sehen ist, an der Hand, um sie durch die Stadt zu geleiten, um etwas zu suchen, was die ganze Zeit schon begriffen werden will: Den Grund und den Zweck von Schönheit, deren Relativität und den Tribut, den man dafür zollen muss. Es ist aber nicht nur das, was Sorrentino mit auf die Reise nimmt. Es sind Themen, die ihn immer wieder beschäftigen, die er als philosophische Miniaturen aneinanderreiht, darunter Vergänglichkeit, Suizid, die katholische Kirche mitsamt ihrer sakralen Wunder, die dunklen Kehrseiten der Lebenslust, die Metaphysik der Lichter und des Glanzes von Preziosen, der verfallene Räume ehemals prunkvoller Palastbauten erhellt. Immer ist es diese Dualität, der Schmerz des Schönen. In diesem Fall ist es die Schöne, der Sorrentino eine ganze fiktive Biografie schenkt.

Was denkst du gerade? Das fragen all jene, die Parthenopes Leben begleiten. Was treibt sie um, diese anziehende, weibliche Person, die sich vom Sexismus befreien will? Die ihren Verstand und nicht ihre Anmut einsetzt; die prickelnde Gespräche mit dem alten, eremitischen Professor an der Universität führt, der ihr wiederum lehrt, was man tun muss, um hinzusehen. Um die Essenz dessen wahrzunehmen, was die Schönheit nicht nur einer Person, sondern des Lebens bedeutet. Und ob es diese überhaupt gibt, nach unserem Verständnis.

La Grande Belleza, The Hand of God, Ewige Jugend – all diese Werke Sorrentinos drehen sich, neue Aspekte suchend, um dieselben Themen, doch müde wird der Reigen der Bilder und der Erkenntnisse dabei nie. Parthenope ist dabei ein am besten auf den Punkt gebrachter, einziger großer Aphorismus. Kunstvoll, aber nie gekünstelt. Arrangiert, aber gleichzeitig unerwartet erfrischend. Überstilisiert, aber gleichsam natürlich und nahbar. Ein prickelnder, betörender Kunstfilm ist Parthenope geworden, in den man sich fallen lassen kann. Der langsam voranschreitet, doch keinerlei Längen hat. Sorrentino hat seine Erzählweise dabei perfektioniert, bleibt üppig, jedoch niemals überladen. Über allem strahlt Celeste Dalla Porta und diese Stadt, die man nie satt hat. Dieses Italien, prächtig und ewig suchend.

Parthenope (2024)

Der Unsichtbare (2020)

DURCH DAS BÖSE HINDURCHSEHEN

7/10


© 2020 Universal Pictures


ORIGINALTITEL: THE INVISIBLE MAN

LAND / JAHR: USA, AUSTRALIEN 2020

REGIE / DREHBUCH: LEIGH WHANNELL

CAST: ELISABETH MOSS, OLIVER JACKSON-COHEN, ALDIS HODGE, STORM REID, HARRIET DYER, MICHAEL DORMAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Mit H. G. Wells‘ Roman Der Unsichtbare hat das Ganze gar nichts mehr zu tun. Einzig die Prämisse, unsichtbar zu sein. Gilt sowas dann noch als Adaption? Wohl kaum. Doch Leigh Wannell geht es, wie später auch in Wolf Man, lediglich um einen aus der Norm brechenden Zustand, um das Anders-Sein und Anders-Werden. Um das Monströse in einem Menschen, das ausbricht oder um einen monströsen Menschen, der die Möglichkeit findet, das Abnorme ungestraft zu praktizieren. Letzteres ist die Prämisse des neuen Unsichtbaren, entledigt aller Stoffbahnen und Verbände und auch jedweder Sonnenbrille, die als Utensilien zur Sichtbarmachung eines übereifrigen Wissenschaftlers, der nicht die ganze Bandbreite seiner Untersuchungen akzeptiert hat, bislang herhalten mussten. Wie es die Universal Studios und Blumhouse schaffen, klassische Grusel-Ikonen in die Gegenwart zu transportieren, ohne auf dem Weg dorthin das Interesse des Publikums zu verlieren, dass nur bedingt in Nostalgie schwelgt? Genau so.

Obwohl bei H. G. Wells die Frage der Moral und die Verrohung des Menschen durch den Fortschritt oder eben auch der Monopolstellung eines Fortschritts in einer Metaebene ganz klar zu lesen ist, rückt bei Whannell genau das in den Hintergrund, während der bereits im sichtbaren Zustand etablierte Psychopath den psychologischen Traumata weiblicher Gewaltopfer eine schreckliche Gestalt verleiht: Nämlich, dass sie keine hat.

Ein Mensch, der Unterdrückung, Gewalt und permanente Bedrohung erlitten hat, wird sich nicht groß wundern, die Welt paranoider zu betrachten. Diese Angst vor der Verfolgung wird in Der Unsichtbare zum Monster, zum Feind im eigenen Schlafzimmer. Zur Gefahr, allgegenwärtig und gleichzeitig nirgendwo. Das funktioniert deutlich besser oder eben zeitgemäßer als der Ansatz der Entmenschlichung durch exorbitante Technologien. Was nicht heisst, dass diese kritische Betrachtungsweise nicht auch zeitrelevant genug wäre. Die Frage, die wir uns aber noch dringender stellen müssen, ist das Miteinander. Von diesem hat Elisabeth Moss als unterdrückte Ehefrau Cecilia die Nase voll. Ihr Ehemann Adrian ist ein Scheusal, ein dominanter Chauvinist und naturgemäß eben ein Psychopath, der seine häusliche Gewaltherrschaft ausübt, wenn er gerade mal nicht als High-Tech-Ingenieur im Keller des schmucken Hauses an einem Projekt herumtüftelt, welches dazu beitragen wird, dass Whannells Film eben so heisst, wie er heisst.

Cecilie schafft es aber, in einer Nacht- und Nebelaktion ihrem grausamen Gatten zu entfliehen – der hetzt hinter ihr her, doch zum Glück ist die beste Freundin zur Stelle, die, wie ausgemacht, das Fluchtauto zur Verfügung stellt. Es vergeht einige Zeit, in der Cecilia, von Furcht gepeinigt, Adrian könnte sie finden, bei Freunden inkognito unterkommt. Und selbst nach der Nachricht, der Göttergatte hätte sich umgebracht, lässt sich das Leben nicht wirklich leichter nehmen. Ein Gefühl der Befreiung  weicht dem Gefühl, fortan immer und überall von einer boshaften Präsenz beschattet zu werden, die nicht nur wie der kalte Atem eines Toten über einem wabert, sondern sehr schnell sehr handgreiflich wird.

Womit wir bei Leigh Whannells Methode wären, auf wenig zimperliche Weise das Subgenre des existenzialistischen Thrillers aufzumöbeln. Schon in seinem Science-Fiction-Hardcorestreifen Upgrade um Künstliche Intelligenzen und deren Kontrolle über unser Leben ist ein scharfkantiger filmischer Brutalismus zu spüren, die Ignoranz urbaner Anonymität und kaltschnäuziger Vergeltungsmethoden. Auch Der Unsichtbare bleibt kühl und distanziert, und wirft in sein asoziales Ökosystem eine völlig aufgelöste Elisabeth Moss, die um ihren Verstand ringt und das Gefühl der Angst zu empfinden weiß – bis diese ihr Flügel verleiht, womit der zwischen Psychohorror und Science Fiction angesiedelte Film sogar noch – und nicht zu spät – eine ordentliche, aggressiv-feministische Note erhält. Whannells Skript weiß herumzuwirbeln und die Parameter neu zu ordnen – immer wieder mal so, wie man es nicht erwartet. Auf diese Weise gelingt ihm ein makelloses Stück futuristisches Thrillerkino, gesellschaftskritisch, panisch, psychotisch. Am glattpolierten Boden des Fortschritts jede Menge Blut.

Der Unsichtbare (2020)

All We Imagine as Light (2024)

DIE HEILENDE KRAFT DER ILLUSION

9/10


allweimagineaslight© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: INDIEN, FRANKREICH, NIEDERLANDE, LUXEMBURG 2024

REGIE / DREHBUCH: PAYAL KAPADIA

CAST: KANI KUSRUTI, DIVYA PRABHA, CHHAYA KADAM, HRIDHU HAROON, AZEES NEDUMANGAD U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Imagine all the people… livin‘ life in peace. John Lennon hat sich Anfang der Siebziger Jahre eine Welt vorgestellt, frei von Gewalt und prädestiniert für ein friedliches Miteinander. Sein zeitloser Song verkörpert die Illusion einer Menschheit, die gelernt hat, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen. Lennons Imagine symbolisiert den Imperativ des Humanismus, der dann sichtbar wird, wenn viele von uns, geballt an einem Ort, ein individuelles Schicksal bestreiten. Imagine wird zum Leitbegriff auch in einem Film, der womöglich schon jetzt als einer der schönsten und besten des Jahres angesehen werden kann. Womöglich wäre er unter den besten drei bereits im letzten Jahr zu finden gewesen, hätte ich All We Imagine as Light bei der letztjährigen Viennale gesichtet. Nun aber führt dieses Meisterwerk, und das prognostiziere ich jetzt schon, sehr wahrscheinlich die besten des Jahres 2025 an. Denn sieht man sich Payal Kapadias Spielfilmdebüt an, wird man feststellen müssen, dass große Filmkunst nicht unbedingt das Ergebnis langjähriger Erfahrung sein muss, sondern schon von vornherein ein talentiertes Verständnis mit sich bringen kann, Farben, Bilder, Klang und Schauspiel auf eine Weise miteinander zu kombinieren, die nicht üblichen Stilen entspricht, sondern völlig losgelöst von dieser Mainstream-Machart des Bollywood-Kinos einen Subkontinent präsentiert, der mit einer Lebensphilosophie klarkommt, die die westliche Welt womöglich als Selbstbetrug wahrnimmt. Hier, in Indien, ist die Kunst, aus seinen Illusionen Kraft zu tanken, eine Methode, um auch in bescheidensten Verhältnissen und in der Unmöglichkeit, eigene Lebenswünsche in die Realität umzusetzen, zu sich selbst zu finden.

Hätte John Lennon jene Bilder gesehen, die Kameramann Rabanir Das unter Kapadias Regie von der Millionenmetropole Mumbai eingefangen hat, er wäre begeistert gewesen. Er hätte gesehen und festgestellt, dass es doch möglich wäre, dicht gedrängt und fern jeglicher Privilegien, eine achtende Gesellschaft des Miteinander zu führen. In diesem Mumbai flirren die Lichter, strömen Menschen in alle Himmelsrichtungen, suchen Schutz vor dem täglich wiederkehrenden Regen, zollen sich dabei Respekt, feiern und essen miteinander. Lieben sich, hoffen und leben den Moment. Dieses Indien ist kein Dritte Welt-Betroffenheits-Indien. Es stochert nicht im Missstand oder Morast eines völlig überfordernden Landes herum. Es zeigt Mumbai als eine Stadt der Illusionen. Das aber in keiner ernüchternden Resignation, sondern als Tugend.

In diesem Licht, dass sich wahrnehmen lässt, oszillieren die Träume und Wünsche von Prabha und Anu, zwei Krankenschwestern in einem Spital in ebendieser Stadt. Beide teilen sich eine Wohnung, beiden haben die Illusion eines erfüllten Lebens. Prabha, durch eine arrangierte Hochzeit vermählt, weiß ihren Ehemann in Deutschland, doch dieser lässt nicht mehr von sich hören. Anu hingegen, deutlich jünger, liebt einen malayischen Muslim – eine Liaison, die Anus Eltern nie erlauben würden. Doch sie tut, was sie für richtig hält. Wenn man so will, gibt es da noch eine dritte: die Witwe Parvaty, die, schon deutlich älter, ihren Mann bereits zu Grabe getragen hat und nun delogiert wird, da es für die gemeinsame Wohnung keine Belege gibt. Sie ist bereit dafür, ihre Illusion der Realität weichen zu lassen und begibt sich zurück in ihr Heimatdorf. Prabha und Anu begleiten sie ans Meer, raus aus der Stadt, die in diesem Film eine Hommage erlebt wie sonst nur New York unter der Regie Woody Allens, versetzt mit urbanen Klavierklängen, die an George Gershwin erinnern. Auch akustisch lädt der Film dazu ein, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Kapadia mischt die dokumentarischen Stimmen von Mumbais Bewohner unter ihr traumverlorenes, tropisches Monsun-Erlebnis. Sie findet Szenen von einer Aussagekraft, die ohne Worte auskommt und die Tiefe der Empfindungen ihrer beobachteten Individuen zeigt. Womöglich inspiriert von den metaphysischen Welten des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Cemetery of Splendour) lässt sich All We Imagine as Light zu einer impressionistischen, magischen Odyssee in die Wunschwelten von Prabha und Anu bewegen – wer Tempo und Stakkato sucht, ist bei We All Imagine as Light fehl am Platz. Hier dominiert die Entschleunigung, die Kontemplation eines feministischen Psychodramas, das in ernüchternder Traurigkeit versinken könnte, allerdings den Weg innerer Befreiung wählt. Weit jenseits eines sentimentalen Rührstücks ist der Film voll kraftvoller Zuversicht, die sich in diesem Imagine wiederfindet – als schillernde, bunte Oase einer Taverne am Strand im gegenwärtigen Moment, der zeitlos erscheint.

All We Imagine as Light (2024)

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

DIE STIMME ERHEBEN

8/10


morgenistauchnocheintag© 2023 Tobis


LAND / JAHR: ITALIEN 2023

REGIE: PAOLA CORTELLESI

DREHBUCH: FURIO ANDREOTTI, GIULIA CALENDA, PAOLA CORTELLESI

CAST: PAOLA CORTELLESI, VALERIO MASTANDREA, ROMANA MAGGIORA, EMANUELA FANELLI, GIORGIO COLANGELI, VINICIO MARCHIONI, GABRIELE PAOLOCÀ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Im Jahr des Herrn 2023 war der Sommer geprägt von einem Phänomen im Kino, wie es das kein zweites Mal geben wird: Barbenheimer. Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schrieben Geschichte – der eine, Nolans Oscar-Sieger, begab sich auf biografische Spurensuche und ließ den Vater der Atombombe, nämlich Oppenheimer, dank Cillian Murphys eindringlichem Spiel zu Wort kommen. Auf der anderen Seite verbog eine pinke Puppe namens Barbie sämtliche Stereotypen bei Männern und bei Frauen zu einer knallbunten, aber subversiv charmanten Musical-Satire. Dem Stiefel Europas war das aber herzlich egal. Dort übertrumpfte ein anderer Film das Box-Office-Verhalten Hollywoods in Übersee: Ein Melodrama namens Morgen ist auch noch ein Tag von Paola Cortellesi, die sich in diesem Meisterwerk gleich selbst besetzt hat – als vom Manne unterjochte, kleingehaltene und physisch wie psychisch gequälte Hausfrau im Nachkriegsitalien.

Wir schreiben das Jahr 1946, und Italien steht politisch wie gesellschaftlich vor einem Umbruch. Kann es sich in eine neue Ära retten oder bleibt es in einer Regression gefangen? Wie geht es den Frauen, die bis dato nicht das Recht hatten, ihre Stimme abzugeben? Die bis dato dem Ehemann gehorsam sein mussten, da sie doch nur tun durften, was vom Hausherrn erlaubt war? Eine Zeit war das, feministisch betrachtet das tiefste Mittelalter, die reinste Anarchie, lediglich die Kraft des Stärkeren dirigierte den Alltag. Drei Kinder muss Delia durchfüttern, während der Kriegsheimkehrer seine Angetraute gleich zu Beginn des Filmes präventiv für den Rest des Tages ohrfeigt. Diese Gewalt zum Einstand einer Emanzipationsgeschichte voller Charme, Trotz und Mut läutet die Wiederkehr eines Neorealismus ein, den der junge Federico Fellini oder Vittorio de Sica (u. a. Gestern, heute und morgen) in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Genre des Kinos so maßgeblich etabliert hatten. Statt Paola Cortellesi wäre es damals wohl Sophia Loren gewesen, die sich als Hausfrau der Unterschicht zu behaupten versucht. Der Mechaniker, dem sie schöne Augen macht, wäre wohl Marcello Mastroianni gewesen. Die Zeiten haben sich geändert, nicht aber die Lust daran, dem blanken und unschönen Realismus einer sozial benachteiligten Familie, die im Keller eines Hauses in Rom ein Leben wie das des gut betuchten Schwiegersohns in spe anstrebt, melodiöse Verfremdungen und anachronistische Stilmittel entgegenzusetzen.

Cortellesi stellt die patriarchale Gewalt als abstrahierte Tanzeinlage dar, die einer klischeehaften Nachkriegsromantik eins auswischt. Wenn Delia resoluten Schrittes auf den Straßen Roms unterwegs ist, um ihre Stimme zu erheben, ertönen die Rhythmen zeitgenössischen Hiphops der Gegenwart. Mit diesen feinen Methoden bettet der Film das sozialkritische Betroffenheitskino in das zeitgemäße Gewand einer temperamentvollen Retro-Interpretation, ohne vorgestrig oder angestaubt zu wirken. Die Leidenschaft für den Feminismus, die Wut auf den Chauvinismus, all diese Emotionen triefen dem Film aus jeder Pore. Dabei fesselt Cortellesis Spiel genauso wie die Dynamik zwischen den einzelnen Darstellern eines spielfreudigen Ensembles, das sich selbst kritisch betrachtet und so manche Figur manchmal der Parodie aussetzt, obwohl es gar nichts zu lachen gibt. Diese Grenzen lotet Morgen ist auch noch ein Tag mit Scharfsinn und Verve, mit Vergnügen und Kampfgeist in eine Richtung aus, die keinesfalls nur Ambitionen gutheißt, sondern auch die Umsetzung engagierter Ideen.

Schwer auszuhalten, wie Delia sich drangsalieren und erniedrigen lässt. Jede Sekunde ist es das Warten und Bangen aber wert. Am Ende triumphiert so vieles auf so vielen Ebenen, es bleibt einem nur, hin und weg zu sein.

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

Neuigkeiten aus Lappland (2024)

FINNISCHE DISHARMONIEN IN MOLL

5,5/10


neuigkeitenlappland© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: OHJUS

LAND / JAHR: FINNLAND, ESTLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: MIIA TERVO

CAST: OONA AIROLA, PYRY KÄHKÖNEN, HANNU-PEKKA BJÖRKMAN, TOMMI KORPELA, JARKKO NIEMI, EMMA KILPIMAA, TOMMI ERONEN, ONA KAMU, SAKARI KUOSMANEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Bei Aki Kaurismäki mag die Tragik der Hoffnungslosigkeit immer noch jene Aufmüpfigkeit erhalten haben, die den finnischen Humor in jeder noch so erdenklichen verdrießlichen Lebenslage etabliert. Eine Besonderheit, die sich seit Ariel – Abgebrannt in Helsinki durch alle seine Filme zieht. Und oft wird diese Melancholie, wenn man sie mal so nennen will, mit einem Lichtschimmer am schneebedeckten, verregneten oder nachtschwarzen Horizont belohnt. Irgendwie geht es bei Kaurismäki immer weiter, aber immer mit einem Fuß dort, wo sich die Resignation als Alternative aufdrängt. Andere Filmemacher wiederum, wie Andy Wirkola, übertünchen die feine humoristische Klinge mit den derben Szenarien actionhaltiger Trashfilme. Auch das hat eine eigene Note. Dabei hat die Filmwelt Finnlands längt noch anderes zu bieten. Miia Tervo zum Beispiel, die bereits 2019 mit Aurora ihr Langfilmdebüt hingelegt hat und ihr Publikum in vor allem schneearmen Verhältnissen mit Neuigkeiten aus Lappland beglückt, wo die weiße Pracht bei stattlichen Minusgraden weiße Weihnachten garantiert und darüber hinaus bis in den späten Frühling womöglich liegenbleibt. In Lappland, da scheint man vom Klimawandel noch nicht so viel mitzubekommen. Zumindest war Mitte der Achtziger ein Begriff wie dieser noch reine Dystopie. Mitte der Achtziger, da war dem Kalten Krieg wohl die greifbare Bedrohung eines nuklearen Krieges inhärent, während die alleinerziehende Niina (Oona Airola) ein ganz anderes Damoklesschwert von sich fernhalten muss. Nämlich jenes des aus dem Gefängnis entlassenen, gewalttätigen Ehemannes Tapio, der andauernd verspricht, sich zu bessern. Dem aber, bis auf Niina, niemand so recht glauben will. Die Mutter zweier Kinder wird in ihrer Sorge um ihre Zukunft insofern von höheren Mächten abgelenkt, da der selbst gefällte Weihnachtsbaum in die Fensterscheibe der lokalen Zeitung kracht. Um den Schaden wiedergutzumachen, fängt sie dort als Schreibkraft an, die das Blatt mit völlig belanglosen Alltagschroniken füllen muss. Ein im Schnee steckengebliebener Traktor ist da wohl noch das Highlight einer ganzen Woche. Doch dann passiert das: Ein großer Knall am Himmel, ein unbekanntes Flugobjekt stürzt im Nirgendwo ab. Bald erhärtet sich das Gerücht, es handle sich hierbei um einen fehlgeleiteten russischen Marschflugkörper, einem Blindgänger, der vielleicht, Gott behüte, einen Atomsprengkopf besitzen könnte, der gar den dritten Weltkrieg hätte einläuten können. Oder Finnland eine nukleare Katastrophe beschert. Bedrohungen also überall, sind sie nun familiär oder politisch. Niina will der kleinen und der großen Gesellschaft zeigen, wozu sie fähig ist. Allein der Mut, zu ihrer Frau zu stehen, scheint in weiter Ferne.

Eine alleinerziehende Mutter, die investigiert. Ein finnischer Geheimdienst. Ein lokales Nachrichtenblatt, dass in einer öden Kleinstadt öde Artikel veröffentlicht, von Leuten, die sträfliche Frisuren tragen, die in den Achtzigern der letzte Schrei waren. Und ja, darüber könnte man insofern einen Laut des Schreckens von sich geben, wenn die Rache des Vokuhila in blinder Wut um sich greift. Zusammengenommen mögen all diese narrativen Elemente genug Potenzial für eine schräge, lakonische, finnische Komödie ergeben. Doch diese Machart bleibt Kaurismäki vorbehalten. Neuigkeiten aus Lappland, im Original kurz Ohjus, was so viel heisst wie Rakete, mag die eine oder andere Skurrilität aufweisen, die aber wohl eher den Anomalien des Jahrzehnts geschuldet sein mag als der für uns so kuriosen finnischen Lebensweise. Vielleicht will Miia Tervo auch nicht schon wieder das abgedroschene Klischee eines Gemüts bedienen, womit Finnland von Außenstehenden längst identifiziert wird. Die Finnen können auch andere Filme machen, ernste Themen aufgreifen, ohne die Lösung für all die Probleme in der Groteske zu suchen.

Von daher ist Neuigkeiten aus Lappland ein handfestes Drama, mal lethargisch, mal nachdenklich, niemals so richtig komisch. Die Emanzipation einer unterdrückten Frau sucht ihre Challenge vor dem Hintergrund einer True Story, die am 28. Dezember 1984 tatsächlich stattgefunden hat. Der Absturz der Rakete ist also nichts Erfundenes, die Geschichte drumherum schon. Und Tervo weiß nie so recht, wohin mit ihrer Chronik schwermütiger Ereignisse, die weder zu ernst noch zu komisch sein will. Die sowohl den gesellschaftspolitischen Ausnahmezustand von damals als auch Niinas persönliches Abenteuer zur resoluten, selbstbestimmten Frau unter eine warme, isolierende Fellhaube bringen will. Beides gelingt ihr nur halb, ihr Film schlingert oftmals unbeholfen und unentschlossen zwischen den Tonalitäten hin und her und bleibt auffallend oft sowie viel zu lang an der russischen Raketen-Causa hängen, während Alltagsheldin Niina manchmal zu kurz kommt. Beides hängt natürlich zusammen, hängt aber immer wieder hilflos in der eiskalten, schneidenden Luft Finnlands. Ein gutes Gefühl hinterlässt der Film erst nur sehr spät.

Neuigkeiten aus Lappland (2024)