The Voice of Hind Rajab (2025)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

7,5/10


© 2025 Polyfilm


ORIGINALTITEL: SAWT HIND RAJAB

LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KAOUTHER BEN HANIA

KAMERA: JUAN SARMIENTO G.

CAST: HIND RAJAB, SAJA KILANI, MOTAZ MALHEES, CLARA KHOURY, AMER HLEHEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN  


Wir kennen all diese Menschen nicht, die im kriegsversehrten Gaza-Streifen von Norden nach Süden und durch die Hölle getrieben werden und wieder zurück. Für uns hier im weit entfernten Europa haben sie keine Identität, sind sie doch nur Teil einer Masse von Menschen. Ab und an sieht man in den Nachrichten ihre Gesichter, weinend, flehend, verzweifelt, oft auch resignierend. Immer noch kennen wir ihre Namen nicht, immer noch sind diese Leute nur irgendwer. Anders auf der anderen Seite. Dort weiß man genau, wer am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurde. Man weiß, wer es nicht überlebt hat und wer vor wenigen Wochen tatsächlich wieder freikam. Sie haben ein Gesicht, gedruckt auf Tafeln und auf T-Shirts, getragen von den Angehörigen. Hier sind Mittel und Wege vorhanden, den Wert des Einzelnen aus dem gesichtslosen Bulk der Leidenden zu heben.

Wer ein Leben rettet…

Die im Gazastreifen haben das nicht. Da gibt es keine Mittel und Wege, keine T-Shirt-Druckereien oder das große Fernsehen, dass da vorrückt, um zu tun, was getan werden muss, um dem Individuum seinen Wert zu geben. Ich weiß noch, wie Steven Spielberg in seinem Holocaust-Meisterwerk Schindlers Liste einem jüdischen Mädchen den Mantel rot koloriert hat. Es bleibt namenlos, gesichtslos, jedoch sticht sie aus der Menge an Menschen hervor, um bewusst zu machen, dass es immer noch um den oder die Einzelne geht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass, wenn andere nur ein Leben retten, retten sie die ganze Welt. Oskar Schindler, der am Ende des Films verzweifelt, weil er viel mehr hätte tun können, wird der Satz aus dem Talmud kaum trösten. Wäre es doch nur ein Leben mehr gewesen. Ein einziges.

Das Kind beim Namen nennen

Dieses eine trägt keinen roten Mantel. Wir wissen nicht, was sie anhat. Wir wissen nur: Sie ist sechs Jahre alt, und wir hören ihre Stimme. Ihre letzten Worte. Ihr verzweifeltes Flehen um Rettung, ihre Angst, ihr Weinen, das Aufblitzen von Hoffnung. Dabei sind es nur acht Minuten. Acht Minuten Fahrt mit dem Rettungswagen durch umkämpftes Gebiet, um an das Auto zu gelangen, in dem Hind Rajab feststeckt. Alle anderen, fast die gesamte Familie, ist tot, zersiebt von den Waffen der israelischen Armee. Auch das sehen wir nicht. Doch wir können es uns vorstellen, wenn die Stimme des Mädchens an die Ohren der Telefonistinnen und Telefonisten in der Notdienstzentrale des Palästinensischen Roten Halbmonds dringt.

Hier, in der Westbank, wo der Krieg weitestgehend außen vor bleibt, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Zivilisten in Bedrängnis aus dem Kriegsgebiet zu bringen. Das läuft über einige Umwege, bis die israelische Armee davon erfährt, um dann den Schutz zu gewährleisten, wenn sich ein Rettungsfahrzeug in Bewegung setzt. Auch das sehen wir nicht, nur die Gesichter der Telefonierenden, auch sie sind verzweifelt, emotional verstört, aufgebracht, die Nerven liegen blank. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, mit dem Tag, mit dem Krieg, mit dem Tod. Und das Extreme dabei: Es ist im Film nicht nur irgendein Mädchen zu hören, das vorgibt, Hind Rajab zu sein. Es ist sie tatsächlich selbst. Regisseurin Kaouther Ben Hania (Der Mann, der seine Haut verkaufte) bettet das im Januar 2024 aufgezeichnete Soundfile des Gesprächs in ihren semidokumentarischen Spielfilm, was den Horror nur um so schlimmer macht. Die Mitarbeiter des Roten Halbmond sind zwar von Schauspielern besetzt, doch selbst da hat Ben Hania Ideen, wie sie die realen Personen vor die Kamera bekommt. Faktenmaterial trifft so auf die akribische Nachstellung nervenzerrender Abendstunden, das Kammerspiel wird zu einem Kino des Zuhörens und der Vorstellungskraft, der man aber nicht unbedingt nachgeben will, denn die Realität drängt alles Gespielte an den Rand.

Ein Schicksal für alle

Kriegsberichte aus den Nachrichten lassen einen irgendwann abstumpfen und resignieren, The Voice of Hind Rajab gelingt es aber dadurch, dass sie einem der unzähligen Opfer eine Stimme, ein Gesicht, und ein Leben gibt, dem Verheerenden einer zerstörten Zukunft Relevanz zu verleihen. Auf eine Weise erinnert dieses Schicksal an Anne Frank, durch dessen aufgeschriebenes Einzelschicksal der unschätzbare Wert eines Menschenlebens nicht mehr nur so dahingesagt bleibt.

Mit dieser echten Stimme gelingt es Ben Hania, nicht nur einen weiteren Film gemacht zu haben, der durch die Darstellung eines Übels betroffen machen soll. Diese echte Stimme hebt den Schleier zwischen Narrativem und der eigenen Convenience-Blase, in der man sich befindet. Das ist keine Erzählung. Das ist wahrer Schmerz.

The Voice of Hind Rajab (2025)

Crossing: Auf der Suche nach Tekla (2024)

ALLES IM FLUSS AM BOSPORUS

7/10


crossing© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: SCHWEDEN, TÜRKEI 2024

REGIE / DREHBUCH: LEVAN AKIN

CAST: MZIA ARABULI, LUCAS KANKAVA, DENIZ DUMANLI, NINO KARCHAVA, LEVAN BOCHORISHVILI, NINO TEDORADZE, GIGA SHAVADZE U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Dass die türkische Regierung unter der Führung des Hardliners Erdoğan es queeren Menschen ermöglicht, ihrer Orientierung frei nachzugehen, ohne dafür zur Kassa gebeten, eingesperrt, gefoltert oder hingerichtet zu werden, hat mich nach der filmischen Exkursion ins etwas andere Istanbul dann doch überrascht. Ich wäre der Meinung gewesen, das kleinasiatische Land, aufgeteilt auf zwei Kontinente, würde wie Russland, Ägypten, Uganda oder Saudi Arabien Homosexualität unter (Todes)strafe stellen, doch in der Türkei lässt sich tatsächlich noch in individueller Freiheit leben. So ist auch die transsexuelle Szene in der Hauptstadt eine schillernde, die sich sogar juristisch vertreten fühlen kann. Die mitnichten eine Existenz im Verborgenen leben muss, die auf Akzeptanz und Toleranz stößt. Doch vielleicht lebt man das Anderssein auch nur in Metropolen wie dieser, denn Istanbul ist schließlich ein Knotenpunkt, ein Portal für Reisende, ein Schmelztiegel der Kulturen und kosmopolitisches Füllhorn an Ansichten und Einsichten. Ein Miteinander, mit anderen Worten, so, als wäre Istanbul ein eigener Staat im Staat. Jenseits der urbanen Gefilde mag es anders zugehen, insbesondere in der Provinz. Doch das ist eine andere Geschichte. In Crossing: Auf der Suche nach Tekla von Levan Akin (Als wir tanzten) wird die Stadt am Bosporus zum einnehmenden Ort der unverhofften Begegnungen.

Wie der Subtitel des Films schon vorwegnimmt, ist das Verschwinden einer gewissen Tekla wohl ein Umstand, der die unterschiedlichsten Persönlichkeiten zusammenbringt. Da ist die pensionierte Geschichtsprofessorin Lia (Mzia Arabuli), deren verstorbenen Schwester ihr das Versprechen abgenommen hat, Tochter Tekla wieder nachhause zu bringen. Erste Spuren lassen sich in Georgien verorten, doch dann führt der Weg weiter nach Istanbul – im Schlepptau der älteren Dame ein Junge namens Achi, der in der großen Stadt sein Glück versuchen will und bei Lias Nachforschungen zumindest versucht, hilfreich zur Hand zu gehen. Und da ist da noch Transfrau und Juristin Evrim (faszinierend: Deniz Dumanli), die sich für die rechtlichen Interessen ihrer Community einsetzt. Bis Evrim den beiden Besuchern aus dem benachbarten Georgien begegnet, vergeht eine gewisse Zeit. Warum Akin aber dieser Figur in seinem Film so auffallend viel Raum gibt, bleibt ob ihres nur temporären Einflusses auf die Handlung verwunderlich. Bis dahin beobachtet Crossing das Leben mancher Charaktere in parallelen Bahnen. Doch irgendwann kreuzen sich auch diese Wege, es entwickelt sich ein bereicherndes Miteinander, welches Synergien freisetzt, welche die pulsierende Metropole sofort wieder absorbiert, um sie in einladende Vibes zu verwandeln, denen sich kaum jemand – zumindest keiner der drei – wirklich wieder entziehen kann.

Dabei erzählt Akin keine große Geschichte, bleibt bescheiden in seinen Betrachtungen, will auch die queere Subkultur nicht wirklich zum Thema machen, sondern nur als Zeichen der Vielfalt erwähnen, hält sich zurück und gibt nur häppchenweise Biographisches aus den Leben von Lia, Achi und Evrim preis, will sie weder outen noch zu lebensverändernden Entscheidungen nötigen. Was Crossing im Sinn hat, ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Leben, bald ist die Suche nach Tekla nur noch ein abstrakter Motivator, um den eigenen Status Quo zu überdenken und dem individuellen Leben die eine oder andere überraschende Wendung abzuverlangen.

In authentischen und gerade durch ihre unverklärte Betrachtung auf ein fremdes und unerschlossenes Istanbul entstandenen poetischen Bildern widmet sich Crossing einem Lebensgefühl, das all die Suchenden zu umarmen gedenkt. Diese erfrischenden Momentaufnahmen erinnern an Tony Gatlifs kraftvoll-lebendigen Musikfilme (Vengo, Djam), welche ebenfalls dem Kolorit einer kulturellen Gemeinschaft nachspüren; die nicht viel erzählen wollen, sondern nur von gesellschaftlichen Entwürfen berichten, deren inhärente Energie dazu da ist, das Publikum aus seinen Stühlen zu heben, um es diesen Rhythmus, mal schnell, mal langsam, spüren zu lassen.

Crossing ist da natürlich gediegener, aber in Ansätzen versprüht Akins nachdenklich-schöne Erfahrung ebenfalls einige dieser Funken, nur bescheidener, zurückhaltender. Gerade durch diesen Schritt zurück ist daraus ein kontaktfreudiger, weltoffener Film geworden.

Crossing: Auf der Suche nach Tekla (2024)

Golda – Israels eiserne Lady (2023)

DIE ALTE DAME UND DAS HEER

6/10


golda© 2023 Aidem Media Ltd / Foto: SeanGleeson


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: GUY NATTIV

DREHBUCH: NICHOLAS MARTIN

CAST: HELEN MIRREN, CAMILLE COTTIN, RAMI HEUBERGER, LIEV SCHREIBER, LIOR ASHKENAZI, DOMINIC MAFHAM, ED STOPPARD, MARK FLEISCHMANN, OHAD KNOLLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Wie schon bei Die dunkelste Stunde – dem Portrait über Winston Churchill im Schatten des Zweiten Weltkrieges, für welches der unkenntliche Gary Oldman seinen Oscar gewonnen hatte – ist auch Golda – Israels eiserne Lady vor allem eins: Ein Triumph der Maskenbildner. Denn Helen Mirren ist im Gegensatz zu Oldman zumindest gerade noch zu erkennen, kennt man die Akteurin nicht nur flüchtig. Tiefe Furchen durchziehen ihr Gesicht, die Nase ist klobig, die Backen hängend, der Schritt aufgrund von zu viel Wasser in den Beinen schleppend und schlurfig. In den nikotingelben Fingern ihrer linken Hand klimmt pausenlos eine Zigarette, den Gesundheitszustand von Israels Grand Dame will ich gar nicht so genau wissen. Es ist schon genug gesagt, wenn Golda Meir, damals bereits stolze 75 Jahre alt, in regelmäßigen Abständen zur Strahlenbehandlung ins Spital muss. Dazwischen rennen ihr sozusagen über Nacht wutentbrannte Nachbarstaaten die Türen ein, in diesem Falle Ägypten und Syrien – letztere rücken aus dem Norden vor, die anderen überqueren unter dem Befehl des Präsidenten Sadat den Suezkanal, um die Rückeroberung der Halbinsel Sinai über die Bühne zu bringen, ungünstigerweise am Feiertag Jom Kippur, womit sich dieser Krieg auch namentlich in den Geschichtsbüchern eintragen wird. Bedrängt also von allen Seiten, muss Golda Meir die richtigen Entscheidungen treffen. Und, mehr noch als ihr Verteidigungsminister, die Nerven bewahren. Zum Glück war Israel auch damals schon mit den USA verbrüdert – so kommt es, dass Henry Kissinger wie gegenwärtig Anthony Blinken als Vermittler tut, was er kann, um das Schlimmste abzuwenden.

Letztendlich, und das ist Geschichte, werden die Israelis tough genug sein, um Ägypten in ihre Schranken zu weisen. Sadat wird klein beigeben und Israel als Staat anerkennen. Sinai wandert zu Teilen wieder an Ägypten zurück. Der Frieden scheint beschlossen. Golda Meir wird den Frieden noch erleben, bevor sie 1978 stirbt. Und wäre nicht einer wie Guy Nattiv, der, wie schon Joe Wright mit dem ebenfalls kettenrauchenden Churchill, einer Größe der Weltpolitik ein Denkmal gesetzt hätte, hätte ich in Sachen Jom-Kippur-Krieg wohl nicht viel dazugelernt. Angelegt als Kammerspiel und selten bis gar nicht auf dem offenen Schlachtfeld unterwegs, sehen wir Helen Mirren mit tränenden Augen und der zähen Umtriebigkeit einer „Miss Marple“ die Geschicke ihres Landes lenken, ob am Telefon, im Konferenzraum oder daheim im Bett mit sich selbst, die inneren Dämonen der Verantwortung bekämpfend. Nattiv rückt der Person durchaus nahe, trotz Maske findet Mirren Mittel und Wege, ausdrucksstark zu bleiben. Doch was wäre gewesen, hätte dieses Politdrama einer wie Ridley Scott oder Steven Spielberg verfilmt, Sam Mendes oder der Deutsche Edward Berger? Es wären nachhaltig intensive Szenen des Leidens und des Krieges gewesen. Der Charakterstudie einer kettenrauchenden Pragmatikerin, die sich stets die Gefallenen notiert, als wären sie die Zahlen einer Lottoshow, wäre man mit der anderen Seite der Medaille begegnet; mit dem kritischen Blick, der jenem der Rechtfertigung begegnet wäre. Beides zusammen hätte erlebte Geschichte auf die Leinwand gebracht – doch Nattivs Fokus bleibt beharrlich auf Golda Meir, die alte Dame und ihr Heer, das zähe Ringen um die bessere Taktik.

Die viele Theorie, das Umschreiben der militärischen Wendepunkte anhand von Funkberichten von der Front, das Herankarren politischer Eckdaten – alles hat Sinn, und dennoch bleibt es trocken, manchmal schwerfällig im Erzählen, wie Meir selbst. Wichtig ist die Maske, die verblüffende Ähnlichkeit, die genialen Close ups. Dann der Rauch vieler Zigaretten, ein bisschen halbherzige Symbolik für nichts Konkretes – hinter dem Rauch die erfahrenswerte Vorgeschichte eines Zustandes, der aktuell unentwegt Schlagzeilen macht.

Golda – Israels eiserne Lady (2023)

The Book of Clarence (2023)

UNGEHORSAM IM BIBLISCHEN HARLEM

5/10


the-book-of-clarence© 2023 Sony Pictures 


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JEYMES SAMUEL

CAST: LAKEITH STANFIELD, RJ CYLER, BABS OLUSANMOKUN, JAMES MCAVOY, BENEDICT CUMBERBATCH, DAVID OYELOWO, ALFRE WOODARD, OMAR SY, CALEB MCLAUGHLIN, TEYANA TAYLOR, NICHOLAS PINNOCK, TOM VAUGHAN-LAWLOR U. A. 

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Alle Jahre wieder ist es Zeit, um Ostern herum dem Bibelfilm zu frönen. Wer alle möglichen Interpretationen und Klassiker bereits durch hat, kann entweder bereits Gesehenes nochmal reviewen oder sich auf brandneue Werke wie auf jenes von Jeymes Samuel stürzen, der ein paar Jahre zuvor das Genre des Western zu einem astreinen Black Cinema-Shootout hat werden lassen: The Harder They Fall mit Regina King als schwarzgekleidete Bandida und Eisenbahn-Piratin, stylish schwer in Ordnung, dramaturgisch noch ausbaufähig. Nun hat es den Bibelfilm erwischt, er wird zur Bühne für ein Gleichnis amerikanischer Missstände, Unterdrückung und schreckgespenstischem Weißer-Mann-Rassismus, wenn grindige Kolonialeuropäer in römischer Montur ihre sadistischen Freuden an eine jüdische Bevölkerung ausleben, die allesamt People of Color sind, darunter natürlich auch die zwölf Apostel und ein Möchtegern-Dreizehnter namens Clarence, der dem Wirken des Jesus von Nazareth nur neidvoll zusehen kann, ohne selbst etwas auf die Reihe zu bekommen. Nicht mal im Wagenrennen als Wettstreit mit einer martialischen Maria Magdalena, die wir in derartiger Interpretation noch nie zuvor zu Gesicht bekommen haben und die das Stereotyp eines zerbrechlichen weiblichen Jesus-Fans mit Schmacht-Faktor konterkariert. Clarence ist in seiner ihm gewidmeten filmischen Neo-Apokryphe ein Gelegenheitsgauner und Lebenskünstler. Einer, der bis über beide Ohren in Schulden steckt und diese nicht irgendwem zurückzahlen muss, sondern einem Patriarchen der Jerusalemer Unterwelt. Hat er die Menge an Schekel nicht in knapp 30 Tagen auf dessen Tisch gelegt, droht ihm Schlimmeres als nur eine Kreuzigung. Da Jesus gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorbeischneit und mit seinen Weisheiten beeindruckt, hat Clarence die Idee: Warum nicht auch predigen und Wunder vollbringen? Was der Nazarener zaubern kann, lässt sich sicher erlernen. Was der gute Lakeith Stanfield in einer Doppelrolle allerdings völlig übersieht: Rund um die Zeit der Passionsgeschichte waren selbsternannte Messiasse rote Tücher in den Augen der Römer. Ein solches Schicksal bleibt letzten Endes auch Clarence womöglich nicht erspart – ganz so wie dem guten alten, uns allen wohlbekannten Brian, der unter der Regie von Terry Jones nur dank einer großzügigen Spende von einem der Beatles das Licht der Leinwand erblickte und gar nicht wollte, dass andere ihm folgen, während Clarence hinter dem Eifer des Zusammenraffens spendabler Jünger unter anderem auch das nötige Kleingeld vermutet.

Um Betrug und Erleuchtung, um Trittbrettfahrerei und viel Gesellschaftspolitik geht es in The Book of Clarence, und anders als bei Das Leben des Brian wird bei Samuels Werk wohl keine sonstwie geartete Glaubensgemeinschaft einen Baum aufstellen, in dem sie „Skandal“ schreit. In Zeiten der politischen Korrektheit und woken Moral darf Jesus von Nazareth völlig ungeschoren plötzlich der sein, der letzten Endes gar nicht am Kreuz landet. Eine originelle Sichtweise, die der Film hier einnimmt. Mutig und vielleicht sogar radikal, wenn man genauer hinsieht. Wie es dazu kommt, ist eine Chronik an Verwechslungen und einem Ausleben an Stereotypen, die sich Farbige eben gezwungen sehen, kolportieren zu müssen. Es ist die Rapper-Coolness, der Konsum von Drogen und die schiefe Bahn. Es ist all das, was Cord Jefferson in seiner oscarnominierten Satire American Fiction zwar nicht durch den Kakao zieht, aber kritisch betrachtet, und zwar durch Jeffrey Wright, der sich davor scheut, dieses Narrativ zur massentauglichen Verbreitung seiner Schriftstücke anzuwenden. Jeymes Samuel tut das dennoch. Er gefällt sich in dieser Rolle; er liebt es, sein Ensemble in einer Opferrolle positioniert zu sehen. Kann das problematisch werden?

So viel Skandalpotenzial und kein Aufschrei der Kirche? Vielleicht, weil The Book of Clarence in erster Linie weder Parodie noch Satire ist, sondern vielmehr eine Versuchsanordnung zur Erörterung eines schwarzen neuen Testaments und der Frage, wie viel dieser kleine andere Umstand an der frohen Botschaft etwas ändert. Dennoch, und trotz dieses Mutes, vieles „umzufärben“, greift The Book of Clarence oft ins Leere und hält sich viel zu lange mit erlernten Verhaltensmustern auf, die Farbigen angedichtet werden. Es mögen mehrere Messiasse das Passionsspiel etwas verwirren, und es mögen gar illustre Namen wie Benedict Cumberbatch fast schon unter dem Radar laufen, weil so dermaßen lieblos auf die Seite gestellt. Viel Luft nach oben gibt es in manchen Szenen, die weniger Handlung setzen als vielmehr wortreich des neutestamentarischen Who is Who erörtern. Oft tritt der Film auf der Stelle, tut sich schwer dabei, voranzukommen oder frischen Wind durch die Gassen eines alternativen Jerusalem wehen zu lassen. Am meistern schmerzt die über den Kamm geschorene Schwarzweißmalerei, deren Plakativität gar nicht notwendig gewesen wäre und die letzten Endes welchen Jesus auch immer mit erhobenem Zeigefinger ans Kreuz nagelt.

The Book of Clarence (2023)

Lawrence von Arabien (1962)

EIN HAUFEN REITENDER MÄNNER

7,5/10


lawrence-of-arabia© 1962 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 1962

REGIE: DAID LEAN

DREHBUCH: ROBERT BOLT, MICHAEL WILSON, NACH DEM AUTOBIOGRAPHISCHEN BERICHT VON T. E. LAWRENCE

CAST: PETER O’TOOLE, ALEC GUINNESS, ANTHONY QUINN, OMAR SHARIF, JACK HAWKINS, CLAUDE RAINS, ANTHONY QUAYLE, ARTHUR KENNEDY, JOSÉ FERRER, DONALD WOLFIT U. A.

LÄNGE: 3 STD 47 MIN


Alte Schinken nochmal neu sichten – das könnte und sollte man als Cineast durchaus immer wieder mal in Betracht ziehen. Auch wenn die eigene Watchlist mit allen Neuerscheinungen schon rammelvoll ist, mag ein Blick zurück auf die Meilensteine einer über hundert Jahre währenden Erfolgsgeschichte eben des Kinos momentane Trends mit Leichtigkeit relativieren. Es lässt sich erkennen, worauf es früher wohl ankam, welche Stilmittel gern gesehen waren, welcher Aufwand nicht zu groß war und wie unterm Strich dem Massengemüt des Publikums zu entsprechen war. Bild, Ton, Dramaturgie, politische Korrektheit und die Handhabung mit Tabus: Alles eine Frage der Zeit, der Weltpolitik, der Geldgeber und der Studios. In den Sechzigern, da herrschte das Genre des Monumental- oder Sandalenfilms nebst dem Genre des Westerns fast schon als Monopol und über ein Jahrzehnt lang über den lokalen Kinospiegel. Gern Gesehenes war also der Gegenwart Unverwandtes, weit Entferntes und Entrücktes und mit den Problemen der Gesellschaft kaum in Berührung kommend. Man saß im Kino und glotzte Quo Vadis (Anfang der 50er), Ben Hur mit seinem christlichen Einschlag. Spartacus, Exodus und El Cid, später Cleopatra und Doktor Schiwago. Mehrere Stunden lang, aber mit Pausen, gab man sich dem Kostüm- und Kulissenrausch hin, mitunter an Originalschaupoltzen gefilmt und ohne Massenszenen aus dem Rechner, sondern analog und wahrhaftig. Gigantische Zweckbauten für nur ein paar Szenen ließen staunen, anschließend verließ man das Kino mit dem Wissen, nicht nur unterhalten worden zu sein, sondern auch, bezüglich der Geschichte der Welt, weitergebildet.

Eines dieser Werke war schließlich auch, im Jahre 1962 Lawrence von Arabien, eine britische Wüstenoper mit Sonne, Sand und Beduinen und die biographischen Eckpunkte eines Mannes erzählend, der die Beduinenstämme aus den Tiefen der Halbinsel Saudi-Arabiens vor die Fronten der Osmanen führte, um den Nahen Osten zurückzugewinnen. Seinen Bericht hat er damals unter dem Titel Die sieben Säulen der Weisheit niedergeschrieben, David Lean, im Kino-Gigantismus bereits mit dem schier zeitlosen Antikriegsdrama Die Brücke am Kwai erfahren und entsprechend ausgezeichnet, hat sich an dessen Erinnerungen angelehnt, um den noch unbekannten Peter O’Toole in Szene zu setzen, der gentlemenlike und auf unverwüstliche Weise sturen Idealen folgend, zum Abenteurer und Geschichtsreformator werden soll. Als ehrgeiziger britischer Offizier Thomas Edward Lawrence (der O’Toole auch verblüffend ähnlich sieht – oder umgekehrt) bekommt er zur Zeit des ersten Weltkriegs den Auftrag, dem Araber-Prinzen Faisal einen Besuch abzustatten und sich über dessen Agenda zu informieren, um gegebenenfalls im Kampf gegen die Osmanen ihre Unterstützung zu erlangen. Logischerweise entspricht die Theorie dieser Mission nicht der Praxis, denn Araber sind das eine, die verfeindeten Beduinenstämme das andere. Unter einen Nenner lassen sich diese Völker alle nicht bringen, zumindest scheint es so. Doch Lawrence gelingt das scheinbar Unmögliche, auch wenn er mitunter über Leichen gehen muss.

Abenteuerliche Geschichtsfilme wie diese gibt es heutzutage wohl keine mehr, es sei denn, Ridley Scott hat wieder mal tief in die Geldkiste gegriffen, um Kreuzzüge, napoleonische Schlachten oder den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu verfilmen. Geht dieser Mann irgendwann einmal den Weg allen Fleisches, wird das Genre, so fürchte ich, aussterben. Erinnern wird man sich nicht nur an seine Werke, sondern auch an jene, die ihm vielleicht als Vorbild dienten. Dieses hier ist so eines: ein unter enormem Aufwand verfilmtes Epos von fast vier Stunden, in dem Frauen keinerlei Rollen spielen und Männer so sind, wie Männer sein wollen. In dem Männer tun, was sie tun müssen. Die Welt ist in David Leans Werk und vielleicht auch aus Lawrences Sicht ein notgedrungenes Patriarchat, dessen Schicksal von Männern gesteuert, entschieden und vereitelt wird. Nun, genau das, diese Mentalität dieser filmischen Monumentalarbeit, erscheint aus der Zeit gefallen und so angestaubt wie ein Beduinenzelt nach dem Wüstensturm. Ein riesiger Haufen reitender Männer prescht über Dünen, säbelschwingend ihrem Ziel entgegen. Irgendwann verfällt auch der scheinbar pazifistische Lawrence, dem bald die Gewalt und der Tod näherkommt als ihm lieb ist, einem Blutrausch und Peter O’Tools irrer Blick prägt sich nachhaltig ins Gedächtnis. Hauptsächlich in Jordanien, Marokko und auch Spanien gedreht, wird die Wüste zum Schminktisch für den Helden. Neben ihm brillieren Anthony Quinn als Beduinenführer Auda Abu Tayi und natürlich der bereits von David Lean erprobte Alex Guinness als charismatischer Prinz Faisal. Ihr schauspielerisches Stelldichein wird zu Kinonostalgie pur, sie zelebrieren weit weg von kultureller Aneignung und wokem Stirnrunzeln die Fähigkeit des Schauspielers, in Rollen zu schlüpfen, die ihrer eigenen Biografie fremd sind. Ein Film wie Lawrence von Arabien ist heutzutage auf diese Weise wohl nicht mehr zu inszenieren. Und doch trägt dieser nur scheinbar wüstenheisse Gewalt-Exkurs jene Wahrheit in sich, die so lange gilt, solange es Menschen gibt: Wer zum Schwert greift, wird nicht durchs Schwert sterben, dafür aber bestimmt er die Weltgeschichte. Leider.

Lawrence von Arabien (1962)

Kandahar (2023)

DER FEIND MEINES FEINDES IST MEIN FEIND

5,5/10


kandahar© 2023 Leonine Distribution


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: RIC ROMAN WAUGH

DREHBUCH: MITCHELL LAFORTUNE

CAST: GERARD BUTLER, NAVID NEGAHBAN, TRAVIS FIMMEL, ALI FAZAL, NINA TOUSSAINT-WHITE, TOM RHYS HARRIES, FARHAD BAGHERI, MITCHELL LAFORTUNE, MARK ARNOLD U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Egal ob er, getarnt als Cable Guy, nahe eines iranischen Atomkraftwerks so tut, als würde er nur das Internet aufbrezeln, während das staatliche Militär bereits argwöhnt. Egal, ob er, eigentlich ein Leih-Agent vom MI6, mitten in Afghanistan steckt und gerade enttarnt wurde, sodass alle Welt es sehen kann. Es ist auch ganz egal, ob sein Wagen, indem er sitzt, von einer Rakete getroffen oder er, an einer Wand gekettet, gerade von den Taliban aufgeknüpft wird: Dieser Mann hat immer den gleichen Blick. Hat immer die gleiche Regung, eine konstante Halbmotivation und irritierende Gelassenheit, die man bei Jason Statham vielleicht verzeihen würde, weil er Jason Statham ist. Butler hingegen hat schon auch mal, wir erinnern uns anno 2006, lauthals und voller Blutdurst „Wir sind Sparta“ brüllen dürfen, um sich dann den Persern in den Weg zu stellen. In Greenland, als das Leben auf der Erde ungemütlich wurde, sah man in Butlers Antlitz die Kümmernis und Sorge ob seiner Familie. Denn schauspielern, das kann er wohl – wenn er nur will. Auf dem Weg nach Kandahar ist der bärbeißige Brite Opfer seiner Pflicht – seiner Schauspielpflicht. Er tut, was immer Ric Roman Waugh ihm anweist. Nur nicht mehr.

Die Familie daheim, der Schulabschluss seiner einzigen Tochter – nichts davon empfindet er. Gar so abgehärtet, so dermaßen desillusioniert? Vielleicht ja, vielleicht ist Butlers Figur des Tom Harris einfach nur schon müde von all dem Ganzen. Wenn dem so wäre, hätte er den Job von Auftraggeber Roman (endlich mal ein Wiedersehen mit Ragnar Lodbrok Travis Fimmel) schließlich nicht annehmen müssen. Doch er hat es – obwohl sein letzter Einsatz sicherlich so einige Wellen schlagen wird. Denn der iranische Geheimdienst schläft nicht. Auch nicht der I.S.I. – Pakistans Agenten. Da der Flug nachhause in die Staaten ohnehin Verspätung hat, und noch einige Tage hin sind, bis Töchterlein ihre große Party schmeißt, geht sich ein kleiner Einsatz, der obendrein gutes Geld bringt, sicher noch aus. In Herat angekommen, trifft unser Held auf den Übersetzer Mohammed, kurz Mo (Navid Negahban). Mit ihm muss er bald, nach Bekanntwerden seiner Identität, das Weite suchen, und zwar Richtung Kandahar, denn dort wäre vom MI6 der entsprechende Extraktionspunkt – sofern der 400 Meilen-Weg dorthin von beiden überlebt wird.

Und jetzt stelle man sich vor, wie es aussieht, wenn alle möglichen Parteien, die sich in Afghanistan behaupten wollen, zum Halali blasen. Es ist ja nicht so, als würde das in gefühlt tausend Scherben zerbrochene Machtgefüge eines eigentlich von Gott verlassenen Landes an einem Strang ziehen. Jeder will in eine andere Richtung, doch jeder hat das gleiche Ziel. Somit ist der Feind des Feindes des anderen sicher kein Freund. Durch dieses Gewirr an Häschern, Truppen und einsamen Jägern bahnt sich Butler stoisch und gefühlsarm seinen Weg, baut kaum eine tiefergehende Verbindung zu seinem Partner auf, reflektiert selbst nicht mal seine eigene Wahrnehmung der Dinge. Das schafft Distanz zu einem Film, der gewisse Ähnlichkeiten mit Guy Ritchies eben erst auf amazon prime erschienenen Escape-Afghanistan-Thriller Der Pakt aufweist. In diesem allerdings lassen sich Jake Gyllenhaal und Dar Salim aufeinander ein – das hat Wirkung. Kandahar ist dagegen eine Fahr- und Wandergemeinschaft; ein kurzer Streifzug durch diverse militante Interessensgruppen eines Landes, das ich mein Leben lang nie besuchen werde – trotz der gezeigten, atemberaubenden Landschaften, die klarerweise ganz woanders zu besichtigen sind.

Auch in Kandahar wummert und kracht es – ein Gerard Butler-Vehikel wie dieses wirbelt ordentlich Staub auf, es flattern allerlei Fahnen im Fahrtwind der Kleinpanzer, die Kutten und Turbane sitzen tief, und auch der um jeden Preis durchzusetzende Willen, die Balance der Gerechtigkeit zu halten, pflegt so manchen feuchten Wunschtraum westlicher Mächte. Würde der Film hundert Jahre früher spielen, säßen alle auf Pferden und hätte Gerad Butler vielleicht gar in die Rolle des Lawrence von Arabien schlüpfen können – nur Omar Sharif gäbe es dann leider keinen mehr.

Kandahar (2023)

Beirut (2018)

TAUSCHE FEIND GEGEN FREUND

4/10


beirut© 2018 Bleecker Street


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: BRAD ANDERSON

DREHBUCH: TONY GILROY

CAST: JON HAMM, ROSAMUND PIKE, DEAN NORRIS, SHEA WIGHAM, LARRY PINE, MARK PELLEGRINO, IDIR CHENDER, BEN AFFAN, LEÏLA BEKHTI U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Für viele Kritiker mag Andor wohl die beste Star Wars Serie bisher gewesen sein. Für viele vielleicht. Nicht aber für mich. Woran das nicht enden wollende Lob wohl gelegen haben könnte? Am Mitwirken von Drehbuch-Mastermind Tony Gilroy. Schließlich hat dieser auch die Vorlage zum fulminanten Rogue One – A Star Wars Story abgeliefert. Dass Gilroy schreiben kann, wissen wir –- unter anderem bewies dieser bereits sein Händchen für komplexe, in sich verwobene Geschichten in der von Paul Greengrass dominierten Jason Bourne-Trilogie. Von Jason Bourne ist es nicht mehr so weit bis Beirut. Auch in diesem Dunstkreis aus Fundamentalismus, Rebellion, Politik und Geheimdienst ließe sich die unkaputtbare Persona non Grata aller Geheimdienste bestens verorten – doch statt Matt Damon gibt sich Jon Hamm den Aufenthalt im Nahen Osten, und zwar gerade zu jener Zeit, in der die Olympischen Spiele in München zur Tragödie wurden. Der Schwarze September hat also zugeschlagen, vom Libanon bis nach Ägypten ist alles am Brodeln und knapp vor dem Überkochen. Als Diplomat richtet man sich‘s trotzdem, mit Blick aufs Meer, und eine einheimische Gattin an der Seite.

Der Sozialen Ader muss dabei aber auch entsprochen werden, also nehmen die beiden einen palästinensischen Teenie auf, um ihn mit den Werten des Westens großzuziehen. Das dauert nicht lange, denn eines Tages wird das Anwesen von Jon Hamms Figur Skiles während einer Party von Islamisten heimgesucht, darunter der Bruder des Teenie, der – am Terroranschlag 1972 in München beteiligt – diesen entführt. Die Gattin stirbt, Skiles zieht sich, verstört, trauernd und erschüttert, wieder nach Großbritannien zurück. Um zehn Jahre später, dem Fusel zugetan und recht devastiert, wieder in die Vergangenheit zu reisen, um als Schlichter und Mittelsmann zu fungieren. Denn ein ehemaliger Kollege wurde entführt, und Skiles soll diesen, nun ein hohes Tier, aus den Fängen seines ehemaligen Schützlings boxen, natürlich mit Worten. Und gut verhandelten Deals.

Obwohl Beirut mit einer komplexen Story aufwartet und noch dazu ein ganzes Ensemble bekannter Gesichter auf dem Set hat, von Rosamund Pike bis „Breaking Bad“-Drogenkieberer Dean Norris, hat dieser Politthriller keinerlei Chance, wirklich länger im Gedächtnis zu bleiben. Tony Gilroy mag zwar seine Drehbücher womöglich in mehreren Durchgängen so sehr verdichten, dass kein Leerlauf entsteht und auch alle Protagonisten oft genug in verbale Interaktion geraten. Doch so paradox es klingen mag, führt diese Methode eher dazu, zu den Schauspielern eine immer weiter fortschreitende Distanz einzunehmen. Was hier passiert, entspricht einer perfektionistischen Routine im Genre des Politfilms, aber dennoch einer gewissen schalen Gleichförmigkeit, in der keine der Figuren ausführlich herausgearbeitet werden und auch den sogenannten Antagonisten kein Charisma verliehen wird. Langweilig ist Beirut nicht, aber abweisend und am Wohlergehen seiner Gesprächspartner seltsam uninteressiert.

Beirut (2018)

Under the Shadow (2016)

DER ERRUNGENE MUT ZUM AUFBRUCH

7,5/10


undertheshadow© 2016 Netflix Österreich 


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, JORDANIEN, KATAR 2016

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: NARGES RASHIDI, AVIN MANSHADI, BOBBY NADERI, ARASH MARANDI, RAY HARATIAN, ARAM GHASEMY, HAMID DJAVADAN, SOUSSAN FARROKHNIA, KARAM RASHAYDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 24 MIN


Wir alle kennen diese Träume, oder besser gesagt: Albträume, in denen wir weit von zuhause weg sind, womöglich auf Reisen, und dann haben wir das Wichtigste vergessen, was immer das auch sein mag, aber es ist etwas Unverzichtbares. Es gibt auch Träume, in denen wir versuchen, von irgendwo wegzukommen, meist aus dunklen Räumen, und jeder Schritt fühlt sich so an, als hätte man kiloweise Blei um die Knöchel. So schleppt man sich zum Licht, kommt aber niemals wirklich voran. Etwas hält uns zurück, in der Finsternis. Ein Trauma, eine Gestalt, eine Geschichte. Etwas Erlebtes. Und dann ist da Babak Anvaris Film. Eine Allegorie auf die Angst, Wichtiges zurücklassen zu müssen. Die Heimat zurücklassen zu müssen, das Zuhause oder das, was mehr ideellen als materiellen Wert hat, denn wir leben nun mal in einer Welt voller Dinge, mit denen wir manchmal unsere Seele teilen.

Für die Flucht weg aus dem eigenen Ursprung braucht es Kraft, Mut und Zähigkeit. Die Flucht ist meist die Reaktion auf den Totalzerfall des Systems – sprich: Krieg. In Under The Shadow lebt Shideh (Narges Rashidi) mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zur Zeit des Iran-Irak-Konflikts in Teheran. Die Lage spitzt sich täglich zu, im Nachbarland Irak werden die Raketen Richtung iranischer Hauptstadt in Stellung gebracht. Immer wieder jault die Sirene, um die Bewohner in die Luftschutzkeller zu befehlen. Shidehs Ehemann, ein Arzt, wird eines Tages einberufen – er muss an die Front. Zurück bleiben Mutter und Kind, und doch steht ihnen die Möglichkeit offen, du den Großeltern zu flüchten, außerhalb der Stadt, wo die beiden sicherer wären als hier in diesem kleinen Wohnhaus, wo all die anderen Parteien bereits darüber nachdenken, alles stehen und liegen zu lassen – oder zumindest das meiste. Shideh zögert, doch als eine Rakete das Haus trifft, scheint die Gefahr akuter denn je. So weit, so sehr Kriegsdrama aus der Sicht der Zivilbevölkerung. Wo ist nun der Horror?

Tochter Dorsa ist fest davon überzeugt, dass mit dem ersten Luftangriff und mit den Stürmen, die plötzlich toben, ein Djinn sich ihrer angenommen hat. Und zwar keiner, der, blauhäutig und dauergrinsend, drei Wünsche erfüllt. Sondern etwas Böses, Hinterlistiges. Etwas, das Mutter und Tochter daran hindert, fortzugehen. Das fängt damit an, dass der Djinn die heißgeliebte Puppe von Dorsa versteckt. Ohne dieses Spielzeug ist an Aufbruch nicht zu denken. Und sehr bald schon bleibt es nicht nur bei diesem Schabernack – der Dämon treibt sein Verwirrspiel bis zum Äußersten.

Auf Babak Anvari wurde ich erstmals aufmerksam, als sein perfider und daher auch unberechenbarer Psychothriller I Came By letztes Jahr auf Netflix erschien. George McCay wird da zum Opfer eines sinistren Hugh Bonneville. Einige Jahre zuvor gelingt ihm auch mit diesem subtilen und gewieften Escape Home-Thriller ein regelrechter Geheimtipp, der mit Leichtigkeit Elemente des Horrors mit jenen des Psychodramas aus dem Antikriegs-Genre verschachtelt. Die Metaebene offenbart sich wie der schwarzweiß gemusterte Dschilbab des paranormalen Eindringlings, das erzwungene Verharren am Ort der Gefahr wird zum Sinnbild für Verlust, Abschied und der Furcht davor, selbst zurückgelassen zu werden. So wie der Djinn die Möglichkeiten der Mutter aussetzt, ihren fürsorglichen Pflichten nachzukommen, so wird die Suche nach der Puppe zum innerfamiliären Nervenkrieg. Anfangs offenbart sich Under the Shadow in so pragmatischem Stil, wie ihn Asghar Farhadi gerne anwendet, um dann das Metaphysische im wahrsten Sinne des Wortes durchbrechen zu lassen und einige Jumpscares aufzufahren, die unerwartet passieren und nie zum Selbstzweck verkommen. Sie sind Teil dieses Halbwach-Zustandes, in welchem sich der ganze Film befindet – weil man eben nicht glauben und nur schwer annehmen kann, dass das Leben, wenn Krieg herrscht, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher ist. All die Ängste, die dazugehören, mutieren dabei zum mythischen Quälgeist.

Under the Shadow (2016)

Infidel

DIE STURHEIT DER ALLWISSENDEN

5/10


infidel© 2021 Kinostar


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE / PRODUKTION: CYRUS NOWRASTEH

CAST: JIM CAVIEZEL, CLAUDIA KARVAN, HAL OZSAN, STELIO SAVANTE, BIJAN DANESHMAND, ISABELLE ADRIANI U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Offen seine eigene Meinung zu sagen, das ist schon eine Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Offen den eigenen Glauben zu bekennen: warum nicht? Auch das ist gelebter Liberalismus, in manchen Ländern mehr, in manchen weniger, in wenigen gar nicht. In Ländern, in denen es weniger bis gar nicht geht, verleitet das natürlich zur Provokation, sofern man tough genug ist, die eigene Verschleppung, Kasernierung oder gar Hinrichtung in Kauf zu nehmen. Vielleicht ist das ja für einen guten Zweck, und Märtyrer sind ja schließlich seit Jesus von Nazareth Trendsetter, wenn es heißt, sich selbst bis über den Tod hinaus treu zu bleiben. Aus der Geschichte lässt sich lernen, das sowas funktioniert. Also probiert es Jim Caviezel, diesmal nicht in Sandalen, sondern im schicken Anzug und noch dazu in der Gegenwart, im muslimischen Kairo. Kompliziert wird’s dann, wenn ein Pamphlet für freies Denken mit dem Ziel, ganze Kulturkreise zu missionieren, verwechselt wird.

Dem US-Journalisten Doug Rawlins passiert das. Er verwechselt Diplomatie mit Kompromittierung und stößt im Rahmen eines Fernsehinterviews in Ägypten die muslimische Gemeinde vor den Kopf. Die Kunst der Rhetorik will gelernt sein, und man könnte davon ausgehen, Rawlins würde diese beherrschen. Dem ist aber nicht so. Er macht unmissverständlich klar, dass nur der christliche Glaube der einzig wahre sei. Feingefühl lässt sich woanders verorten. Folglich wird dem eitlen Gecken schon bald ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt, der Sitzplatz im Flieger zurück in die vereinigten Staaten bleibt leer. Natürlich spielen da auch noch ganz andere Faktoren mit, denn ein heikles Missverständnis zwischen Rawles und einem muslimischen Geschäftskollegen war einige Zeit vorher aus dem Ruder gelaufen. Entführt, gefoltert und eingesperrt, muss Jim Caviezel nun um seinen Lebensabend bangen, während Ehefrau Liz sämtliche Hebel in Bewegung setzt, um auf eigene Faust ihren Mann zu finden und freizubekommen.

Der christliche Glaube als einzig wahre Religion: Cyrus Nowrastehs Politdrama Infidel zweifelt nicht an seiner überlegenen Gottesgläubigkeit und legitimiert ungefragtes missionarisches Handeln. Selbstredend darf Jim Caviezel nach Die Passion Christi wieder in die Rolle eines neues Messias schlüpfen, der für das Heil der Welt dem Tod ohne weiteres ins Gesicht sieht. Seine Rolle ist die eines predigenden Jesus sehr ähnlich, nur statt auf Bergen oder öffentlichen Plätzen offenbart der von ihm dargestellte Journalist seine Weisheiten per Blog – bis eben das Fernsehen ruft, und er dort schließlich nicht anders kann, als zu seinem Glauben zu stehen. Das hausgemachte Dilemma schmeckt dann auch nicht so richtig. Und wenn, dann nach zu offensichtlicher Anbiederung an ein obsoletes Märtyrertum. Caviezel legt seine Figur viel zu gelassen an, auch dirigiert Nowrasteh, der mit dem Heiland-Biopic Der junge Messias so ziemlich durchfiel, seinen Befreiungssthriller zwar zügig und kaum langweilig, dafür aber recht routiniert und angesichts der Motive der einzelnen Figuren relativ einseitig.

Infidel

Gaza Mon Amour

IN DER GUNST DES APOLLO

6/10


GazaMonAmour© 2021 Alamode Film


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, PORTUGAL 2020

BUCH / REGIE: ARAB & TARZAN NASSER

CAST: SALIM DAW, HIAM ABBASS, MAISA ABD ELHADI, GEORGE ISKANDAR, HITHAM OMARI U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die Gebrüder Tarzan und Arab Nasser hätten es fast geschafft, ihre verschmitzte Alltagsminiatur der Academy of Motion Pictures and Science als würdig für den Auslandsoscar zu verkaufen. In Gaza Mon Amour suchen weder epische Schicksale die hier Mitwirkenden heim, noch wagt die Geschichte narrative Bocksprünge, bei denen einem die Brillen runterfallen. Nichts dergleichen geschieht hier – im Grunde ist es nicht nur das Warten auf den Linienbus in Gaza Stadt, sondern auch auf das Warten einer transzendentalen Eingebung, die festgefahrenen religiösen wie ethnischen Ansichten längst erhaben zeigt. Das passiert dann auch, in Gaza Mon Amour, und zwar widerfährt dieser Wink von oben, aus einer ganz anderen Ecke antiker Weltanschauungen, einem genügsamen Fischer, der jede Nacht aufs Meer hinausfährt, um seinen Fang dann tags darauf am Markt zu verkaufen, wobei er stets die Chance hat, der netten Schneiderin von nebenan einen schönen Tag zu wünschen. Da braucht er sich gar nicht mal groß vor einem eifersüchtigen Ehemann in Acht zu nehmen, denn den gibt es nicht mehr. Siham ist nämlich geschieden. Eines Nachts zieht der gestandene Issa nicht nur seine Fische aus dem Wasser, sondern auch eine antike Statue des Gottes Apollo. Das Besondere dabei: das bronzene Abbild des schön gestalteten Jünglings feiert im Intimbereich nachhaltige Potenz, und das ganz ohne Viagra. Was tun mit diesem Fund? Der Behörde melden? Oder einfach mit nachhause nehmen und vorerst mal verstecken. Vielleicht hilft’s ja was in der Sache mit Siham.

Die Welt im Nahen Osten scheint also noch nicht ganz von allen guten Göttern verlassen. Obwohl entfernt die Bomben donnern und immer wieder Schüsse zu hören sind, ist die andauernd schwelende offen Wunde des Scharmützelkrieges gerne etwas, dem Leute wie Issa oder Siham keine Beachtung mehr schenken, wenn’s denn nicht unbedingt sein muss. Eine dritte, unsichtbare Kraft bahnt sich den Weg zwischen zwei einander zugetane Menschen, die ihr Glück nicht in der Flucht sehen, sondern in einem möglichen Miteinander, inmitten einer Welt, die ihnen immerhin noch gut vertraut ist. Tarzan und Arab Nasser injizieren dem redundanten Alltag jener, die ihrer schlichten Existenz nachgehen, ein Quäntchen Zauber. Natürlich muss dieser verdient sein – es gibt Ärger mit der Polizei und den Behörden, aber dargestellt als kauziges Abenteuer aus den Seitengassen großer Weltbühnen.

Großes Kino ist Gaza Man Amour keines. Wohl eher eine lakonische, allerdings sehr volkstümliche Romanze, der ein bisschen mehr metaphysische Präsenz vielleicht noch gutgetan hätte. Die vielleicht zu behutsam der Mentalität vor Ort auf den Zahn fühlt. Schwierig, wenn man das ganze Politikum außen vorlassen will und etwas Unbefangenes erzählen möchte. Die Ambition dahinter ist verständlich, Apollos Gunst dabei nur eine zaghaft arrangierte Allegorie.

Gaza Mon Amour