A Private Life (2025)

WER THERAPIERT DIE THERAPEUTIN?

6,5/10


© 2025 Sony Pictures Entertainment


ORIGINALTITEL: VIE PRIVÉE

LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE: REBECCA ZLOTOWSKI

DREHBUCH: ANNE BEREST, REBECCA ZLOTOWSKI, GAËLLE MACÉ

KAMERA: GEORGE LECHAPTOIS

CAST: JODIE FOSTER, DANIEL AUTEUIL, VIRGINIE EFIRA, MATHIEU AMALRIC, VINCENT LACOSTE, LUÀNA BAJRAMI, IRÈNE JACOB, SOPHIE GUILLEMIN, FREDERICK WISEMAN, AURORE CLÉMENT U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Ob Sigmund Freud jemals selbst auf der Couch gelegen hat? Wohl eher nicht, hat dieser doch die Psychoanalyse erst dahingehend entwickelt, dass sich bis heute jenes Konzept erhalten hat, den Betroffenen eher liegend und die therapierende Person wohl eher sitzend vorzufinden. Eine Ausgangssituation, die bereits schon eine gewisse klare Trennung der Aufgaben erklärt, und beileibe keine Wechselwirkung zwischen Patient und Therapeut. Die Hierarchie ist also eine unverrückbare. Doch wie sehr ist diese Idee der Erforschung und Bearbeitung einer Seele denn noch zeitgemäß, und wieviel Selbstreflexion verträgt oder sollte dabei die therapeutische Institution vertragen können, um auf Augenhöhe mit dem Gesprächspartner zu bleiben?

Dieses Gefälle ist zumindest in Rebecca Zlotowskis Rollenbetrachtung nach wie vor gegeben, und zwar sehr deutlich, überangestrengt steil, die Couch nur eine Betrachtungsfläche irgendwo weit unten, während Jodie Foster als Psychiaterin Liliane Steiner, die die Weisheit der Seelenklempner bereits längst mit dem Löffel gegessen hat, auf ihre Patienten herabblickt. Kaum umgeben von Freunden und Familie, sondern nur von jenen, die viel dafür ausgeben, um seelisch wieder in Ordnung zu kommen, mag Liliane Steiner gerade jene Patientin durch ihre Abwesenheit ins Auge fallen, die sich später wohl mutmaßlich umgebracht haben soll – durch eine Überdosis an Beruhigungsmitteln, die auf eine falsche Angabe auf dem Rezept zurückzuführen ist. Wer hat hier wohl seine Finger im Spiel? Die Patientin selbst, deren Tochter, oder gar der Ehemann, der lange Zeit schon ein Verhältnis hat?

Frankophile Jodie Foster

In A Private Life, einem französischen Psychodrama, das so aussieht, als wäre es ein Krimi und mit den entsprechenden Versatzstücken arbeitet, um vielleicht auch nur das Publikum in die Irre zu führen, fällt natürlich auf, dass die mit dem Filmbiz aufgewachsene und sich bis heute am Ruhm relativ schadlos gehaltene Jodie Foster einen Charakter verkörpert, der im Grunde nach Isabelle Huppert schreit, und zwar voller Inbrunst und Leidenschaft. Doch Huppert, Vielfilmerin und vielleicht auch schon vom Filmbiz etwas müde, räumt das Feld für eine Amerikanerin, die fließend französisch spricht, wie Foster es eben tut, und die sich, das muss man festhalten, viel zu selten durchs europäische Kino bewegt. Genau das steht ihr formidabel, insbesondere das Arthousekino. Mit dem spielerischen Charme dessen, und dem Bewusstsein, das im Independent-Sektor nicht allzu viel auf dem Spiel steht, holt sich Foster ihre schauspielerische Kraft zurück. Denn so lustvoll hat man den Star schon lange nicht erlebt. So lustvoll und bereit, sich mit einer Figur auseinanderzusetzen, die in der Geschichte gerade das nicht tun will: Sich selbst reflektieren.

Der Anschein eines Whodunits

Eingebettet in ein souveränes Ensemble aus bekannten Gesichtern wie Daniel Auteuil, Virginie Efira und Mathieu Amalric sehnt sich Foster nach der französischen Weise des Filmemachens und vertraut sich Rebecca Zlotowski an, die ein geheimnisvolles, teils sogar schrulliges Moralwerk gedreht hat, das sich als eigentlich unauffälliger Film durch Bibliotheken, die Dunkelheit fremder Landhäuser und Therapiezimmern stiehlt, während es draußen regnet, das Mysterium eines Todesfalls und Verdächtigungen wie Nebel durch die Gassen treiben, während langsam, aber doch, die Seiten wechseln, man möchte es kaum wahrnehmen. Irgendwann findet sich Fosters Figur der Liliane in den Tiefen ihres Unterbewusstseins wieder, vielleicht sogar in einem früheren Leben, keine Ahnung, was Hypnose im Gehirn tatsächlich auslöst. Als unauffälligen Twist mag man diesen Moment in diesem Film bezeichnen, während das Investigative seine Kreise zieht und die Tränendrüsen der Psychiaterin nur Empfindungen kolportieren.

Die Läuterung einer Zynikerin

Es mag tatsächlich dieses versteckt Agierende in diesem Vexierspiel der Psyche sein, dass die Geschichte kaum aus sich herausgeht, dass sie in sich selbst etwas feststeckt, wie Liliane Steiner eben. Mitunter wagt Zlotowski auch die hämische Parodie des In-sich-Eintauchens, des Unterbewussten, der Psychoanalyse an sich. Das Überhebliche dabei erfährt hier ordentlich Reibung. Das alles mag sehr viel für einen Film wie diesen sein, mag sein, dass A Private Life mit all den Ansätzen mitunter etwas überfordert scheint, doch im Grunde will er in all diesen Bestrebungen immer nur ein und dasselbe: Achtsamkeit. Letzten Endes gelingt der läuterungsbewusste Umkehrschluss fast wie von selbst.

A Private Life (2025)

Rabbit Trap (2025)

HÖR MAL, WAS DA SPRICHT

6,5/10


© 2025 Bankside Films


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: BRYN CHAINEY

KAMERA: ANDREAS JOHANNESSEN

CAST: DEV PATEL, ROSY MCEWEN, JADE CROOT U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Wir lieben die Natur, wir schätzen die Natur und wir missachten sie gleichermaßen, weil wir davon ausgehen, dass wir längst verstehen, wie sie tickt. Doch das tun wir nicht. Wir haben keine Ahnung, was Natur eigentlich ist, wie alles zusammenpasst und ineinandergreift, was sie uns sagt und von uns verlangt. Und vor allem: was warum auf welche Weise seinen Nutzen hat. Wir lauschen also da hinein, ins Rauschen der Wälder, ins Zirpen der Vögel und ins Knarren und Knacken der Bäume. Dazwischen gibt es aber auch noch etwas. Eine Melodie, ein Raunen und Singen, eine ganze verborgene, metaphysische Landschaft aus einer Art dunkler Materie, die alles zusammenhält, in der Zwischenwelten und Zwischenwesen existieren. Diese Entität weckt Aberglauben und Ängste und erzählt von Gestalten, die es angeblich gar nicht gibt. In Skandinavien ist der Glaube an verborgene Völker wie Trolle, Feen oder Zwerge fest im kulturellen Erbe verankert, anderswo führen Forststraßen durch erschlossene Nationalparks und aufgekaufte Hektar, der Urwald ist mittlerweile etwas Besonderes, weil so seltenes.

Dem Rauschen lauschen

Am Rande eines solchen jedoch, fernab von jeglichem urbanen Treiben, isoliert im Nirgendwo wie auf einer Insel, dorthin hat sich das durchaus exzentrische Paar der Davenports zurückgezogen – Daphne und Darcy machen Musik, keine klassische, sondern experimentelle wohlgemerkt, die sich aus Klängen, Geräuschen und Wortfetzen zusammensetzt, dazwischen wummernde Synthies, lautstark aus diversen Boxen dröhnend, die an diversen Verstärkern hängen und so das rustikale Cottage und die ganze Umgebung ihren Rhythmen unterwiren. Während Daphne den Sound mixt, macht sich Darcy auf die Suche nach lohnenswerten Vibes und stößt dabei, wie kann es anders sein, auf ein höchst seltsames Geräusch, das so klingt, als wäre es durch Menschen verursacht – ein Flüstern, Kreischen und Wimmern. Die Stimme des Waldes, der Natur? Ganz benommen von dieser Entdeckung, dröhnt der neue Soundmix in satter Tonlage durch die Räume, durch die Wände, in die Welt zurück – um eine Gestalt anzulocken, eine junge Person, eigentlich noch ein Teenager, vielleicht gar minderjährig, niemand weiß das so genau. Sie steht da plötzlich vor dem Haus, wird hereingebeten, man freundet sich an, übernimmt völlig ungeachtet eines Vorsatzes so was wie Verantwortung – bis die Balance ganz deutlich kippt und klar wird, dass dieser fremde Mensch, der nicht mal einen Namen besitzt, etwas ganz anderes sein muss, nur nicht menschlich.

Verständnis für das Unverstandene

Es kann sein, dass Rabbit Trap von Debütant Bryn Chaney mit der Fülle seiner Ideen zu sehr auf die Dynamik dieses höchst mysteriösen und nicht immer ganz verständlichen Mysteriums drückt, obwohl es, wie man bald bemerkt, genau darum geht: um Verständnis für etwas, das der Mensch nicht versteht. Chaneys Film handelt von Gnade, Respekt und Verantwortung, von nicht erfüllbaren Zugeständnissen und dem namenlosen Dazwischen als Essenz für eine Dimension, die der unseren, begreifbaren und analysierten, inhärent zu sein scheint. Schauspielerin Jade Croot gibt dabei der phantastischen Figur des Findelkinds eine bemerkenswert unheilvolle Aura, pendelt zwischen erregtem Mitleid, Freundlichkeit und erschreckend raumfüllender Dominanz hin und her – dabei hält sich „Slumdog Millionaire“ Dev Patel ohnehin nur in einem Zustand der völligen Verwirrung auf, bleibt neben der Spur, verliert die Orientierung genauso wie Co-Star Rosy McEwen (Harvest). Faszinierend, was Chaney aus seiner Grundsatzannahme, die Natur ist mehr als die Summe ihrer Teile, alles hervorwuchern lässt. Als wäre es nur eine durch natürliche Drogen verursachte Wahrnehmung, verfängt sich das Schauspiel-Duo in einem Regelwerk unsichtbarer Mächte. Das darauffolgende dekorative Brimborium, den opulenten Overkill aus Sinnbildern und illustrierter Metaphysik, hätte es vielleicht gar nicht gebraucht. Tatsächlich ist das schon zu viel des Guten, wenngleich das Visuelle von Rabbit Trap durchaus besticht und das Staunen sich in die eigene Mimik schleicht.

Sieht man genauer hin und sucht vielleicht nach Vergleichen in der Filmgeschichte, die die Inkarnation von etwas Abstraktem zum Thema haben, stößt man vielleicht auf Michael Endes Unendlicher Geschichte und seine kindlichen Kaiserin, die flehentlich darum bittet, verstanden und benannt zu werden. Bei Rabbit Trap ist es die Natur, die keiner will, aber dringend braucht, um überhaupt weiterzumachen.

Rabbit Trap (2025)

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Heldin (2025)

DIE VIERGETEILTE KRANKENSCHWESTER

8/10


© 2025 Tobis

LAND / JAHR: SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: PETRA VOLPE

CAST: LEONIE BENESCH, SONJA RIESEN, SELMA ALDIN, ALIREZA BAYRAM, URS BIHLER, ALINE BEETSCHEN, JASMIN MATTEI, NICOLE BACHMANN, MARGHERITA SCHOCH U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


„Ich kann mich ja nicht vierteilen.“, sagt Krankenschwester Floria Lind (gewohnt authentisch: Leonie Benesch) inmitten ihrer bereits weit vorangeschrittenen Spätschicht, als sie Vorwürfe von Angehörigen zu hören bekommt, sich nicht um ihre Patienten zu kümmern. Ignorante Meldungen wie diese muss man als Pflegekraft, die sich den Allerwertesten aufreißt, auch noch verarbeiten müssen, neben all den Eindrücken aus Leid, Kummer, Hoffnungslosigkeit und körperlichem Elend. Die Arbeit in einem sozialen Job wie diesen ist systemerhaltend, schön und gut. Wird aber, und das ist ein Grundproblem der kapitalistischen Gegenwart, deswegen nicht gewürdigt, weil es keinen Gewinn abwirft. Alles, was keinen Reibach macht, ist weniger wert. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns trotzdem allen schlecht. Die Pflege, die Versorgung, die Erhaltung der Gesundheit eines jeden einzelnen wäre in einer Gesellschaft mit ausgeprägten sozialen Agenden das Um und Auf. Warum also dieser Kräftemangel? Warum müssen in einer gesamten Station im Kantonsspital in Zürich lediglich zwei Pflegerinnen und ein Azubi um das Wohl und die Bedürfnisse akut und schwer erkrankter Menschen kämpfen? Warum müssen sie das alles auf ihren Schultern tragen?

Dabei beginnt der Tag für Floria erst weit nach Mittag, gerade hat sie einige freie Tage hinter sich, zeigt sich also motiviert, arbeitsbegeistert und hat den vollen Tatendrang. Ein Lächeln in ihrem Gesicht zeigt: Heute kann gar nichts schiefgehen. Heute ist der Tag, an dem niemand zu kurz kommt und jeder seine Hoffnung schöpfen darf, die er oder sie verdient. Das Werk läuft rund um die Uhr, dieser Stapellauf bremst sich niemals ein. Die Übergabe geht schnell vonstatten, Floria ist unterwegs. Keine Pause, kein Verschnaufen, alles gleichzeitig. Das knappe Personal ist heillos überfordert, weiß aber, die Agenden zu strukturieren. Und man erkennt: Floria ist ein Profi, weiß, wie sie reagieren muss, weiß, wie sie Prioritäten setzt, arbeitet fokussiert. Doch immer noch ist sie ein Mensch.

Petra Volpe liefert in ihrem immersiven, atemlos dichten Kammerspiel keine aufgesetzte Storyline oder einen speziellen Problemfall, der die Heldin in ein außergewöhnliches Gefecht schickt, das einen Film wie diesen zu einem Sozialthriller im Gesundheitswesen hochstilisiert. Ganz ehrlich: Genau das wäre ein Betrug am Thema. Der ganz normale, wahnsinnige, stressvolle, unerbittliche Alltag ist Kino genug. Ist Thriller genug. Ist Drama genug. Ist Horror genug. Heldin macht die semidokumentarische Beobachtung einer Spätschicht zum authentischen Portrait einer Arbeitenden, die aufgrund höherer Politik daran gehindert wird, dem Wert jedes einzelnen Menschen entsprechend zu agieren. Volpe sammelt für ihren Einblick eine Handvoll Patientinnen und Patienten und tut das, was auch Leonie Beneschs Figur versucht zu tun: Den Personen ihren Raum zu geben, sie mitteilen zu lassen. Benesch hält sie alle in ihren Händen, manche entgleiten, andere bleiben geborgen. Bei anderen fehlen die Worte, bei wieder anderen bringt Gesagtes Versöhnung. Das Kaleidoskop in Heldin rotiert, es wird niemals enden, solange es Menschen gibt. Der viergeteilten Krankenschwester, an vielen Orten gleichzeitig, gelingt das Kunststück, dort Mensch zu bleiben, wo es fast unmöglich scheint.

Heldin (2025)

Flow (2024)

WENN TIERE DEN HUMANISMUS PROBEN

7/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: STRAUME

LAND / JAHR: LETTLAND, BELGIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: GINTS ZILBALODIS

DREHBUCH: GINTS ZILBALODIS, MATĪSS KAŽA

MUSIK: RIHARDS ZAĻUPE

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Das Ganze ist wie ein Traum. Niemand weiß, wo genau sich dieses Szenario abspielt, niemand weiß, ob es jemals Menschen waren, die diesen seltsamen Planeten, der unserer Erde so sehr ähnelt und dann wieder doch nicht, besiedelt hatten. Klar ist: Eine Zivilisation, gleich der unseren, ist der großen Katastrophe erlegen. Es scheint, als wäre die biblische Sintflut über alles und jeden gekommen, der sich selbst keine Arche gefunden hat. Und selbst an den höchsten Punkten dieser Welt glänzt das menschenähnliche Individuum durch Abwesenheit. Was passiert war, lässt sich nicht herausfinden. Was vorher war, auch nicht. Was ist, das sehr wohl: Eine Welt ohne uns, ohne Dualität, ohne Niederträchtigkeit, Gier, Krieg und Elend. Eine Art Eden kehrt zurück, nachdem das Wasser den Unrat einer schweren Zeit fortgespült hat. Was bleibt, ist die Fauna. Eine schwarze Katze zum Beispiel, namen- und wortlos, schnurrend, miauend, fauchend maximal. Das kleine Wesen versucht zu überleben, stößt dabei auf einen Hund, verliert diesen wieder aus den Augen, trifft dann, nachdem alles in den Fluten versinkt, auf ein kleines Segelboot, in dem ein gemütliches Capybara hockt und den Neuankömmling anfangs noch kritisch beäugt, dann aber akzeptiert. Die trockene Nussschale dient bald noch anderen Individuen als Schutz vor den Unwirtlichkeiten der Natur, unter anderem einem Katta und einem storchenartigen Vogel, der sehr an einen Sekretär erinnert, nur ohne dessen Färbung.

Bizarre Felsnadeln ragen in den Himmel, versunkene Städte erinnern an Venedig, zerstörte Boote an den vergeblichen Versuch einer Zivilisation, zu überleben. Und dann wagt Regisseur Gints Zilbalodis (Away – Vom Finden des Glücks) seine große gesellschaftsphilosophische Betrachtung, indem er seine zusammengewürfelte Gruppe unterschiedlichster Lebensformen einer intuitiven probe unterzieht. Allen voran stellt er die Frage: Was bewegt eine diverse Gesellschaft, aus ihrer Existenzblase zu treten, um miteinander zu kooperieren? Ist es das Chaos? Ist es die Heimatlosigkeit? Der Motor einer kognitiven Evolution tritt in Kraft. Im Grunde ist es doch so, das, würde die Welt in ihrer Ordnung verharren, keines dieser Tiere aufeinander zugehen würde. Tiere sind Spezialisten, sie entwickeln keine Toleranz und interagieren unterstützend innerhalb ihrer eigenen Art. Dann aber die Katastrophe, das Übergreifen aus dem eigenen Radius hinaus in jenen der anderen. Was entsteht, ist Altruismus, Faktoren des menschlichen Zusammenlebens und der Akzeptanz. Einheit trotz oder gerade durch Vielfalt – Flow macht dabei nicht den Fehler, Katze, Hund und Co zu vermenschlichen, sondern lässt sie in ihrem tierischen Verhalten fest verankert, während der humanistische Faktor lediglich hinzukommt. Man könnte natürlich Entertainment-Werke wie Madagaskar als weiteres Beispiel nennen, auch hier muss eine tierische Gruppe aus Löwe, Giraffe, Zebra, Nilpferd und Pinguin eine Zweckgemeinschaft eingehen, doch hier ist es vorrangig der Kalauer und die vermenschlichte Darstellung der Tiere mitsamt zeitgemäßer Phrasendrescherei. Madagaskar führt da auch nichts anderes im Schilde als Spaß haben zu wollen, während Flow auffallend mehr erzählt, es kehrt Orwells Farm der Tiere um, schafft Zuversichtlichkeit und Vertrauen in einer unberechenbaren Welt, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. Auch Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger ließe sich vergleichen, nur ohne menschlichem Faktor als Person – dieser offenbart sich lediglich als Idee.

Darüber hinaus begeistert Flow nicht nur dank seiner diversitätsbejahenden Botschaft, sondern ist dank seiner farbsatten, dynamischen Bildwelten, die dank der entschleunigten Kamera in sich ruhende Momente der Betrachtung zulässt,  für die große Leinwand gemacht. Das Wasser gluckert, sprudelt, fließt, der Wind bläst, der Hund bellt, das Capybara grunzt, der Vogel kreischt. Sie alle haben ihre Art zu kommunizieren, und auch wenn sie sich untereinander kaum verstehen, so ist es die Geste des Respekts, der sie alle weiterbringt. In dieser universellen filmischen Botschaft kann man sich verlieren und treiben lassen. Denn niemand geht in dieser und in anderen Welten jemals verloren.

Flow (2024)

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

DIE PRACHT DES SPÄTEN FRÜHLINGS

7,5/10


amsel_brombeer© 2023 Stadtkino Filmverleih


ORIGINALTITEL: BLACKBIRD BLACKBIRD BLACKBERRY

LAND / JAHR: GEORGIEN, SCHWEIZ 2023

REGIE: ELENE NAVERIANI

DREHBUCH: ELENE NAVERIANI, NIKOLOZ MDIVANI

CAST: EKA CHAVLEISHVILI, TEMIKO CHINCHINADZE, PIKRIA NIKABADZE, ANKA KHURTSIDZE, TAMAT MDINARADZE U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


In diesen titelgebenden Brombeerstrauch hat sich die 48jährige Ethero längst heillos verheddert – und gleichzeitig damit abgefunden. Dieses patriarchale Georgien mit seinen tief verwurzelten Glaubenssätzen, was Frauen- und Männerrollen betrifft, wäre schon genug an Erschwernis für eine umgangssprachlich als „Alte Jungfer“ zu bezeichnende Person, die, so meinen die anderen, sowieso nie mehr einen Mann abbekommen wird. Nein, bei Ethero hat das Schicksal noch einen draufgesetzt und ihr die Mutter genommen. Was blieb, waren Vater und Bruder, beide keine Feministen, beide herrisch und unterdrückend, beide das Patriarchat auf respektlose Weise ausübend – bis auch der Rest der Familie unter der Erde liegt und Ethero allein dasteht. Doch sie weiß sich zu behaupten, stemmt sich grimmig gegen entbehrliche Umstände. Zumindest hat sie es vollbracht, ihren eigenen Drogeriemarkt aus dem Boden zu stampfen. Wenn es die Zeit erübrigt, geht sie an den Fluss, um Brombeeren zu pflücken. Die Amsel inmitten des Geästs, die es schafft, dem dornigen Gestrüpp zu entfliehen, wird zur waghalsigen Idee einer längst in der Mitte des Lebens Angekommenen, wird zur gefährlichen Metapher, die ihr gleich zu Beginn fast das Leben kosten soll. Und dennoch ist dieser Moment der Imperativ zu einer Wende. Den sie nutzt, indem sie sich an ihren Lieferanten ranmacht, den verheirateten Murman, der ihr auch, versteckt im Lager des Ladens, die Jungfräulichkeit nimmt. Wie es aussieht, könnte dies der Beginn einer späten ersten Liebe sein, die Ethero tunlichst geheim halten will. Denn das Dorf ist klein, ein jeder kennt hier jeden und ein jeder und eine jede zerreißt sich das Maul über andere, die sowieso schon einer gewissen Nonkonformität entsprechen. Ethero ist dabei der Freak, der Sonderling, die Einzelgängerin. Was all die anderen nicht wissen: Ethero ist zwar stark und zäh und wirkt nach außen hin vielleicht sperrig – doch wie jeder Mensch, der Zeit seines Lebens vom Glück außen vorgelassen wurde, trägt auch sie eine Sehnsucht mit sich herum, die, käme der rechte Augenblick, dieser ohne zu zögern gestillt werden würde.

In einem Land, in welchem Gesetze gegen Andersdenkende und Andersfühlende erst kürzlich erlassen wurden, wundern Filme wie diese gleich doppelt. Dabei fällt mir das erst kürzlich in den Kinos gezeigte queere Drama Crossing ein, in welchem Transsexualität auf völlige Akzeptanz stößt. Amsel im Brombeerstrauch hat keine queeren Themen in petto, dafür aber einen stolzen, bekennenden und authentisch zelebrierten Feminismus, der auf zutiefst lakonische wie warmherzige Weise über eine wundersame Chance berichtet, die, egal wann sie im Leben auch gewittert wird, ergriffen werden kann. Dieser späte Frühling, den Ethero hier erlebt, hat etwas zauberhaft Verschrobenes, erdiges und Authentisches – was nicht nur an Elene Naverianis offenherzige und von allen Stereotypen befreiten Herangehensweise an ihre zentrale Figur liegt, sondern eben auch an die unverwechselbare Eka Chavleishvili, die eine nuancierte Charakterstudie zulässt und dabei auch keinerlei falsche Scham an den Tag legt. Naveriani setzt ihren Körper, der auf erfrischende Weise eben erst recht nicht einem in den Medien kommunizierten Schönheitsideal entspricht, respektvoll in Szene. Chavleishvili ist stolz auf ihren Körper und auf sich selbst. Der Unzufriedenheit im Leben, wenn Frau das Gefühl hat, dass alle Züge bereits abgefahren sind, lässt sich so vehement und träumerisch entgegentreten, dass Amsel im Brombeerstrauch als kleine, unangepasste, märchenhafte Ode an die Weiblichkeit bestens funktioniert, ohne diese Ideale nur zu kolportieren. Das gelingt aufgrund einer leicht unbeholfenen Zärtlichkeit, die diesem Film innewohnt. Als wäre Aki Kaurismäki wieder mal einer seiner kauzigen Gesellschaftsportraits gelungen, hat auch Naveriani einen eigenen Minimalismus in ihren Bildern, eine eigene Farbgebung und eine pointierte Dramaturgie. Ein prachtvoller, zutiefst romantischer Film, der von einer Selbstfindung berichtet, die auf eigenen, unangepassten Wegen völlig richtig liegt. Und Ethero, die hat dabei das Zeug zur Ikone des eigenen emanzipierten Willens.

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

Der wilde Roboter (2024)

AUF NÄCHSTENLIEBE PROGRAMMIERT

6/10


derwilderoboter© 2024 DreamWorks


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: CHRIS SANDERS

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): LUPITA NYONG’O, PEDRO PASCAL, CATHERINE O’HARA, BILL NIGHY, STEPHANIE HSU, KIT CONNOR, ALEXANDRA NOVELLE, MATT BERRY, VING RHAMES U. A.

MIT DEN STIMMEN VON (SYNCHRO): JUDITH RAKERS, AXEL MALZACHER, MADELEINE STOLZE, SEBASTIAN FITZNER, JOACHIM TENNSTEDT, ALICE BAUER, HANNS-JÖRG KRUMPHOLZ, BERND EGGER, JAN:MARTEN BLOCK U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Alles beginnt fast so wie in Robert Zemeckis Robinsonade Castaway: Durch ein Unwetter gelangt die Fracht eines verunglückten Transportschiffs an die unbewohnte Küste einer Insel. In den Kisten verpackt: Behende Haushaltsroboter für den guten Zweck, dafür programmiert, Aufgaben anzunehmen und diese auch auszuführen – wenn es denn jemanden gäbe, der diese Maschinen auch einsetzt. An diesem paradiesischen Ort, an welchem die Natur in Hülle und Fülle gedeiht, scheint ein Roboter anfangs so ziemlich fehl am Platz. Die Einheit Rozim 7134, kurz Roz, welche durch die unverhohlene Neugier einer Fischotterfamilie aktiviert wird, begegnet, als er durch den Wald streift, einer scheuen, verängstigten und aggressiven Fauna. Einem Wesen wie Roz ist hier noch niemand begegnet, und es scheint, als wären künstliche Intelligenzen wie diese inmitten eines intakten Ökosystems aus Fressen und Gefressenwerden, inmitten harscher Jahreszeiten und wenig Nächstenliebe, völlig fehl am Platz. Wäre da nicht ein verwaistes Gänseküken, für dessen Wohlbefinden die empathische, Behelfsroboterdame nun endlich eine Agenda hat. Ihr Ziel: Den rotschopfigen Vogel in die große weite Welt hinauszuschicken, oder ihn zumindest dafür fit zu bekommen. Unterstützung hierfür bekommt er dabei nicht mal von seinen Artgenossen, lediglich der Fuchs Fink, den auch kein anderer will, wird zu einem guten Freund. Anfangs eigennützig, doch dann zunehmend altruistisch.

Das Gefühl, sich um andere zu kümmern, die weniger resilient und deutlich vulnerabler als andere Individuen sind, wird in Der wilde Roboter zum ritterlichen Ehrenkodex, zum beharrlichen Projekt – anfangs aus Pflicht, dann nur mehr aus Liebe. Chris Sanders (u. a. Drachenzähmen leicht gemacht) sendet wichtige Botschaften aus, in denen das friedliche Miteinander zum obersten Gebot wird, verabschiedet sich dabei aber von einer unerbittlichen Natur, die Leben, Überleben und Tod als notwendigen und völlig wertfreien Zyklus versteht. Ein Idealismus setzt ein, der unter Menschen vielleicht genauso funktionieren würde, jedoch nicht unter Tieren der unterschiedlichsten Spezies. Das ist ein wiederkehrendes Dilemma bei Tierfabeln dieser Art, die von vegetarischen Löwen erzählen oder in denen Fische als minderwertige Lebewesen angesehen werden, nur weil sie vielleicht Schuppen statt Fell besitzen. Anfangs reißt Sanders Krähen noch den Kopf ab (eine für kleine Kinder irritierende Szene) oder zerlegt stieläugige Krabben, im weiteren Verlauf entfernt sich der Film aber zusehends von diesem natürlichen Verständnis. Man könnte sich fragen, ob das angestrebte Miteinander nicht die eigene Natur verrät? Versucht man, nicht zuviel in den Film hineinzuinterpretieren oder ihn gar zu analysieren – was bei Filmen dieser Art vielleicht gar nicht erbeten wird – genießt man zumindest ein farbintensives Animationsspektakel mit dem Herzen am rechten Fleck und dem Streben nach Versöhnung zwischen Fortschritt, Technik und Natur.

Wodurch man allerdings merkt, dass Sanders sich nicht damit begnügen will, nur ein Gleichnis über Nächstenliebe und Zusammenhalt auf den Punkt zu bringen, und zwar auf eine Weise, die für alle Altersklassen leicht verständlich scheint, die Älteren aber vielleicht etwas unterfordert, ist, sich auch dem Spektakel zu bedienen. So gesehen hat Der wilde Roboter, der so sein hätte können wie eine Variation von Selma Lagerlöfs impressionistischem Epos Nils Holgersson, drei mögliche Enden. Sanders nutzt aber keines davon und auch nicht jenes, womit er vielleicht nahe am Meisterwerk wäre. Letztlich gibt er sich einem Showdown hin, der fast schon an Overkill grenzt und der mitnichten notwendig gewesen wäre, um diese Geschichte auszuerzählen. Womöglich mag Dreamworks daran schuld sein, womöglich hätte Saunders gar viel früher seine Fabel beendet, doch Action muss sein, aus Angst, ein durch Social Media überreiztes Publikum vielleicht zu langweilen. Das wäre, mit Verlaub, niemals passiert. Dafür ist vieles in diesem Familienfilm viel zu liebevoll gestaltet, um auch ohne Rambazamba den Tieren, dem Roboter und jenen, die den Film sehen, Mitgefühl und Wärme entgegenzubringen.

Der wilde Roboter (2024)

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

KAFKA, EINMAL UNVERKITSCHT

7,5/10


herrlichkeitdeslebens© 2024 Majestic/Christian Schulz


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2024

REGIE: JUDITH KAUFMANN & GEORG MAAS

CAST: SABIN TAMBREA, HENRIETTE CONFURIUS, MANUEL RUBEY, DANIELA GOLPASHIN, ALMA HASUN, PETER MOLTZEN, LEO ALTARAS, LUISE ASCHENBRENNER, FRIEDERIKE TIEFENBACHER, MICHAELA CASPAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 99 MIN


Als kafkaesk bezeichnet man groteske gesellschaftspolitische Umstände, Überwachungsstaaten und Albtraumbürokratien. Morphologische Veränderungen, Paranoia und die Angst vor einer körperlosen Übermacht. Will man Franz Kafka darstellen, lässt man ihn gerne so sein wie eine seiner Figuren, orientierungslos, verfolgt und nicht Herr seiner Sinne. Der Autor Michael Kumpfmüller hat über das letzte Lebensjahr des großen deutschsprachigen Schriftstellers einen Roman verfasst und ihn so dargestellt als jemand, der zwar krank war, jedoch keinesfalls so verschroben, wie man ihn gerne hätte. Kafka hatte Stil und war redegewandt wie kein Zweiter. War charmant zu den Damen, nur leider keiner, der, so sagt er selbst, für Langzeitbeziehungen wirklich geeignet ist. Das letzte Jahr seines Lebens gewährt ihm aber dann doch den Schein einer ewigen Beziehung, eine Lebensgemeinschaft bis in den Tod. Dieser jemand an seiner Seite war Dora Diamant – schöner kann ein Name, der kein Künstlername ist, wahrlich nicht klingen. Mit Dora findet Franz Kafka seine ideale Partnerin – und schließlich auch jemanden, der die Leiden einer Lungentuberkulose bedingungslos mitträgt. Alles beginnt in einem idyllischen Nordseesommer beim Spazierengehen am Strand, den Sprösslingen im nahegelegenen jüdischen Kinderheim erzählt er, kauernd im Strandkorb, allegorische Geschichten über Mäuse und Katzen. Dora Diamant lauscht mit – und gerät ins Blickfeld des edlen Herren, den von da an nichts mehr daran hindert, ihr den Hof zu machen. Das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit, beide sind klug, beide ticken ähnlich, nur die Krankheit bremst so manche Pläne. Der darauffolgende Winter in Berlin wird zur Belastungsprobe, die Eltern, insbesondere Kafkas Vater, wird auf ewig ein Schreckgespenst bleiben. Bald kann Kafka nicht mehr sprechen, die Tuberkulose breitet sich aus. Doch Dora weicht nicht von seiner Seite.

Melodramatisch ist Die Herrlichkeit des Lebens sehr wohl, doch auf eine gute Art. Auf die einzig richtige Weise, wie man Melodramatisches nur auf die Leinwand bringen kann und dabei genau darauf achtet, jedweden sentimentalen Kitsch zu vermeiden. Denn Melodrama muss niemals sentimental sein. Das Regieduo Judith Kaufmann und Georg Maas finden am Anfang des Films sommerliche norddeutsche Bilder, die an die impressionistischen Malereien Renoirs oder Monets erinnern. Wir sehen eine Holzbank auf einem Aussichtsplatz hoch über dem Strand, um die Rückenlehne ist ein seidenes, auberginerotes Band gewickelt, welches in der Sommerbrise weht. Klingt nach Rosamunde Pilcher? Ist es aber nicht. Diese Romantik verdient es kompromisslos, sich dieser Bildsprache zu bedienen. Inszeniert wird sie voller Respekt vor dem Genre und den historischen Figuren, die sich begegnen. Sabin Tambrea verleiht der literarischen Legende Charisma und Charakter, und vor allem versucht er nicht, sich an dieser bedeutenden Rolle, seinem Geltungsdrang verpflichtet, zu ereifern. Tambrea macht einen Schritt zurück, bleibt besonnen und unaufgeregt. Das gibt der Figur jede Menge Raum. Ebenso Henriette Confurius als Dora: Auch sie authentisch und natürlich, kein bisschen zu viel, niemals zu wenig. Diese beiden schaffen eine immersive Atmosphäre, in die man als Zuseher unweigerlich hineingleitet. Trotz der leisen, fast ereignislosen Chronik eines Abschieds ist es allen voran diese konstante, stilsichere Gefühlswelt, die Kaufmann und Maas hier errichtet haben, die den Zugang zu diesem Film so frappant erleichtern. Keine Regie-Allüren, keine Schauspiel-Allüren, kein bizarres Gemotze wie bei David Schalko. Menschlich und warmherzig gibt dieses Drama einen fast schon intimen Einblick in eine Künstlerseele und seinen Dämonen, in eine späte Liebe und in die Kunst, das Unausweichliche zu akzeptieren.

Die Herrlichkeit des Lebens ist ein strahlend schöner Film, wohltuend und berührend, ohne darauf aus sein zu müssen, dieses Ziel zu erreichen. Das Werk genügt sich selbst, es ist Melancholie mit Understatement.

Die Herrlichkeit des Lebens (2024)

The Royal Hotel (2023)

WORK-LIFE-BALANCE IN DOWN UNDER

8/10


the-royal-hotel© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2023

REGIE: KITTY GREEN

DREHBUCH: KITTY GREEN, OSCAR REDDING

CAST: JULIA GARNER, JESSICA HENWICK, HUGO WEAVING, JAMES FRECHEVILLE, TOBY WALLACE, HERBERT NORDRUM, BARBARA LOWING, URSULA YOVICH, DANIEL HENSHALL U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Willkommen in Down Under, dem Land des ewigen Sommers, des Crocodile Dundee, der Abenteuer und der Kängurus. Dem Land des Vollrausches, der sozialen Tristesse und des offen gelebten Alltags-Sexismus postkolonialer weißer Männer. Als Australien-Reisende muss sich Frau diesen Diskriminierungen nicht unbedingt aussetzen, da genügt es womöglich, auf Touristenpfaden mit allen anderen unterwegs zu sein. Doch was tun, wenn die Kohle knapp wird und der Urlaub noch lange nicht vorbei ist? Die beiden kanadischen Studentinnen Hannah und Liv wollen sich durch diesen Engpass nicht unterkriegen lassen und ergattern bei einer Work & Travel-Agentur einen zeitlich begrenzten Aushilfsjob in einer Bar irgendwo im Outback, weitab vom Schuss inmitten der Wüste, wo Buschmeister-Schlangen ihr Zuhause haben, Beuteltiere vor die Tür hopsen und der Kookaburra womöglich sein Morgenständchen schnattert. Mehr eintauchen ins authentische Leben der Australier geht nicht, doch nach der freudigen Erwartung folgt die unausweichliche Ernüchterung. Das Etablissement im roten Staub nennt sich zwar The Royal Hotel, doch der Schriftzug lässt sich kaum noch lesen und das Personal zeichnet sich nicht gerade durch eine herzerwärmende Willkommenskultur aus. Hier im Nirgendwo herrschen Zustände, die nur mit ganz viel Alkohol schöngesoffen werden können, da kann die Fauna noch so aus dem Busch hervorspringen und mit fernwehklagender Exotik ausschließlich beim Fremdenverkehr punkten. Die beiden Mädels bleiben trotzdem – und erfahren gleich am ersten Abend, an dem die Männer einer nahegelegenen Miene nicht nur ihren Durst löschen wollen, wie mit jungen Frauen hier umgegangen wird. Nicht für immer, sagen sich beide, und während Liv immer mehr dem Alkohol zugetan scheint und Party feiert, obwohl sie arbeiten sollte, behält Hannah die Contenance und genügend Abstand zu all dem Testosteron, dass hier allabendlich einfällt. Obwohl einer der Gäste ehrlich zu meinen scheint, gibt es andere, die Hannah in Panik geraten lassen. Natürlich kommt eines zum anderen.

Dabei muss eines vorweg genommen werden: The Royal Hotel ist kein Thriller per se und auch kein Outback-Horror mit geistig verwirrten Psycho- und Soziopathen, die den beiden Protagonistinnen eine Tortur verabreichen wollen. Kitty Green, die 2019 mit ihrem unbequemen Missbrauchsdrama The Assistant sexuelle Nötigung á la Weinstein am Arbeitsplatz zwar etwas verhalten, aber dennoch mit Gespür für Andeutungen zum Thema und auch bei Festivals von sich reden machte, folgt vier Jahre später einer ähnlichen Richtung. Diesmal sind es aber weder Vergewaltigung noch sexueller Missbrauch noch ähnlich Schwerwiegendes. Diesmal ist es die bedrohliche toxische Männlichkeit, die sich wie ein drohendes Gewitter in latenter Gefährlichkeit am Horizont abzeichnet, immer bereit, durch auffrischenden Sturm heranzunahen und um sich zu schlagen. Diese Männlichkeit ist ekelhaft. Das Selbstverständnis der gestandenen maskulinen Kleingeister, fremde Frauen als ihr Eigentum zu betrachten, nur weil sie vielleicht als erster einen Spruch losgelassen haben – der Umgang mit der Körperlichkeit einer Frau und die Diskriminierung durch Sprache und abwertender Klischees werden zur Herausforderung für Julia Garner, die auch in The Assistant die Hauptrolle spielt, und Jessica Henwick – zum bedrohlichen Wüstenwind, der überall weht, wo die Kinderstube aus regressivem Verständnis über Geschlechterrollen besteht, dabei goibt’s derlei Defizite nicht nur hier, in Australien. Meinetwegen auch im österreichischen Hinterland oder und vor allem auch in den USA. In diesem Dunst aus Alkoholmissbrauch, daraus bedingenden Missverständnissen und unangenehmen Verhaltensauffälligkeiten entsteht eine geradezu virtuose Miniatur aus dem Subgenre des sozialkritischen Reisefilms, eingefangen als schleichende Eskalationsspirale, die sich sowohl um den Reiz der australischen Wildnis als auch um die Tristesse einer stagnierenden Arbeiterklasse schlängelt, als wäre das alles die Down Under-Version eines Ken Loach-Films, nur mit dem Unterschied, dass Kitty Green mehr will als nur ein Sittenbild abzugeben. Sie will ihr dynamisches Frauen-Duo, das erstmal gar nicht so scheint, als könnte es das, dazu befähigen, mit den Verhältnissen Tabula Rasa zu machen.

Diese Art Frauenpower ganz ohne militanten Feminismus, der Männer an sich gerne über den Kamm schert, weil es einfach ist, es so zu tun, bleibt nachvollziehbar, authentisch und entlockt dem Willen zur Selbstbestimmung ungeahnte Energien. Mit diesem kraftstrotzenden Impuls am Ende des Films setzt The Royal Hotel unübersehbare Zeichen, die als krönender Abschluss eines differenzierten Geschlechterdiskurses mit Freuden das überhöhte Stilmittel des Kinos nutzen. Das alles mit Wut im Bauch und einem Grant auf das Selbstmitleid komplexbeladener Männer, die sich aufführen wie schlecht erzogene Problemkinder.

The Royal Hotel (2023)

The Old Oak (2023)

AM MITTAGSTISCH SIND ALLE GLEICH

6,5/10


theoldoak© 2023 Sixteen Films Limited, Why Not Productions


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: KEN LOACH

DREHBUCH: PAUL LAVERTY

CAST: DAVE TURNER, EBLA MARI, TREVOR FOX, COL TAI, JORDAN LOUIS, CHRISSIE ROBINSON, CHRIS GOTTS, JEN PATTERSON, ARTHUR OXLEY, JOE ARMSTRONG, ANDY DAWSON, AMNA AL ALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Es soll sein letzter Film gewesen sein. Ken Loach, das soziale Gewissen des Vereinigten Königreichs, geht in Pension. Was er hinterlässt, ist eine noch für lange Zeit nachblühende Eiche, deren dicker Stamm fest verwurzelt im Boden ungeschönter Tatsachen vielleicht besseren Zeiten entgegenharrt, in denen Menschen unterschiedlichster Gesinnung und diverser ethnischer Herkunft an einem Tisch Platz finden werden. Wer gemeinsam isst, rückt zusammen. Da gibt es Dialog auf Augenhöhe, doch meist braucht es da nicht mal Worte, um einander zu verstehen. Der Mittagstisch ist für alle da. Wie arm sie auch sein mögen, wie verquer auch deren Lage ist: Ken Loach stillt den Hunger der kleinen Leute, wo es nur geht.

Möglich ist das nur, weil es im ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham ein letztes verbliebenes Pub gibt, das titelgebende Old Oak. Der in sich gekehrte TJ Ballantyne (Big Hugs für Dave Turner!) führt aber nur die Hälfte dieser Gaststätte – das größere Hinterzimmer bleibt verschlossen, warme Speisen gibt es schon lange nicht mehr, lediglich Bier, soweit das Auge der Stammkundschaft reicht: Ein Haufen desillusionierter Männer, die dem genügsamen Wirtschafter seine Existenz ermöglichen, weil sie täglich hier aufschlagen. In dieser Gegend aus alten, leerstehenden Backsteinhäusern, die irgendwann mal in den Achtzigern TJs Kumpel des nun stillgelegten Kohlebergwerks beherbergten, steht die britische Bevölkerung fast schon vor dem Nichts. Und dann passiert das: Eine Busladung syrischer Flüchtlinge nimmt, so die Meinung mancher Alteingesessenen, auch noch die letzten Ressourcen der dahinsiechenden Gemeinde. Wer soll und kann das noch stemmen? Darüber hinaus erreicht der Alltagsrassismus ungeahnte Höhen – Kopftuchfrauen an einem Ort wie diesen? TJ sieht das anders – und befreundet sich mit der jungen Fotografin Yara (berührend: Ebla Mari). Beide inspirieren sich gegenseitig, und Pläne fürs Miteinander nehmen langsam Gestalt an.

Das klingt nicht nur so, als wäre The Old Oak zuversichtlicher als alles von Ken Loach bisher Dagewesene – das ist es auch. Sein Film ist eine Hymne an die Solidarität ganz ohne rotes Parteibuch, sondern aus der Intuition heraus, direkt vom Herzen und dem Gewissen folgend, sofern man noch eines besitzt. Das tut natürlich gut, zu sehen, was hier bald wie aus dem Nichts kommend, für Akzeptanz und gegenseitiges Wohlwollen sorgt. Anfangs sieht es noch so aus, als wäre die Eskalation vorprogrammiert, und klar: Konflikte bleiben dennoch nicht aus. Doch verschwendet man auch nur einen weiteren Gedanken daran, um zu reflektieren, warum diese Art von Ablehnung überhaupt gelebt werden muss, fällt diese in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Mag sein, dass die Realität anders aussieht. Doch Loach will sich dieser Nüchternheit nicht mehr unterwerfen. Sorry We Missed You war zerrüttend genug, der letzte filmische Vorhang soll schließlich sowas wie Hoffnung hinterlassen. Und so wird sein Film zu einem Lehrstück der Nächstenliebe und der Achtsamkeit – geradlinig, wenig komplex und idealistisch. Doch keinesfalls banal.

Seine Schicksalsschläge verteilt Loach dennoch. Und da gibt es einige, schmerzende, tieftraurige. Vielleicht gar ein bisschen zu viel davon, und das nur deshalb, weil The Old Oak seine gebeutelten Existenzen eng beieinanderstehen lässt. Diese entstandene Essenz aus Qual und Trost wird zur dick aufgetragenen Besseren-Welt-Ballade, in welcher jene, die wenig haben, jenen, die nichts haben, unter die Arme greifen. Dann können jene, die zuvor nichts hatten, einiges zurückgeben. Eine Spirale des Guten gerät in Bewegung. Schön ist das. So einleuchtend. In seiner dargebotenen und zuletzt gar irreal überspitzten Reinheit, zu der sich Ken Loach schließlich hinreißen lässt, von rechtschaffener Naivität, die keinen Zynismus mehr verträgt.

The Old Oak (2023)