Sick of Myself (2022)

DIE SYMPTOME DER GELTUNGSSUCHT

6/10


sickofmyself© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN 2022

BUCH / REGIE: KRISTOFFER BORGLI

CAST: KRISTINE KUJATH THORP, EIRIK SÆTHER, FANNY VAAGER, FREDRIK STENBERG DITLEV-SIMONS, SARAH FRANCESCA BRÆNNE, INGRID VOLLAN, STEINAR KLOUMAN HALLERT, ANDREA BRAEIN HOVIG U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


So mancher und so manchem wird dieses Gefühl vielleicht fremd sein – ich selbst aber kenne das von früher, als ich noch nicht wusste, worum es im Leben eigentlich gehen sollte: Das Gefühl einer selbstwertgefährdenden Niederlage, die daraus resultiert, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Alles dafür getan zu haben, aber doch nicht wichtig genug zu sein. In einer Gesellschaft, in der man den Wert des Menschen eigentlich nur über seine Leistung definiert, und wenn nicht darüber, dann über das Geld, sollte man sich selbst genug sein. Das schützt vor so mancher Schmach oder dem Umstand, dass einem beim Versuch, alle Blicke auf sich zu ziehen, die Puste ausgeht. Andere wollen um jeden Preis – und wirklich um jeden Preis – die Aufmerksamkeit aller. Wollen bewundert, und wenn nicht bewundert, dann bemitleidet werden, weil sie ein Opfer bringen oder Opfer von irgend etwas anderem geworden sind. Das ist schon pathologisch. Und diese Art krankhafte Geltungssucht, die hat nun ein Gesicht. Und zwar ein entstelltes.

In der norwegischen Psychosatire Sick of Myself kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wenn klar wird, dass dieser betriebene Exzess zugunsten eines zweifelhaften Ruhms durchaus realistisch sein kann. Im Mittelpunkt – und dieser wird ihr den ganzen Film hindurch nicht genommen – steht eine junge Frau namens Signe, die mit ihrem Freund zusammenlebt, der in der Kunstszene schon zu einigem Renommee gekommen ist. Das schmeckt Signe, die „nur“ in einer Bäckerei arbeitet und sonst kaum Hobbys hat, gar nicht. Auch sie will gesehen, gehört und bewundert werden, so wie ihr Freund. Und sobald sich alles um ihn dreht, findet sie Mittel und Wege, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das beginnt noch mit kleinen, perfiden Spielereien, wie zum Beispiel dem Vortäuschen einer Lebensmittelallergie. Als das auch nicht mehr zieht, beschafft sie sich auf illegalem Wege obskure russische Medikamente, die bei kontinuierlicher Einnahme zu horrenden körperlichen Schäden führen. Sprich: Der Weg zum Quasimodo ist geebnet, Signe macht sich, wie der Titel schon prophezeit, selbst krank und tut so, als käme diese Pein aus heiterem Himmel. Ihr Gesicht ist vernarbt, der Körper voller Flecken. Der Freundeskreis ist, so wie wir im Publikum, abgestoßen und fasziniert zugleich. Zeigt Mitleid und Bewunderung, wie Signe es meistert, damit umzugehen. Bald schon erscheint ein Artikel in der Zeitung, doch das ist unserer „Patientin“ nicht genug. Sie will noch mehr Aufmerksamkeit. Sie will den Ruhm und die Wichtigkeit, die andere haben, nur nicht sie. Wohin das führt? Zur Frau im Essigkrug.

Die Idee des bei den letztjährigen Cannes Filmfestspielen in der Kategorie Un Certain Regard gezeigten Werks des Autorenfilmers Kristoffer Borgli ist eine, deren filmische Umsetzung recht reizvoll erscheint, ist doch das Thema eines, das den Zeitgeist trifft und das Phänomen Social Media auf seine Grundmotivationen herunterbricht. Die Freakshow um einen Minderwertigkeitskomplex und seine Folgen zieht in seinen Bann, man kann nicht wegschauen, man kann nur verblüfft staunen, wie sehr ein flüchtiger Wert wie Ruhm ein Leben ruinieren kann. Und dennoch ist Sick of Myself etwas einseitig geraten. Wir beobachten Signes selbstkreierten Leidensweg lediglich aus ihrer Sicht, ihr Lebensentwurf ist der einzige, der im Film zur Verfügung steht. Somit sucht die Satire keinen Diskurs, sondern wirkt selbst wie ein Beipackzettel für ein Medikament, dass hochgradig suchtgefährdend ist. Auf die Dauer wird die Chronik der Ereignisse redundant, und nur vereinzelt gibt es erhellende Spitzen. Im ähnlich positionierten Satiredrama Not Okay von Quinn Shephard mit Zoey Deutch als Lügenbaronesse findet der moralische Konflikt viel effizienter statt, während Sick of Myself kaum Wert auf ein Echo legt. In Not Okay gibt eine alternative Weltsicht kontra und lädt zur vehementen Auseinandersetzung mit den Prioritäten des Lebens. Das mag vielleicht gefälliger sein, dafür aber eingängiger. In der norwegischen Groteske allerdings entbehrt die Gesellschaft keine helfende Hand, und auch den Unterschied zwischen Realität und Fiktion muss man erst erlernen, führt die Mixtur aus beiden anfangs zu einiger Konfusion. Später hat man den Dreh raus, nur Signe nicht. Für Erkenntnis bleibt kein Platz, doch immerhin hat der Freak seine Blase gefunden.

Sick of Myself (2022)

Rache auf Texanisch (2022)

VERGELTUNG AUS ZWEITER HAND

5,5/10


vengeance© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: B. J. NOVAK

CAST: B. J. NOVAK, BOYD HOLBROOK, ASHTON KUTCHER, DOVE CAMERON, ISABELLA AMARA, J. SMITH-CAMERON, LIO TIPTON, ISSA RAE, JOHN MAYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Kein anderes Gefühl treibt den Menschen so sehr um wie die Rache. Fast jeder Thriller, jedes zweite Drama – immer wieder geht es darum, gleiches mit gleichem zu vergelten; das Bibelwort Auge um Auge, Zahn um Zahn so richtig, mit Pauken und Trompeten, auszuleben, ohne Rücksicht auf Konsequenzen und Verluste. Jemanden bezahlen zu lassen für erlittene Schmach – daran kann man sich schon ergötzen, das geht bis ins Herz. Vor allem im Action-Genre werden die Bösen am Ende ordentlich zur Kassa gebeten, nachdem wir sehen durften, was sie Unverzeihliches angerichtet haben. Man kann Rache aber auch aus zweiter Hand üben. Man braucht dabei nur lang genug im Dunstkreis begangener Verbrechen verweilen, um sich über so manches, was schiefläuft, im Klaren zu werden, ohne dass man unmittelbar daran beteiligt war. Beeinflussung nennt sich sowas. Oder Empathie für ein unbekanntes Opfer, das für mehr steht als nur für private Befindlichkeiten.

Um in Medias Res zu gehen, muss Macho und Frauenheld Ben an den Ort des Geschehens reisen – und zwar nach Texas. Es geht auf das Begräbnis einer flüchtigen sexuellen Bekanntschaft namens Abby, die an einer Überdosis starb, die aber ihre ganze Familie wissen hat lassen, dass das Verhältnis mit Ben mehr war als nur ein One-Night-Stand. Sowas wie eine richtige Beziehung. Ben will die trauernde Familie und auch ihren Bruder Ty (Boyd Holbrook) nicht vor den Kopf stoßen. So viel Nächstenliebe muss sein, auch wenn das mit der Partnerschaft nicht ganz so stimmt, aber das muss ja keiner erfahren. Die Fassade wird gewahrt, die Sache wäre erledigt, wäre Ty, nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, fest davon überzeugt, dass Abbys Ableben nicht ganz freiwillig passiert ist. Ben, bekannter Podcaster dort, wo er herkommt, wittert nach einem kreativen Leerlauf endlich wieder die große Chance, einen Knüller zu landen. Mit eine True Crime-Story in Echtzeit, mit ganz viel Lokalkolorit und Suspense. Aus dem neuen Projekt wird sehr schnell mehr, nämlich der Blick hinter die Kulissen selbstgefälliger Moral und der eigenen falschen Definition von Verantwortung.

Anders als in der Kult-Soap Dallas kommt Texas als ein öder Landstrich daher, auf welchem ab und an Ölförderpumpen stehen und sonst nur kleine Nester inmitten karger Wüstenlandschaft. Texas als Santa Nirgendwo, das „Marchfeld“ Amerikas, nur weniger fruchtbar. Dieses Niemandslandes lässt Comedian und Schauspieler B.J. Novak, den meisten wohl bekannt durch seine Rolle in der US-Version von The Office, zum Schauplatz für eine sprachlich sehr eloquente, aber nicht ganz durchschaubare Tragikomödie werden, die manchmal Anleihen am Thriller-Genre nimmt, ohne einer sein zu wollen. Während der Kriminalfall in der Podcast-Krimiserie Only Murders in the Building den dramaturgischen Kern gibt, um welchen sich die Handlungsfäden der einzelnen Figuren ranken, ist in Rache auf Texanisch der mögliche Mord nur Auslöser für einen Lokalaugenschein quer durch eine Gesellschaft, die sich vieles, das längst im Argen liegt, schöngeredet oder unter den Teppich gekehrt hat. Ein Ort, ein Mikrokosmos, der in Verständnis seiner eigenen Moral stagniert. So gesehen ist Rache auf Texanisch ein kritischer Blick auf das neue Amerika – alles verpackt in einen Podcast-Beitrag der vielen Worte und Gleichnisse. Novak, der sich selbst die Hauptrolle gab, suhlt sich in seiner Selbsterkenntnis und mausert sich durch Interviews mit dem Bürgertum zum besseren Menschen. Das führt dazu, das im Film selbst nicht viel weitergeht, dass sehr viel geschwafelt wird und trotz überzeugenden Schauspiels die schwarze Komödie oder was auch immer der Film sein mag nirgendwo wirklich zupackt. Das ist Kino für Redenschwinger und weise Männer in der Midlife-Crisis, die dem Thema Rache und Gerechtigkeit aber zumindest einen anderen Blickwinkel abringen können als nur den, mit der Tür ins Haus zu fallen und alle niederzumachen. So gesehen hat der Film wieder das gewisse Etwas, andererseits ist der Weg dorthin aber zu selbstgefällig.

Rache auf Texanisch (2022)

Zeit der Kannibalen (2014)

GEFANGEN IN DAGOBERTS GELDSPEICHER

4/10


zeitderkannibalen© 2014 Farbfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2014

REGIE: JOHANNES NABER

BUCH: STEFAN WEIGL

CAST: SEBASTIAN BLOMBERG, KATHARINA SCHÜTTLER, DEVID STRIESOW U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Johannes Nabers sarkastisches Stück deutscher Fremdschäm-Politik konnte mich vor zwei Jahren so ziemlich begeistern: Curveball – Wir machen die Wahrheit. Aufgespielt haben der sensationelle Sebastian Blomberg als einer, der nicht weiß, wie ihm geschieht, weiters Michael Wittenborn und Thorsten Merten. Alle drei wie für Satire gemacht, noch dazu vor dem erschütternden Hintergrund einer Realgroteske, die den Lauf der Geschichte nachhaltig verändert hat. Ich sage nur: Biowaffen im Irak. Und warum die USA letztendlich Saddam Hussein gestürzt und das Land in irreparables Chaos versinken ließ. Von so einer Brisanz ist Nabers zweiter Spielfilm, Zeit der Kannibalen, leider weit entfernt. Doch nichts für ungut, das ist nur meine Meinung, denn wenn man sich so umhört in den Nachrichtenarchiven rund um Kino und Kunst, so kommt Zeit der Kannibalen ziemlich gut weg – als ein auf den Punkt gebrachtes Kammerspiel zu Gier und Moral, Kapitalismus und Ausbeutung.

Der Inhalt liest sich zugegebenermaßen tatsächlich so, als wäre ein spannender Zermürbungskrieg zu erwarten, der die drei global agierenden Investment-Junkies Devid Striesow, Katharina Schüttler und natürlich wieder Sebastian Blomberg gegeneinander so lange aufhetzt, bis sie sich entsprechend zerfleischen. Schadenfreude garantiert, denn bei so viel kapitalistischer Arroganz macht es Spaß, die Verantwortlichen für die klaffende Arm-und-Reich-Schere sich selbst den Garaus machen zu sehen. Vielleicht aber hätte man nicht erwartet, dass Zeit der Kannibalen unbedingt so abstrakt sein will wie das Bühnenstück eines sich selbst überschätzenden Theatermachers. Naber bettet seine zynische Dialogkomödie nicht in eine Realität wie später bei Curveball, sondern lässt seine Protagonisten in generischen Hotelzimmern ihrer Arbeit nachgehen, während draußen vor den Fenstern eine aus Würfeln errichtete Skyline ebenso generischer Dritte-Welt-Städte das Gefühl von Internationalität vermittelt. Wenn schon die Kulisse der Hotels als wohlige Blase für Gier und Missgunst anmutet, ist die künstliche Außenwelt eine zweite, die das ganze Geschehen von der Wahrhaftigkeit abschirmt. Mag sein, dass diese Reduktion den Fokus viel mehr auf das Erstarken und Fallen einer geldmachenden Welt reduziert – die Rechnung geht dennoch nicht auf.

Dabei ließe sich allerhand aus diesen Spinnereien, die in diversen Kämmerleins gesponnen werden, abschöpfen. Der Plot ist nämlich dieser: Striesow und Blomberg geben zwei Wirtschaftsvertreter einer ominösen Company, die für alle Konzerne dieser Welt stehen kann – ins Detail geht Naber dabei nie. Diese erfahren, dass sie statt ihres dritten Kollegen Hillinger, der, wie sich später herausstellen wird, Suizid begangen hat, eine aufstrebende Quereinsteigerin namens Bianca zugeteilt bekommen. Während sie von einem zu schröpfenden Staat in den nächsten reisen, entsteht so das satirische Bild eines Trio Infernal, das sich gegenseitig aufhetzt, erniedrigt oder belehrt. Währenddessen allerdings scheint die Company, für die sie arbeiten, seltsame Entwicklungen zu durchleben, die nicht gerade sinnbildlich sein sollen für das goldene Zeitalter des Kapitalismus.

Naber hätte eher beim Sezieren realer Ereignisse bleiben sollen, anstatt den Zynismus gefühlskalter Globalisierungssöldner in ein ebenso zynisches Lehrstück zu packen. Dabei bringen die verbalen Duelle keine der Figuren weiter, sie sind in ihren Ansichten genauso gefangen wie wir als Zuseher in diesen unleidigen sterilen Räumlichkeiten. Zeit der Kannibalen bleibt viel zu künstlich, kaltschnäuzig und unnahbar. Als die kleine Chronik eines selbstgemachten Untergangs vermag lediglich die am Ende hereinbrechende Anarchie eines Krieges ein bisschen Menschlichkeit in Form von Panik aus den zweidimensionalen Figuren herauszukitzeln.

Zeit der Kannibalen (2014)

Weißes Rauschen

VERHEDDERT IN DER ENDLICHKEIT

6,5/10


weissesrauschen_1© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: NOAH BAUMBACH

BUCH: NOAH BAUMBACH, NACH DEM ROMAN VON DON DE LILLO

CAST: ADAM DRIVER, GRETA GERWIG, DON CHEADLE, RAFFEY CASSIDY, SAM NIVOLA, MAY NIVOLA, JODIE TURNER-SMITH, LARS EIDINGER, ANDRÉ BENJAMIN, BARBARA SUKOWA U. A. 

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Der schlimmste Widersacher von Gevatter Tod ist nicht der abstrakte Umstand des ewigen Lebens. Er ist die fehlende Furcht vor ihm. Wer seine Existenz von Geburt bis Ableben sinnvoll nutzt und es dabei noch schafft, völlig angstfrei dem Ende selbiger entgegenzusehen, den kann der Tod nicht tangieren. Nur weil wir nicht wissen, was hinter diesem Mysterium steht, heißt es nicht, dass wir in Panik geraten müssen. Doch andererseits: Panik, wenn sie in Massen auftritt, ist zumindest eine Möglichkeit, die Angst untereinander aufzuteilen. Oder von anderen, die vielleicht weniger davon besitzen, absorbieren zu lassen. Womit wir beim Phänomen der Massendynamik wären, der Gruppensuggestion. Denn wenn einer gen Himmel blickt und den Stern der Weisen erblickt, erblicken es die anderen womöglich auch. Ähnliches Wunder dürfte jenes von Fatima gewesen sein. In Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman Weißes Rauschen ist es eher die Faszination Adolf Hitler. Oder das Ende der Welt. Oder beides, denn so weit liegen der Mann aus Braunau und der Untergang der Zivilisation nicht auseinander. Über Adolf Hitler weiß Baumbachs feiste Filmfigur Jack Gladney (Adam Driver, weit, weit entfernt von Kylo Ren) so einiges, und auch über dessen Mechanismen, um die Massen unter seine Knute zu stellen. Er verbindet das Erscheinen des Diktators mit der Möglichkeit des Einzelnen, in der Masse die eigene Existenzkrise verschwinden zu sehen. In der Gemeinschaft gibt es keine Furcht mehr – entweder so. Oder andersrum.

Andersrum kommt es, als ein Öllaster mit einem Zug kollidiert, der chemische Substanzen führt. Alles explodiert, eine Giftwolke entsteht, und die zieht später übers Land. Solange keine extra Winde wehen, lässt sich der Schaden eingrenzen, doch dieses Ideal hält nicht lange vor. Bald herrscht Ratlosigkeit an allen Orten, sogar in den Medien gibt es unterschiedliche Anweisungen, was man nun, als Otto Normalverbraucher, zu tun hat, um heil aus der Sache herauszukommen.

Die To-Do-Liste kann man drehen und wenden, wie man will. In Don DeLillos verschwurbelter Odyssee nach Angstfreiheit kommt hier, aus der kleinen Existenz, keiner lebend raus. Das klingt jetzt etwas nach Jean Paul Sartre, dessen Existenzialismus eine ähnliche Richtung geht – oder so wie der Titel von Sugermans und Hopkins‘ Biografie über Jim Morrisson, der ja, wahrscheinlich ohne es je gewusst zu haben, zum Club 27 zählt. Im Grunde laufen all diese vielen Details und verqueren Geschehnisse auf einen Sollzustand hinaus: Das Ende des eigenen Ichs leichten Herzens hinnehmen zu können.

Auf diesem Weg aber gibt Weißes Rauschen dem Zuseher allzu viele Hausaufgaben. Vor allem sind es solche, die keiner versteht. Zumindest ich nicht. Deshalb mühe ich mich die erste Dreiviertel Stunde durch ein konfuses Alltagsportrait aus exaltiertem Hitler-Experten, tablettensüchtiger Ehefrau und einigen Patchwork-Kindern, von denen einer so allwissend zu sein scheint wie Sheldon Cooper. Worauf wollen Noah Baumbach und Don DeLillo eigentlich hinaus? Nach ungefähr 30 Minuten wäre auch die Möglichkeit gegeben, den Film einfach abzubrechen und sich Sinnvollerem zuzuwenden, denn zu viele leere Filmmeter scheinen abgespult, ohne ihren Zweck zu enthüllen. Anders als in The Meyerowitz Stories oder Marriage Story, die Baumbach selber verfasst hat und auch sein szenisches Gespür widerspiegeln, scheinen Buchadaptionen, vor allem diese hier, nicht die Stärke des Künstlers zu sein. Autorenfilmer ist nicht gleich literarischer Interpret, so viel scheint klar. Nach dieser halben Stunde aber konzentriert sich der Film auf das Katastrophenszenario, und wenn man da den Absprung verpasst hat, wird man auch bis zum Ende dranbleiben müssen. Dann geht es erst so richtig los, und obwohl Weißes Rauschen bereits 1985 geschrieben wurde, lassen sich vor allem in diesem filmischen Mittelteil so einige Seitenhiebe auf den medialen Umgang mit der Corona-Pandemie entdecken sowie auf das Erstarken einer Querdenker- und Besserwisser-Community. Dies geschieht leider nur am Rande, denn Baumbachs Verfilmung will dann doch wieder ganz etwas anderes, oder auf ganz anderem Wege sein diffuses Ziel erreichen, dass allerdings auch, um es als Hauptthema auszurufen, viel zu wenig fokussiert wird.

Weißes Rauschen ist ein verwirrendes Kunstwerk, liebäugelnd mit dem Farbspektrum der Achtziger und einer obsoleten Konsumgesellschaft, die ausgedient hat. Was das wieder mit dem Tod zu tun hat? Genaues lässt sich nicht herausfinden, und dennoch bleibt hier ein gewisses Staunen übrig, das daher rührt, nicht mehr vorhersagen zu können, was denn nun als nächstes geschieht. Ist das, was wir sehen, nun bedeutungsschwer oder so weit irreführend, dass hinter der Fassade einer kaspernden und wertelosen Gesellschaft nur diese Angst vor dem Tod steht, für die Lars Eidinger, der mittlerweile wie Landsmann Daniel Brühl vermehrt in internationalen Produktionen zu sehen ist, den richtigen Stoff hat.

Vielleicht – und das sogar ziemlich sicher – liest sich Weißes Rauschen besser als es sich ansehen lässt. Doch irgendwie hält dieser Reigen den Betrachter fest, als wäre man unfreiwilliger Teil einer Massenhysterie.

Weißes Rauschen

The Menu

DIE DREIZEHNTE FEE

8/10


themenu© 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MARK MYLOD

BUCH: SETH REISS, WILL TRACY

CAST: RALPH FIENNES, ANYA TAYLOR-JOY, NICHOLAS HOULT, HONG CHAU, JOHN LEGUIZAMO, JANET MCTEER, PAUL ADELSTEIN, AIMEE CARRERO, JUDITH LIGHT, REED BIRNEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


So oft sind Filme vorhersehbar geworden. Selten werden die Erwartungen des Publikums unterwandert, denn das wäre schließlich ein Risiko, welches Zuschauerzahlen kosten und das Box Office einbrechen lassen könnte, würde man routinierte Kinogänger vor den Kopf stoßen. Ein Versuch ist so etwas immer wert, doch bei großen Franchisen bekommen die Verantwortlichen kalte Füße – vor allem, wenn’s um Kino-Releases geht. Bei Independentfilmen ist das anders. Hier wagt man sich freudig aus Glatteis, auf die Gefahr hin, selbst zu straucheln, aber der Ritt über die Ebene war’s wert: The Menu ist so ein Film. Ein Schlittern übers Eis, und während man schlittert, weht der erfrischende Wind des Unerwartbaren ins Gesicht, denn man weiß nie, wann man stürzt oder ob man stürzt oder ob man es bis zur nächsten rutschfesten Gummimatte schafft. Dieser Freude am Probieren stellt sich Regisseur Mark Mylod mit reichlich Hunger für ein mehrgängiges kulinarisches Programm und auch jeder Menge Trinkgeld in der Tasche für die servierende Entourage, die in einem Nobelrestaurant auf einer abgelegenen Insel den Gästen nicht nur die Karte vorliest, sondern auch die Leviten.

Auf dieser Insel herrscht Küchenchef Julian Slowik über eine fanatisch aufkochende Gruppe auserlesener Köchinnen und Köche und kredenzt der gut betuchten Elite ausgefallene Kreationen der Gourmetkunst, verbunden mit theatralischen Elementen und Erzählungen aus den eigenen Biografien. Die Elite selbst ist wild zusammengewürfelt aus Bankern, Lokalkritikerinnen, Möchtegern-Gourmets, affektierten Filmstars oder einfach nur stinkreichen Bonzen, die gar nicht wissen, wofür sie hier ihr Geld ausgeben. Sie alle kommen eines Abends zusammen, und fast sieht es so aus, als eröffnete sich uns ein routinierter Whodunit im Stile eines Agatha Christie-Krimis. Doch wie schon eingangs erwähnt: Nichts ergibt sich so, wie es den Anschein hat. Dieses Spiel mit den Erwartungen torpediert auch die junge Margot (Anja Taylor-Joy), die eigentlich gar nicht hier sein dürfte, denn sie ist der Ersatz für die Begleitung von Nicholas Hoult, der versessen darauf ist, sein Wissen über Kochkunst unter Beweis zu stellen. Margot steht also nicht auf der Gästeliste, ganz so wie die dreizehnte Fee, die dem Gastgeber in die Suppe spuckt. Mit dieser unbekannten Variablen kommt auch der Küchenchef durcheinander, hat der doch den Abend und das mehrgängige Menü penibel geplant, bis auf den letzten Tropfen Emulsion auf dem Experimentierteller. Und was als schickes Erlebnisdinner beginnt, wird schon bald zu etwas ganz Anderem, Verstörendem, zu einem wüsten Happening, das vor nichts zurückschreckt. Außer vielleicht vor Anja Taylor-Joy, die, einmal mehr faszinierend, den ganzen Ist-Zustand hinterfragt.

Nichts wird so heiß gekocht, wie es serviert wird. Hier könnte man den Umkehrschluss ziehen: Nichts wird so heiß serviert, wie es gekocht wird. Denn Ralph Fiennes macht den Abend zur Sternstunde des Unvorhersehbaren, des Herumrätselns, wie es weitergehen könnte, des staunenden Zusehens, was nun als nächstes serviert werden könnte und ob sich die kuriose Wahl an Zutaten noch wilder zusammenmixen lässt. Was anfangs tatsächlich wie eine Satire auf die noblen Künste der Haute Cuisine verstanden werden will, könnte Minuten später ganz anderes Gedeck auf den Tisch drapieren: Vielleicht auch die gallige Kritik an der Heuchelei eines vorgeblich interessierten Establishments, das den Kern der Sache aber längst nicht mehr wertschätzen kann, genauso wenig wie jene, die das Establishment bedienen. Geben und Nehmen wird im selben Topf zu Tode gekocht. Zwischen denen, die eine oberflächliche Gesellschaft füttern, und denen, die den Fraß schlucken, weil sie meinen, die Dinge verstehen zu müssen, gibt es kaum mehr Differenz. Die Autoren Seth Reiss und Will Tracy kreieren einen Lokalbesuch, in welchem der Tischtuch-Trick auch nicht mehr funktioniert, da Tabula rasa gemacht werden muss: Mit der hohlen Existenz der Mächtigen und den verkauften Seelen derer, die diese Mächtigen erst zu dem gemacht haben, was sie sind. Meister und Diener wechseln am Drehtisch die Seiten, mal verleitet der Aberwitz skurriler Szenen zum Lachen, mal bleibt dieses einer Fischgräte gleich im Halse stecken. Mal wird man eingelullt vom jovialen Tonfall eines manisch guten Ralph Fiennes, mal schrickt man aus der Convenience-Blase, wenn dieser zum nächsten Gang klatscht. Zwischen Fiennes und Taylor Joy entspinnt sich ein Duell der erlesensten Sorte. Dieses Duell hält die ganzen 108 Minuten an, ohne durchzuhängen. Um dieses Duell herum bleibt die Spannung straff, und mit dieser Spannung schlägt das Duell als kurios-perfider Mix aus Thriller und Groteske, die längst schon unbequeme gesellschaftskritische Spitzen erreicht wie aus einem Film von Ruben Östlund, in konstanter Intensität in seinen Bann.

Mag sein, dass The Menu manchmal selbst nicht mehr ganz weiß, was es eigentlich ausdrücken will und wohin seine Kritik anbranden soll, doch der Film bleibt ein Faszinosum, mit Leichtigkeit und Spielfreude inszeniert und so unvorhersehbar gut wie ein Dinner in the Dark.

The Menu

Dual

GUTEN TAG, ICH WILL MEIN LEBEN ZURÜCK

7/10


dual© 2022 Courtesy of Sundance Institute


LAND / JAHR: USA/FINNLAND 2022

BUCH / REGIE: RILEY STEARNS

CAST: KAREN GILLAN, AARON PAUL, BEULAH KOALE, ANDREI ALÉN, MAIJA PAUNIO, KRISTOFER GUMMERUS U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Sich im Leben zu behaupten und nicht mehr davonlaufen: Wenn man nur wüsste, wie das geht. Wenn man nur all dem sozialen Murks auf erlernte Weise ausweichen könnte; wenn man Angreifern Paroli bäte oder einfach selbstbewusster wäre. Einen Weg in diese Richtung hat Autorenfilmer Riley Stearns bereits eingeschlagen. Und zwar jenen der Selbstverteidigung. Warum nicht einfach einen Kurs buchen, bei der Sportunion oder in der Volkshochschule, um Heldin oder Held des Alltags zu werden? Doch auch das kann in die Hose gehen. Stearns Groteske The Art of Self Defense ist schadenfrohes, schwarzes Satirekino – voll verpeilter Figuren, soziopathischer Tendenzen und dem ironischen Grinsen des praktisch veranlagten Stärkeren. Jesse Eisenberg gibt hier eine außerordentlich gute Performance ab, wenn nicht gar seine beste. Ein paar Jahre später ist nun Karen Gillan am Zug, bekannt als blauhäutige Halbschwester Gamoras aus dem MCU, aus Jumanji und natürlich aus dem unlängst in den Kinos für ordentlich Zunder verantwortlichen Gunpowder Milkshake. Gillan ist allerdings eine Schauspielerin, die es stoisch liebt. Oftmals wirkt sie arg ausdruckslos, fast schon mechanisch, jedenfalls in ihrer Mimik so sehr reduziert, dass man meinen könnte, einem Androiden dabei zuzusehen, wie er soziales Handling erlernt. Das war bei Gunpowder Milkshake, das war als Nebula so (wo es natürlich gepasst hat, da Gillan dort  einen Cyborg mimt). Jetzt verzieht sie in der Science-Fiction-Satire Dual ebenfalls kaum eine Miene. Und das gleich zweimal.

Denn wir schreiben eine Zukunft, die jener des präzisen und überraschend sehenswerten, aber überaus ernsten Dramas Schwanengesang ähnlich scheint. Ist ein Mensch dem Tode geweiht, hat er die Möglichkeit, den Verlustschmerz seiner liebsten Hinterbliebenen zu lindern, indem er einen Klon von sich anfertigen lässt, der im Vorfeld die Lebensagenda des sterbenden Menschen übernimmt. Eine schräge Idee, aber ganz eindeutig etwas, das impliziert, dass manche nicht nur an sich selbst denken. Sarah ist so jemand. Eine nicht näher definierte Krankheit wird sie dahinraffen, also erscheint Sarah 2 auf der Bildfläche. Das Schöne dabei: sowas lässt sich in Dual ambulant erledigen – nach einer Stunde nur ist der Stellvertreter fertig und bereit, die Eigenschaften des Originals zu erlernen. Dumm nur, dass die Monate vergehen und Sarah 1 plötzlich genesen ist, während Sarah 2 ihr schon längst Mann und Familie ausgespannt hat, weil das Duplikat einfach umgänglicher scheint. Sarah 1 will ihr Leben zurück, und dank der zukünftigen US-amerikanischen Gesetze ist die James Bond-Devise „Man lebt nur zweimal“ strafbar. Ein im TV übertragenes Duell auf Leben und Tod soll da Abhilfe schaffen.

Riley Stearns Filme sind lakonische Satiren, die eigentlich nicht den Anspruch erheben, eine in sich logische Realität abzubilden. Dual ist zum Beispiel die abstrahierte Umschreibung eines paradoxen Zustandes, der sich nicht um das Wie kümmert, sondern um das Was jetzt. Egal, wie absurd die Situation für Karen Gillan auch scheint – sie ist nun mal so. Und Gillan als Sarah holt sich als pragmatischer Buster Keaton die nötigen Skills, um sich aus dem Schlamassel zu ziehen. Dabei lehrt Breaking Bad-Star Aaron Paul nicht nur The Art of Self-Defense, sondern auch die des Angriffs. Und auch wenn Stearns gegen Ende das Genre eines subversiven Thrillers durchwinken lässt, nimmt Dual lediglich den Suppenwürfel einer Klon-Zukunft zur Hand, um in einem reduktiven Drama das vermeintlich bessere Leben, das man selbst nicht hat, als ebenso entbehrlich zu entlarven.

Dual

Men & Chicken

ICH WOLLT‘ ICH WÄR EIN HUHN

7/10


menchicken© 2015 DCM Film Distributions


LAND / JAHR: DÄNEMARK 2015

BUCH / REGIE: ANDERS THOMAS JENSEN

CAST: MAD MIKKELSEN, DAVID DENCIK, SØREN MALLING, NIKOLAJ LIE KAAS, NICOLAS BRO, OLE THESTRUP U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Der Däne Anders Thomas Jensen ist wohl der Mann, der uns Männer am besten versteht. Seine Filme sind die einzig wahren Männerfilme, und dabei ist es ein falscher Weg, anzunehmen, Männerfilme seien solche mit ordentlich Wumms und Jason Statham und die hübsche Dame am Ende, die dem Dreitagebart-Solokämpfer schmachtend um den Hals fällt. Nein, sowas sind keine Männerfilme. Da braucht es schon mehr Gefühl. Wie Anders Thomas Jensen es eben hat. Würden wir Männer all den Schnickschnack und die ganze Fassade endlich weglassen, würde zum Vorschein kommen, was sich in seinen Filmen stets beobachten lässt: Verschrobenene, komplexbeladenene Sonderlinge mit nerdigen Skills und wenig Chancen beim weiblichen Geschlecht. Erziehungsgestört, aber liebesbedürftig und nicht wissend wohin mit der Libido. Das sind Szenarien, die lassen sich mit nichts vergleichen. Adams Äpfel zum Beispiel: Männer im Miteinander. Was da für eine Eigendynamik entsteht, muss man entdecken. Zuletzt im Kino: Helden der Wahrscheinlichkeit. Auch hier maskuline Handschlagsqualitäten und XY-Freundschaften, die das Universum in seiner Logik ad absurdum führen. Mit Men & Chicken schießt Jensen in Sachen Groteske aber wirklich den flugunfähigen Vogel ab. Hier finden Brüder zueinander, denen man, würde man sie nicht näher kennen, tunlichst aus dem Weg gehen würde. Auf dem zweiten Blick aber ist die Freakshow eine sensible Angelegenheit, über die unangebracht wäre, sich lustig zu machen. Das geht vielleicht nur, weg man wegsieht. Was wiederum nicht gelingt, bei all den verqueren Ideen, die Anders Thomas Jensen hier Stück für Stück aneinanderreiht. Men & Chicken ist ein irres Panoptikum über Verwandtschaft, Gene und das Tier im Manne.

Es ist schon eigenartig, wie alles anfängt. Da sind die Brüder Gabriel und Elias (Mads Mikkelsen in seiner wirklich schrägsten Rolle – ein Beweis mehr, was der Mann alles spielen kann), die eines Tages vom Tod ihres Vaters erfahren, der wiederum eine Videobotschaft hinterlassen hat, die besagt, dass beide im Grunde adoptiert sind und ihr richtiger Vater auf der Insel Ork (!) lebt. Die beiden machen sich auf die Reise und stoßen dort auf eine Bruchbude von Herrenhaus, in dem drei weitere Brüder hausen, gemeinsam mit unzähligen Nutztieren aller Art, alle mit einer Hasenscharte, alle verwahrlost, verpeilt und unheilbar exzentrisch. Und auch so ziemlich pervers, gelinde gesagt. Der Vater selbst lässt sich nicht blicken, und so richtig willkommen sind Gabriel und Elias auch nicht. Die Hartnäckigkeit der beiden macht sich aber bezahlt, und nach und nach ändert sich so einiges im Leben außerhalb der Norm.

Über Geschmack lässt sich streiten. Über das Ziehen der Grenze vom guten zum schlechten ebenso. Anders Thomas Jensen weiß das, will aber mit seiner kuriosen Familiendramödie sicherlich nicht provozieren. Dieses Entrümpeln männlicher Stereotypien gelingt ihm ausgezeichnet, dieses Durcheinanderwirbeln seltsamer Weltbilder ebenso. Dabei beruht der schlechte Geschmack von Men & Chicken bis zum letzten Schimmelfleck an der Wand des vor Schmutz und gammeligen Zeugs vollgestopften Hauses auf keinerlei Zufall. Selten haben Verwahrlosung und Vergänglichkeit eine so opulente Bühne wie diese ergeben. Schäbigkeit hat Stil – gibt’s das? In diesem Film schon. Die Ideale des Schönen lassen sich dann doch noch in der Sanftheit brüderlichen Füreinanders entdecken, während der Rest dem Abnormen seinen Platz in der Gesellschaft gibt. Am Ende kippt der skurrile Reigen in monströse Phantastik und betritt eine Metaebene, die unter anderem bei David Cronenberg oder Guillermo del Toro zu finden gewesen wäre, hätte Thomas Anders Jensen nicht seine Brüderpartie ihre eigene Bestimmung finden lassen, jenseits aller Ordnung.

Men & Chicken

Nebenan

EGO-FALLE STAMMBEISL

7,5/10


nebenan© 2021 Warner Bros. Entertainment GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

REGIE: DANIEL BRÜHL

DREHBUCH: DANIEL KEHLMANN

CAST: DANIEL BRÜHL, PETER KURTH, RIKE ECKERMANN, AENNE SCHWARZ, GODE BENEDIX, MEX SCHLÜPFER, VICKY KRIEPS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Dem geschätzten Niki Lauda an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön: Durch Daniel Brühls Darstellung des österreichischen Kult-Rennfahrers in Ron Howards Rush ist dieser in den Olymp großer Eventfilme aufgestiegen, und zwar ins Marvel-Universum. Dabei ist Brühls Rolle in diesem dicht bevölkerten Kosmos an metaphysisch begabten Egozentrikern und Altruisten eine gar nicht mal so Unbedeutende: Baron Zemo, der Mann mit der violetten Cord-Maske und Schürer des Unbehagens auf Seiten Wakandas, hat dieser doch in The First Avenger: Civil War gleich Teile der Wiener UNO-City gesprengt. Unter den Opfern: T’Challas Altvorderer. In The Falcon and the Winter Soldier darf jener, der Lenin damals verabschiedet hat, auch nochmal – und diesmal wirklich mit Maske – Disney+ veredeln. Was für eine Karriere. Und Brühl geht souverän damit um. Keine Gossips, keine Allüren (wie es scheint) – einfach nur Professional Work auf allen Kirtagen.

An so einem Erfolgszenit bedarf es gerne mal eines Moments innerer Einkehr. Um mal nachzusehen, was für ein Mensch man dadurch eigentlich geworden ist. Brühl fällt dabei kein Zacken aus der Krone – er weiß, was er zu tun hat. Nämlich: sich selbst und das Umfeld an Leuten, mit und zwischen denen er arbeitet, mal auf Augenhöhe mit den Normalsterblichen von nebenan zu bringen. Brühls autobiographische Idee hatte dann einer wie Daniel Kehlmann umzusetzen, inszenieren kann Zemo dann wieder selbst. Ein Kammerspiel ist hierbei entstanden, oder besser gesagt: ein Kneipenspiel beim Bierwirt ums Eck. Eine Schrulle aus Eitelkeiten und obsessiven Observationen. Denn kaum ein Unbekannter, mit dem man als Filmstar ein Gespräch anfängt, ist, was er vorgibt zu sein. Aber – ist das umgekehrt nicht auch so?

Es muss also Filmstar Daniel (eigentlich als er selbst) ganz dringend und unbedingt nach London zu einem Casting für einen neuen Superheldenfilm. Vorher bleibt ihm noch Zeit, um bei einem Kaffee im Stammlokal nochmal den Text durchzugehen. Eine Seite Drehbuch, hinten und vorne keine Ahnung, worum es eigentlich geht, und die Anforderung, der Beste zu sein, scheint recht schwierig zu werden. Für Ablenkung sorgt ein Mann namens Bruno, der den jungen Künstler permanent anstarrt. Die beiden kommen bald in ein Gespräch – über Daniels Filme und wie unglaubhaft diese nicht sind. Bald gibt es Ego-Kränkungen und Beschwichtigungen, und bald gibt Bruno sich als Nachbar zu erkennen, der mehr über Daniel weiß, als diesem wohl lieb sein wird.

Daniel Brühls Regiedebüt ist eine kleine Entdeckung. Eine mitunter beklemmende, aber schwarzhumorige Besonderheit, die sich umgestülpten Motiven des Suspense-Kinos bedient. Kehlmann leiht dem zur Selbstironie und auch -kritik bestens aufgelegten Brühl und seinem Gegenüber Peter Kurth (Babylon Berlin) jede Menge scharfschneidiger Dialogzeilen, die sich bestens ergänzen und sich in einem geschmeidigen Gesprächsrhythmus verzahnen. Vor allem Kurth, der schon in Babylon Berlin oder In den Gängen beeindruckende Leistungen absolviert hat, darf auch hier so viel schmeichelhaft-höfliche Bedrohung ausstrahlen, dass man als Zuseher gerne versucht ist, diesen Brummbären zu unterschätzen, dabei aber Gefahr läuft, durch die Hintertür von ihm erledigt zu werden. Doppelbödige Wortduelle lassen die vom Bier- und Kaffeedunst patinierte Kiezkneipe am Prenzlauer Berg zu einer Arena der Befindlichkeiten mutieren, die dem jeweils anderen in seiner Ego-Verwirklichung im Wege stehen. Doch wer ist im Recht, und wer muss sein Dasein überdenken? Wir haben den Star, den alle lieben und der sich gnadenlos selbst überschätzt – und den Zaungast des Ruhms, der nichts davon hat, außer die unüberhörbaren Eitelkeiten der Elite. Da trifft Missgunst auf Arroganz, da denkt der Promi darüber nach, was das Wissen um seine Person wert ist. Und der Unbekannte, was dieses Wissen ihm wohl bringt.

Nebenan ist eine leidenschaftlich vorgetragene inszenatorische Fingerübung über das Bocken zweier Klassen und das Prosten mit Bier auf gleicher Höhe. Dazu noch die Sulz des Hauses, und der Tag kann bei weitem anders beginnen als geplant.

Nebenan

Don’t Look Up

DER BLICK AUF’S WESENTLICHE

6/10


dontlookup© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ADAM MCKAY

CAST: LEONARDO DICAPRIO, JENNIFER LAWRENCE, MERYL STREEP, CATE BLANCHETT, ROB MORGAN, JONAH HILL, MARK RYLANCE, TIMOTHÉE CHALAMET, RON PERLMAN, ARIANA GRANDE, HIMESH PATEL, MELANIE LYNSKEY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Heute, am letzten Tag des Jahres 2021, ist der Titel des auf Netflix veröffentlichten Star-Vehikels wohl der falsche Imperativ. Heute gilt wohl eher die Devise, rund um den Jahreswechsel gen Himmel zu blicken, um das eine oder andere illegal von der Leine gelassene Stadtfeuerwerk aus sicherem Abstand mitzuerleben. Dann, ja dann kann man gerne wieder die Häupter senken, zum Tagesgeschäft übergehen und sich mit Eitelkeiten aufhalten. Der Blick fürs Wesentliche läuft dann zumindest nicht Gefahr, überanstrengt zu werden.

In Don’t Look Up, Adam McKays neuem Film, wäre es allerdings an der Zeit, die eigene Existenz in gesundem Maße zu hinterfragen und herauszufinden, worauf es im Leben wirklich ankommt. Denn in einer alternativen Realität, in welcher ein weiblicher Donald Trump in den USA die Fäden zieht, scheint der Menschheit das zu widerfahren, was den Dinos vor 65 Millionen Jahren passiert ist: die Vernichtung durch einen Kometen. Der ist nach Schätzungen von Astronom Dr. Randall Mindy sogar noch größer als das Exemplar von Yukatan. Was jetzt gilt, ist schnelles Handeln. Das setzt wiederum voraus, diese wirklich schlechte Nachricht an die richtige Frau oder den richtigen Mann zu bringen, damit geschieht, was geschehen muss. Doch das ist gar nicht leicht. Die Menschheit ist mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mit Geld und Gier und sozialen Medien. Mit Ruhm und Trends und Gossips. 

So bequemt sich zumindest das amerikanische Volk (ein anderes bekommen wir nicht zu Gesicht) mit den Verführungen des Technologiezeitalters und der NLP-Message Control einer dekadenten Politik, während die Kacke am Dampfen ist und die Katastrophe alles, nur das nicht ist, was gerade in zu sein scheint. Für Mindy und seiner wissenschaftlichen Kollegin Kate Dibiasky ist das zum Haareraufen. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, hätte es da nicht diesen wirren Charaktermix aus Steve Jobs, Bill Gates und dem Computerguru aus Ready Player One gegeben, der weiß, dass, geht es der Wirtschaft gut, wohl allen gut gehen wird. Falsche Prämissen, die offene Türen einrennen.

Michael Bay hat damals, in der Actiongurke Armageddon, auf High-Tech und coole Sprüche gesetzt. So einer wie Bruce Willis fehlt in diesem galligen Szenario, dafür aber haben wir den Haudegen Ron Perlman, der gerne so sein will wie Chuck Norris, und den der Komet garantiert nicht lebend bekommen wird. Gabs bei McKays Politzynismus Vice – Der zweite Mann noch fein gesponnene realsatirische Spitzen, knotzt sich der Autorenfilmer lieber zu Greta Thunberg an die Hausmauer, um als Aktivist an vordester Front für mehr Selbstverantwortung angesichts unserer Planetenlage zu plädieren. Mit nichts anderem lässt sich das besser veranschaulichen als mit einem heranrasenden Trümmerstück aus der Oortschen Wolke. Der Klimawandel gibt zu wenig her, die kausalen Zusammenhänge mit Unwetter und menschengemachter Sauwirtschaft sind auch nicht eindeutig genug, um nicht auch hier Verschwörungstheoretiker auf den Plan zu rufen. Wäre Corona ein Komet, gäbe es diese aber immer noch. Und das so lange, bis der Mensch endlich sieht, was er glauben muss. Der Mensch, so Adam McKay, ist ein Wesen voller Widersprüche und Meister egozentrischen Handelns. In einem Film wie diesem wird klar, in welchem selbstgemachtem Korsett unser Verstand steckt. Mehr als notwendig, um unsere Art zu erhalten, können wir auch nicht tun. Zumindest noch nicht.

Dabei ereifern sich allerlei namhafte Star, von Leonardo DiCaprio über Jennifer Lawrence bis zu Timothée Chalamet (in einer entbehrlichen Rolle), um sich in das Gewissen der zusehenden Massen zu spielen. Mit einmal mehr, einmal weniger cholerischen Ausrastern. Dabei ist DiCaprio wieder ganz vorne mit dabei – sein Mut zum teigig-konservativen „Christian Drosten“ für die Apokalypse sei ihm hoch angerechnet, und auch Jennifer Lawrence erdet ihren Charakter mit dem Nonkonformismus einer Anti-Ikone. Dazwischen brilliert Cate Blanchett im Lifting-Look. Sie alle tragen ihr Scherflein dazu bei, im übertragenen Sinne die Weltlage zu erklären. Doch beileibe hat das nichts mit der ganzen Welt zu tun. Adam McKay tut so, als hätte sich die USA den Erdball vollständig unter den Nagel gerissen, und als wäre sein Land nun endlich die Supermacht Nummer eins, angesichts derer eine Institution wie die UNO zum beliebten Kartenspiel reduziert wird. Ist das Absicht, oder vergisst McKay auf den Rest der Welt, weil er der Leidenschaft für die ambivalente Politik der Vereinigten Staaten unterliegt? Das globale Problem ist ein Amerikanisches, was mitunter etwas arrogant erscheint. Auch pfeift sich die Geschichte rund nach der Hälfte selbst auf die Ersatzbank, und bis das bereits arg Vorhersehbare eintritt, geht dem Katastrophenfilm die Luft aus.  

Doch immerhin: Desastermovie geht auch anders, könnte anders gehen, aber kaum subtiler als es einer wie Roland Emmerich selbst zu Wege bringen kann.

Don’t Look Up

Silent Night

LETZTE WEIHNACHTEN

6/10


silentnight© 2021 capelight pictures


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: CAMILLE GRIFFIN

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, MATTHEW GOODE, ROMAN GRIFFIN DAVIS, ANNABELLE WALLIS, LILY-ROSE DEPP, SOPE DIRISU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


… oder eben Last Christmas. Wham! hat‘s ja schon immer gewusst. Irgendwann ist es das letzte Mal, und bevor die Welt oder vielmehr die Menschheit untergeht, ist eines der Dinge, die man vorher noch gemeinsam tun kann: Weihnachten feiern. Glücklicherweise ist die Apokalypse terminlich gesehen absolut verlässlich und gewährt zumindest in Großbritannien noch eine Gnadenfrist bis zum Christtag, damit nochmal gehörig aufgetischt und abgetanzt werden kann. Der guten Mutter Erde reicht es nämlich, und sie hat es satt, Homo sapiens länger erdulden zu müssen. Also schickt sie Giftstoffe quer über die Kontinente. Manche Stimmen meinen allerdings, es könnten auch die Russen sein. Wie auch immer. Um nicht ganz so leiden zu müssen, gibt’s die Pille davor…

Was für ein Weihnachtsfilm. Einer, bei dem sowas von überhaupt keine Stimmung aufkommen will. Da nützt selbst Jose Feliciano nichts mehr, und auch nicht ein begnadet dahingesungenes Stille Nacht. Wer da noch in Feierlaune ist, scheint ein Meister der Verdrängung zu sein. Sobald klar wird, zu welchem Anlass all die Freunde unterm Mistelzweig zusammenkommen, ist das Zuschnüren der Kehle nur noch eine Frage der Zeit. Manche haben Angst, manche resignieren. Manch ein Nichtmalnoch-Teenager will die Fakten erst gar nicht für bare Münze nehmen. Als Zuseher ordnet man sich gerne der Gesinnung Letztgenannter unter: dass es wirklich so weit kommen kann, lässt sich kaum erfassen. Regisseurin Camille Griffin, die, inspiriert von Wham! und Weltlage, auch das Script schrieb, kann auch nicht recht deuten, was sie hier entworfen hat. Als bittere Komödie gibt sich der Endzeitfilm zumindest szenenweise zu erkennen – meist jedoch lässt sich der schwarzgemalte Lichterglanz, dem jeder verheißungsvolle Zauber fehlt, einfach nicht schönreden. Griffin sucht den verzweifelten Lacher eines ironischen Schicksals, und findet zumeist jedoch das dunkle, beklemmende Drama im Zwielicht der beginnenden Heiligen Nacht. Die Tristesse zum Weihnachtsfest ist in trockenen Tüchern – zum Ausweinen vor dem Ende braucht es neue.

In Anbetracht dessen aber, dass das Fest der Liebe tatsächlich vor der Tür steht und das Damoklesschwert der Omikron-Variante über uns allen hängt, mutet Silent Night enorm zynisch an. Klar, die globale Vernichtung darin zu sehen wäre nun wirklich etwas schwarzgemalt, aber ein unangenehmes Gefühl breitet sich dennoch aus, und wer die Vorgänge rund um Keira Knightley und Matthew Goode mitverfolgt, kann das Wasser auf die Mühlen so mancher Impfverweigerer klar und deutlich plätschern hören.

Silent Night