Die Nacht der lebenden Toten (1968)

METAPHER DER ENTMENSCHLICHUNG

7/10


© 1968 George A. Romero


ORIGINALTITEL: NIGHT OF THE LIVING DEAD

LAND / JAHR: USA 1968

REGIE: GEORGE A. ROMERO

DREHBUCH: GEORGE A. ROMERO, JOHN A. RUSSO

CAST: DUANE JONES, JUDITH O’DEA, KARL HARDMAN, MARILYN EASTMAN, KEITH WAYNE, JUDITH RIDLEY, KYRA SCHON, RUSSEL STREINER U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Die lebenden Toten sind längst nicht nur mehr das: Sobald der Mensch aufgrund von Viren, Sporen, Strahlen oder sonstigen höheren unnatürlichen wie natürlichen Mächten seine Vernunft verliert und nur noch, von Instinkten getrieben, außer Rand und Band gerät, ist die dominierende Spezies des Planeten ihrem Untergang geweiht. Die Endzeit bricht herein, und die Szenarien, die darauf folgen, sind allesamt ähnlich. Eine Gruppe noch nicht Infizierter rottet sich zusammen, um die Essenz des Menschseins oder das, was das Menschsein eben ausmacht, um alles in der Welt zu schützen. Meist suchen sie gemeinsam einen Zufluchtsort, der in den noch verbliebenen Nachrichtenquellen durchgegeben wird. 28 Days Later, Dawn of the Dead, The Last of Us – Filme und Serien beschreiben Irrfahrten durch ein verwüstetes Land, bevölkert von tumben Kreaturen, die noch vage an unsere Vergangenheit erinnern: Zombies. Dass sie aus den Gräbern kommen, war vielleicht im Musikvideo Thriller so. In Die Nacht der lebenden Toten, dem ersten neuen Zombiefilm des New Hollywood, muss der Mensch immerhin erst sterben, um von einer Rage und einem Appetit ergriffen zu werden, der ihn letztendlich sowieso in den Untergang führen wird. Schon mal zu Ende gedacht? Gibt’s nur noch Zombies auf dieser Welt, werden ohne Frischfleisch folglich alle verhungern.

Dieser Film hier aus dem Jahre 1968 ist bekannt dafür, jene Sonderstellung zu genießen, die beinhaltet, in die Filmsammlung des Museum of Modern Art aufgenommen worden zu sein und als Beitrag zur National Film Registry als erhaltenswertes Kulturgut verstanden zu werden. Schön und gut, diese Ehre teilt Romeros Film auch mit Alien oder 2001: Odyssee im Weltraum. Das muss man nicht extra erwähnen. Oder doch? Zumindest ist George A. Romero mit seinem Film eine Pionierarbeit gelungen, die damals wohl das eine oder andere Tabu hat brechen wollen. Wie zum Beispiel jenes des Kannibalismus. In einer expliziten Szene wird deutlich, wie eine Handvoll Zombies an Knochen nagen, die womöglich menschlicher Natur sind. Ein Schock für damalige Verhältnisse. Heutzutage kostet es dem Walking Dead-geeichten Publikum nicht mal das Zucken mit der Wimper. Der Skandal mag überholt sein – die künstlerische Ausarbeitung ist es vielleicht nicht. Denn Zombie-Filme in Schwarzweiß, die bereits jene Versatzstücke zeigen, die bis heute verwendet werden, sind mir sonst keine bekannt.

Auch der Plot des Films ist bereits zigmal imitiert, neuinterpretiert und verarbeitet worden: Zu Beginn des Films begibt sich ein Geschwisterpaar auf einen Friedhof, um das Grab des Vaters zu besuchen. Und schon passiert es: Beide werden von einem wild gewordenen Mann attackiert, scheinbar geistesgestört, in Wahrheit aber ein Untoter. Davon wissen die beiden aber noch nichts (da sie womöglich noch keinen Zombiefilm gesehen haben). Sie finden Unterschlupf in einem verlassenen Farmhaus, wo sie noch auf andere Überlebende treffen, die sich den Bissen der Marodeure erwehren konnten. Die klaustrophobische, beklemmende Stimmung des Films nimmt zu, als alle hier Anwesenden, längst mit dem Rücken zur Wand stehend, das Haus verbarrikadieren, um auszuharren, bis militärische Hilfe kommt und sie alle evakuiert.

Man kann sich denken, was passiert. Man hat das auch schon oft gesehen. Zum ersten Mal aber bei Die Nacht der lebenden Toten. Mir gefällt die klassische Darstellung des trägen humanoiden Gemüses, das im Gegensatz zum späteren Dawn of the Dead (kongenial neuverfilmt von Zack Snyder) oder Danny Boyles 28 Days Later, nur langsam vor sich hin torkelt und leicht zu bewältigen wäre. Das fördert eine Diskrepanz in so mancher brenzligen Szene, doch George A. Romero kommt der für einen Spannungsfilm wenig förderlichen Verhaltensweise mit der schieren Masse entgegen. Ein nicht enden wollender Strom Untoter belagert die letzte Zuflucht, die Ausnahmesituation schafft auch innere Spannungen in der Gruppe, da jeder eine eigene Vorstellung davon hat, mit der Notlage klarzukommen.

Filmgeschichtlich betrachtet ist Die Nacht der lebenden Toten auf jeden Fall ein Must-See, um zu erfahren, womit alles angefangen hat. Was noch hinzukommt, ist Romeros Tendenz zum Nihilismus. Völlig frei im Gestalten seiner katastrophalen Endzeit, verortet das Werk seine Kernqualität in einem misanthropen Zynismus, der sozialpolitische Verhaltensabnormen als zermürbende Allegorie darstellt. So gesehen sind Genozide wie der Holocaust oder das spätere Schlachten in Ruanda Mitte der Neunziger der reale Ursprung für Apokalypsen wie diese, welche die Entmenschlichung widerspiegeln. Der Zombiefilm als politische Warnung, auch wenn die Ursache für den todbringenden Anarchismus in Romeros Film einer Strahlung zugrundeliegt – die wiederum mit medialer Gehirnwäsche gleichzusetzen wäre.

Die Nacht der lebenden Toten (1968)

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

DIE STIMME ERHEBEN

8/10


morgenistauchnocheintag© 2023 Tobis


LAND / JAHR: ITALIEN 2023

REGIE: PAOLA CORTELLESI

DREHBUCH: FURIO ANDREOTTI, GIULIA CALENDA, PAOLA CORTELLESI

CAST: PAOLA CORTELLESI, VALERIO MASTANDREA, ROMANA MAGGIORA, EMANUELA FANELLI, GIORGIO COLANGELI, VINICIO MARCHIONI, GABRIELE PAOLOCÀ U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Im Jahr des Herrn 2023 war der Sommer geprägt von einem Phänomen im Kino, wie es das kein zweites Mal geben wird: Barbenheimer. Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schrieben Geschichte – der eine, Nolans Oscar-Sieger, begab sich auf biografische Spurensuche und ließ den Vater der Atombombe, nämlich Oppenheimer, dank Cillian Murphys eindringlichem Spiel zu Wort kommen. Auf der anderen Seite verbog eine pinke Puppe namens Barbie sämtliche Stereotypen bei Männern und bei Frauen zu einer knallbunten, aber subversiv charmanten Musical-Satire. Dem Stiefel Europas war das aber herzlich egal. Dort übertrumpfte ein anderer Film das Box-Office-Verhalten Hollywoods in Übersee: Ein Melodrama namens Morgen ist auch noch ein Tag von Paola Cortellesi, die sich in diesem Meisterwerk gleich selbst besetzt hat – als vom Manne unterjochte, kleingehaltene und physisch wie psychisch gequälte Hausfrau im Nachkriegsitalien.

Wir schreiben das Jahr 1946, und Italien steht politisch wie gesellschaftlich vor einem Umbruch. Kann es sich in eine neue Ära retten oder bleibt es in einer Regression gefangen? Wie geht es den Frauen, die bis dato nicht das Recht hatten, ihre Stimme abzugeben? Die bis dato dem Ehemann gehorsam sein mussten, da sie doch nur tun durften, was vom Hausherrn erlaubt war? Eine Zeit war das, feministisch betrachtet das tiefste Mittelalter, die reinste Anarchie, lediglich die Kraft des Stärkeren dirigierte den Alltag. Drei Kinder muss Delia durchfüttern, während der Kriegsheimkehrer seine Angetraute gleich zu Beginn des Filmes präventiv für den Rest des Tages ohrfeigt. Diese Gewalt zum Einstand einer Emanzipationsgeschichte voller Charme, Trotz und Mut läutet die Wiederkehr eines Neorealismus ein, den der junge Federico Fellini oder Vittorio de Sica (u. a. Gestern, heute und morgen) in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Genre des Kinos so maßgeblich etabliert hatten. Statt Paola Cortellesi wäre es damals wohl Sophia Loren gewesen, die sich als Hausfrau der Unterschicht zu behaupten versucht. Der Mechaniker, dem sie schöne Augen macht, wäre wohl Marcello Mastroianni gewesen. Die Zeiten haben sich geändert, nicht aber die Lust daran, dem blanken und unschönen Realismus einer sozial benachteiligten Familie, die im Keller eines Hauses in Rom ein Leben wie das des gut betuchten Schwiegersohns in spe anstrebt, melodiöse Verfremdungen und anachronistische Stilmittel entgegenzusetzen.

Cortellesi stellt die patriarchale Gewalt als abstrahierte Tanzeinlage dar, die einer klischeehaften Nachkriegsromantik eins auswischt. Wenn Delia resoluten Schrittes auf den Straßen Roms unterwegs ist, um ihre Stimme zu erheben, ertönen die Rhythmen zeitgenössischen Hiphops der Gegenwart. Mit diesen feinen Methoden bettet der Film das sozialkritische Betroffenheitskino in das zeitgemäße Gewand einer temperamentvollen Retro-Interpretation, ohne vorgestrig oder angestaubt zu wirken. Die Leidenschaft für den Feminismus, die Wut auf den Chauvinismus, all diese Emotionen triefen dem Film aus jeder Pore. Dabei fesselt Cortellesis Spiel genauso wie die Dynamik zwischen den einzelnen Darstellern eines spielfreudigen Ensembles, das sich selbst kritisch betrachtet und so manche Figur manchmal der Parodie aussetzt, obwohl es gar nichts zu lachen gibt. Diese Grenzen lotet Morgen ist auch noch ein Tag mit Scharfsinn und Verve, mit Vergnügen und Kampfgeist in eine Richtung aus, die keinesfalls nur Ambitionen gutheißt, sondern auch die Umsetzung engagierter Ideen.

Schwer auszuhalten, wie Delia sich drangsalieren und erniedrigen lässt. Jede Sekunde ist es das Warten und Bangen aber wert. Am Ende triumphiert so vieles auf so vielen Ebenen, es bleibt einem nur, hin und weg zu sein.

Morgen ist auch noch ein Tag (2023)

Fremont (2023)

DAS GLÜCK STECKT IM ANDEREN KEKS

7,5/10


fremont© 2023 Polyfilm


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: BABAK JALALI

DREHBUCH: BABAK JALALI, CAROLINA CAVALLI

CAST: ANAITA WALI ZADA, GREGG TURKINGTON, JEREMY ALLEN WHITE, HILDA SCHMELLING, SIDDIQUE AHMED, TABAN IBRAZ, TIMUR NUSRATTY, EDDIE TANG, JENNIFER MCKAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Dieses Amerika, das wir hier sehen, ist ein Land aus einsamen Seelen. Es sind dies geschäftstüchtige Migranten, Flüchtlinge, die sich schuldig fühlen, ihren Wurzeln den Rücken gekehrt zu haben. Es sind dies glückssuchende Singles aus der Arbeiterklasse, melancholische Mechaniker und weinerliche Therapeuten, die sich selbst therapieren. In Fremont und darüber hinaus treffen diese Leute aufeinander, interagieren, sozialisieren, und sind dennoch allein auf weiter Flur. So zurückgezogen, so isoliert, so alleingelassen haben sich die Vereinigten Staaten schon lange nicht mehr angefühlt. Zuletzt vielleicht in Chloé Zaos Nomadland, dann aber nie wieder. Das Amerika, so wie wir es kennen, ist zwar längst nicht mehr der Ort, wo Träume wahr werden und Möglichkeiten unbegrenzt sind, aber immerhin noch einer, an dem Menschen, ihrem alten Leben entkommen, versuchen können, neu anfangen.

Blickt man nach Fremont, könnte man meinen, in einer Kleinstadt irgendwo in Finnland gestrandet zu sein. Wie ausgestorben scheint es hier, mit Menschen in ihren vier Wänden und auf du und du mit ihrem Schicksal. Jede und jeder geht der Arbeit nach, und meist ist diese recht monoton. Eine dieser Glückssuchenden – denn das tun schließlich alle – ist Donya (ausdrucksstark in ihrer Ausdruckslosigkeit: Anaita Wali Zada), eine junge Afghanin, die dank ihres Engagements bei der US Army als Dolmetscherin die Chance ergreifen konnte, in die USA auszuwandern. Da ist sie nun, ohne Familie und mit dem Hass der Taliban im Rücken. Dass sie schlecht schläft, schiebt sie natürlich nicht auf ebendiese Umstände, es ist ein Symptom ohne Grund, und daher sitzt sie Stunden beim Psychiater, der ihr aus Wolfsblut vorliest und Glückskeks-Texte schreibt. Das ist das, was Donya auch macht – sie arbeitet in einer Glückskeksfabrik, wo alles noch per Hand geschieht. Das Glück wird zwar jeden Tag neu verpackt – für Donya selbst bleibt da aber nichts übrig. Und so sucht sie, und nicht nur sie, nach Zweisamkeit, nach einem Menschen an ihrer Seite. Nach Vergebung und Erkenntnis, inmitten einer stillen, introvertierten, ein bisschen traurigen Welt, die ihren Humor aber noch nicht ganz verloren hat.

Aki Kaurismäki hätte Fremont kaum anders inszeniert. Ähnliches lässt sich mit Fallende Blätter in seinem Oeuvre auch verorten, allerdings mit viel mehr Alkohol im Spiel und einer gewissen Autoaggressivität, die Fremont fast zur Gänze fehlt. Bis ins Mark lakonisch sind beide Filme, sympathisierend mit ihren Figuren, deren Schicksal jedem egal ist, nur nicht dem Filmemacher. Die mit Enttäuschung über sich selbst und andere umgehen können, die sich, trotzdem es so scheint, im Trotz wiederfinden und einfach nicht unterkriegen lassen, weil die Suche nach dem richtigen Glückskeks meinetwegen ein ganzes Leben andauern kann. Solche zähen Charaktere, die jedoch immens fragil sind, haben sowohl Kaurismäki als auch Babak Jalali in ihre urbanen Mikrokosmen aufgenommen, in ihre verschrobenen, skurrilen Tagestraumwelten mit Geschmack und Understatement.

Jalali hat von Vorbildern viel gelernt, er hat deren Stil variiert und neu, geradezu amerikanisch uminterpretiert, wie Jim Jarmusch es in seinen frühen Filmen getan hat und mit Fremont ein tragikomisches Kleinod geschaffen, in dem feine Situationskomik mit den Ausdrucksformen der Nouvelle Vague korreliert. In dem die Bilder, in kunstvollem Schwarzweiß, aber ohne Künstlichkeit, sich selbst genügen, innehalten, wo andre Filme längst weiter sind; beobachten und Gedanken nachhängen, die wir nicht wissen müssen, aber erahnen können. Es ist ein subtiles Spiel mit Erwartungen und sozialem Skeptizismus, eine vorsichtige Annäherung ans Lebensglück, wofür all die Kekse die gefälligsten Metaphern sind. Am Ende hat Fremont sogar eines der schönsten Schlussbilder parat, die man in letzter Zeit gesehen hat. Spätestens in dieser einen, kurzen Szene lässt sich erkennen, dass Babak Jalali als Könner seines Fachs Nuancen spürt und mit indirekten Andeutungen viel mehr sagt als mit den üblichen tausend Worten, die man sonst so hört.

Fremont (2023)

White Zombie (1932)

ZOMBIEMÜHLEN MAHLEN LANGSAM

5,5/10


white-zombie© 1932 Edward Halperin Productions


LAND / JAHR: USA 1932

REGIE: VICTOR HALPERIN

DREHBUCH: GARNETT WESTON

CAST: BELA LUGOSI, MADGE BELLAMY, ROBERT FRAZER, JOSEPH CAWTHORN, BRANDON HURST, CLARENCE MUSE U. A.

LÄNGE: 1 STD 9 MIN


Zombies gibt es wirklich. Ein wissenschaftlich genauer untersuchter Fall aus Haiti soll ausreichend belegen, dass Clairvius Narcisse Anfang der Sechzigerjahre von den Toten wiederauferstand, um als willenloser Sklave über Jahre hinweg Zuckerrohr zu schneiden. Die Möglichkeit, dass hier das Gift des Kugelfisches in entsprechenden Dosen wohl verantwortlich dafür war, dass Narcisse der Tod attestiert wurde, obwohl dieser nur paralysiert war, hat dem Mythos bis heute keinen Abbruch getan. Ganz im Gegenteil: The Walking Dead ist aus der Popkultur nicht mehr wegzudenken, George A. Romeros Schwarzweiß-Klassiker Night of the Living Dead zählt seit 1999 zum erhaltenswerten Kulturgut. Dabei hat White Zombie von Victor Halperin den obskuren karibischen Falls vom auferstandenen Toten bereits in den Dreißigern vorweggenommen. Anscheinend sind der regionalen Legende nach Umtriebe wie diese immer schon gang und gäbe gewesen. Wer also Zombies liebt, sollte dorthin reisen, vielleicht trifft man den einen oder die andere, die schleppenden Schrittes und kaum ansprechbar ihrer Wege ziehen. Doch die klassischen Parameter von den aus den Gräbern kriechenden Toten zur Geisterstunde hat sich längst verwässert. Oft ist es mittlerweile ein Virus, sind es Pilzsporen oder eben reine Chemie, die in diesem nicht unbedingt gut gealterten Klassiker, nach welchem gar eine Hardrock-Band benannt wurde, zum Einsatz kommt. Liest man in der Besetzungsliste Bela Lugosi, lässt sich bereits denken, wer hier Sinistres im Schilde führt. Lugosi hatte schließlich ein Jahr zuvor das Privileg, die Gestalt des perfiden transsilvanischen Blutfürsten Dracula für einige Jahrzehnte zu prägen – bis Christopher Lee kam.

Es ist nicht so, als würden einem die Augen des Schauspielers noch bis nach Ende des Films verfolgen – obwohl sie das eine oder andere Mal formatfüllend ins Bild gerückt werden, nämlich so, als wollten diese ihr Publikum bannen. Das mag zur damaligen Zeit im dunklen Lichtspielhaus vermutlich recht beklemmend gewesen sein, mittlerweile hat der Zahn der Zeit am Furchtfaktor genagt. Unbequem bleibt dieser suggestive Blick, als Überblendung der eigentlichen Szene, aber dennoch. Vielleicht liegt das auch an den unheimlichen, knarzenden, jammernden und klickenden Klängen, die für Unwohlsein sorgen. Mit diesem Score macht White Zombie akustisch gesehen alles richtig. Diese Klangkulisse hat bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Wenn dann noch im Restlicht des endenden Tages torkelnde Silhouetten den Studiohügel erklimmen, füttert White Zombie das unbestimmte Gefühl eines nahenden Unheils, dessen letztendliches Wirken unberechenbar bleibt.

Haiti ist auch hier Schauplatz, und Lugosi ein mit sämtlichen Talenten ausgestatteter Landwirt, der mit Zuckerrohr sein Geld macht. Warum er bare aussteigt, liegt vermutlich an all seinen willenlosen Sklaven, die unter Einwirkung eines Gifts zur posthumen Arbeit gerufen werden. Selbst die Protagonistin des Films, Madge Bellamy als Madeleine Short, die auf dem karibischen Anwesen eines Bekannten ihre Hochzeit feiern möchte, wird Opfer dieser Schandtaten, die der Nebenbuhler ihres Zukünftigen in Auftrag gibt. Der Verlobte versucht nun, im Laufe von knappen 70 Minuten, mithilfe eines alternden Professors dem Treiben Lugosis ein Ende zu bereiten und seine Geliebte wieder zurückzugewinnen (was bei herkömmlichen Wiedergängern eigentlich nicht möglich wäre). Vorbei müssen sie an schlecht geschminkten Zombies, die allesamt keine innere Kraft mehr haben, um wirklich in die Offensive, geschweige denn in die Defensive zu gehen. Dass das ganze Brimborium ernstzunehmen wäre, kann ich nicht wirklich behaupten. White Zombie mag zwar kulturgeschichtlich seinen Platz gefunden haben – handwerklich perfekt ist das Werk mitnichten. Dabei sind weniger die technischen Komponenten als vielmehr das enorm zurechtgestutzte Skript und das überzogene Schauspiel eigentlich aller Beteiligten ausschlaggebend. Gut, Bela Lugosi kann man aus seinem heillos überzeichneten, diabolischen Finsterblick keinen Strick drehen – der war schließlich sein Markenzeichen.

White Zombie (1932)

El Conde (2023)

DIKTATOR DER HERZEN

3,5/10


elconde© 2023 Netflix Inc. 


LAND / JAHR: CHILE 2023

REGIE: PABLO LARRAÍN

DREHBUCH: GUILLERMO CALDERÓN, PABLO LARRAÍN

CAST: JAIME VADELL, GLORIA MÜNCHMEYER, ALFREDO CASTRO, PAULA LUCHSINGER, STELLA GONET, CATALINA GUERRA, AMPARO NOGUERA, DIEGO MUÑOZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Was habe ich Pablo Larraín nicht dafür verehrt – und tue es immer noch – dafür, dass er mir und allen anderen einen Film wie Spencer vor die Füße gelegt hat. Rückblickend der für mich beste Film des Jahres 2022, der biographische Notizen mit einem frei interpretierten Psychogramm über das Leben und Leiden der allseits geliebten Lady Diana so anspruchsvoll miteinander verwoben hat, dass es einem den Atem raubt. Mir zumindest. Das bewusst wenig akkurate, Fakten weitgehend ignorierende Portrait bietet natürlich genug weite Fläche für Anti- und Sympathie. Für Wohlwollen oder Ablehnung. So zu polarisieren liegt Larraín im Blut. Ganz besonders gelingt ihm das bei seinen Portraits, allerdings auch bei schwer definierbaren, erotisch aufgeladenen, wüsten Liebesgeschichten, wie er sie mit Ema geschaffen hat. Erst kürzlich lief sein neuestes Werk bei den Filmfestspielen von Venedig – kaum ein, zwei Wochen später landet seine wiederum komplett anders geartete Satire auf Netflix.

Diesmal dreht sich sein Film um die ewig währende Diabolik eines berühmten Chilenen, der sein ganzes Land und insbesondere sein Volk ins Verderben gestürzt hat: Augusto Pinochet. Und nein, es ist keine Biografie. Auch keine Geschichtsstunde, kein Psychogramm (nicht wirklich), im Grunde eigentlich nur die sarkastische Verzerrung eines Diktators außer Dienst, der das Schwarzbuch der Menschheit um mehrere Kapiteln dicker gemacht hat. Larraín verformt diesen Diktator nicht etwa zur clownesken Witzfigur wie Charlie Chaplin oder Literat Timur Vermes (Er ist wieder da) es mit Adolf Hitler getan haben, wo einem dennoch das Lachen im Halse stecken bleibt bei so viel Wahrheit über das kollektive Menschsein, dass uns da entgegengeschleudert wird wie ein nasser Lappen. Larraín verformt ihn zu einer Art Christopher Lee; zu einem Vampir, der schon 250 Jahre auf dem Buckel hat und bereits Marie Antoinette im Frankreich der Revolution dabei zugesehen hat, wie sie den Kopf verliert. Diesen klemmt sich der damals noch auf den Rufnamen Claude Pinoche hörende Untote unter den Arm, um fast eineinhalb Jahrhunderte später in Chile beim Militär einzurücken – und vom stinknormalen Gefreiten zum supermächtigen General aufzusteigen, der Präsident Allende später stürzen wird. Dabei ist das Blut durch alle Schichten der Bevölkerung essenziell. Am besten aber sind immer noch die Herzen, die er den Opfern aus der Brust reißt, sie mixt und den Muskelshake dann hinunterkippt.

Dieser nun als Augusto Pinochet bereits offiziell verstorbene Tyrann lebt im Geheimen irgendwo am Arsch von Chile sein nun nicht mehr ganz so prunkvolles Leben weiter – an seiner Seite ein russischer Diener, den man durchaus mit Renfield vergleichen kann, und Gattin Lucia. Irgendwann hat auch ein Vampir genug von dem ganzen Morden, und so versucht er, das Zeitliche zu segnen – gegen den Willen seiner fünf nichtsnutzigen Kinder, die eines Tages antanzen und vor Papa darauf bestehen, doch seine geheimen Ersparnisse offenzulegen. Um diesem Chaos an Unterlagen Herr zu werden, die aus dem Keller befördert werden, betritt die reizende Carmencita die Szene – für alle anderen Buchhalterin, im Geheimen aber Exorzisten-Nonne, die dem Vampir den Garaus machen will.

Trotzdem El Conde (zu Deutsch: Der Graf) mit einer ausgesuchten Kameraführung und bestechenden Schwarzweißbildern punktet, die jeweils als Standbild der Kunstfotografie zuzuordnen wären, gelingt es Larraín weder, die Abrechnung mit dem Polittrauma pointiert in Worte und Bilder zu fassen, noch, sich in seiner Art des Erzählens verständlich zu artikulieren. Am deutlichsten erkennbar ist diese Konfusion genau dort, wenn das gesprochene Wort nicht zur folgenden Handlung passt. Die Figuren verkommen zu stereotypen Annahmen politisch-historischer Gestalten fern ihres Kontextes, der Mythos des Vampirs reduziert sich auf einen Flattermann in Uniform, der sonst keinen vampirischen Eigenschaften mehr unterliegt, außer dass das Kennzeichen als Blutsauger eine kaum originelle Metapher für den Raubbau am Volk darstellt. Nichts in El Conde folgt strikt einem geplanten Vorgehen, die Figuren machen, was sie wollen, insbesondere Paula Luchsinger als „Warrior Nun“ entzieht sich in ihrem Handeln jeglicher Nachvollziehbarkeit und tribt die Handlung wider Erwarten kein bisschen voran.

Die paar brutalen Spitzen, in denen nicht mal das Blutrot zur Geltung kommt, lassen die satirische Abrechnung mit dem Bösen auch nicht wirkungsvoller erscheinen. Genau dieser Umstand des allzu gewollt polemischen Auftretens aller, in dem kaum irgendwelche klugen Erkenntnisse stecken, macht El Conde zu einem der langweiligsten Filme des Jahres; zu einer schwer durchzubringenden Trübsal, für deren Twists ich womöglich nicht intellektuell genug bin, um sie zu verstehen.

El Conde (2023)

Werewolf By Night

ZU VIELE JÄGER SIND DES MONSTERS TOD

4,5/10


WEREWOLF BY NIGHT© 2022 Marvel Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MICHAEL GIACCHINO

CAST: GAEL GARCÍA BERNAL, LAURA DONNELLY, HARRIET SANSOM HARRIS, KIRK R. THATCHER, EUGENIE BONDURANT, LEONARDO NAM, AL HAMACHER U. A.

LÄNGE: 55 MIN


Hier steht er nun, Mastermind Kevin Feige, auf einer Landstraße im Nirgendwo, so wie seinerzeit Tom Hanks in Castaway, der nach sieben Jahren Absenz wieder versucht, an ein normales Leben anzuknüpfen. Das Inselleben Kevin Feiges endete 2019 nach dem wuchtigen Finale Endgame, dem durchwachsenen zweiten Teil einer prinzipiell genialen Götterdämmerung. Nach dieser Phase folgte der freie Fall: Feige muss nach vor, nicht zurück. Ideen gibt es viele in seinem Kopf und in den Köpfen der Kreativabteilung, wenn die Beantwortung der Frage im Raum steht, wie es nun mit dem Franchise weitergehen soll. Drei Jahre später weiß das in den Marvel Studios immer noch niemand. Was nach Endgame alles an Serien und Filmen über die Fangemeinde hereinbrach, lässt sich schwer an einen roten Faden knüpfen, der so bezeichnend war für die letzte Phase des MCU. Zu sehen gab’s durchaus gelungene Standalones und Origin-Stories. Beeindruckende Gedankenspiele, erwachsenere Konzepte oder Möchtegern-Zaubertüten, die vom eigentlichen Ideenmangel ablenken sollten. Alles natürlich durchsetzt von gesellschaftspolitischen Agenden. Angeteasert wurden etliche Storylines, um die sich aber bis zum heutigen Tag niemand gekümmert hat. Somit ist offensichtlich: Keiner weiß, wohin.

Und dann das: Werewolf by Night. Als hätten wir nicht schon genug Figuren auf dem Spielfeld, die in ihrer Exaltiertheit eine ganze MCU-Phase tragen könnten. Natürlich erblickt passend zum Halloween-Monat des Horroktober eine Marvel-Figur das Licht der Bildschirme, die sich eigentlich Universal Pictures hätte krallen müssen, die aber den Geist der alten Horrorfilme rund um Tod Browning, James Whale, Bela Lugosi oder Boris Karloff wiederbeleben sollte. Das MCU bringt das kein Stück weiter. Es ist ein neues Experiment, das wie in einem Labor wieder mal Puff macht. Die Reste werden später fachgerecht entsorgt – so, als wäre nie etwas gewesen.

Disney+ bietet zumindest die Möglichkeit, an bestehenden Formaten herumzudoktern, Algorithmen umzuschreiben und Dinge zu wagen, die sich auf der großen Leinwand wohl nicht rechnen würden. Da wäre Werewolf by Night das nächste Häppchen, kaum eine Stunde lang und von der Laufzeit daher den alten Frankenstein– und Dracula-Filme nachempfunden. Der Trailer zu dieser „Special Presentation“, wie Marvel Studios es nennt, ist tatsächlich von einer grauenerregend guten Retro-Ästhetik, die mit angstverzerrten Visagen, Schattenspielen und einer verwaschenen Schwarzweiß-Optik Stimmung macht für ein klassisches Spukabenteuer. Mit diesem satten Announcement sind die Erwartungen natürlich hoch, und es wäre angesichts der schwächelnden Formate wie Ms. Marvel und She-Hulk direkt ein Wunder gewesen, mit einer Comicfigur, die stark an Wolverine erinnert, diese erfüllt zu sehen.

Was man serviert bekommt, ist ein bisschen Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, ein bisschen Frankenstein und irgendwas dazwischen. Ach ja, ein Labyrinth gibt es – und einen sogenannten Blutstein, den der eben verblichene Patriarch der Bloodstone-Dynastie, seines Zeichens Monsterjäger, weitergeben muss. Und zwar nicht an das schwarze Schaf der Familie, Tochter Elsa, sondern an den oder die beste aller Monsterjäger, die während einer nächtlichen Hetzjagd einem grauenvollen Ungetüm den Garaus machen sollen. Dieses Ungetüm entpuppt sich als das legendäre Man-Thing, eine Art Cthulhu für den Wanderrucksack, der mit Jäger Gael García Bernal gemeinsame Sache macht. Was dieser wiederum für ein Geheimnis in sich trägt, verrät der Titel. Und als das eigentliche Monster die Flucht ergreift, wird trotz fehlendem Vollmond ein anderes geweckt werden müssen. Das alles in einem Setting wie aus einem überkandidelten Edgar Wallace-Krimi, fein ausgestattet und sehr darauf bedacht, Manierismen und Versatzstücke aus den alten Klassikern laufend zu zitieren. Wenn man aber vermutet hätte, hier so etwas wie Sin City fürs MCU zu erleben, wird enttäuscht sein. Zu denen, die das dachten, habe ich mich wohl selbst gezählt. Werewolf by Night ist weder gruselig noch locken uns irgendwelche Mysterien in eine wohlig schaurige Dunkelheit. Warum man Komponist Michael Giacchino die Regie für diesen stilistischen Paradigmenwechsel übertragen hat, lässt sich nur auf ein gemeinsames Abendessen zurückführen. Unter seiner Hand gerät der kleine Reißer viel zu actionlastig und vorhersehbar. Die Plot ist einfallslos und nicht mal an den Haaren herbeigezogen, denn das könnte ja so bizarr anmuten, wie es bei Ed Woods Trashperlen der Fall war. Das wirklich erschreckende an Werewolf by Night ist der viel zu zögerliche Ausbruch aus einer erschöpften Routine, die das MCU wie ein Ringelspiel mit unterschiedlichen bunten Waggons auf der Stelle rotieren lässt. Dass hier nicht mal die irrlichternde Optik oder der Kniefall vor dem Schauerkino irgendetwas daran ändern können, liegt vielleicht auch an den austauschbaren Nebenfiguren.

Werewolf by Night hat massig Potenzial, Bernal fügt sich als einziger wirklich geschmeidig gut in das Franchise ein und die Details eignen sich als Deko-Set für die eigene Halloween-Party. Darüber hinaus aber zeugt verhaltener Applaus von einem zwar erwartbar geglückten, aber kaum nachhallenden Laborexperiment. Eine wandelnde Sensation wie Frankenstein’s Monster wird leider nicht daraus.

Werewolf By Night

Come on, Come on

DIE RESILIENZ JUNGER LEUTE

6,5/10


comeoncomeon© 2022 DCM


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: MIKE MILLS

CAST: JOAQUIN PHOENIX, WOODY NORMAN, GABY HOFFMANN, ELAINE KAGAN, JABOUKIE YOUNG-WHITE, KATE ADAMS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Wenn der Onkel mit dem Neffen. Daniel Glattauer hat‘s vorgemacht. In seinem Anekdotenband Theo – Antworten aus dem Kinderzimmer hat sich der Schriftsteller die Sichtweisen seines Fast-Filius zu Herzen genommen, sie alle aufgeschrieben und ein Buch daraus gemacht. Das ist mal witzig, mal nachdenklich, zumeist äußerst komisch. Denn Kindermund ist eben was anderes als das, was die Erwachsenen so von sich geben. Dazu gehört auch die Sicht auf die Dinge und – ganz wichtig – die Frage, wie weit der Ereignishorizont zum Beispiel eines neunjährigen Buben reicht. Sind Klimawandel, Krieg und Covid wirklich etwas, dass in die Wahrnehmung eines Kindes eindringen soll und wenn ja, wie sehr? Herrschen da nicht ganz andere Prioritäten? Natürlich tun sie das. Mike Mills, der mit Jahrhundertfrauen ein meisterliches filmisches Essay über Frauenrollen des 21. Jahrhunderts entworfen hat, beschäftigt sich diesmal mit der Resilienz von unter 10- bis unter 20-Jährigen, die permanent dem Druck ausgesetzt sind, mehr Verantwortung übernehmen zu müssen als sie eigentlich bewältigen können.

Statt Daniel Glattauer und dem kleinen Theo sind es diesmal Oscarpreisträger Joaquin Phoenix und der entzückende Newcomer Woody Norman, den wohl so einige Filmemacher aus früheren Dekaden gerne gecastet hätten, wie zum Beispiel Spielberg oder Kubrick. Doch der Wuschelkopf mit dem seidigen Lächeln und einem versonnenen Blick auf die Welt heftet sich an die Fersen seines nicht weniger versponnenen, leicht gammelig wirkenden Onkels namens Johnny, der sich als Radiomoderator auf einer Tour durch die USA befindet, um Kinder unterschiedlichen Alters zu interviewen. Bei diesen Interviews geht’s meist um existenzielle Fragen, wie: Was kommt nach dem Tod oder wie sieht die Zukunft aus? Gut, das sind Fragen, die, wie schon erwähnt, jüngere Semester überfordern könnte, aber probieren kann man‘s ja. Der kleine Jesse, Johnnys Neffe eben, will auf diese Fragen erst gar keine Antwort geben. Seine Welt ist ohnehin eine, die bereits aus den Fugen geraten ist, nachdem sich Papa aufgrund psychischer Probleme von der Familie abgesondert hat. Da braucht einer wie Jesse nicht über die Probleme der Welt nachdenken oder über ein Leben nach dem Tod. Da reicht es, in der eigenen altersadäquaten Blase zurechtzukommen. Als Mama sich den Problemen des Vaters annimmt, kommt Jesse unter die liebevollen Fittiche von Johnny, der ihn alsbald mitnimmt nach New York und New Orleans.

Bei den Schwarzweißaufnahmen des Big Appels muss man unweigerlich an Woody Allens Meisterwerk Manhattan denken. Und auch so ist Come on, Come on (was sich auf das Weitermachen im Leben trotz aller unerwarteten Widrigkeiten bezieht) nicht weniger textlästig als die Filme des kleinen bebrillten Intellektuellen. Ausgeschlafen sollte man sein, denn sobald die ersten Minuten über die Leinwand flimmern, hören wir bereits Statements aus dem Off, allesamt geistreich und philosophisch. Wäre das ganze Filmprojekt nicht besser zu lesen gewesen? Doch, irgendwie schon. Vor allem deswegen, weil Mike Mills keiner wirklich tragenden Handlung folgt, sondern viel lieber in einer Anordnung aus tagebuchähnlichen Momenten verweilt. Dabei schneidet er Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit nahtlos in die Gegenwartserzählung ein, ohne diese stilistisch abzuheben. Entspannt ist das Ganze nicht, bisweilen gar recht sinnierend und auf den zweiten Blick schwermütig, als wäre Terrence Malick mit im Spiel. In diesem zeitlos scheinenden Zeitbild bleiben Phoenix und Norman stets aufeinander konzentriert. Da ist im Vorfeld der Dreharbeiten sicher viel passiert, um einander besser kennenzulernen. Das lässt sich spüren.

Come on, Come on gelingt der Fokus auf die Frage, was für Kinder relevant ist, trotz all der erratischen Erzählweise erstaunlich gut, wenngleich weniger Worte mehr gewesen wären. Eine inspirierende, liebevoll errichtete Studie, für die Phoenix sichtlich froh war, im Gegensatz zum Joker wieder ganz den kauzigen Eigenbrötler zu geben.

Come on, Come on

Macbeth (2021)

DIE PARANOIA EINES THRONRÄUBERS

7/10


macbeth© 2021 Apple+ 


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOEL COEN

CAST: DENZEL WASHINGTON, FRANCES MCDORMAND, BRENDAN GLEESON, HARRY MELLING, COREY HAWKINS, RALPH INESON, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Sind die Werke von William Shakespeare tatsächlich immer noch zeitlos? Oder hat die Bühnensprache aus dem frühen 17. Jahrhundert nicht auch irgendwann ein Ablaufdatum? Wie ist es wohl passiert, dass Shakespeare als das Non plus Ultra rezitierter Textgröße einem witterungsbeständigen Monument gleich allen Jahrhunderten trotzt und ein jeder, der auch nur irgendwas mit Schauspiel oder Theater zu tun hat, sich zumindest einmal an dem Engländer mit der Halskrause ausprobieren will? Jetzt gehört auch noch Joel Coen (und zwar ohne Bruder Ethan) zu denen, die vor den sperrigen Königsdramen einen Hofknicks machen. Und dreimal darf geraten werden, welches Drama wohl zum Zug kommt. Ganz klar, Macbeth – der schottische Königsmörder und der Wahnsinn. Wenn man den mal ordentlich adaptiert, kann man so gut wie alles inszenieren. Sogar Theater.

Dabei ist Macbeth irgendein schottischer König aus dem ganz finsteren 11. Jahrhundert, einer, der sich, angestachelt von seiner Gattin – der berühmt berüchtigten Lady Macbeth – hochgemordet und das Land aber für einige Zeit zumindest gar nicht mal so Caligula-like regiert hat. Es herrschte Frieden und Wohlstand – wer hätte das gedacht? Der Thronerbe des verblichenen Königs Duncan hat da aber außerhalb der Regimentsgrenzen bereits die Messer gewetzt, um sich seinen Anspruch zurückzuholen, war dieser doch wohlweislich vor den Häschern Macbeth’s geflohen. Er wird heimkehren, es wird Krieg gegeben haben – Macbeth wird bald Gespenster gesehen und sich in einen paranoiden Wahn hineingesteigert haben – während getötet wurde, wer ihn auch nur schief angesehen hat.

Es ist klar, wie es ausgehen wird, nicht umsonst ist das Stück eine Tragödie. Die Macbeths werden am Ende ihrer blutigen Karriere wohl nicht mehr atmen. Dabei lässt sich die Handlung ja, wenn man sich genug konzentriert, aus den hochgestochen arrangierten Textbrocken, die so schönmalerisch und in bildhafter Umschreibung Gemütszustände mit allem möglichen vergleichen, dann doch extrahieren. Das bedarf aber – bei Shakespeare eben einmal mehr, einmal weniger – ganz schön viel Aufmerksamkeit, was letzten Endes weniger Genuss als Erarbeitung darstellt. Dem lässt sich allerdings aus dem Weg gehen. Vor allem dann, wenn Macbeth schon aus Theater und Kino zur Genüge bekannt ist. Viel anders als in den letzten 400 Jahren wird’s nicht mehr. Die Verpackung drumherum allerdings schon. Coens Film ist einer, der schließlich visuell funktioniert – der altbekannte Klassiker ist dabei nur der librettoartige Unterbau, um sich an den darstellenden Künsten zu probieren. 

Und so hat Joel Coen das ganze geblümt-schwere Szenario als expressionistisches Schattentheater auf eine grenzenlos scheinende, gleichermaßen aber hermetisch abgeriegelte Bühne gesetzt. Noch mehr von der Realität entfremdet wird das Ganze durch manchmal kontrastreiches, manchmal weichgezeichnetes Schwarzweiß. Nichts, gar nichts dringt von außen, von einer pandemiegequälten Jetztzeit, in die archaische Psychopolitik eines schottischen Wüterichs, der in einer nebelverhangenen Traumwelt sein Schicksal sucht. Wenn die drei Schicksalskrähen auf dem Schlachtfeld erscheinen, erinnert dies frappant an die Werke Ingmar Bergmans (u. a. Das siebente Siegel). Hätte dieser Shakespeare inszeniert, wäre sein Film Coens Interpretation vermutlich recht ähnlich.

Dass hier Reminiszenzen zu finden sind, liegt somit auf der Hand: Die Liebe zum alten, klassischen Studiofilm lässt geometrische Kulissen, wie wir sie aus den Theatern dieser Welt kennen, Licht durch finstere Torbögen gleißen, manches erscheint wie mit Tinte gezeichnet, manches ist selbstbewusstes Retrokino aus der Hochzeit skandinavisch-deutscher Schauer- und Stummfilmdramen, die auch Dave Eggers in Der Leuchtturm freudvoll angehimmelt hat. Auf ähnliche Weise bringt die lettische Mystery November das Metaphysische in eine von Mythen überforderte Welt. Damals allerdings hätte es unter Bergmans Regie wohl kaum einen schwarzen Macbeth gegeben.

Mit dieser Art und Weise des Inszenierens flackert die Erinnerung daran, dass es sowas wie eine Filmhistorie gibt, auch wieder auf. Das symbolistische Bedeutungskino, von der Bühne auf den Screen und wieder zurück, strengt zwar mitunter an, trifft aber mit seinen akkuraten, expressionistischen Bildarrangements durchaus den Schöngeist. 

Macbeth (2021)

Seitenwechsel

FRAUEN, DIE FARBE BEKENNEN

5/10


seitenwechsel© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: REBECCA HALL, NACH DEM ROMAN VON NELLA LARSEN

CAST: RUTH NEGGA, TESSA THOMPSON, ALEXANDER SKARSGÅRD, ANDRÉ HOLLAND, BILL CAMP U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Einen Film, in dem es um Schwarz oder Weiß geht, in Schwarzweiß zu halten, ist eine aufgelegte Sache. Schwarzweiß kommt immer gut, mittlerweile hat dieses Stilmittel nichts mehr Angestaubtes oder Vorgestriges an sich. Die Filmgeschichte schreibt sich auch unbunt weiter, und schon allein dadurch, da es nicht sehr viele Filme sind, die sich der kontrastreichen Bildsprache hingeben, umgibt diese Werke ein intellektuelles Flair und die Note des Künstlerischen, vor allem Fotografischen. Roma, das autobiographische Erzählkino von Alfonso Cuaron, besticht durch hingebungsvolle, lange Einstellungen. Demnächst wird Kenneth Branagh es genauso tun und seine Kindheitserinnerungen in Belfast ebenfalls auf solche Weise nacherzählen. Seitenwechsel, das Regiedebüt von Schauspielerin Rebecca Hall, macht es nicht anders und findet seinen Distributor bei Netflix. Das Drama basiert auf dem gleichnamigen Roman von Nella Larsen aus den späten Zwanzigerjahren, der im Dunstkreis der Harlem Renaissance entstand. Keine leichte Sache, diesen handlungsarmen Stoff in einen bewegten Film zu packen, geht es doch einzig und allein darum, wie sich zwei hellhäutige Afroamerikanerinnen das Leben in einem anderen gesellschaftlichen Kontext ausmalen.

Auf der einen Seite gibt es Irene, gespielt von „Valkyrie“ Tessa Thompson, die als wohlhabende Medizinergattin in Harlem Zeit und Geld genug hat, um Charity-Events zu organisieren. Auf der anderen Seite gibt es die attraktive Clare, die es geschafft hat, mit der Lüge, eine reinrassige Weiße zu sein, ein Leben unter Weißen zu leben. Zufälligerweise treffen sich beide in einem Café in New York. Beide kenne sich aus früheren Tagen. Clare mit ihrer blonden Haarpracht löst mit ihrem leichten afrikanischen Einschlag bei ihrem rassistischen Ehemann keinerlei Skepsis aus, was Irene völlig irritiert, hätte sie doch selbst die Chance gehabt, ihrer Herkunft zu entfliehen und die Seiten zu wechseln. Dieses Hin und Her wiederholt sich, nachdem Clare immer wieder bei Irene in Harlem aufschlägt und ihrem Gatten schöne Augen macht. Vielleicht, weil sie es nicht länger aushalten kann, ihre ethnische Identität zu verleugnen.

Die wirkliche – und einzige – Stärke an diesem Film sind neben der erlesenen Kameraführung von Eduard Grau (u. a. A Single Man, Buried) die völlige Verwirrung in Sachen hautfarbener Nuancen. Ruth Negga wirkt in dieser entsättigten Optik wirklich nicht so, als hätte sie afrikanische Vorfahren. Tessa Thompson schon eher. Doch ich will gar nicht so sehr über anthropologische Besonderheiten nachdenken. Das diesen Äußerlichkeiten eine solche Wichtigkeit beigemessen wird, erzeugt ein seltsames Unwohlsein, und man selbst erkennt, dass soziale Unterschiede niemals an sichtbaren Nuancen klassifizieren werden darf, so falsch fühlt sich dieser Umstand an. Diese Gefühlsregung provoziert Rebecca Hall natürlich ganz bewusst. Durch diese entsättigte Bildsprache ist Schwarz gleich Weiß und Weiß gleich Schwarz – Unterschiede verlieren sich im hart kontrastierten Schatten, der aber ziemlich selten zu sehen ist, da der Grauton vorherrscht und die Kluft zwischen beiden Gesellschaften schließen will, was auch am Ende des Films seinen Höhepunkt erfährt.

Für Seitenwechsel braucht man viel Geduld, denn oft tritt das dialoglastige Zeitbild auf der Stelle. Abgesehen von seiner Metaebene im Visuellen verweilt die narrative Ebene auf dem Niveau nachmittäglicher Smalltalks beim Tee oder eines verbal begleiteten Umtrunks zu gesellschaftlichen Anlässen, wo Reich, Schön und Distinguiert über Politik, Literatur und Kunst philosophiert. Regisseurin Hall verliert sich in den Gesichtern ihrer beiden Darstellerinnen, in ihren Frisuren und schicken Kleidern. In noblen Zimmerfluren und Champagnerperlen. Diese Details sorgen für eine elegante Fadesse, bei der man sich wünschen würde, dass das eigentliche Problem so sehr am Schopf gepackt wird, dass irgendjemand zur Abwechslung laut aufschreit. Die Stimme erhebt aber keiner, und daher ist  Seitenwechsel nur ein Lippenbekenntnis für etwas, das Frau, auch wenn sie sonst schon alles hat, nicht haben kann.

Seitenwechsel

Gunda

DIE SAU RAUSLASSEN

5/10


gunda© 2021 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, USA 2020

REGIE: VICTOR KOSSAKOVSKI

BUCH: VICTOR KOSSAKOVSKI, AINARA VERA

KAMERA: EGIL HÅSKJOLD LARSEN, VICTOR KOSSAKOVSKI 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Ich fröne ja nur ungern fremdsprachigen Filmen im Original, dessen Sprache und Dialekt ich nicht mal ansatzweise verstehe, die aber auch nicht untertitelt sind. Gut, man könnte sich mehr schlecht als recht den Plot zusammenreimen, jedoch zum Filmgenuss gedeiht diese Sichtung nicht wirklich. Ist es allerdings ein fremdsprachiger Film im Original, für den es ganz einfach keine Untertitel gibt, da die Sprache niemand versteht, wäre das ein bisschen etwas anderes. In Gunda zum Beispiel lässt sich die Sprache – meist grunzend, guttural oder grölend – zwar nicht im Mindesten verstehen, dafür aber lässt sich schon aufgrund das tierischen Verhaltens so manche Bedeutung ableiten. Und zugegeben: so komplex ist die Handlung des vorliegenden Dokumentarfilms auch nicht, um durcheinanderzugeraten.

Das Beste an Gunda ist, neben all der künstlerischen Optik, dass die Bühne dieses Films voll und ganz den Tieren gehört, und diese grunzen, gurren und grölen, wie der Tag lang ist, ohne von einem Erklärbär aus dem Off auf die Protagonisten eines weiterbildenden Schulfernsehens getrimmt zu werden. Der Mensch hat hier nur im weitesten Sinn Bedeutung, alle anderen Einflüsse bleiben außen vor. So sehen wir, wie die Sau Gunda zu Beginn des Films ihre Jungtiere zur Welt bringt – und wie diese dann im Laufe der Zeit älter, größer, vorlauter werden, immer noch quirlig und treu der Mama folgend, an Zitzen saugend, quengelnd. Als Intermezzi dienen Hühner (darunter eine einbeinige Virtuosin) und Rinder. Wie das allerdings so läuft auf einer Farm, ist dem Vieh, das dort lebt, etwas ganz anders bestimmt als ein ruhiger Lebensabend. Auch das widerfährt der Familie Sus scrofa domesticus, und plötzlich wirken die für uns von kleinauf vertrauten Fleischlieferanten in ihrer Trauer und Ratlosigkeit gar nicht mal mehr so unmenschlich. Am Ende gibt Gunda zu denken – doch das in die Länge gezogene Davor tarnt den Content für einen beeindruckenden Kurzfilm mit dem Selbstbewusstsein eines abendfüllenden Leinwanderlebnisses.

So niedlich und gleichermaßen faszinierend die jungen Trüffeldinger auch sind, so prachtvoll Victor Kossakovski diesen Alltag zwischen Hof und Wald auch eingefangen hat, mit schönen Unschärfezooms und Weitwinkel-Tableaus, so kurzatmig gibt sich die Collage an Szenen, die wiederholt stets das gleiche tierische Verhalten beobachten. Auf die Dauer ist das zwar immer noch schön fotografiert und süß – Mehrwert bringt es keinen mehr. Einen Urlaub am Bauernhof dagegengesetzt, wäre der zwar nicht schwarzweiß, aber immerhin aufschlussreicher, weil dort womöglich das Interagieren verschiedenster Tierarten gegeben wäre, die ich in Gunda allerdings vermisse. Darüber hinaus wurde die von allem artifiziellen Beiwerk befreite Doku an drei verschiedenen Orten gefilmt. Das ergibt weniger Sinn als würde sich Kossakovski auf einen Ort des Zusammenlebens konzentrieren.

Würde man Kuh und Huhn weglassen – die ebenfalls nicht viel Aufschluss bieten – und würde man viel zu lange Takes etwas kürzen; würde man die glücklichen Stunden der Ferkel vielmehr auf wesentliche Momente reduzieren, stünde einem Bravo für einen tierrechtlich relevanten, intensiven Kurzfilm in einer Sprache, die wir nicht kennen, nichts mehr im Wege.

Gunda