Blond

I DON’T WANNA BE LOVED BY YOU

7/10


blond© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANDREW DOMINIK

BUCH: ANDREW DOMINIK, BASIEREND AUF DEM ROMAN VON JOYCE CAROL OATES

CAST: ANA DE ARMAS, ADRIEN BRODY, BOBBY CANNAVALE, XAVIER SAMUEL, JULIANNE NICHOLSON, EVAN WILLIAMS, RYAN VINCENT, LILY FISHER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Was haben Prinzessin Diana Spencer und Marilyn Monroe gemeinsam? Die berührende Farewell-Ballade A Candle in the Wind von Elton John. Zuerst hieß der Text: Goodbye Norma Jeane, dann hat sich der Künstler gedacht: Norma Jeane kann mittlerweile gut darauf verzichten, machen wir Goodbye Englands Rose daraus. Was haben Diana Spencer und Marilyn Monroe nicht gemeinsam? Den Regisseur, der sich bemüßigt und auch kompetent genug dazu gefühlt hat, zumindest Ausschnitte aus deren Leben zu verfilmen, um gleich noch dazu ein komplettes Psychogramm draufzupacken. Der eine: Pablo Larraín. Mit Spencer ist diesem ein brillantes Portrait gelungen, die impressionistische Skizze einer möglichen Befindlichkeit zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben der Königin aller Herzen. Der andere: Andrew Dominik (u. a. Killing them Softly). Seine Schussfahrt in den Untergang einer wider ihres Willens gehypten Person frönt einem soziopathischen Destruktivismus, der eigentlich alles, mit Ausnahme vielleicht von Henry Miller, unter Aufbringung einer enormen Anziehungskraft in ein schwarzes Loch reißt, aus dem es keine Rückkehr gibt. Schon gar nicht für Norma Jeane Baker. Die landet mit den Füßen voran, als Steißgeburt einer verteufelten Männerwelt, im dunklen Nichts der Hoffnungslosigkeit. Obwohl – nicht ganz. Die Hoffnung war zwar immer ein bisschen da, starb aber zuletzt dann doch, in der gottgleichen Gestalt eines unbekannten, aber tränenreichen Vaters, der frappante Ähnlichkeiten mit Clark Gable hat und der blonden Schönheit immer mal wieder einen Brief hinterlässt, der ein baldiges persönliches Aufeinandertreffen verspricht. Eine Hoffnung, an die sich Norma Jeane Baker klammern kann. Das andere, woran sie sich klammert: Die Kunstfigur Marilyn, schmollmundig, Küsse verteilend, kokett performend als Sexsymbol, den Rock über dem Lüftungsschacht lüpfend, ganz so wie es Billy Wilder wollte. Laut Joyce Carol Oates, die mit ihrem Roman Blonde für den Pulitzer-Preis nominiert war, dürfte die Maske „Monroe“ nicht mehr als ein Strohhalm in einer Welt voller Treibsand gewesen sein, in welchem Frau sonst versinken müsste. Oder: Das Leben eines Filmstars als geringeres Übel. Denn sonst bleibt ja nichts. Gar nichts. Weder eine liebende Mutter noch ein Vater noch eigene Kinder. Und schon überhaupt gar niemanden sonst, der sich ernsthaft um diese psychisch äußerst labile Person, die bis dato als wohl einer der größten Stars der Filmgeschichte gilt, gesorgt hätte.

In diesem finsteren Pfuhl an sexuellem Missbrauch, Gewalt und geifernder Fleischeslust wird das Objekt der Begierde zum hin- und hergereichten Pinocchio. Ausgenutzt, getreten, begattet. Was hätte Pablo Larraín wohl aus diesen biographischen Ansätzen, die womöglich mit viel Dichtung klarkommen müssen, herausgeholt? Wie wäre sein Ansatz gewesen? Vielleicht empathischer, auf improvisierte Weise vertrauter. Er hätte sie wohl weniger als Punching Ball für ein reißerisches Trauerspiel verwendet als Andrew Dominik es getan hat. Für ihn (und vielleicht auch für Oates, denn ich kenne das Buch leider nicht) ist Marilyn Monroe das öffentliche Opfer purer #MeToo-Gräuel. Denn so, wie Ana de Armas auf der Höhe ihrer Imitationskunst weint und schreit und wimmert, sich am Boden krümmt und nach ihrem Vater fleht, muss es das größte Opfer sein, dass Hollywood je eingefordert hat. Ein weiblicher Hiob quält sich auf einem fast dreistündigen Kreuzweg die Via Dolorosa entlang, und niemand trägt das Kreuz auch nur lang genug, damit sich der zur Schau gestellte Star wieder hätte fangen können. Andrew Dominik kostet seinen Biopic-Horror so dermaßen aus, als hätte er einen Lustgewinn daran, Marilyn Monroe leiden zu lassen. Möchte man sowas denn sehen? Will man sich von Ana de Armas ankotzen lassen? Will man in Marilyns Alpträume eintauchen, die plötzlich an Paranormal Activity erinnern? Sind die amerikanischen Männer der Ära Kennedy wirklich so eine Bande von Scheusalen mit übergroßen Mündern, die den Star verschlingen wollen? Wo man mit feiner Klinge das Vakuum wertlosen Ruhms wohl sezieren hätte können, wuchtet Blonde einen Sucker Punch nach dem anderen ins engelsgleiche Konterfei von de Armas, welches den ganzen Film dominiert. Gut, so fasziniert war Larraín ebenfalls von Natalie Portman als Jackie oder Kristen Stewart als Diana, aber er hätte ihnen nicht so wehgetan. 

Mit jedem Schlag ins Gesicht bröckelt der Film zu einer prätentiösen Galerie an recht oberflächlichen World Press Photos auseinander, die alle in die Times passen würden. Noch eins, sagt Dominik. Und dann bitte noch eins. Und noch eins von der Seite. Der Regisseur, so scheint es, kann seine Dämonisierung des Patriarchats gar nicht mal so ernst meinen, denn er tut damit ähnliches. Er nutzt eine Figur der Filmgeschichte, um sie so sehr niederzutreten, dass sie gar nicht anders kann als die Hoffnung zu verlieren. Dann aber wieder muss ich zugeben: Dominiks ambivalenter Film ist meisterhaft darin, in einigen wirklich überwältigenden Szenen eine Kunstfigur zu demontieren und den Grat zwischen Schein und Sein punktgenau zu treffen. Dazwischen finden sich in lockerer Chronologie akkurat nachgestellte Szenen aus Klassikern, die wir nie wieder so unbekümmert genießen werden können und Elemente, die an Roman Polanskis Psychothriller Ekel oder Last Night in Soho erinnern. Blond ist eine deftige Erfahrung, die man so eigentlich gar nicht machen wollte, die auch beschämt und bei welcher man sich selbst vielleicht als gaffenden Zaungast ertappt. 

Vielleicht hätte sich Norma Jeane Baker mit diesem Film verstanden gefühlt. Die Offenbarung ihres Innersten, einschließlich ihres Geburtskanals, hätte sie wohl aber wieder zum Weinen gebracht. Wie wäre es mit etwas Trost? Hinsichtlich dessen hätte ihr Elton Johns Lied wohl besser gefallen.

Blond

The Gray Man

DIE PFUSCHER VOM (GEHEIM)DIENST

5,5/10


grayman© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANTHONY & JOE RUSSO

CAST: RYAN GOSLING, CHRIS EVANS, ANA DE ARMAS, BILLY BOB THORNTON, REGÉ-JEAN PAGE, WAGNER MOURA, JESSICA HENWICK, DHANUSH, JULIA BUTTERS, ALFRE WOODARD U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Ryan Gosling muss seine Identität nicht wechseln. Dafür hat er eine Nummer. Sierra 6. Oder so ähnlich. Netflix will nämlich auch gerne sein eigenes Agenten-Franchise haben, doch irgendwie mag es damit nicht so recht funktionieren. Vielleicht zäumt der derzeit unter einigem Kundenschwund leidende Streamingriese sein Pferd von der falschen Seite auf. Des Rätsels Lösung scheint nämlich nicht, jede Menge Superstars einzukaufen, die dann als abrufbares Haus-und-Hof-Ensemble zur Verfügung stehen. Wir haben Ryan Reynolds, Dwayne Johnson, Gal Gadot, Ana de Armas schon des Öfteren. Mark Wahlberg, Jamie Foxx und jetzt auch zur Freude aller Fans von Nicolas Winding Refn, der ihn mit Drive so richtig stoisch in Szene gesetzt hat: eben Ryan Gosling. Das muss doch funktionieren, denken sich die Verantwortlichen von Netflix und feiern sich und den Actionthriller The Gray Man als neues Ei des Columbus, dessen um der Standfestigkeit willen in Mitleidenschaft gezogene Unterseite mehr Brüche quer durch den Film verursacht als anfänglich in Kauf genommen.

Denn was hat The Gray Man denn eigentlich wirklich Besonderes zu bieten – neben des Casts natürlich? Die Antwort ist nicht leicht zu finden. In der Story ruht sie jedenfalls nicht. Zugrunde liegt dieser ein x-beliebiger 08/15-Roman aus der Feder von Tom Clancys gehostetem Sidekick Mark Greaney, der gegenwärtig die Jack Ryan-Reihe munter fortführt. Um nicht dauernd dasselbe in Grün zu schreiben, gibt’s auch anderen Stoff – eben The Gray Man um einen angeblich lautlosen Killer eingangs erwähnter Nummer, der irgendwann aus dem Gefängnis geholt wird, um für die CIA als nicht ganz legaler Mister Saubermann zu arbeiten, mit einem Ticket rund um die Welt und einer Verpflichtung auf lebenslang. Die CIA und andere Geheimdienste nutzen zwar wiederholt gut ausgebildete, steuerfreie Schergen zur bequemen Beseitigung potenziell weltverschlimmernder Individuen, wollen aber andererseits natürlich nicht, dass irgendwo in den Rechtsstaaten etwas davon durchsickert. Eine oft benutzte und noch öfter variierte Grundlage für das Thriller Entertainment, sei es nun im Kino oder als Serie. Bei Hanna hat das gut geklappt, bei den Bourne-Filmen ebenso. Bei The Gray Man – nun ja. Die Art und Weise, wie die Einsatzgruppe Scriptwriting hier die Belletristik adaptiert hat, lässt darauf schließen, dass Netflix wirklich nur auf Prominenz setzt.

Der Thriller hat inhaltlich nichts zu bieten. Also zumindest nichts Neues. Die Handlung bemüht sich, auf Spielfilmlänge zumindest so auszusehen, als hätten alle Beteiligten die Sache durchdacht. Und zwar auf kreative Weise. Mit Achterbahnfahrten quer durch Europa (gar nicht mal so exotisch – für die USA vielleicht, in uns Europäern weckt das nicht so sehr das Fernweh) und hineingezwängten Wendungen, die gestressten Nine-to-Five-Jobbern gleich bei stoßzeitlicher U-Bahnüberfüllung auch noch hinter die Tür des abgefertigten Zuges wollen. Dabei entstehen Logiklöcher, die, auch wenn man will, nicht oder nur schwer zu übersehen sind. Tom Cruise schafft in seinen Mission Impossible-Filmen trotz all der kuriosen Schauwerte immer noch sowas wie Plausibilität – den Russo-Brüdern, die mit den beiden Infinity-Filmen aus dem MCU wirklich zeigen konnten, was sie drauf haben, bleibt angesichts des schalen Plots kaum Füllstoff, um dramaturgischen Wendungen nicht den Sinn zu rauben.

Und dennoch: Die Rechnung von The Gray Man ist nicht eine, die gar nicht aufgeht. Wir haben den mimisch recht einsilbigen, aber sympathischen Gosling, der mit Gaze-Auflagen Scherenstiche heilt und Herumballern als diskrete Killermethode bezeichnet. Und den freudvoll aufspielenden Chris Evans jenseits von Captain America, der mit Pornobalken und enger Hose gerne mal den Ungustl gibt. Ana de Armas bleibt da außen vor – ihre guten Momente sind zum Beispiel in der ebenfalls auf Netflix veröffentlichten Agenten-Biopic Sergio zu finden. Und die Action? Spricht nicht für den teuersten Netflix-Film aller Zeiten. Obwohl ich kein Fan bin: Michael Bay hätte diese wohl prächtiger inszeniert. Wobei die krachige Straßenbahnsequenz in Prag außerplanmäßigen Intervallen infolge einer Zugstörung neue Bedeutung verleiht.

The Gray Man

Tiefe Wasser (2022)

EHEMANN OHNE EIGENSCHAFTEN

6/10


tiefewasser© 2022 Amazon Prime Video


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ADRIAN LYNE

CAST: BEN AFFLECK, ANA DE ARMAS, TRACY LETTS, RACHEL BLANCHARD, LIL REL HOWERY, FINN WITTROCK, JACOB ELORDI, KRISTEN CONNOLLY U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Autoritäten in der Ehe haben ausgedient – Frauen sind den Männern nicht mehr Untertan und denken nicht daran, nochmal Heimchen am Herd zu werden. In den 50ern war das noch anders, da stand das Essen auf dem Tisch, wenn der Ehemann von der Arbeit nach Hause kam. Und wehe, die Filzpantoffeln waren nicht an Ort und Stelle und das Bier nicht eingekühlt. Man(n) hätte sich damals wohl kaum vorstellen können, wie es wohl gewesen wäre, hätte die Frau tun und lassen können, was ihr in den Sinn kam. Vielleicht gar: anderen Männern schöne Augen machen. Ein Alptraum für den durchschnittlichen Familienpatriarchen.

Andere Männer mögen da wohl ihrer Zeit voraus gewesen sein, wie in Tiefe Wasser, einem Kriminalroman von Patricia Highsmith, verfasst 1957. In diesem fein ausbalancierten Suspense-Krimi ist Privatier Vic Van Allen einer, der seine Frau Melinda geradezu vergöttert, ihrer nymphomanischen Veranlagung aber freien Lauf lässt. Zu bestimmen, was die bessere Hälfte tun soll, so Vic, liegt nicht in dessen Pflicht. Blöd nur, dass dieser beziehungstechnische Liberalismus auf die Dauer etwas erniedrigend rüberkommt. Wo es nur geht, trägt Melinda ihr promiskuitives Verhalten zur Schau, wenn’s hochkommt gar vor den Augen ihres mittlerweile mehrmals gehörnten Gatten, dem diese offensichtliche Provokation langsam sauer aufstößt. Er beginnt, Melindas männliche Beute vorerst mal verbal zu vergraulen – bis auch das nicht mehr reicht. Sonnenklar also, was dann folgt. Ein Mann ist schließlich ein Mann, und nicht dafür gemacht, als geschasster Loser vorgeführt zu werden.

Angesichts der betörenden Ausstrahlung einer stets kokett gekleideten Ana de Armas wundern diese Wanderpokal-Ambitionen niemanden mehr. Die gebürtige Kubanerin ist ein Hingucker, wie schon zuvor in James Bond – Keine Zeit zu sterben, wo diese einen kurzen, aber knackigen Auftritt hatte. Ana de Armas sieht in der dritten Verfilmung von Highsmiths Roman auch in jeder Sekunde so aus, als wäre sie für ein konventionelles Dasein zwischen Küche, Kind und Ehebett deutlich ungeeignet. Was andere vielleicht zur Scheidung veranlasst hätte, will Dreitagebart Ben Affleck nicht über sich ergehen lassen. Ben Affleck verlässt man auch nicht, trotz der mimischen Langeweile, die er an den Tag legt, die wiederum nicht ganz frei von einer gewissen, vielleicht auch Ana de Armas provozierenden unfreiwilligen Komik bleibt. Isabelle Huppert hätte Afflecks stoische Art vermutlich auch provoziert – aber da war anno 1983, in einer weiteren Adaption des Romans, Jean-Louis Trintignant schneller.

Dank dieser gerne etwas düsteren und am Ende auch in so mancher Grauzone verweilenden Vorlage ist auch Adrian Lynes Interpretation eine solide Angelegenheit. Kein Wunder, könnte man meinen. Lyne, der seit 20 Jahren nichts mehr inszeniert hat, kann auf Klassiker wie 9 1/2 Wochen oder Eine verhängnisvolle Affäre zurückgreifen. Er weiß, wie das freie Spiel der Mächte in einer Beziehung funktioniert. Demnach ist Tiefe Wasser ein Hingucker nicht nur aufgrund von Ana de Armas, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Lyne die inszenatorischen Zügel straff hält.

Am Ende aber obsiegt der Kompromiss. Highsmiths Buch in das Zeitalter der Mobiltelefone zu hieven, mag einige Stolpersteine bereithalten, die auf Kosten einer gewissen Handlungslogik umschifft werden wollten. Leider reitet sich der Film da noch tiefer in kausale Widersprüche hinein, die, ich bin davon überzeugt, wohl kaum in der literarischen Vorlage enthalten waren. Wenn doch, dann kostet das Highsmith einige Genius-Punkte. Lynes Film wiederum, der über weite Strecken durchwegs in der Spur bleibt, nimmt am Ende eine wenig plausible Abzweigung, um zum Schlussakkord zu gelangen.

Tiefe Wasser (2022)

James Bond 007 – Keine Zeit zu sterben

DIE EINSAMKEIT DER DOPPELNULL

5/10


notimetodie© 2021 DANJAQ, LLC AND MGM.  ALL RIGHTS RESERVED.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: CARY JOJI FUKUNAGA

CAST: DANIEL CRAIG, LÉA SEYDOUX, LASHANA LYNCH, RAMI MALEK, BEN WISHAW, RALPH FIENNES, NAOMI HARRIS, ANA DE ARMAS, JEFFREY WRIGHT, CHRISTOPH WALTZ, BILLY MAGNUSSEN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Es ist ja fast so, als könnte man anhand lange verschobener Filmpremieren die globale Lage in Sachen Corona ablesen. Wenn Filme wie Dune oder eben James Bond 007 – No Time to Die in den Kinos starten, fühlt sich das an wie ein in der Economy-Class händeringend erwarteter Take Off ins Urlaubsland. Von da an kann es nur noch bergauf gehen. Und es ist auch fast so, als wäre der Rückstau im Kinoprogramm damit endlich durch. Von nun an könnte man vielleicht doch eher stressfrei durch die Kino-Agenda gleiten.

Was auch lange braucht, oder sagen wir: dort, wo die Nachfrage am größten ist, könnte auch wirklich Großes verborgen sein. Natürlich, schließlich geht es um nichts anderes als das James Bond-Franchise, das sein Kinopublikum seit den Sechzigerjahren bei der Stange hält. Bond ist Kult, wandelnder Zeitgeist und gleichzeitig hartgesottener Held im maßgeschneiderten Anzug und im Rahmen seiner Missionen über dem Gesetz.

Mit diesem lukrativen Garanten für volle Kinosäle kommt sich eine wie Barbara Broccoli natürlich mächtig vor. Allerdings ist sie das auch. Wie Kathleen Kennedy bei Disney ist auch Broccoli eine toughe Macherin, der man sicherlich kein X für ein U vormachen kann. Entsprechend geschäftstüchtig denkt sie auch – und legt den letzten Bond mit Daniel Craig in die Hände von Cary Joji Fukunaga, der sich längst mit anspruchsvollen Filmen wie Beasts of No Nation bewährt hat. Den Künstlern ihre Arbeit, den Wirtschafterin die ihre, möchte man meinen. Nur – so einfach ist das nicht. Wer zahlt, schafft an – und pocht auf seine Ideen im Drehbuch. Dieses wird längst nicht mehr von einem wie Dalton Trumbo geschrieben, sondern da sind viele, die das Script für eine filmische Wollmilchsau dahingehend optimieren und mit den Entwürfen anderer Besserwisser vermengen, sodass ein verhobenes Konstrukt aus Reminiszenzen, Charakterentwicklungen und bodenhaftender Standard-Action entsteht. Im Finale soll alles vorhanden sein, was Bond ausmacht.

Der Kreis schließt sich also, so wie bei Star Wars. Statt „Ich bin alle Jedi“ heißt es diesmal „Ich bin alle Bonds“. Und es scheint gar, als würde No Time to Die dieses Versprechen erfüllen. Wir sehen und hören anfangs subtile Anspielungen auf frühe Klassiker, im Aston Martin rauschen Craig und Léa Seydoux über Italiens Landstraßen. Vor dem obligatorischen und diesmal im Stil etwas unentschlossenen Intro, gesungen von Billie Eilish, die ein gehaltvolles Flüstern entfacht, allerdings keine Shirley Bassey ist, atmet der Bond-Kult aus allen Poren, verlässt sich auf sein nostalgisches Repertoire, wirkt aber dennoch zeitgemäß. Womöglich stammt der Anfang gar von Autor Fukunaga selbst. Oder aber von Purvis & Wade? Oder Phoebe Waller-Bridge? Wie auch immer, viele Köche eben.

Was so schneidig und stilsicher beginnt, verliert sich in einem unter sichtbarem Bemühen in die richtige Richtung gelotsten Kompromiss aus wenig schlüssigen Handlungsfäden, frappanten logischen Fehlern und fragwürdigen Entscheidungen. Bond selbst versinkt in Trauer und Liebeskummer, hat aber dennoch so manche an Roger Moore erinnernde, verschmitzte Bonmots auf Lager. Craig versucht dabei, seiner legendären Rolle so gut es geht treu zu bleiben. Wäre da nicht das Hineinzwängen seiner Person in ein gnadenlos in die Länge gezogenes Patchwork-Abenteuer, das mit Rami Malek wohl eine der lächerlichsten Bösewichte auf dem Ian Fleming-Planeten aus der Mottenkiste holt. Viel Geschwurbel füllt leere Minuten, aus knackig wird gedehnt, und so gut wie alles, was in diesem Eventkino zum Einsatz kommt – sei es Setting oder Action – war im eigenen Franchise einfach schon mal dagewesen, und zwar viel besser. Selbst so integre und in ihrer Rolle fast schon autark agierende Nebenrollen wie Christoph Waltz oder Lashana Lynch ziehen sich irgendwann zurück, um beim Finale fassungslos zuzusehen, was an pathetischem Kitsch eigentlich alles möglich ist.

Nachher braucht man einen Martini. Geschüttelt oder gerührt ist auch schon egal.

James Bond 007 – Keine Zeit zu sterben

The Night Clerk

MENSCHEN IM HOTEL

4/10


nightclerk© 2020 EuroVideo


LAND: USA 2020

REGIE: MICHAEL CRISTOFER

CAST: TYE SHERIDAN, ANA DE ARMAS, HELEN HUNT, JOHN LEGUIZAMO, JOHNATHON SCHAECH U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


In Philipp Noyces urbanem Erotikthriller Sliver konnte Feschak William Baldwin den ganzen Tag damit zubringen, die Bewohner eines Hochhauses mit versteckten Kameras zu observieren, darunter auch die sinnliche Sharon Stone. So ein Spechtler, könnte man meinen. Bei Tye Sheridan als autistischer Nachtportier Bart liegt die Sache da schon anders. Denn der hat – von sich aus gesehen – guten Grund, seine Hotelgäste zu bespitzeln. Was nicht heißt, dass dieser daraufhin brühwarm alles Gesehene weitererzählt. Nein. Aus dem Verhalten der beobachtenden Personen versucht er, soziale Kommunikation zu erlernen. Wie man wann was sagt, wie und wann welche Phrasen Verwendung finden. Einfach, um Teil der Gesellschaft zu werden. Denn als Autist ist man alles andere als das. Da fällt es selbst schwer, gemeinsam mit Mama an einem Tisch zu sitzen. Mutter Helen Hunt bringt ihm sein Essen stets in den Keller, wo er lebt, beobachtet und vor sich hin sinniert.

Jetzt ist es nur eine Frage der Zeit, damit aus The Night Clerk den Sprung vom Psychodrama zum Thriller macht: denn irgendwann wird Bart Zeuge eines Mordes. Die Ermittler tappen im Dunklen, ahnen nichts vom Kamera-Geheimnis des eigenwilligen, aber zuverlässigen Angestellten, der sich bald darauf versetzen lässt, um dem Tatort nicht mehr nahe sein zu müssen. Im neuen Hotel angekommen, trifft er auf die liebreizende Ana de Armas, in die er sich Hals über Kopf verliebt – die aber, nichts ahnend, mit dem Mörder im wahrsten Sinne des Wortes unter einer Decke steckt.

The Night Clerk ist der klare Fall einer Direct-to-DVD-Premiere. Angesichts einer viel stärkeren Genre-Konkurrenz hat dieser Film hier von Michael Cristofer (u. a. Original Sin mit Angelina Jolie) keine schlagkräftigen Argumente, um eine Kinoauswertung zu rechtfertigen. Als einer, der am Asperger-Syndrom leidet und sozial integrer werden will, macht Tye Sheridan (der Star aus Ready Player One) keine schlechte Figur. Das Krimikonstrukt rund um Sheridan ist allerdings ein völlig liebloser und oberflächlich hingeschluderter Mordfall, den selbst Columbo lieber delegieren würde. Hinten und vorne fehlt hier jede Menge Biss. John Leguizamo als Ermittler bleibt hölzern, die selten zu sehende Helen Hunt hat womöglich mangels anderer Filmangebote für dieses schale Projekt ihre Zusage erteilen müssen, um irgendwie wieder vor die Kamera zu kommen – so sehr sieht man ihr diese Notwendigkeit an. Die Sache mit dem Autismus hat schon so manches Filmprojekt vor dem totalen Absturz bewahrt und entbehrt nicht einer gewissen zynischen Bühnenpräsenz, die sich in stereotypen Verhaltensmustern überall leicht darstellen lässt. Einen ganzen Film kann diese Entwicklungsstörung aber auch nicht tragen, vor allem, wenn dieser sonst nichts hergibt. Alternative gefällig? Funktioniert hätte das ganze als Love Story zwischen Sheridan und de Armas, ganz ohne Krimiplot.

The Night Clerk

The Informer

MÄNNER MIT TATTOOS

6,5/10

 

the-informer© 2019 Senator Home Entertainment

 

LAND: USA 2019

REGIE: ANDREA DI STEFANO

CAST: JOEL KINNAMAN, ROSAMUNDE PIKE, COMMON, CLIVE OWEN, ANA DE ARMAS, MARTIN MCCANN U. A. 

 

Küss die Hand, Herr Kerkermeister, ich bin wieder da! So singt schon seit den 80ern die Erste Allgemeine Verunsicherung vom Verweilen hinter schwedischen Gardinen. Was in diesem Liedchen noch für eine heimelige Zellenatmopshäre mit Assel sorgt, definiert sich in den Kittchens der USA stets mit schwerfälligen Muskelgiganten und deren Tattoos. Hast du kein Tattoo, bist du kein Verbrecher. Oder einfach nicht cool genug, um einer zu sein. Hast du keine, musst du klein und unscheinbar sein, denn je kleiner und unscheinbarer, desto mehr hast du das Zeug zu deligieren. Auch das wird aus dem Gefängnis kolportiert. Und das Personal ist sowieso so korrupt, das es schlimmer kaum geht. In so einen Häfen muss Special Ops-Agent Pete Koslow, selbstredend Dauergast beim Tätowieren, wieder zurückkehren, um der Drogenmafia das Handwerk zu legen. Was erstmal so aussieht wie eine gemähte Wiese, nämlich, dass Koslow nach verrichteter Arbeit wieder gemütlich aus dem Gefängnis spaziert, darf später bei all den Betroffenen nicht ganz unbegründet für Panik sorgen. Pete wird fallengelassen. Und muss sich auf eigene Faust freikämpfen.

Lock up könnte man sagen. Doch statt Sylvester Stallone darf diesmal Joel Kinnaman (u.a. Robocop, die Serie Hanna, Staffel 1) die Läusedusche über sich ergehen lassen. So finster wars im Knast schon lange nicht. Und so adäquat finster kann auch nur Joel Kinnaman dreinschauen, der wirklich nichts zu lachen hat. Das sind bewährte, aber knallharte Versatzstücke für einen wenig schienbeinschonenden Härtefall von Thriller, der auf spannende und mitunter gehörganglädierende Art zeigt, wie sehr ein Mann mit Erfahrung und einigem Abgucken von Mac Gyver den aussichtslosen Blick in die Zukunft abwenden kann. Daheim bangt Ana de Armas mit unvermuteter Lockenpracht, und FBI-Agentin Rosamunde Pike quält das Gewissen. Waren das alle namhaften Stars in diesem Film? Nein, Clive Owen ist das cellophanartige Zerrbild eines schmierigen Über-Leichen-Gehers. Und Rapper Common (Oscar für den Song Glory) von der CIA-Fraktion kommt einiges Spanisch vor.

Das Casting für die in Haft sitzende Belegschaft in diesem Film dürfte viele ärmellose Feinripps kommen und gehen gesehen haben, nicht ohne gewissen Unterhaltungswert. Kinnaman hat man seine wuchtigen Gemälde natürlich raufappliziert – und er ist auch unterm Strich der richtige Mann für diese Drecksarbeit, die Andrea di Stefano (Escobar – Paradise Lost) hier ergrimmte Gemüter machen lässt. Ein kurzweiliger, wenig zimperlicher Thriller mit allerlei Agenten- und Intrigenkram, der in seiner zornigen Art Althasen wie Stallone oder Schwarzenegger den Escape Plan klaut.

The Informer

Wasp Network

KUBA OHNE LIBRE

3,5/10

 

waspnetwork© 2019 Netflix

 

LAND: FRANKREICH, SPANIEN, BRASILIEN, BELGIEN 2019

REGIE: OLIVIER ASSAYAS

CAST: ÉDGAR RAMIREZ, PENÉLOPE CRUZ, WAGNER MOURA, ANA DE ARMAS, GAEL GARCIA BERNAL, TONY PLANA U. A. 

 

Mittlerweile wird spürbar – also mir fällt´s jedenfalls auf – wer auf Netflix ganz besonders lieb Kind zu sein scheint: Lateinamerika und Spanien. Das hat schon mit Alfonso Cuarons Roma begonnen. Mit Der Schacht, im Grunde Cube für das neue Jahrtausend, konnte Spanien seine Kreativität unter Beweis stellen. Gern gesehene Darsteller sind der Brasilianer Wagner Moura (u. a. Sergio, den ich für recht gelungen halte) und Édgar Ramirez, der die Last Days of American Crime erlebt hat. Ana de Armas taucht ebenfalls vermehrt auf.  Die eben genannten Drei tauchen wiederum im brandneuen Politdrama Wasp Network auf, inklusive Penélope Cruz als Powerfrau, die in Kuba zur Zeit des US-Embargos gemeinsam mit der Tochter ums Auskommen bangt. Der gute Papa, der ist nämlich abgehauen. Was nicht heißt er ist fremd gegangen, nein – in Zeiten wie diesen ist Kuba von Libre so weit entfernt wie die Erde vom Mond, die Castros predigen den Kommunismus und wenn man sich vertrollt, dann Richtung USA, am besten nach Florida. Dort angekommen, plant Papa René nach außen hin einen Neuanfang, inoffiziell hingegen eilt man den Bootsflüchtigen aus Kuba per Fluggerät zu Hilfe. Aus dieser humanitären Courage wird schnell etwas anderes – ein Spitzelverein sozusagen, der Anti-Kommunismus-Gruppen, die mit Terroranschlägen auf Kubas  Tourismus dessen Wirtschaft schwächen, infiltrieren soll. Und genau das ist prinzipiell mal nicht erlaubt in Amiland.

Wasp Network basiert auf einem Roman des Brasilianers Fernando Morais unter dem Titel: Die letzten Soldaten des kalten Krieges. Klingt spannend – ist es aber nicht. Verantwortlich für diese illustre Langeweile ist der Franzose Olivier Assayas, was mich angesichts von Filmen wie Die Wolken von Sils Maria oder Personal Shopper dann doch überrascht. Na gut, ein bisschen im kriminellen Metier herumgestochert hat er schon, zum Beispiel mit Carlos – Der Schakal. Sein von ihm aus der Vorlage extrahiertes Drehbuch ist allerdings eines, das angesichts all der kleinteiligen Fakten, Namen und Personen komplett den Überblick verliert, vieles nur halbherzig anreißt und in Tequila trinkender Redefreudigkeit vor sich hinschwatzt. Das ist zäh, und die Story selber ist nur so halb interessant, wie sie vorgibt zu sein, zumindest für mich jedenfalls. Die Familiengeschichte rund um Édgar Ramire´Figur ist das einzige, was als Konstante herhalten kann, der Rest ist ein Kommen und Gehen bunt behemdeter Pseudo-Rentner, die in Sachen Kuba und auch auf Drogen machen; Piloten und grünohrige Burschen, die mal da, mal dort sind und vielleicht in Gefahr geraten. Mit Sicherheit liest sich dieser Stoff besser, als er filmtechnisch funktioniert, denn das tut er kaum, da verstehe ich die Rolle des Streifens bei den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig nicht, wo Wasp Network um den Goldenen Löwen konkurriert hat.

Gewonnen hat er nichts, und gewinnend ist der Film mit einer Laufzeit von über zwei Stunden auch nicht. Man wartet auf den narrativen Höhepunkt, doch der kommt nicht. Klar, als Künstler muss man nicht zwingend den gelernten Parametern für den Storyaufbau folgen, doch wenn man diesen solchen verlässt, sollte zumindest die Alternative gut sein. So ist Wasp Network ein Einheitsbrei aus bereits erwähnten Versatzstücken. Ana de Armas ist wieder hübsch anzusehen und auch Penélope Cruz macht ihre Sache gut, doch die True Story um fünf Polit-Idealisten (Sind es fünf? Ich weiß es nicht mehr), die noch dazu viel zu oberflächlich umrissen sind, um mehr von ihnen wissen zu wollen, ist weder Politthriller noch Familiendrama. Wenn’s gut gemixt wäre, wäre das natürlich kein Ding, aber angesichts dieses ausufernden Wulsts an Notizen, Szenen und Orten könnte man fast vermuten, das Skript zum Film war als Rohfassung schon gut genug.

Wasp Network

Sergio

NUR NOCH KURZ DIE WELT RETTEN

7/10

 

sergio© 2020 Netflix

 

LAND: USA 2020

REGIE: GREG BARKER

CAST: WAGNER MOURA, ANA DE ARMAS, BRIAN F. O´BYRNE, GARRET DILLAHUNT, CLEMENS SCHICK U. A.

 

Sie kamen in Frieden und ernteten Terror: als im August des Jahres 2003 eine Autobombe vor dem UNO-Hauptquartier in Bagdad explodierte, war danach nichts mehr wie zuvor. Die Vereinten Nationen zogen sich zurück, der Irak versank noch mehr im Chaos als ohnehin schon, und den Amerikanern konnte keiner mehr auf die Finger schauen. Die Bombe, die ging auf das Konto des Terrorführers Al Sarkawi, aus dessen Gruppierung später der IS hervorgehen sollte. Auf das Konto der Bombe gingen Diplomaten wie der Brasilianer Sérgio Vieira de Mello, ein guter Freund Kofi Annans und ein Weltverbesserer unter den Menschen, wie es kaum einen zweiten zu dieser Zeit wohl gegeben hat. Dass zum Beispiel Ost-Timor, der östlichste Zipfel der Sunda-Inselkette, nach einem verheerenden Bürgerkrieg tatsächlich noch zu einem eigenen Staat wurde, das war unter anderem auch das Verdienst dieses äußerst intelligenten, überlegt agierenden und in seiner Arbeit wohl leidenschaftlichen Mannes, der aber, so betonte er, stark mit seiner Heimatstadt Rio verbunden blieb.

Sergio ist kein gewöhnliches Politdrama und schon gar kein Terrorthriller. Eher noch ein biographisches Portrait, sehr aufmerksam gezeichnet und mit Leidenschaft inszeniert, keinesfalls eben halbherzig, sondern die Hausaufgaben bis zum Schlußstrich erledigt. So wie die Arbeit Sérgio de Mellos, der all den einflussreichen Idealisten an ihrer Tafel Gesellschaft leistet, für eine bessere Welt steht und die unabhängig von ersten, zweiten oder dritten Mächten zu agieren hat. Dem wuchtigen Militärapparat der USA zeigt de  Mello die kalte Schulter, denn instrumentalisieren lässt sich die UNO nicht. Aus Fehlern wie seinerzeit in Ruanda habe man gelernt. Doch seltsamerweise ist für Länder wie den Irak alles, was aus dem Westen kommt, gleichbedeutend mit dem Feindbild Nr. 1, den USA, und so muss sich auch Sergio unter den Trümmern des Bagdader Canal Hotels wiederfinden, rettungslos eingeklemmt, geschwächt und fast schon in Agonie. In diesem Zustand, so heißt es doch, zieht das Leben an einem vorbei, in kurzen Episoden, in den schönsten Momenten. So hat Regisseur Greg Barker, der 2009 bereits eine Doku über den Mann inszeniert hat, den Stoff als Kaleidoskop letzter reflektierender Erinnerungen neu dramatisiert. Zum Glück aber ist daraus kein assoziativer Experimentalfilm geworden, zum Glück haben sich Mellos Erinnerungen relativ chronologisch in den Erzählstrang eingeordnet und machen auch einer Liebesgeschichte Platz, die nicht weniger leidenschaftlich ist als die Durchführung mancher diplomatischer Aufträge, die per Anruf erteilt werden, mit dem Ansuchen, nur noch kurz die Welt zu retten, bevor das eigentliche Leben beginnen kann. Wonach sehnt sich also Sergio, der sich einer vernunftorientierten Weltordnung verschrieben zu haben scheint, ohne ein eigenes Leben führen zu wollen? Die sinnliche, äußerst kokette Ana de Armas (Blade Runner 2049, Knives Out) eröffnet ihm mühelos eine neue Perspektive, doch ehe sich die Dinge ändern können, explodiert die Bombe.

Der brasilianische Film- und Fernsehstar Wagner Maura (u. a. Narcos) verkörpert den Vernunftmenschen durchaus auch als Lebemann, als Meister der Beredsamkeit und der charmanten Manipulation. Ein guter Mann, der die Werkzeuge der Sprache und des Respekts nutzt, da hat Barker keine Zweifel. Und de Armas? Hat verschwenderisch viel Screentime, Barker scheint fasziniert von ihr zu sein, und der Netflix-Seher ist es dankenswerterweise auch. All die Liebe, all der Krieg, all diese exotischen Kulissen, dieses Fremde und Ferne und Völkerverständigende, das sind Zutaten für großes Kino, durchaus. Für eine Liebeserklärung an einen Weltenbürger und realen Helden, denn so sehen die echten Captain Americas und Iron Mans und wie sie alle heißen eigentlich aus. Natürlich lebt Sergio durchaus auch von Pathos, lässt Glanz und Glorie auf einen Selbstlosen regnen. Schwülstig wirkt das nur selten, stattdessen viel mehr ehrerbietend, wie für einen Heiligen, nur bleibt die Kirche im Dorf und das dramatisch gute Beispiel entwaffnender Diplomatie einladend nachahmbar.

Sergio

Knives Out

DEM ERBE AN DIE GURGEL

7/10

 

knivesout© 2019 Universum

 

LAND: USA 2019

REGIE: RIAN JOHNSON

CAST: DANIEL CRAIG, ANA DES ARMAS, MICHAEL SHANNON, CHRISTOPHER PLUMMER, DON JOHNSON, CHRIS EVANS, TONI COLETTE, JAMIE LEE CURTIS U. A. 

 

Wenn die Messer gewetzt werden, beginnt das neue Kinojahr mit einem guten Einstand. Und bevor der letzte Vorhang für Daniel Craigs James Bond fallen wird, hat sich der blauäugige Brite dank eines gewieften Agenten bereits mit einer ganz andere Rolle angefreundet, nämlich mit einer, die gut und gerne aus Agatha Christies Feder erstanden wäre, hätte sie nicht schon Hercule Poirot zum Leben erweckt. Natürlich, Daniel Craig hat als gewissenhaft nachbohrender Detektiv längst nicht die Extravaganz des bartbewussten Belgiers, aber möglich wäre es durchaus, dass Knives Out mit Benoit Blanc (der frankophone Name alleine ist schon eine kleine Hommage an den distinguierten Meister der Kombinationsgabe) ein neues Franchise begründet. Neben dieser Neuorientierung hat sich mittlerweile auch Rian Johnson vom erdrückenden und maßlos übertriebenen Dauerfeuer erboster Star Wars-Fans erholt. Gut schlafen hat ihn das sicher nicht lassen, obwohl meiner Meinung nach das von ihm verfasste Drehbuch zur Episode VIII eines der besten der ganzen Filmserie war. Ich mochte Star Wars – The Last Jedi, sogar sehr. Und ich mag auch das Drehbuch zu Knives Out, das ebenfalls auf Johnsons Kappe geht. Und da sieht man wieder, das dieser kreative Kopf Szenarien ersinnen kann, die nicht unbedingt die Masse zufriedenstellen, dafür aber zwischendurch das Unerwartete heraufbeschwören und mitunter auch vor den Kopf stoßen.

In Knives Out passiert das auch. Zutiefst begeistert von den Werken der 1976 verstorbenen Krimigöttin Christie, hat sich Johnson vor allem ihr Werk Das krumme Haus zur Brust genommen. Darin verstirbt der vermögende Patriarch einer weitläufigen Familie, und womöglich nicht an Altersschwäche. Ein Detektiv kommt ins Spiel, um zu ermitteln. Manche sagen, dieses Werk sei Christies bestes Buch. Die Verfilmung aus dem Vorjahr kann sich entsprechend sehen lassen. Gillian Anderson, Glenn Close und Terence Stamp machten hier gute Miene zu verdächtigem Spiel. Ein Genuss für Krimifreunde. Wer da noch nicht genug hat, und eben eine Schwäche für Wachsblumensträuße oder dem Bösen unter der Sonne, der bekommt mit Knives Out zwar eine Art Dacapo an samstäglichem Suspense präsentiert, aber längst nicht mit gewohntem Plot. Denn Johnson variiert das wohlbekannte Setting und verschiebt dramaturgische Prioritäten so, wie er will. Und das Beste: man ahnt lange nicht, was als nächstes kommt. Dieses Unberechenbare ist Johnsons Stilelement. Dieses Vorziehen später zu erwartender Höhepunkte, die sich plötzlich Bahn brechen, können gerne auch irritieren. Weil manches gelüftet wird, was man vielleicht noch gar nicht wissen will. Doch hinter diesem Eigen-Spoiler stecken noch weitere Geheimnisse, um die es letzten Endes gehen soll. Und nichts ist, wie es bekanntlich scheint.

Für dieses Kammerspiel haben die Set-Designer und Ausstatter alle Stückchen spielen lassen. Das Herrenhaus ist so krumm wie noch nie. Holzgetäfelte Düsternis, eine üppige Schwäche für Antiquitäten, knarzende Treppen und versteckte Türen. Gut und gerne ließe sich das Haus vor dem Ausschlachten der Requisiten zu einem Fun-Park hinüberretten, so sehr ist hier der unbequeme Verdacht zuhause. Doch keine Sorge, von beklemmendem Grusel sind diese vier Wände weit entfernt – dafür aber umso näher an sarkastischer Süffisanz, die das Ensemble mit heller Spielfreude an den stimmungsvoll vernebelten  Tag legt. Die Runde kann sich sehen lassen – fast so schillernd wie in Kenneth Branaghs Mord im Orient-Express. Don Johnson lässt sich sehen, aber auch Toni Colette, Blade Runner 2049-Beauty Ana des Armas, ein herrlich pseudodevoter Michael Shannon und ein völlig gegen den Captain America-Gutmensch gebürsteter Chris Evans, der dank eines gewieften Agenten ebenfalls versucht, bitte zukünftig nicht mehr mit Marvel in Verbindung gebracht zu werden. Sie alle haben ihre Momente, und sie schleichen, wie Erben eben schleichen, um einen Tatort herum, der mehrere plausible Szenarien erzählt, die Craig mit nüchternem Columbo-Charme gegeneinander abwägt. Dabei fehlt ihm der letzte Schliff, etwas mehr unverwechselbar Persönliches. Doch das, was Knives Out ganz alleine gehört, das ist die lückenlose Brillanz eines zerschnipselten Drehbuchs, das als gute alte Whodunit-Hommage genauso gut funktioniert wie als quergebürstete Erbschleicherkomödie, gänzlich ohne Pflichtanteil.

Knives Out