Amrum (2025)

FÜR EINE HANDVOLL HONIG

8/10


© 2025 Warner Bros. / mathiasbothor.com


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: FATIH AKIN

DREHBUCH: FATIH AKIN, HARK BOHM, NACH DESSEN ERINNERUNGEN

KAMERA: KARL WALTER LINDENLAUB

CAST: JASPER BILLERBECK, KIAN KÖPPKE, LAURA TONKE, DIANE KRUGER, DETLEV BUCK, LISA SAGMEISTER, STEFFEN WINK, LARS JESSEN, TONY CAN, MAREK HARLOFF, DIRK BÖHLING, JAN GEORG SCHÜTTE, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Erst vor wenigen Tagen verstarb Hark Hermann Bohm im Alter von 86 Jahren. Ich muss gestehen: bevor Fatih Akin mit seinem neuen Film über die Kindheit desselbigen in den Kinos startete, konnte ich diesen Namen nur relativ ungenau zuordnen. Mittlerweile habe ich auch diese Wissenslücke in Sachen deutscher Filmgeschichte geschlossen: Das Allroundgenie war nicht nur Filmemacher mit der dichtesten Schaffensperiode in den Siebzigern, sondern auch Schauspieler seit den Sechzigern (unter anderem bei Rainer Werner Fassbinder) und später Drehbuchautor für Fatih Akins Werke Tschick oder Aus dem Nichts. Sein wohl bekanntester Film: Nordsee ist Mordsee. Gut, wieder was dazugelernt. Und was wir bei Amrum noch dazulernen, ist, wie es sich als Kind angefühlt hat, das Ende des Zweiten Weltkriegs mitsamt seiner Nazi-Despotie nur peripher, aber vor allem im Spiegel der Eltern, mitzuerleben.

Krieg und Frieden durch Kinderaugen

Dieser Dreikäsehoch war Hark Bohm, da haben wir ihn wieder, und er hätte wohl selbst diesen Film über sich selbst inszeniert, hätte er nicht angesichts seines fortgeschrittenen Alters klein beigeben müssen. Fatih Akin, Bohms guter Freund, hat sich dieser Sache angenommen und selbst Regie geführt, im Beisein Bohms und nach dessen Drehbuch. denn niemand sonst hätte all diese Details im Kopf gehabt, um einen Umbruch zu beschreiben, der mit Magie, Neugier, Tradition und kindlichem Pragmatismus so sehr einhergeht, dass man glauben könnte, die gute Christine Nöstlinger, die mit Maikäfer flieg! ähnliche Erinnerungen zu Papier gebracht hat, ließe sich von einem wie Taika Waititi inszenieren, auf dessen Kappe das wiederum ganz andere, aber von der Tonalität her durchaus verwandte Meisterwerk Jojo Rabbit geht.

Die Erwachsenen verstehen lernen

Amrum reiht sich in diese verspielten, allerdings ernsthaften, aber niemals im Kummer endenden Betrachtungen auf Augenhöhe junger Heranwachsender so nahtlos ein, dass man diesen hier als inoffizielle Themenfortsetzung von Waikiki und Nöstlinger betrachten könnte, nur eben mit dem inseldeutschen Kolorit jener Menschen, die tagein tagaus mit dem Salz, den Wellen, dem Sand und den Gezeiten leben, die sich mitunter im friesischen Dialekt namens Öömrang unterhalten und eine lakonische Zähigkeit und Resilienz an den Tag legen, dass es zum gestandenen menschelnden Erlebnis wird. Allerdings haben nicht alle ihren stolzen Überlebenswillen hier draußen auf der friesischen Insel – Nannings Mutter hat ihn nicht. Die war Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass Adolf Hitler stets das richtige getan hat. Und als dann das Ende des Krieges und das Ende des Diktators kam, brach für die gute Frau (gespielt von Laura Tonke) eine Welt zusammen. Wie denn den Kummer der Erwachsenen tilgen, fragt sich der kleine Nanning (so Bohms Alter Ego), und findet letztlich die Konklusio, dass nur ein Weißbrot mit Butter und Honig wieder ein Lächeln auf die Lippen von Mama zaubern könnte. So stürzt er sich ins Abenteuer, um das zu beschaffen, was in Zeiten wie diesen rarer nicht sein kann. Vom Bäcker geht’s zum reichen Onkel, von dem zur Imkerin, querfeldein, über Wege, über Äcker und durchs Inseldorf mit dem prägnanten Kirchturm. Der Vater als Obersturmbannführer weit weg im Krieg, der Onkel (Matthias Schweighöfer) in Amerika die Illusion einer besseren Welt. Das Glück der Mutter das Ziel aller Bestrebungen.

Planet Amrum

Fatih Akin ist auch nicht unbedingt einer, der nur ein Thema kann. Vom leichten Sommerroadmovie Im Juli geht’s bis zum verstörenden Serienkillerhorror Der goldene Handschuh, dazwischen fährt Sebil Kekili Gegen die Wand und wird Diane Kruger zum Racheengel. Akin verliert sich dabei aber nie in klebriger Schwermut, sondern hält seine Arbeiten stets in Bewegung, damit sie Raum zum Atmen haben. Frische Luft tanken alle seine Filme, und ganz besonders Amrum. Für diese tiefe Verbeugung vor seinem Mentor, Lehrer und Freund schuf der Filmemacher ein faszinierend unbekümmertes und zugleich berührendes und die Geschichte niemals ignorierendes Abenteuer eines kindlichen Reifungsprozesses von verträumter Weltanschauung bis zur ergriffenen Initiative, bis zum Projekt des Überlebens und der Nächstenliebe. Amrums Charaktere sind jeder für sich unverkennbare Figuren, wettergegerbte Fischer; aufmüpfige, aber herzensgute Bauern, nach vorne blickende Überlebenskünstlerinnen und künstler, die den Krieg als eine Erscheinung erkennen, die ein Weitermachen niemals in Frage stellen würde – auch wenn es bedeutet, alles hinter sich zu lassen. In diesem Spannungsfeld läuft der ungestüme Jasper Billerbeck durch eine denkwürdige Zeitenwende, um für eine Handvoll Honig sein eigenes, liebevoll ausgestaltetes und weniger dämonisches Pans Labyrinth zu schaffen, voller Proben aufs Exempel, Erfahrungen und Weisheiten fürs Leben, die sich erstmal nicht als solche offenbaren.

Erinnerungen als Grundstein des Ichs

Amrum ist ein Werk voll Leichtigkeit und Schwere zugleich, verpackt in rustikalen, wunderschönen Bildern eines rauen, aber ehrlichen Fleckens Sand, Schlamm und Erde. Tragikomisch wäre aber fast zu einfach, viel mehr ist die Improvisationsgabe eine aufgeweckten jungen Geistes, der so gut wie alles mit anderen Augen sieht, so erfrischend, als wäre Nostalgie und Erinnerung essentiell dafür, nach vorne zu blicken, zuversichtlich, egal was kommt. In diesem Fall auf ein schillerndes (erfülltes) Leben wie das des Hark Bohm.

Amrum (2025)

In die Sonne schauen (2025)

VEREINT IN DER ZEIT

9/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: MASCHA SCHILINSKI

DREHBUCH: MASCHA SCHILINSKI, LOUISE PETER

KAMERA: FABIAN GAMPER

CAST: HANNA HECKT, LEA DRINDA, LENA URZENDOWSKY, LAENI GEISELER, SUSANNE WUEST, LUISE HEYER, FLORIAN GEISSELMANN, GRETA KRÄMER, ZOË BAIER, CLAUDIA GEISLER-BADING, GODE BENEDIX U. A.

LÄNGE: 2 STD 29 MIN


Mascha Schilinski war da. Ganz leger in Mantel, Haube, Schal, als wäre sie lediglich in der Fluktuation der Besuchenden Gast einer Vernissage, dessen Bilder längst nicht die ihren sind. Ob sie ihrem Publikum noch etwas sagen wolle, bevor ihr Film beginnt, stellt die Moderatorin der Viennale nach kurzer Begrüßung die letzte Frage. Einfach treiben lassen, reinfallen lassen, sehen, was kommt, so die Antwort. Nicht das offensichtlich Verworrene hinterfragen, keine Verwandtschaftsverhältnisse, kein Warum oder Weshalb. Einfach wahrnehmen. Dann, nur dann, und das dann garantiert, bekommt In die Sonne schauen Struktur, erkennt man Muster, einen gewissen Rhythmus, dafür sollte man aber seinen Geist öffnen, zulassen, Vorurteile hintanstellen, Erwartungen sowieso gar nicht erst gehabt haben. Und so habe ich mir diese letzten Worte zu Herzen genommen, habe mich zurückgelehnt, die Augen und Ohren geöffnet, meine Sinne auf Empfang justiert, mich sozusagen in eine meditative Vorstufe begeben.

Die Mathematik einer narrativen Sprengung

Das darauffolgende Eintauchen im Schilinskis vielfach prämiertes Opus Magnum – und ja, das ist es auf alle Fälle – ist wie der Besuch in einem fremden Land, das Hineingleiten in einen Fluss, das Erspüren des Waldbodens mit bloßen Füßen. Es riecht nach alten Möbeln, nach Heu, nach Schweiß, nach Tod. Nach Pflaumen, Sommersonne und Blut. Was Ludwig Ganghofer, Ludwig Anzengruber, Franz Innerhofer und Robert Schneider schon immer hätten schreiben wollen, ist Mascha Schilinski mit ihrer Co-Autorin Louise Peter über Jahre hinweg gelungen: Einen Zeit und Raum sprengenden Heimatfilm, der sich von allem bisher Dagewesenen abwendet, um nichts in der Welt einem Genre zugeordnet werden möchte und womöglich selbst durch ein intuitives Erspüren der Dinge und Wesenheiten überhaupt erst entstanden ist. Gleichermaßen aber erfordert eine Struktur wie diese, die in In die Sonne schauen sichtbar wird, fast schon mathematische Genauigkeit. Beides zusammen in ein sich gegenseitig begünstigender Widerspruch, der im Betrachten dieser metaphysischen Chronologie etwas bewegt.

Hin und hergerissen

Pauschalisiert gesehen sind es Emotionen, und zwar nicht nur solche, die sich dem Gezeigten gegenüber wohlwollend verhalten. Mitunter ist es Ablehnung, da ich vermutet hatte, dass Schilinskis Anspruch, Filmkunst zu verwirklichen, diesem Zweck genügt und nicht mehr. Manchmal bin ich wütend, dann verwirrt, verstört – ein Entwicklungsprozess tritt in Gang, der, betrachtet man das Konzept des Films, genau so gewollt war. Das Wechselbad der Empfindungen spiegelt sich in der Gesinnung dieser Frauen, zeitlich auseinandergerissen in vier Epochen, weit voneinander entfernt, physisch vielleicht, aber nicht psychisch, denn da schlagen die vier Episoden ihre Brücken zueinander, ziehen sich gegenseitig an und verschmelzen zu einem ineinander verschachtelten Mosaik aus Szenen, die je nach Lichteinfall einmal nur die einen, dann wieder die anderen Steine sichtbar werden lassen, je nach Schliff, je nach Tonalität.

Diese vier Epochen erscheinen in ihrer Gleichzeitigkeit, von den Jahren des Ersten Weltkriegs über das bittere Ende des zweiten Krieges an den Achtzigerjahren vorbei bis in die Gegenwart. Vier weibliche Persönlichkeiten stehen da an der Schwelle eines Umbruchs, einer Offenbarung, eines Paradigmenwechsels. Schauplatz ist stets ein altmärkischer Vierkanthof, die Zeiten und ihre Lebensweisen können unterschiedlicher nicht sein. Umso auffallend aber das, was die vier Menschen miteinander verbindet – manch Worte, das Vergängliche, die Ahnung von etwas größerem Ganzen, vielleicht den eigenen Ahnen.

Ein Donnern durch die Zeit

Wie klingt der Urknall, hat sich Schilinski gefragt, als sie nach dem Film über die bedeutende Ebene der Klangwelten spricht. Etwas Gewaltiges ist im Gange, das Grundrauschen des Universums, das Dehnen physikalischer Gesetze, die, begleitet von einem gepeinigten Wummern, den Wechsel zwischen den Existenzblasen ermöglicht. Das Experimentelle des Tons findet seine Entsprechung in der experimentellen Visualisierung abstrakter, sinnlicher Wahrnehmungen, zwischen Unschärfen, entsättigten Traumsequenzen und alternativer Visionen.

Das Durchbrechen der vierten Wand führt dazu, dass wir uns angesprochen fühlen, doch vielmehr ist es das Durchbrechen der den Figuren eigenen zeitlichen Dimension, um in eine andere zu blicken, nur einen kurzen Augenblick – um gewahr zu werden, dass die Zeit dich nicht trennt von denen, die da waren und jenen, die noch werden. In die Sonne schauen wird fast schon zu einem Spukfilm, ein Geisterreigen, stets begleitet von einer gewissen folgenschweren, melancholischen Düsternis. Auch der Tod als epigenetischer Übergang in eine andere Existenz ist nicht die einzige Naturgewalt, die Schlussstriche zieht. Da ist noch etwas anderes, diese Gleichzeitigkeit. Zeit ist in Schilinskis Film ein abstrakter Begriff, eine verschiebbare Trennung, ein Kreislauf, wie in Denis Villeneuves Science-Fiction-Film Arrival. Überrumpelt stelle ich fest, dass In die Sonne schauen letztendlich zu einer oszillierenden, ständig in Bewegung befindlichen, bahnbrechenden Erfahrung von Film geworden ist – eine audiovisuelle, symphonische Anordnung als wohl ungewöhnlichstes Werk im Rahmen der Viennale und vielleicht auch des Jahres. Am Ende hat Schilinskis völlig recht mit ihrer Empfehlung. Antennen öffnen, Sinne schärfen, Film hineinlassen. Am Ende, den Boden unter den Füßen verlierend, sieht man klar.

In die Sonne schauen (2025)

Magellan (2025)

POSTKARTEN EINES ENTDECKERS

5/10


© 2025 Luxbox Films


ORIGINALTITEL: MAGALHÃES

LAND / JAHR: PHILIPPINEN, SPANIEN, PORTUGAL, FRANKREICH, TAIWAN 2025

REGIE / DREHBUCH: LAV DIAZ

KAMERA: LAV DIAZ, ARTUR TORT, CIRIL BARBA, MIQUEL BARCELÓ, JULIEN HOGERT

CAST: GAEL GARCÍA BERNAL, AMADO ARJAY BABON, DARIO YAZBEK BERNAL, ÂNGELA RAMOS, HAZEL ORENCIO, RONNIE LAZARO, TOMÁS ALVES, RAFAEL MORAIS, VALDEMAR SANTOS, MARIO HUERTA U. A.

LÄNGE: 2 STD 35 MIN


Während Vangelis mit seiner Jahrhundertkomposition Conquest of Paradise auf überwältigende Weise die ganze Szene akustisch einnimmt, voller Fernweh-Vibes und bis zur Halskrause voll mit historischem Pathos, schippert ein noch ranker und agiler Gerard Depardieu als Christoph Kolumbus mit seiner Santa Maria in Richtung der Karibischen Inseln – Ridley Scotts mitreißend opulentes Meisterwerk ist ein Schulbeispiel dafür, wie Entdeckermythen auf die Leinwand gewuchtet werden können. Der Genuese und seine weltbewegende Expedition ist schließlich einer jener globaler Wendepunkte, die so gut wie alles, was danach kam, beeinflusst haben. Ein weiterer ist die Seefahrt des Ferdinand Magellan, doch hierfür hat Ridley Scott keinen Film gemacht. Den darf jemand anderer ein Denkmal setzen, wenn auch ein weitaus kritischeres, objektiveres – um nicht zu sagen: Eines, das den militanten und auch im Glauben recht extremistischen Seefahrer als einen asozialen Tunichtgut hinstellt, der mittlerweile mit seinem Namen auf allen Atlanten und Globen dieser Welt hausieren geht und den was weiß ich was noch angetrieben haben mag, um diesen Globus zu umrunden – jedenfalls weder Ehrgeiz noch das Fernweh noch der Wille, die Welt zu entdecken. So zumindest bleibt Lav Diaz, Filmemacher mit Hang zur Überlänge, relativ ratlos dabei, wie er seinen historischen Charakter überhaupt anlegen soll.

Pop-Up-Portfolio tropischer Gestade

Zur Verkörperung dieser unnahbaren Persönlichkeit holt er sich Gael García Bernal, ein bekanntes Gesicht also, versteckt hinter dichter Gesichtsbehaarung, der aber genauso wenig eine Ahnung davon hat, wie er ins Bild passt, bis Lav Diaz ihm die Regieanweisungen gibt; bis er also das akribisch arrangierte Tableau betritt, bis die passive Kamera ihn einfängt – sie wartet schließlich wie ein verharrendes Tier, unbeweglich, Ausschau haltend, geduldig lauernd, ohne zuzuschlagen. Magellan ist auf eine Art und Weise inszeniert, die mich an die Arrangements des Schweden Roy Andersson erinnert, der mit seinen surrealen Werken Das jüngste Gewitter oder Über die Unendlichkeit die Leinwand zur Guckkastenbühne macht und in seinen Episoden statische Settings samt zugehörigem Blickwinkel einrichtet, der sich aber niemals verändert, sondern das Geschehende in der Totalen abbildet. Lav Diaz arbeitet noch dazu im 4:3-Format, nahezu quadratisch also, und in dieser Quadratur dringt üppig wuchernd der Dschungel der philippinischen Inseln, treiben schwimmende Untersätze aus der Renaissance über die Ozeane wie auf einer Badewanne, stolpern ganze Inselbevölkerungen durch das Dickicht, liegen Tote und Verwundete – Konquistadoren und Eingeborene der Inseln Cebu und Mactan – im tropischen Sand, während sich darüber Gewitterwolken türmen, zerschlissene Fahnen wehen und die bedrängte Sonne spärliches Licht über sie Szene gießt – alles wie die Gemälde später romantischer Maler, die längst schon dem Realismus gehören. Soviel Pathos lässt Lav Diaz dann doch wieder zu, doch immer ist er meilenweit davon entfernt, jene Monumentalität in Bewegung zu versetzen, die wie bei Ridleys Scott alle Sinne betört, ungeachtet dessen, ob dieser in der Rekonstruktion der Geschehnisse historisch akkurat bleibt. Wir wissen, Scott tut das nie – Lav Diaz schon eher, obwohl er auch am Ende einiges durcheinanderbringt und Magellan dafür verwendet, um die Geißel katholischen Missionseifers anzuprangern.

Was fehlt, ist Perspektive

Die befremdend statische Bildgewalt ist eine Sache, sie hält auf Distanz, fühlt sich an wie eine Ansammlung von Postkarten – flache, aber berauschende Bilder, die nichts über ihre Figuren erzählen. Magellan leidet daher unter seiner Tendenz, in seinen Protagonisten nicht mehr sehen zu wollen als Statisten eines historischen Reenactments, ohne sich für das Wesen Magellans zu interessieren. Ihn bei Sonnenuntergang an den Bug zu setzen und gen Horizont schauen zu lassen, reicht nicht. Die Seefahrt so sehr runterzustutzen, dass nur noch Fragmente eines außerordentlichen Hochseedramas übrig bleiben, um dann Magellans Einfluss breitzutreten, der die philippinische Geschichte betrifft, sind leere Kilometer, die außer des Visuellen keinen Mehrwert besitzen. Erst spät wird klar, dass Lav Diaz seinen Film von der anderen Seite hätte aufziehen können, von jener des Stammesältesten Lapu-Lapu, denn der ist schließlich philippinischer Nationalheld und wurde letztlich zur Nemesis des übereifrigen Portugiesen, der dank falscher Entscheidungen auf Mactan seinen Tod fand.

Hätte Lav Diaz die Historie auf eine Weise erzählt, auf welcher sie noch nie erzählt wurde (das hat nicht mal jene sechsteilige Serie mit dem Titel Ohne Grenzen gewagt, die, allerdings sehr sehenswert, auf amazon prime abrufbar ist), hätte er sich die Blamage erspart, womöglich aufgrund mangelndem Budgets die wohl misslungenste Darstellung eines stürmischen Gewitters auf hoher See zu inszenieren. Wenn das Schiff nur leicht schwankt und die Gischt wie aus der Gießkanne plätschert, wäre das wohl eher die Puppenhaus-Ironie eines Wes Anderson gewesen als Teil eines Pop-Up-Naturalismus, der nicht weiß, wo er ansetzen und was er weglassen soll.

Magellan (2025)

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes (2025)

POSIEREN IM LICHT DER ERKENNTNIS

8,5/10


© 2025 Weltkino Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: EDGAR REITZ, ANATOL SCHUSTER

DREHBUCH: EDGAR REITZ, GERT HEIDENREICH

KAMERA: MATTHIAS GRUNSKY

CAST: EDGAR SELGE, AENNE SCHWARZ, MICHAEL KRANZ, ANTONIA BILL, BARBARA SUKOWA, LARS EIDINGER, SALOME KAMMER, ANNE SCHIRMACHER U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Was ist ein Portrait? Filmfachlich gesehen eine Charakterstudie, meistens auf Spielfilmlänge, in der versucht wird, das Wesen einer Person zu ermitteln, einzufangen; es umspannt den Prozess des Suchens nach Merkmalen, Stärken, Besonderheiten, Bedürfnissen, Schwächen und Sehnsüchten. Ein Portrait ist keine Biographie, sondern die Betrachtung des Wesens hinter einem Menschen, meist von berühmten Persönlichkeiten aus allen Sparten der Weltgeschichte oder der globalen Gegenwart. Als Portraitfilm geht auch das jüngste der Werke des Altmeisters Edgar Reitz in die Filmgeschichte ein, denn seine im besten Sinne übertragene Wortadaption eines Portraits in einem Portrait ist alleine schon ein nahezu genial zu bezeichnender Ansatz, einer Persönlichkeit näherzukommen, die man längst nicht so vor Augen hat wie zum Beispiel die alten Griechen, Diogenes mit seinem Fass, Sokrates mit seinem Schierlingsbecher oder Physiker Isaac Newton, dem ja, wie wir alles wissen, der Legende nach der Apfel auf den Kopf gefallen war. Wie steht’s aber um Gottfried Wilhelm Leibniz, den Popkultur-Physiker Sheldon aus der Sitcom The Big Bang Theory zumindest ein paarmal namentlich erwähnt hat?

Die Zeit vergeht im Gemälde

Nichts weiß man von ihm, oder zumindest kaum etwas. Selbst Edgar Reitz wusste anfangs wohl auch relativ wenig, also recherchierte er jahrelang für dieses filmische Denkmal, brachte Gedanken, Errungenschaften und Erfindungen alle zusammen – es muss ein Pulk an Informationen gewesen sein, der sich sicherlich nur schwer ordnen ließ. Dennoch hat es der legendäre Autorenfilmer, der für sein monumentales Heimat-Triptychon bekannt wurde, dieses ganze wuchtige Wirken und Leben eines Denkers so sehr komprimiert und veranschaulicht, dass es in einen kleinen, schummrigen Raum passt – in das Arbeitszimmer von Leibniz, mit Glastüre in den Wintergarten und einer Oberlichte, durch die das einzige wahre Licht fällt, das zum Malen eines Portraits geeignet scheint. Wobei wir wieder bei der Frage des Abbildnisses über den Tod hinaus wären, bei der Malerei und dem Verewigen. Dabei gibt es eine Szene, da wirft die begnadet gut mit niederländischem Akzent sprechende Aenne Schwarz die Frage auf, was genau eine Malerei nun abbildet. Den Moment, die Entstehung dieses Moments bis hin zur Vollendung, oder vielleicht auch die Zeit, die es gebraucht hat, um die Mineralien entstehen zu lassen, die für die Farbpigmente letztlich verwendet wurden. Das Bildnis wird so zur Drehscheibe philosophischer Betrachtungen, wobei dieser Begriff wieder erschreckend schwammig daherkommt, weil er zu sehr verallgemeinert.

Wort und Bild im Einklang

Was bei dieser Begegnung zwischen der fiktiven Malerin, deren Namen so klingt wie jener des berühmten Jan Vermeer und die sich anfangs als Mann ausgibt, und dem Geistesriesen und Humanisten Leibniz, der hier wie selten jemand punktgenau die Vernunft verkörpert, alles für Synergien erwachsen, überträgt sich ungefiltert auf ein aufmerksames, zuhörendes Publikum, das zum Glück nicht damit überfordert wird, die Bildgewalt eines auf die große Leinwand projizierten Theaterstücks auch noch in sich aufsaugen zu müssen. Reduktion durch berechnete Opulenz, so könnte man Reitz‘ visuelle Sprache untertiteln. Alleine schon der von Antonia Bill vorgetragene Brief der Charlotte, Königin von Preußen, an ihren liebgewonnenen Gesprächspartner Leibniz zu Beginn des Films öffnet die Tore in eine Zeit, in der man nichts damit gewinnen konnte, seiner Zeit voraus zu sein. Um das scheinbar, aber nur scheinbar strenge Spiel aufzulockern, wählt Reitz am Anfang noch die profane Begegnung mit einem Ignoranten – Lars Eidinger ganz absichtlich entnervt als Maler ohne Selbstreflexion, der mit der Abbildung des redegewandten Diskutanten formidabel scheitert. Und dann Aenne Schwarz, erinnernd an die Barockmalerin Michaelina Wautiers, welcher zur Zeit am Wiener Kunsthistorischen Museum eine Ausstellung gewidmet wird, und ebenfalls ihrer Zeit voraus – eine akribische Visionärin, die im posierenden Denker, der ungerne Perücke trägt, ihren Meister findet. Andersherum findet es genauso statt, beide ergänzen sich, beide beleuchten im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit, die Zukunft, die Gegenwart – all das, was in ein Bild fließen soll.

Ein Gemälde blickt auf die Welt

Wenn Michael Kranz als des Hofrats rechte Hand in den dunklen Raum jenseits der Tapetentür dringt, um das Denken von Leibniz zu extrahieren, erinnert das fast an das Denkarium von Professor Dumbledore aus Harry Potter – das Mysterium des Denkens und Ahnens tut sich auf, und genauso mysteriös und auf einer gewissen Metaebene existierend entfaltet sich Sprache, Licht und Pigment zu einem berührenden Sinnesrausch nahe an der Geschichte, nahe am Tod und an der Ewigkeit, ermöglicht durch ein Gemälde, dass wir, wie die Welt, auch nur erahnen können.

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes (2025)

Nouvelle Vague (2025)

SO COOL IST FILMEMACHEN

8/10


© 2025 Viennale / Jean-Louis Fernandez


LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE: RICHARD LINKLATER

DREHBUCH: RICHARD LINKLATER, HOLLY GENT, LAETITIA MASSON, MICHÈLE PÉTIN, VINCENT PALMO JR

KAMERA: DAVID CHAMBILLE

CAST: GUILLAUME MARBECK, ZOEY DEUTCH, AUBRY DULLIN, MATTHIEU PENCHINAT, ADRIEN ROUYARD, BRUNO DREYFÜRST, ANTOINE BESSON, LAURENT MOTHE, BENJAMIN CLÉRY, JADE PHAN-GIA U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wer die Eckpfeiler der Filmgeschichte zumindest grob umreißen kann, dem wird der Begriff der Nouvelle Vague bekannt sein. Mit dieser Welle hat sich das Kino emanzipiert und etabliert, hat neue Wege gefunden, das Bewegtbild dazu zu verwenden, völlig andere Geschichten auf völlig andere Weise zu erzählen, die die Sehgewohnheiten des Publikums bewusst unterwandern, diesem aber auch Lust verschaffen, sich an Neuem zu orientieren. Nicht nur eine Welle brandete da an die Gestade der Betrachtenden, sondern mehrere kleine. Die Küste ist lang, es ist Platz für alle, von Jean-Pierre Melville bis hin zu einem wie Jean-Luc Godard, der wohl jenes Paradebeispiel inszenieren wird, das bis heute für den Trend in der Filmgeschichte steht: A Bout de Souffle, übersetzt Außer Atem, später gar in den Achtzigern nachverfilmt mit Richard Gere und Valérie Kaprisky als Atemlos. Von letzterem bleibt nicht ganz so viel in Erinnerung – von Jean Sebergs kurzem, blonden Haar und Jean-Paul Belmondos Vagabunden-Visage mit Krawatte, Hut und klimperndem Kleingeld in der Hand bis auf Ewigkeiten wesentlich mehr. Wie ist dieses Meisterwerk des modernen Films überhaupt entstanden? Und was sind die ungeschriebenen Gesetze dieser New Wave, abgesehen davon, dass es keine gibt, und das Konzeptkino sowieso längst über Bord geworfen wurde?

Die Creme de la Creme der jungen Wilden

Was Young-Adult-Filmvirtuose Richard Linklater wohl für Recherchen betrieben haben muss, um in derart detailversessener Kleinarbeit ein dramatisiertes Making Of zu inszenieren, dass so lebendig wirkt, als wäre man mittendrin statt nur dabei;, als hätte man den Wandel der Jahrzehnte von den 50ern in die 60er leibhaftig miterlebt; als könnte man sich erinnern, wie das damals war, in Frankreich, als vieles nicht mehr so sein wollte wie es bisher? Diese Chronik der Revolution eines Films zaubert Linklater mit einer Leichtigkeit auf die Leinwand, dass man vom Antrieb, etwas zu schaffen, mitgerissen wird. Längst schon genießt man die Vorstellungsrunde dank eingeblendeter Namen, damit man sich als halbwegs versierter Kunstgeschichtekenner in diesem Metier auch orientieren kann. François Truffaut (Sie küssten und sie schlugen ihn, 1959), Claude Chabrol, Roberto Rossellini (der den Neorealismus wie kein anderer geprägt hat), Èric Rohmer, Jean Cocteau (Orpheus), Juliette Greco… sie alle haben ihren sich selbst verewigenden Auftritt, manche nur kurz, manche kurz, aber denkwürdig, letzten Endes scharen sich alle um einen einzigen, nämlich den Mann mit der Sonnenbrille selbst im Kinosaal: Jean-Luc Godard, der unbedingt so bekannt und berühmt sein will wie sein Spezi Truffaut, der aber bei Gott alles selbst in die Hand nehmen und etwas schaffen will, womit niemand rechnen und was auch niemand erwarten würde: Einen Film ohne Regeln.

Vom Charme des Andersmachens

Außer Atem wurde genau das: Ein Lehr- und Studienfilm für progressive Filmemacher, und das bis heute. Es ist verblüffend, was man dabei zu sehen bekommt, denn der wahre Spaß – nach vielem Hin und Her, Türklinkenputzen und kaum kanalisierten inneren Energien – beginnt so richtig mit der ersten Klappe, wenn Jean Seberg noch längst keinen Text hat, denn den gibt es nicht, alles ist Improvisation, nichts geplant, nichts zu lernen, und im ersten Take schlummert sowieso laut dem Meister die unverstellte Authentizität des darstellenden Ensembles. Untermalt mit eingängigen und zum Glück kaum aufdringlichen 60er Jahre-Rhythmen lebt ein fabulöser Guillaume Marbeck den schräg-sympathischen Visionär Godard mit pointierter Mimik, naiver Arroganz und unverstelltem Idealismus. Es geht nicht, ihn nicht zu mögen, alleine durch den Mut, den leeren Raum des ungenutzten Tages zur Inspiration und zum Müßiggang zu nutzen, während die Verzweiflung des Produzenten von Tag zu Tag spürbarer wird, wird Godard zum Pionier der Entschleunigung und des Andersmachens. Mit ihm sitzen Auby Dullin als Belmondos Inkarnation und eine zum Niederknien bezaubernde Zoey Deutch als Jean Seberg (sorry Kristen Stewart, aber gegen dieses Charisma hast du keine Chance) im selben Boot – alle drei erleben ein kreatives Abenteuer der Sonderklasse, in knisterndem Schwarzweiß inklusive den Markierungen zum Filmrollenwechsel. Dieses Retro-Erlebnis ist ein funkensprühendes Must-See für alle, die nicht genug davon bekommen können, hinter die Kulissen der Filmwelt zu blicken.

Nouvelle Vague (2025)

Die Vorkosterinnen (2025)

RUSSISCH ROULETTE AM MITTAGSTISCH

6/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: LE ASSAGGIATRICI

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN, SCHWEIZ 2025

REGIE: SILVIO SOLDINI

DREHBUCH: DORIANA LEONDEFF, SILVIO SOLDINI, CRISTINA COMENCINI, GIULIA CALENDA, ILARIA MACCHIA, LUCIO RICCA, NACH DEM ROMAN VON ROSELLA POSTORINO

CAST: ELISA SCHLOTT, ALMA HASUN, MAX RIEMELT, EMMA FALCK, BORIS ALJINOVIC, OLGA VON LUCKWALD, THEA RASCHE, BERIT VANDER, KRIEMHILD HAMANN, ESTHER GEMSCH, NICOLO PASETTI U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Er ist wieder da. Und sicher nicht das letzte Mal. Immer und immer wieder wird das Musterbeispiel, der Prototyp des menschenverachtenden Diktators der Neuzeit die Medien infiltrieren. Er wird zitiert, er wird verfilmt, und alle, die ihn jemals auch nur auf periphere Weise umgeben haben, werden noch zu Wort kommen. Und wenn es sich dabei auch nur um einen Mythos handelt. Um ein Gerücht wie dieses zum Beispiel, das von einer Gruppe Frauen handelt, die von Adolf Hitlers auserwählter Militär-Elite zwangsrekrutiert wurde, um Speisen vorzukosten, die dem Führer wohl geschmeckt haben.

Es gab da eine Dame, Margot Woelk hieß sie, die kurz vor ihrem Ableben 2012 mit Erinnerungen an die Öffentlichkeit ging, in denen sie als Vorkosterin für Adolf Hitler gedient haben soll. Mit weiteren fünfzehn Frauen soll sie in der Wolfsschanze im Jahre 1942 diverse Speisen auf Toxine geprüft haben, natürlich den eigenen Tod, falls es doch mal zu einem Giftanschlag hätte kommen sollen, inbegriffen. Diese erstaunlichen Fakten wurden 2014 von einem Journalisten hinterfragt, somit stehen in dieser Sache Aussage gegen Aussage – bis Rosella Postorino einen Roman darüber schrieb. Dieser hat mit historischen Tatsachen nun überhaupt nichts mehr gemein, bleibt aber als verlockende Hypothese im geschichtsfreien Raum stehen, als fiktiv-verspielte Ergänzung eines zu finsteren popkulturellen Legende gewordenen Schwerverbrechers, den seine Liebe zu Schäferhunden und vegetarischem Essen manchmal viel zu harmlos erscheinen lassen – Oliver Masucci (Er ist wieder da) hat’s bewiesen, wie leicht das geht, und wie leicht man das Böse verdrängen kann, wenn sich die Ikonographie einer Person verselbstständigt. Der Roman PostorinosDie Vorkosterinnen – fand seinen Weg ins Kino, hat dieser doch alle Voraussetzungen, um genug Melodrama auf die Leinwand zu werfen, das vor dem Hintergrund farbintensiver Hakenkreuzfahnen und umringt von einer Vielzahl gestandener deutscher Wehrmachtsmänner mit schickem, geöltem Undercut einen zaghaft feministischen deutschen Mittagstisch deckt, der als Basis dient für ein Crossover unterschiedlicher Schicksale strohverwitweter und verwitweter Frauen, die mit ihrer Einsamkeit auf unterschiedliche Weise klarkommen müssen.

Liebe geht durch den Magen

Regie führte in dieser mit Damenmoden der Vierziger ausgestatteten Historien-Fiktion Silvio Soldini, der anno 2000 mit Brot und Tulpen einen wie Bruno Ganz ganz groß in Szene setzte. Ein Vierteljahrhundert später ist es Elisa Schlott, die viel dazu beiträgt, dass Die Vorkosterinnen nicht als verdünnte Ansammlung sämtlicher Tagebucheinträge so manches Schicksal als stereotypes Klischeebild verbucht. Schlott gibt ihrer Figur der fiktiven Rosa Sauer ordentlich Profil – niemals zu dick aufgetragen, selten zu wenig Emotion. An ihr bleibt man dran, und mit ihr ziehen alle anderen mit, allen voran Alma Hasun, die natürlich ein Geheimnis mit sich herumträgt, welches das Bedeutungsspektrum des Films später noch erweitern soll.

Das Ensemble weiß, was es zu tun hat, zumindest bei den Damen. Die Herrschaften unter des Führers Fuchtel bleiben austauschbar, vor allem Max Riemelt als bärbeißiger, stiernackiger Muskelprotz weckt warum auch immer das sexuelle Interesse unserer Hauptdarstellerin, wobei man natürlich ahnt, dass in der Not der Teufel Fliegen frisst. Somit gibt es dort eine Liebelei, und da wieder eine kleine Intrige unter den Frauen, im Ganzen aber ist wohl weniger das Konzept des Vorkostens hier Thema als gewisse Sorgen und Nöte, die alle zwar angerissen, aber nie entsprechende Wichtigkeit erlangen. Das macht den Film dann doch über weite Strecken recht bruchstückhaft und gedehnt, um nicht zu sagen langatmig, denn all das hat man schon unzählige Male glaubwürdiger, intensiver und authentischer gesehen. Am Ende nimmt das Drama wieder Fahrt auf, das Essen wird abserviert, für Magenverstimmungen gibt’s Alka Seltzer.

Die Vorkosterinnen (2025)

Eden (2024)

INSELKRIEG DER EGOMANEN

6,5/10


© 2025 Leonine Studios


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: RON HOWARD

DREHBUCH: NOAH PINK

CAST: JUDE LAW, VANESSA KIRBY, SYDNEY SWEENEY, DANIEL BRÜHL, ANA DE ARMAS, TOBY WALLACE, FELIX KAMMERER, JONATHAN TITTEL, RICHARD ROXBURGH U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts war bereits abzusehen, dass die Welt brennen und der Tod ohne Reue wüten wird. Nicht nur jene wollten weg, die als Minderheit Repressalien zu befürchten hatten, sondern auch so manche, die aus dem Wahnsinn aussteigen wollten, ungeachtet dessen, ob sie etwas zu befürchten hätten oder nicht. Heinrich Harrer zum Beispiel, der zu Kriegsbeginn seine als Expedition getarnte Flucht nach Tibet begann, blieb dort sieben Jahre an der Seite des Dalai Lama am Dach der Welt (Sieben Jahre in Tibet, verfilmt mit Brad Pitt). Thor Heyerdahl wiederum rückte Anfang der Dreißiger der Marquesas-Insel Fatu Hiva zu Leibe, dort blieb er fünfzehn Monate, bis der Traum vom Dschungelparadies im Chaos mündete – hervorragend nachzulesen in seinem nach dem Eiland benannten Reisebericht. Und dann gab es noch den Berliner Arzt Dr. Friedrich Ritter, einen nach neuen Lebensentwürfen suchenden Aussteiger, der gemeinsam mit seiner an multipler Sklerose erkrankten Lebensgefährtin Dore Strauch die Galápagos-Inseln ins Visier nahm, im Speziellen die zerklüftete und unwirtliche Insel Floreana, von niemandem sonst bevölkert außer einer atemberaubenden endemischen Tierwelt, für welche die beiden aber keinerlei Neugier hegten.

Viel lieber lag dem exzentrischen Sonderling, dem im Laufe seines vierjährigen Aufenthalts krankheitsbedingt alle Zähne ausfielen, die selbstüberschätzende Aufgabe näher, einen neue gesellschaftliche Ordnung als Manifest zu verfassen, damit dieses später die ganze Welt verändern soll. Womöglich wäre das Vorhaben, den inseleigenen Senf in alle vier Winde zu verbreiten, auch geglückt, hätte Ritter nicht regelmäßig mit Europa korrespondiert, um sich selbst als messianischen Robinson hochzustilisieren. Diese schmackhaft formulierten Reiseberichte hatten zur Folge, dass die Insel bald neue Besucher empfing. Im Film Eden folgt die dreiköpfige Familie Wittmer als erste den paradiesischen Lobgesängen und zeigt sich als erstaunlich versiert, um auf einem Eiland wie diesen tatsächlich Fuß zu fassen – sehr zum Unmut des inkooperativen Insel-Gurus, den Jude Law mit einer derart säuerlichen Miene verkörpert, als wäre der Zivilisationsfrust noch längst nicht von ihm abgefallen. Der Unmut steigert sich, als die eigene Selbstüberschätzung noch überboten wird – durch die Ankunft einer falschen Baronesse (Ana de Armas), im Schlepptau drei junge Männer und mit der verrückten Idee im Kopf, in Meeresnähe ein Luxushotel zu errichten. Fitzcarraldo lässt grüßen, und das nicht nur wegen des mitgebrachten Grammophons, an welchem Burgschauspieler Felix Kammerer (Im Westen nichts Neues) immer wieder kurbeln muss, damit auch an diesem entlegenen Winkel die Kultur nicht zu kurz kommt. Alle drei Parteien werden alsbald feststellen, dass der frömmste nicht in Frieden leben kann, wenn es den egomanischen Nachbarn nicht gefällt. Inmitten einer Wildnis, in welcher Platz genug für alle wäre, schon gar für dieses Häufchen an Menschen, entfesseln Missgunst, Trägheit und Überheblichkeit, vermengt mit grenzenloser Naivität und bitteren Lügen einen Nervenkrieg am Äquator, den Regie-Handwerker Ron Howard mit routinierter Professionalität in grünlich-blasse, dunstige Bilder taucht. Ein ganzes Staraufgebot lässt sich für Eden zwar nicht nach Galápagos, doch in die Wildnis Australiens zitieren – den Unterschied merkt man kaum, die Anzahl der peniblen Inselkenner bleibt verschwindend gering. Deutschlands attraktivster US-Export Daniel Brühl, Sydney Sweeney und Vanessa Kirby schwitzen, darben und bluten, Sweeney selbst darf in der wohl radikalsten Szene des Films ihr eigenes Kind im Alleingang zur Welt bringen, während sie von streunenden Hunden umringt wird. Ihre Filmfigur ist die einzige Konstante inmitten selbst- oder fremdverschuldeter Nachbarschaftsquerelen, die sich naturgemäß zuspitzen, weil der Mensch nun mal so tickt, wie er tickt.

Zwischen Peter Weirs Anti-Abenteuerdrama Mosquito Coast aus den Achtziger Jahren und Werner Herzogs Dschungelerfahrungen ringt  Howard dem Wesen des Abenteuerdramas aber keinerlei inspirierende Neubetrachtungen ab – ganz im Gegenteil. Eden verlässt sich auf das konventionelle Handwerk eines altbackenen Melodramas mit giftigen Spitzen, orientiert am Erzählduktus von Filmemachern wie Huston oder Preminger. Innovativ ist das nicht, dafür aber klassisch und wohgefällig kitschig. Howard bringt dabei zwar eine etwas sperrige, nicht ganz rundlaufende Szenenregie ins Spiel, weil er vielleicht nicht reminiszieren, sondern erneuern will. Sein Ensemble interagiert bisweilen aber so gekonnt miteinander, dass die einen die schauspielerischen Hänger der anderen kompensieren. In Eden spielt niemand nur alleine auf, diese Schräglage weiß Howard zu vermeiden. Er weiß, dass er niemanden in den Vordergrund stellen kann, denn hier regiert die Gruppendynamik. Manchmal passiert es, da reißt Ana de Armas alles an sich, während Kirby nur mit Mühe ihre Rolle verteidigen kann. Hier die Balance zu halten, und das sogar an tropischem Set, mag eine Herausforderung selbst für Howard gewesen sein. Dass der Dreh nicht leicht war, sieht man allen Beteiligten vor und hinter der Kamera an.

Am Fesselndsten bleibt bei solchen Filmen immer noch die wahre Geschichte dahinter. True Stories wie diese, schon gar wenn sie ein exotisches Abenteuer umschreiben, können gar nicht mal so viel falsch machen, um nicht doch die Bereitschaft zu wecken, sich mit menschlichen Verhalten in der Extreme auseinandersetzen zu wollen.

Eden (2024)

The Damned (2024)

AUF VERLORENEM POSTEN

5/10


thedamned© 2024 Viennale


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ROBERTO MINERVINI

CAST: JEREMIAH KNUPP, RENÉ W. SOLOMON, CUYLER BALLENGER, CHRIS HOFFERT, TIMOTHY CARLSON, NOAH CARLSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Wieder ein Film, bei welchem man gerne in Decken eingewickelt zusehen möchte. Denn dort, wo die Verdammten des Krieges hin marschieren, existiert nicht viel mehr außer Wildnis und vor allem eins: Kälte. Es ist Winter im Jahre 1862, in den nicht mehr so vereinigten Staaten herrscht Bürgerkrieg, Nord gegen Süd, das wissen wir alles zwar nicht aus dem schuleigenen Geschichtsunterricht, aber spätestens seit Kevin Costners Der mit dem Wolf tanzt oder frühestens seit The Good, The Bad and the Ugly – wenn Clint Eastwood und Eli Wallach die Nordstaaten als die Südstaaten fehlinterpretieren, tragen sie doch die Uniformen der letztgenannten. In Roberto Minervinis The Damned schiebt sich eine Kolonne der Nordstaaten über schneidend kalte, leicht hügelige Ebenen. Eine Kohorte Soldaten hat den Befehl erhalten, in den Wilden Westen vorzudringen, um an den äußersten Grenzen des besetzten Gebietes zu patrouillieren. Anstrengend und mühsam scheint das Unterfangen, außer dem Zehren an den Kräften vor allem junger Rekruten scheint der Krieg hier nicht mehr zu entbehren als das. Mag sein, dass manche denken, sie hätten mit dieser Mission das Glück auf ihrer Seite. Doch so entlegen und gottverlassen die Gegend auch sein mag – der Krieg, der Tod, er wuchert überall. Er wird hereinbrechen wie ein Unwetter, wie ein Schneesturm. Auf verlorenem Posten sind sie allesamt, und neben dem Exerzieren und anderen Übungen zur Gewährleistung routinierter Angriffe bleibt sogar noch Zeit, über Gott, die Welt und den Beweggründen zu philosophieren, warum man eigentlich hier ist  ­– mitunter sogar freiwillig.

Roberto Minervini ist ein gern gesehener, regelmäßiger Gast bei den Filmfestspielen der Viennale –Eva Sangiorgi hat da schon bereits ihre Favoriten, die immer wieder das Privileg genießen, ihre Werke zeigen zu dürfen. Minervini war bislang eher als Dokumentarfilmer unterwegs – mit The Damned verlässt er dieses Genre zwar nicht ganz, fügt seinem inhaltsarmen Essay aber Elemente hinzu, die einen fiktionalen Spielfilm ausmachen. Allerdings geschieht das aber sehr defensiv. Von enormer Bedeutung sind dabei die Bilder, die das übrige Geschehen bestenfalls billigen und sich in der Entfaltung ihrer episch anmutenden Wirksamkeit nichts dreinreden lassen. Mitunter tun das aber all die alten und jungen, die desillusionierten Fast-Schon-Veteranen und gerade mal erwachsen gewordenen Idealisten, die sehr bald feststellen werden, dass sie vielleicht doch falsch entschieden haben, indem sie einem schnöden Patriotismus folgen.

Die Bilder von Kameramann und Regisseur Carlos Alfonso Corral (Dirty Feathers, lief 2021 auf der Berlinale) sind brillant und erinnern an die Optik Alejandro Gonzáles Iñárritus, insbesondere an sein Abenteuerdrama The Revenant. Weitwinkel, Close Up auf Gesichter im Vordergrund. Die Idee dabei, den Feind in jedweder Gestalt lediglich diffus und unscharf im Hintergrund zu belassen, gibt der Erzählung ihre Metaebene, schafft eine erzählerische Tiefe, eine Kluft zwischen den Parteien, und einen ganz klaren, sehr prägnanten Blickwinkel. Man fragt sich, ob nicht doch die Natur der eigentliche Feind ist, ob es nicht vielleicht doch die eigenen idealisierten Weltvorstellungen sind, die Menschen wie diese hier, mit ihren ausdrucksstarken Gesichtern, antreiben.

The Damned ist fast wie eine Art Meditation oder Gebet, ein In-sich-kehren im Schnee, irgendwo in der Wildnis, völlig verloren – als wäre Kubricks Astronaut aus 2001 – Odyssee im Weltraum unterwegs in die Selbsterkenntnis jenseits des Jupiters. Und dennoch erwartet man sich ein Kriegsdrama, das letztlich profane Erwartungen erfüllt. Das einen Höhepunkt, eine Wende, eine Conclusio besitzt. The Damned verzichtet auf all das. Als die Momentaufnahme eines prädestinierten Untergangs bleibt Minervinis Film wie Szenen aus einem größeren Ganzen, wie das Fragment eines viel stärkeren Films, der auch mehr Biographisches erzählt und sich nicht damit begnügt, die Fotozeile aus einem National Geographic-Magazins zu sein. Das ist beeindruckend anzusehen, ist aber letztlich zu lethargisch, die Dialoge den Protagonisten zu sehr in den Mund gelegt, als dass sie tatsächlich Statements einer vorangegangenen inneren Reise wären. Den die lässt sich selten spüren.

The Damned (2024)

In Liebe, Eure Hilde (2024)

AUS LIEBE IM WIDERSTAND

6/10


in-liebe-eure-hilde© 2024 Pandora Film / Frederic Batier


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: ANDREAS DRESEN

DREHBUCH: LAILA STIELER

CAST: LIV LISA FRIES, JOHANNES HEGEMANN, LISA WAGNER, ALEXANDER SCHEER, EMMA BADING, SINA MARTENS, LISA HRDINA, LENA URZENDOWSKY, NICO EHRENTEIT, FRITZI HABERLANDT, FLORIAN LUKAS U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN


Schluchzen, Tränen, Betroffenheit im Kinosaal. Emotionale, mitunter verstörte Missstimmung. Wohin mit den eigenen Emotionen nach einem Film wie diesem?

In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen fordert und überfordert. Das biographische Drama als schwermütig zu bezeichnen, wäre fast schon banal. Schwer verdaulich trifft es eher, nur: Schwer verdaulich muss auch nicht zwingend bedeuten, dass sich dahinter ein guter Film versteckt. Die Schwere eines Films liegt dabei weniger an den Themen. Es lassen sich diese auch ganz anders erzählen, ohne dabei die Relevanz zu verlieren. Einen Film über den Holocaust zu erzählen in Form einer Tragikomödie wie Das Leben ist schön, mag ein innovativer Ansatz gewesen sein. Sexueller Missbrauch und Demenz im Doppelpack zu bearbeiten, ohne dabei das Publikum danach zum Therapeuten schicken zu müssen, mag Michel Franco in Memory gelungen sein. Andreas Dresen nimmt sich nach Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erneut einer True Story an, gebettet in den biographischen Auszug über eine historische Person. Sein neuer Film handelt vom Schicksal der Widerstandskämpferin Hilde Coppi, die im August 1943 wegen Hochverrats und Spionage hingerichtet wurde. Dieser Fall erinnert unweigerlich an Sophie Scholl. Marc Rothemund hat im Jahr 2005 der weißen Rose ein erschütterndes und stark auf ihr Tun und Wirken fokussiertes Denkmal gesetzt, Julia Jentsch absolvierte dabei wohl eine ihrer besten Acts. Nun folgt ihr Liv Lisa Fries, bekannt aus der fulminanten zeitgeschichtlichen Krimiserie Babylon Berlin, und erhält dabei von Andreas Dresen reichlich Spielzeit, um jene noch so erdenkliche Emotion, die eine junge Frau mit diesen Ambitionen zu dieser Zeit und unter diesen Umständen gehabt haben kann, in ihre Rolle zu legen. Niemals ist das zu dick aufgetragen, denn Fries legt in all ihren Auftritten stets eine grundlegende Natürlichkeit an den Tag, die kein Regisseur der Welt ihr austreiben kann. Mit diesem schauspielerischen As im Ärmel hätte In Liebe, Eure Hilde ein wegweisendes Politdrama werden können. Doch Dresen hatte etwas andere im Sinn: Das Tun und Wirken Hilde Coppis außen vorzulassen und stattdessen den Menschen dahinter zu präsentieren. Leider ein Trugschluss. Denn Menschen wie Coppi definieren sich vorallem durch ihre Ideale, ihre Ideen und hehren Ziele. Dresen macht aus dieser historischen Person etwas, womit diese, würde sie den Film sehen, vielleicht selbst nicht glücklich gewesen wäre.

Was bleibt, ist die Rolle der Frau als bedingungslos Liebende, als fürsorgliche Mutter und hinnehmende Ehefrau. Wieviel davon ist tatsächlich so gewesen? Ihr Sohn Hans Coppi, der am Ende des Filmes dann auch noch zu Wort kommt, kann darüber keinen Aufschluss geben. Briefe aus dem Gefängnis allerdings schon. Drehbuchautorin Laila Stieler ersinnt daraus eine viel zu bescheidene Betrachtung einer austauschbaren, universellen Frauenrolle, die, so wie es scheint, in den Widerstand hineingerutscht zu sein scheint, unreflektiert und aus bedingungsloser Liebe im Rollenbild der Vierziger. Fast schon erscheint diese Prämisse seltsam trivial, um es sich leisten zu können, den Aspekt des Widerstandes nur peripher zu behandeln. Dieses Periphere betrifft allerdings auch all die anderen Personen, die Hilde umgeben. Sie bleiben schemenhaft und grob umrissen, Johannes Hegemann gibt Hans Coppi auffallend wenig Charakter, geschweige denn Charisma. All das wird von Liv Lisa Fries überblendet, die den Film so schmerzlich macht.

Der dargestellte Schmerz aber ist das nächste Problem nebst dem verpeilten Fokus, den Dresen gesetzt hat: Sein Hinhalten genau dorthin, wo es wehtut, mag dem Film Authentizität geben und das Publikum auch die Chance geben, allerhand nachzuspüren, was man nicht erleben will. Die Zuseher müssen sensibilisiert werden. Des Öfteren jedoch ertappt sich Dresen dabei, dieses Schmerzempfinden zum Selbstzweck werden zu lassen. Ob minutenlanges Wehen-Management bei der Geburt des kleinen Hans oder die Hinrichtung selbst: Für In Liebe, Eure Hilde hat das kaum einen Nutzen. Es sei denn, die Qualität eines Films misst sich an seiner Schwere.

In Liebe, Eure Hilde (2024)

King’s Land (2023)

ERNTEN, WAS MAN SÄT

8/10


kingsland© 2024 Henrik Osten, Zentropa


ORIGINALTITEL: BASTARDEN

LAND / JAHR: DÄNEMARK, SCHWEDEN, NORWEGEN, DEUTSCHLAND 2023

REGIE: NIKOLAJ ARCEL

DREHBUCH: NIKOLAJ ARCEL, ANDERS THOMAS JENSEN, NACH DEM ROMAN VON IDA JESSEN

CAST: MADS MIKKELSEN, SIMON BENNEBJERG, AMANDA COLLIN, GUSTAV LINDT, KRISTINE KUJATH THORP, MORTEN HEE ANDERSEN, MELINA HAGBERG, FELIX KRAMER, SØREN MALLING U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Mads Mikkelsen auf die Heide zu schicken ist ein weiser Entschluss. Der Däne verspricht stets großes Kino, seine Performances sind konstant professionell, in einigen Filmen durchbricht er gar das Level seiner Leistungen nach oben hin. Seine Gefühlsregungen sind dezent, feuchte Augen und eine gerade noch aufrecht erhaltene stoische Mimik sind alles, die darüber informieren, dass der Mann da vor der Kamera einem Orkan an Gefühlen ausgesetzt sein muss, so sehr reißt es ihn hin und her. Eine schauspielerische Differenziertheit wie diese passt perfekt ins europäische Arthouse-Kino. Als Leibarzt der Königin hat er schon mal bewiesen, wie sehr ihm Geschichte zu Gesicht steht. Auch da durfte ihn Nikolaj Arcel inszenieren, hineingeworfen in ein mit satten, dunklen Farben ausgestattetes Drama authentischen Ursprungs. Noch erdiger, noch intensiver und so richtig blutig wird in King’s Land Zwietracht gesät. Das neue dänische Meisterwerk ist ein Kriegsfilm auf begrenzter Fläche, eine wilde Tragödie um Grund und Boden, noch dazu um einen Boden, der nicht viel hergibt. Die Rede ist vom dänischen Heideland, einer nährstoffarmen Region, die sich Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht und nicht kolonisieren lässt, so sehr viele auch versucht haben, dort etwas anzubauen, um Titel, Geld und Ansehen zu erlangen. Ludvig Kahlen, ein ehemaliger Hauptmann, kehrt aus Deutschland zurück in seine Heimatund will beweisen, dass es mit der notwendiger Hartnäckigkeit und zähem Willen und natürlich dem Know-How eines Gärtners durchaus möglich ist, den großen Jackpot zu knacken: Nämlich Land urbar zu machen, welches nichts wert scheint. Der König nickt dieses Vorhaben ab, und Kahlen, als Bastard eines Gutsherrn in die Welt gesetzt und um seine gesellschaftliche Anerkennung gebracht, macht sich auf in die Unwirtlichkeit, um ein Projekt auf die Beine zu stellen, welches bald den Argwohn des skrupellosen Gutsherrn De Schinkel weckt. Der ist schließlich der Meinung, dass die ganze heidekrautbewachsene Ödnis ihm gehört – und Kahlen somit als Pächter vorstellig werden muss. Der sieht das nicht so, sitzt aber ganz offensichtlich am kürzeren Ast, wenn es darum geht, politischen wie wirtschaftlichen Einfluss ins Spiel zu bringen, um den anderen zu vernichten.

Der feuchte Boden, der dichte Nebel, die Kargheit einer menschenfeindlichen Landschaft, darin zwei Feinde, die sich bis aufs Blut sekkieren: Das epische, schmutzige Dänenkino ist zurück, so düster wie ein schweres, herannahendes Unwetter, welches Hagel bringt und das Zeug hat, ganze Ernten zu vernichten. Die schwelende Anspannung legt sich wie Fieber über das Fehdedrama, in welches man gut und gerne paranormale Verwünschungen gut aufgehoben fände, so wie Robert Eggers diese in The Witch gepflanzt hat. Der Aberglaube, das harte Los der Pioniere und das freie Spiel der Kräfte drehen einen Strick um Mads Mikkelsens Kehle – und dennoch sind da emotionale Feinheiten in diesem Werk, welche zu Tränen rühren und die sich niemals so lange ihrem Selbstmitleid hingeben, um in sentimentalen Kitsch auszuufern. Stets weiß Arcel immer genau, wann Schluss sein muss mit den Gefühlen, wann die wettergegerbten Hände wieder in der Erde wühlen, Ziegen geschlachtet und angeheuerte Ungeheuer getötet werden müssen.

Es ist ein hartes, erbarmungsloses Leben auf diesem Land des Königs – Arcels Film, der sich im Original Bastarden nennt, spielt trotz seines mit Bürden angereicherten Kraftakts die klassische Klaviatur eines nach vertrauten Parametern angeordneten Historienepos und nähert sich seinem Publikum dadurch an, indem er Bilder auf die Leinwand wirft, die wie eine Sonderausstellung dänischer Landschaftsmaler aus absolutistischen Zeiten anmuten. Witterungsreich, den Blick in die Weite, schwer arbeitendes Volk. Herzzerreissender Lichtblick in diesem Opfergang ist die kleine Melina Hagberg als elternlose Sintezza, die das Wertebewusstsein des beharrlich nach Erfolg strebenden Mads Mikkelsen hinterfragt. Seine Figur muss erst lernen, worauf es im Leben ankommt – ob er je zur Einsicht gelangt, mag man – nein, sollte man in diesem mitreißenden Filmerlebnis unbedingt ergründen.

King’s Land (2023)