The Voice of Hind Rajab (2025)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

7,5/10


© 2025 Polyfilm


ORIGINALTITEL: SAWT HIND RAJAB

LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KAOUTHER BEN HANIA

KAMERA: JUAN SARMIENTO G.

CAST: HIND RAJAB, SAJA KILANI, MOTAZ MALHEES, CLARA KHOURY, AMER HLEHEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN  


Wir kennen all diese Menschen nicht, die im kriegsversehrten Gaza-Streifen von Norden nach Süden und durch die Hölle getrieben werden und wieder zurück. Für uns hier im weit entfernten Europa haben sie keine Identität, sind sie doch nur Teil einer Masse von Menschen. Ab und an sieht man in den Nachrichten ihre Gesichter, weinend, flehend, verzweifelt, oft auch resignierend. Immer noch kennen wir ihre Namen nicht, immer noch sind diese Leute nur irgendwer. Anders auf der anderen Seite. Dort weiß man genau, wer am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurde. Man weiß, wer es nicht überlebt hat und wer vor wenigen Wochen tatsächlich wieder freikam. Sie haben ein Gesicht, gedruckt auf Tafeln und auf T-Shirts, getragen von den Angehörigen. Hier sind Mittel und Wege vorhanden, den Wert des Einzelnen aus dem gesichtslosen Bulk der Leidenden zu heben.

Wer ein Leben rettet…

Die im Gazastreifen haben das nicht. Da gibt es keine Mittel und Wege, keine T-Shirt-Druckereien oder das große Fernsehen, dass da vorrückt, um zu tun, was getan werden muss, um dem Individuum seinen Wert zu geben. Ich weiß noch, wie Steven Spielberg in seinem Holocaust-Meisterwerk Schindlers Liste einem jüdischen Mädchen den Mantel rot koloriert hat. Es bleibt namenlos, gesichtslos, jedoch sticht sie aus der Menge an Menschen hervor, um bewusst zu machen, dass es immer noch um den oder die Einzelne geht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass, wenn andere nur ein Leben retten, retten sie die ganze Welt. Oskar Schindler, der am Ende des Films verzweifelt, weil er viel mehr hätte tun können, wird der Satz aus dem Talmud kaum trösten. Wäre es doch nur ein Leben mehr gewesen. Ein einziges.

Das Kind beim Namen nennen

Dieses eine trägt keinen roten Mantel. Wir wissen nicht, was sie anhat. Wir wissen nur: Sie ist sechs Jahre alt, und wir hören ihre Stimme. Ihre letzten Worte. Ihr verzweifeltes Flehen um Rettung, ihre Angst, ihr Weinen, das Aufblitzen von Hoffnung. Dabei sind es nur acht Minuten. Acht Minuten Fahrt mit dem Rettungswagen durch umkämpftes Gebiet, um an das Auto zu gelangen, in dem Hind Rajab feststeckt. Alle anderen, fast die gesamte Familie, ist tot, zersiebt von den Waffen der israelischen Armee. Auch das sehen wir nicht. Doch wir können es uns vorstellen, wenn die Stimme des Mädchens an die Ohren der Telefonistinnen und Telefonisten in der Notdienstzentrale des Palästinensischen Roten Halbmonds dringt.

Hier, in der Westbank, wo der Krieg weitestgehend außen vor bleibt, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Zivilisten in Bedrängnis aus dem Kriegsgebiet zu bringen. Das läuft über einige Umwege, bis die israelische Armee davon erfährt, um dann den Schutz zu gewährleisten, wenn sich ein Rettungsfahrzeug in Bewegung setzt. Auch das sehen wir nicht, nur die Gesichter der Telefonierenden, auch sie sind verzweifelt, emotional verstört, aufgebracht, die Nerven liegen blank. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, mit dem Tag, mit dem Krieg, mit dem Tod. Und das Extreme dabei: Es ist im Film nicht nur irgendein Mädchen zu hören, das vorgibt, Hind Rajab zu sein. Es ist sie tatsächlich selbst. Regisseurin Kaouther Ben Hania (Der Mann, der seine Haut verkaufte) bettet das im Januar 2024 aufgezeichnete Soundfile des Gesprächs in ihren semidokumentarischen Spielfilm, was den Horror nur um so schlimmer macht. Die Mitarbeiter des Roten Halbmond sind zwar von Schauspielern besetzt, doch selbst da hat Ben Hania Ideen, wie sie die realen Personen vor die Kamera bekommt. Faktenmaterial trifft so auf die akribische Nachstellung nervenzerrender Abendstunden, das Kammerspiel wird zu einem Kino des Zuhörens und der Vorstellungskraft, der man aber nicht unbedingt nachgeben will, denn die Realität drängt alles Gespielte an den Rand.

Ein Schicksal für alle

Kriegsberichte aus den Nachrichten lassen einen irgendwann abstumpfen und resignieren, The Voice of Hind Rajab gelingt es aber dadurch, dass sie einem der unzähligen Opfer eine Stimme, ein Gesicht, und ein Leben gibt, dem Verheerenden einer zerstörten Zukunft Relevanz zu verleihen. Auf eine Weise erinnert dieses Schicksal an Anne Frank, durch dessen aufgeschriebenes Einzelschicksal der unschätzbare Wert eines Menschenlebens nicht mehr nur so dahingesagt bleibt.

Mit dieser echten Stimme gelingt es Ben Hania, nicht nur einen weiteren Film gemacht zu haben, der durch die Darstellung eines Übels betroffen machen soll. Diese echte Stimme hebt den Schleier zwischen Narrativem und der eigenen Convenience-Blase, in der man sich befindet. Das ist keine Erzählung. Das ist wahrer Schmerz.

The Voice of Hind Rajab (2025)

September 5 (2024)

DABEI SEIN IST ALLES

6,5/10


september5© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: TIM FEHLBAUM

DREHBUCH: TIM FEHLBAUM, MORITZ BINDER

CAST: JOHN MAGARO, BEN CHAPLIN, LEONIE BENESCH, PETER SARSGAARD, COREY JOHNSON, RONY HERMAN, GEORGINA RICH, ZINEDINE SOUALEM, MARCUS RUTHERFORD U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Zeiten ändern sich. Am 11. September 2001 waren die Kameras bereits überall – fast so, als hätte man sie vorab in Position gebracht, um aus allen möglichen Blickwinkeln das Einstürzen der Twin Tower spektakulär genug festzuhalten. Die Geburtsstunde der Sozialen Medien ging dann mit dem taktischen Werbebewusstsein sämtlicher Terroristen einher, ihre Bekennerbotschaften, Parolen und Morde allesamt abzufilmen und online zu stellen. Bei den IS gibt es immer wen, der die ganzen Gräuel aufzeichnet. Damals, im Jahre 1972, war das noch nicht der Fall. Da hatten die mit Skimasken verhüllten Verbrecher noch keinerlei Ambition, ihre Taten medienwirksam in Szene zu setzen. Vielleicht aber interpretiere ich falsch und die Organisation des Schwarzen September kalkulierte den Ehrgeiz sämtlicher Fernsehsender, die sich um das olympische Dorf in München niedergelassen hatten, mit ein, jede Sekunde des Geschehens in eine Live-Show zu verpacken. Das Team des Sportkanals von abc war es dann schließlich auch, das im Nachhinein Fernsehgeschichte schrieb und es erstmals gelang, einen Terrorakt wie diesen vor laufender Kamera geschehen zu lassen.

Natürlich obliegt den Journalisten nicht die Verantwortung, eine Situation wie diese zu lösen. Dafür gibt es Verhandler, die Polizei, das Militär, den Geheimdienst. An diesem fünften September scheint es allerdings so, als wären Spezialisten für Situationen wie diese landesweit auf Urlaub, und nur das Fernsehen wäre imstande, entsprechend rasch zu reagieren. Keine hundert Meter vom Schauplatz des Geschehens fallen dann am Morgen des besagten Tages Schüsse, die nicht nur von Dolmetscherin Marianne Gebhardt, gespielt von Leonie Benesch (Das Lehrerzimmer), gehört und gleichsam richtig interpretiert werden. Was tut ein Nachrichtensender in diesem Fall? Er mobilisiert alles, was er hat, um Bad News wie diese ins Programm zu bringen. Unter der Führung des Fernsehproduzenten Roone Arledge erhält der aufstrebende Redakteur Geoffrey Mason, der sich schließlich profilieren will, die Regiegewalt über eine Ausnahmesituation, die sich so unberechenbar anfühlt wie eine Naturkatastrophe. Entsprechend hektisch, hastig und angespannt wird es an diesem Tag und der darauffolgenden Nacht auch zugehen.

Der deutsche Regisseur Tim Fehlbaum, der zuletzt den sehenswerten dystopischen Science-Fiction-Film Tides ins Kino brachte, orientiert sich am Genre des dokumentarischen Journalismus-Thrillers, wie ihn einst Alan J. Pakula (u. a. Die Unbestechlichen) inszeniert haben mag. September 5 fühlt sich in Folge wohl eher wie ein Film an, der nicht nur von den frühen Siebzigerjahren berichtet, sondern womöglich auch damals und zwar genauso hätte gedreht werden können. Die Ausstattung, das Setting, das Gefühl eines Zustands weit vor dem Informationszeitalter, das die Welt nachrichtentechnisch um vieles kleiner machen wird, geben ein immersiv-stimmiges Bild ab. Unterstützt wird dieser Stilwille vorallem auch durch eine Menge authentischen Bildmaterials, denn alles, was man auf den Fernsehschirmen sieht – mit Ausnahme des Moderators von abc – sind Filmdokumente von damals. Dadurch rückt September 5 näher an das Genre der Dokumentation heran. Und als ob dieser Fokus auf die wahren Geschehnisse aus der Sicht des Nachrichtenjournalismus nicht schon ausreichend eng gezogen wären: die Idee, das Ganze als Kammerspiel umzusetzen, macht das Szenario noch kribbelnder und panischer. Auf engstem Raum stauen sich nun Informationen und Emotionen, Druck, Stress und hundertzehn Prozent Aufmerksamkeit. Die Akkuratesse und die Anstrengung einer Live-Show, in der Anweisungen im Stakkato niederregnen und alle möglichen Leute für alles mögliche eingeteilt werden, während niemandem auch nur die kleinste Entwicklung der Geschehnisse entgehen darf – angesichts dieses unter Strom stehenden Arbeitsklimas schwirrt einem bald selbst der Kopf. Die vielen Namen, die vielen Wendungen, die vielen Fronten – Fehlbaum bündelt sie alle irgendwie und bricht sie auf ein Ensemble herunter, das im geschulten Teamwork miteinander synergiert.

Die Kritik an der Moral der Nachrichten und dem damit einhergehenden Missbrauchs menschlicher Katastrophen zum Nutzen der Quote kommt allerdings zu kurz. Ob die Terroristen zufälligerweise auch sehen, was abc in seiner Live-Show fabriziert, ist nur eine von wenigen hinterfragenden Überlegungen zur journalistischen Arbeit. Alles andere ist Berichterstattung, verständlicher Ehrgeiz, aber niemals die Absicht, mutwillig, für den eigenen Erfolg, die Lage zu verschlimmern oder gar über Leichen zu gehen. Übersehen lässt sich vielleicht so manche Grauzone, durch den Willen zur Information treibt manche Beteiligte zur Reflexion über das eigene Tun zwar etwas spät an, aber besser als nie. Dass das Drama von München 1972 derart eskalierte, lag wohl eher an der Überforderung der Behörden und an der Ratlosigkeit, mit Terror umzugehen. Somit ist September 5 keine Medienschelte wie Reporter des Satans, Network oder Nightcrawler – sondern schlicht und ergreifend ein emotionaler, aber akribisch aufgearbeiteter Tatsachenbericht ohne erwähnenswertem Tiefgang.

September 5 (2024)

Beirut (2018)

TAUSCHE FEIND GEGEN FREUND

4/10


beirut© 2018 Bleecker Street


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: BRAD ANDERSON

DREHBUCH: TONY GILROY

CAST: JON HAMM, ROSAMUND PIKE, DEAN NORRIS, SHEA WIGHAM, LARRY PINE, MARK PELLEGRINO, IDIR CHENDER, BEN AFFAN, LEÏLA BEKHTI U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Für viele Kritiker mag Andor wohl die beste Star Wars Serie bisher gewesen sein. Für viele vielleicht. Nicht aber für mich. Woran das nicht enden wollende Lob wohl gelegen haben könnte? Am Mitwirken von Drehbuch-Mastermind Tony Gilroy. Schließlich hat dieser auch die Vorlage zum fulminanten Rogue One – A Star Wars Story abgeliefert. Dass Gilroy schreiben kann, wissen wir –- unter anderem bewies dieser bereits sein Händchen für komplexe, in sich verwobene Geschichten in der von Paul Greengrass dominierten Jason Bourne-Trilogie. Von Jason Bourne ist es nicht mehr so weit bis Beirut. Auch in diesem Dunstkreis aus Fundamentalismus, Rebellion, Politik und Geheimdienst ließe sich die unkaputtbare Persona non Grata aller Geheimdienste bestens verorten – doch statt Matt Damon gibt sich Jon Hamm den Aufenthalt im Nahen Osten, und zwar gerade zu jener Zeit, in der die Olympischen Spiele in München zur Tragödie wurden. Der Schwarze September hat also zugeschlagen, vom Libanon bis nach Ägypten ist alles am Brodeln und knapp vor dem Überkochen. Als Diplomat richtet man sich‘s trotzdem, mit Blick aufs Meer, und eine einheimische Gattin an der Seite.

Der Sozialen Ader muss dabei aber auch entsprochen werden, also nehmen die beiden einen palästinensischen Teenie auf, um ihn mit den Werten des Westens großzuziehen. Das dauert nicht lange, denn eines Tages wird das Anwesen von Jon Hamms Figur Skiles während einer Party von Islamisten heimgesucht, darunter der Bruder des Teenie, der – am Terroranschlag 1972 in München beteiligt – diesen entführt. Die Gattin stirbt, Skiles zieht sich, verstört, trauernd und erschüttert, wieder nach Großbritannien zurück. Um zehn Jahre später, dem Fusel zugetan und recht devastiert, wieder in die Vergangenheit zu reisen, um als Schlichter und Mittelsmann zu fungieren. Denn ein ehemaliger Kollege wurde entführt, und Skiles soll diesen, nun ein hohes Tier, aus den Fängen seines ehemaligen Schützlings boxen, natürlich mit Worten. Und gut verhandelten Deals.

Obwohl Beirut mit einer komplexen Story aufwartet und noch dazu ein ganzes Ensemble bekannter Gesichter auf dem Set hat, von Rosamund Pike bis „Breaking Bad“-Drogenkieberer Dean Norris, hat dieser Politthriller keinerlei Chance, wirklich länger im Gedächtnis zu bleiben. Tony Gilroy mag zwar seine Drehbücher womöglich in mehreren Durchgängen so sehr verdichten, dass kein Leerlauf entsteht und auch alle Protagonisten oft genug in verbale Interaktion geraten. Doch so paradox es klingen mag, führt diese Methode eher dazu, zu den Schauspielern eine immer weiter fortschreitende Distanz einzunehmen. Was hier passiert, entspricht einer perfektionistischen Routine im Genre des Politfilms, aber dennoch einer gewissen schalen Gleichförmigkeit, in der keine der Figuren ausführlich herausgearbeitet werden und auch den sogenannten Antagonisten kein Charisma verliehen wird. Langweilig ist Beirut nicht, aber abweisend und am Wohlergehen seiner Gesprächspartner seltsam uninteressiert.

Beirut (2018)

Gaza Mon Amour

IN DER GUNST DES APOLLO

6/10


GazaMonAmour© 2021 Alamode Film


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, PORTUGAL 2020

BUCH / REGIE: ARAB & TARZAN NASSER

CAST: SALIM DAW, HIAM ABBASS, MAISA ABD ELHADI, GEORGE ISKANDAR, HITHAM OMARI U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die Gebrüder Tarzan und Arab Nasser hätten es fast geschafft, ihre verschmitzte Alltagsminiatur der Academy of Motion Pictures and Science als würdig für den Auslandsoscar zu verkaufen. In Gaza Mon Amour suchen weder epische Schicksale die hier Mitwirkenden heim, noch wagt die Geschichte narrative Bocksprünge, bei denen einem die Brillen runterfallen. Nichts dergleichen geschieht hier – im Grunde ist es nicht nur das Warten auf den Linienbus in Gaza Stadt, sondern auch auf das Warten einer transzendentalen Eingebung, die festgefahrenen religiösen wie ethnischen Ansichten längst erhaben zeigt. Das passiert dann auch, in Gaza Mon Amour, und zwar widerfährt dieser Wink von oben, aus einer ganz anderen Ecke antiker Weltanschauungen, einem genügsamen Fischer, der jede Nacht aufs Meer hinausfährt, um seinen Fang dann tags darauf am Markt zu verkaufen, wobei er stets die Chance hat, der netten Schneiderin von nebenan einen schönen Tag zu wünschen. Da braucht er sich gar nicht mal groß vor einem eifersüchtigen Ehemann in Acht zu nehmen, denn den gibt es nicht mehr. Siham ist nämlich geschieden. Eines Nachts zieht der gestandene Issa nicht nur seine Fische aus dem Wasser, sondern auch eine antike Statue des Gottes Apollo. Das Besondere dabei: das bronzene Abbild des schön gestalteten Jünglings feiert im Intimbereich nachhaltige Potenz, und das ganz ohne Viagra. Was tun mit diesem Fund? Der Behörde melden? Oder einfach mit nachhause nehmen und vorerst mal verstecken. Vielleicht hilft’s ja was in der Sache mit Siham.

Die Welt im Nahen Osten scheint also noch nicht ganz von allen guten Göttern verlassen. Obwohl entfernt die Bomben donnern und immer wieder Schüsse zu hören sind, ist die andauernd schwelende offen Wunde des Scharmützelkrieges gerne etwas, dem Leute wie Issa oder Siham keine Beachtung mehr schenken, wenn’s denn nicht unbedingt sein muss. Eine dritte, unsichtbare Kraft bahnt sich den Weg zwischen zwei einander zugetane Menschen, die ihr Glück nicht in der Flucht sehen, sondern in einem möglichen Miteinander, inmitten einer Welt, die ihnen immerhin noch gut vertraut ist. Tarzan und Arab Nasser injizieren dem redundanten Alltag jener, die ihrer schlichten Existenz nachgehen, ein Quäntchen Zauber. Natürlich muss dieser verdient sein – es gibt Ärger mit der Polizei und den Behörden, aber dargestellt als kauziges Abenteuer aus den Seitengassen großer Weltbühnen.

Großes Kino ist Gaza Man Amour keines. Wohl eher eine lakonische, allerdings sehr volkstümliche Romanze, der ein bisschen mehr metaphysische Präsenz vielleicht noch gutgetan hätte. Die vielleicht zu behutsam der Mentalität vor Ort auf den Zahn fühlt. Schwierig, wenn man das ganze Politikum außen vorlassen will und etwas Unbefangenes erzählen möchte. Die Ambition dahinter ist verständlich, Apollos Gunst dabei nur eine zaghaft arrangierte Allegorie.

Gaza Mon Amour

Vom Gießen des Zitronenbaums

FÜHL´ DICH WIE ZUHAUSE

7,5/10

 

VomGiessenDesZitronenbaums© 2019 Neue Visionen

 

ORIGINALTITEl: IT MUST BE HEAVEN

LAND: KATAR, DEUTSCHLAND, KANADA, TÜRKEI, PALÄSTINA 2019

REGIE: ELIA SULEIMAN

CAST: ELIA SULEIMAN, ALI SULIMAN, TARIK KOPTY, KAREEM GHNEIM, GAEL GARCIA BERNAL U. A.

 

Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, heißt es im Volksmund. Wenn aber keiner singt, bleibt die Frage, wo es am besten zu verbleiben wäre, eine, der man nachgehen sollte. Diese Frage wird umso dringlicher, umso weniger jemand einen Boden unter seinen Füßen hat, den er als sein Heimatland bezeichnen kann. Elia Suleiman, um den es hier geht und der sich auch selber spielt, der hat das nicht. Boden unter den Füßen ja, aber kein Heimatland. Wo er wohnt und lebt, das ist Israel, und um es genau zu nehmen kommt der Filmemacher aus Nazareth. Noch nie was von Elia Suleiman gehört? Ich bis vor Kurzem jedenfalls nicht, und es verwundert auch nicht so sehr, wenn klar wird, das dessen letzter Film schon zehn Jahre zurückliegt. Für sein Werk Göttliche Intervention hat er 2001 sogar den großen Preis der Jury in Cannes gewonnen. Suleiman ist also, was das Kino Arabiens betrifft, längst kein unbeschriebenes Blatt, sondern vielmehr ein Sprachrohr, ein so künstlerisches wie politisches, und alles für sein Volk aus Palästina.

Mit Vom Gießen des Zirtronenbaums, der ja im Original völlig anders heisst, nämlich It must be Heaven, ist sicherlich nicht die Sorte von Kino, die unsereins mitsamt der Masse gewohnt ist. Umso besser, würde ich sagen. Neue Denkweisen, Blickwinkel und Narrative sind hochwillkommen, noch dazu, wenn es in eine Richtung geht, die der legendäre Franzose und Situationskomiker Jacques Tati schon mal an den Tag gelegt hat. Wer seine Filme kennt, der weiß: Tati, der als Monsieur Hulot die Tücken der Moderne oder das seltsame Verhalten der urlaubmachenden Bourgeoise genau beobachtet hat, war niemals ein Mann großer Worte. Das ist Suleiman auch nicht. Denn Suleiman, der schweigt. Und beobachtet. Blickt sich um – und wundert sich. Während Tati aber noch selbst, durch seine fast schon absichtliche Unerfahrenheit diverse Slapstickkatastrophen heraufbeschworen hat, bleibt der wortabgewandte Denker und Flaneur stets auf Distanz zu dem, was passiert. Und es passiert von ganz alleine. Worum es in Vom Gießen des Zitronenbaums überhaupt geht? Das ist schwer zu sagen, so ganz genau weiß man das nicht. Nur, dass der einsame Eigenbrötler irgendwann Witwer wurde, den Nachbarn beim Pflücken der hauseigenen Zitronen ertappt und daraufhin seine Koffer packt, um davonzureisen, Richtung Paris. Und von dort Richtung New York. Was er dort macht? Im Grunde das, was er auch daheim in Nazareth getan hat. Schweigen und beobachten, dabei versuchend, hinter den Absurditäten menschlichen Verhaltens einen Zusammenhang zu erkennen. Die kleinen alltäglichen Miniaturen, die Suleiman beschreibt, passieren ohne sein Zutun, es ist eine absonderliche, etwas hilflose Welt, die er sieht. Eine seltsam spielerische, sich stets widersprechende, gedankenverlorene Welt, die nichts von ihren eigenen existenziellen Zusammenhängen versteht. Es ist humoristisch, das schon. Und manchmal tragikomisch. Und manchmal erstarrt das Schmunzeln.

Wovon genau will Vom Gießen des Zitronenbaums eigentlich berichten? Wohin will Suleiman? In einer Szene gibt der Filmemacher angeblich ein Interview zu seinem Film, den wir uns gerade ansehen, irgendwo in einem kleinen Stadttheater, dessen Publikum animalische Kostüme trägt. Dort stellt ein Moderator fest, das Suleiman eigentlich der perfekte Fremde ist. Einer, der überall fremd ist. Der nirgendwo hingehört, und theoretisch aber überall zuhause sein kann. Will er das? Ist das die bessere Wahl, überall gleichsam fremd zu sein? Es ist ein für diese Erkenntnis leichtfüßiges Statement, das Elia Suleiman hier abgibt, für das fiktive Land Palästina, das sich als eine Art Utopia sogar von einem Kartenleger für die ferne Zukunft weissagen lässt. So irrt die rat- und rastlose Figur mit Hut durch die Grottenbahn einer modernen Gesellschaft, die den Bezug zu wesentlichen Dingen verliert. Suleiman versucht, diesen Bezug allerdings nicht zu verlieren, bleibt ein Skizzierender und Suchender, der seinen Zitronenbaum gießt, damit ein anderer schamlos dessen Früchte pflückt. Das ist politisches Statement, oder nicht? Nicht ganz. Besser ein politisches Understatement, aber das vom Feinsten.

Vom Gießen des Zitronenbaums

Foxtrot

DIE WAAGSCHALEN DES KRIEGES

8,5/10

 

foxtrot© 2017 Polyfilm Verleih

 

LAND: ISRAEL, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2017

BUCH & REGIE: SAMUEL MAOZ

CAST: LIOR ASHKENAZI, SARAH ADLER, YONATON SHIRAY, SHIRA HAAS U. A.

 

Es gibt Filme, die so unerwartet passieren, dass sie sich anfühlen wie Nachwirkungen eines Unfalls. Wie der plötzliche Todesfall eines jungen Prominenten. Oder wie die Sichtung eines seltenen Tieres beim Hiken in den Wäldern. Das sind Dinge, einfach nicht berechenbar. Genauso wenig wie Foxtrot. Das mit dem Spezialpreis der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig 2017 ausgezeichnete Werk zählt für mich zu den kuriosesten und kontroversesten Filmen der letzten Zeit. Foxtrot ist ein Kunststück, das man als Künstler erst wagen muss, mit diesem Wagnis aber letzten Endes das Medium des Kinos so dermaßen bereichert, dass es einfach gar nicht anders kommen kann, damit auch auf Widerstand zu stoßen. Und der war deutlich genug. Denn was der Israeli Samuel Maoz mit seinem irritierenden Film da von der Leine lässt, ist nicht unbedingt leicht zu verstehen, bleibt genauso schwer im Magen liegen wie es seltsam unterhält. Doch ist die Intensität von Foxtrot nicht wie bleiernes Betroffenheitskino ein ungelenkes Vehikel. Ganz im Gegenteil: Maoz hat womöglich schon im Vorfeld das Genre des Antikriegsfilmes studiert, er kennt womöglich die Werke von Sam Mendes (Jarhead), Innaritu oder Robert Altman (M.A.S.H.), er holt sich Inspiration, ganz sicher. Er hat auch womöglich selbst so Einiges beobachtet, in seinem eigenen Land. Und fügt all diese Notizen seiner Recherche mit seiner Sicht auf einen stagnierenden Krieg zusammen, wie Post-its auf einer Poetry-Wall, die Unterschiedliches erzählen. Betroffenmachendes, Humorvolles – oder völlig irren Symbolismus.

Samuel Maoz hat dafür sehr viel Kritik einstecken müssen. Ein Nestbeschmutzer, einer, der Lügen verbreitet über die israelische Armee, ein Feind im eigenen Land. So wie seinerzeit Thomas Bernhardt über die politische Grundgesinnung Österreichs. Dass Foxtrot zum Teil auch im übertragenen Sinne zu verstehen ist, dass diese in drei Segmente geteilte Komposition viel mehr will als den absurden Alltag eines Krieges und deren Folgen zu beweinen, muss denen, die sich händeringend echauffiert haben, wohl entgangen sein. Kann auch gut sein, kann ich sogar auch nachvollziehen. Foxtrot lädt nicht zu einem Stelldichein vertrauter Normen. Er sprengt sie, verwirrt und rückt so nah an das Geschehen eines Verlustes, dass es schmerzt. Den Tod seines Sohnes Jonathan an der Front muss Vater Michael erst mal realisieren, während die Mutter nach einem Ohnmachtsanfall sädiert im Bett liegt. Die Kamera kreist dabei virtuos um einen in Schockstarre befindlichen Ist-Zustand, um eine ausgelöschte Norm des Alltags. Close Ups wechselm mit Totalen von oben, sie zeigen einen völlig orientierungslosen Mann, der sich selbst quält, um den Schmerz zu lindern. Zugegeben, das zu ertragen ist für den Zuseher nicht gerade ein Honiglecken. Irgendwann kommt die Verwandtschaft, auch sie am Boden zerstört. Das Begräbnis wird geplant, ein Schicksalsschlag, einfach entsetzlich. Bevor man allerdings kurz davor ist, sich zu entschließen, dieses Drama nicht mehr weiter zu verfolgen, erlaubt sich der Film eine radikale Wendung. Und wir finden uns in der Wüste wieder, am Checkpoint Foxtrot.

Was dann passiert, muss man gesehen haben. Und jedes weitere Wort würde diesen wilden Ritt nur zähmen. Erstaunlich, welch unterschiedliche Färbung Maoz seinen Puzzleteilen verpasst, welchen unterschiedlichen Rhythmus und welche Zugkraft. Und wie das ganze miteinander verflochten ist. Die große Frage von Schuld ist dabei eine, die das Zerrbild eines dem Alltag inhärenten Säbelrasselns durchzieht, und sie manifestiert sich in vielerlei Gestalt. Sowohl als Blutzoll, schlechtes Gewissen oder dem Delegieren von Verantwortung. Die Ernte davon: ausgleichende Gerechtigkeit oder kompromissloser Wille zu einem die ganze Existenz durchdringenden Gleichgewicht, dem keiner entkommen kann. Wie die Waagschalen in einem Krieg, der seine Beteiligten nur noch in abgestumpfter Wachsamkeit vorfindet und erst wieder mit getriggerten Provokationen für tauglich erklärt. Jenseits des Krieges aber warten ganz andere Schicksale, die noch schwerer zu fassen sind als das Menschengemachte. Foxtrot leuchtet dieses verschachtelte Gefüge aus, wie der Suchscheinwerfer all jene, die den Checkpoint Foxtrot passieren wollen. Ganz normale Menschen, die nichts anders wollen als nach Hause kommen. Und manchmal auch ein Kamel, wie die entrückte Vision einer trottenden Gleichmut, die von der Zukunft weiß.

Foxtrot

Tel Aviv on Fire

NAHOST IM SERIENWAHN

6/10

 

telavivonfire© 2019 MFA

 

LAND: ISRAEL, BELGIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2018

REGIE: SAMEH ZOABI

CAST: KAIS NASHEF, LUBNA AZABAL, YANIV BITON, MAISA ABD ELHADI, NADIM SAWALHA U. A.

 

Wir wissen alle, dass es sie gibt, und zugegeben, manche davon haben wir sogar gesehen: Soap Operas. Vom Haus am Eaton Place über Die Sklavin Isaura bis zur Lindenstraße und Reich und Schön. Dauerbrenner und Guilty Pleasures fürs nachmittägliche Homesitting, tägliche Fixpunkte in Phasen ereignislosen Alltags, die aber für den nötigen Thrill sorgen, und ist es nur der, nicht zu wissen, wer jetzt mit wem liiert ist und wer vom Cast nun doch etwas im Schilde führt. Auch der Nahe Osten hat so seinen Straßenfeger – in der israelisch-französischen Gesellschaftssatire Tel Aviv on Fire ist das die erste Staffel eines aufregenden Schmachtfetzens selbigen Namens, mit einer international renommierten französischen Schauspielerin als Leading Actress. Gedreht wird in Ramallah im Westjordanland, und manch ein Crewmitglied tingelt täglich von Jerusalem nach Palästina, bewaffnete Grenzkontrollen inklusive. Das ist ganz schön mühsam, aber wohl das geringste Übel, wenn man betrachtet, welchen Fehden dieser Fleck auf Erden gefühlten Äonen schon ausgesetzt war. Ob das jemals zu einem Konsens führen wird, und ob irgendwann diese unsägliche und menschenverachtende Grenzmauer ganz im Stile von Deutschland 89 abgerissen wird, ist fraglich. Zu wünschen wäre es beiden Volksgruppen, die, jeder für sich, fest davon überzeugt sind, im Recht zu sein.

Natürlich handelt diese kostengünstig produzierte Dramaserie, die drehscheibe des Films, von einem ganz anderen einschneidenden Konflikt in den 60ern – nämlich vom Sechstagekrieg. Am Vorabend dieser Auseinandersetzung spielen da ganz im Sinne des amerikanischen Spionagefilms Mata Hari-ähnliche Schönheiten eine Rolle, die israelische Generäle bezirzen, um irgendwann zuzuschlagen, am Besten im Zuge eines Attentats. Und die Serie, die wird gedreht, aber keiner weiß, wohin sie führen soll. Bis Regieassistent Salam einem Grenzbeamten in die Hände fällt, der dramaturgisch durchaus was am Kasten  und eine ganz eigene Vorstellung davon hat, wie die erste Staffel enden muss.

Der Israeli Sameh Zoabi nähert sich der religions- und volkspolitisch offenen Wunde von der Maschekseite, nämlich durch die Hintertür eines Filmstudios. Das Fernsehen, das hat eine ganz andere Politik als die der Straße. Das Fernsehen, das verbindet Feinde wie Freunde, mediales Interesse macht weder vor Muslimen noch vor Juden halt, da sind alle anderen Befindlichkeiten zweitrangig. Allerdings – auch bei einer Serie, die genau das thematisiert? Der Serienwahn steckt in Tel Aviv on Fire alle an, doch lassen sich in den Kulissen eines Studios die Konflikte einfacher beiseitelegen als im echten Leben? Und lässt sich der Friede zwischen Palästinensern und Israelis auf völlig naive Weise einfach so inszenieren? Dem Israeli Assi wäre das am Liebsten, das Ideal eines Zugeständnisses von der anderen Seite des Grenzzaunes. Der „Hans im Glück“ Salam, der, plötzlich Drehbuchautor, wie die Jungfrau zum Kind kommt (um hier auch noch die Christen zu bemühen), sieht alle Türen geöffnet, um Geschichte zu schreiben. Die Geschichte einer Vereinigung, die doch so undenkbar scheint.

In Zoabis Film ist vieles möglich, ist vieles auch absichtlich auf klischeehafte Weise karikiert, und mit Hummus geht sowieso alles besser. Doch so richtig bissfest will die augenzwinkernde Komödie dann doch auch nicht sein, will nirgendwo anecken noch kompromittieren. Will in erster Linie natürlich unterhalten, und die Diskrepanz zwischen den beiden Parteien auf versöhnliche Weise durch den Kakao ziehen. Versöhnlich ist ja schon mal gut, auch der Anspruch ein lobenswerter, doch wenn vielleicht Hauptdarsteller Kais Nashef nicht ganz so den Phlegmatiker herauskehren würde, wäre das Feuer in Tel Aviv wohl mehr der Burner, wohl mehr leidenschaftlicher und auch mehr bei der Sache. Es ist also wie mit den Soaps, die zwar immer irgendwelche Hiobsbotschaften heraufbeschwören, aber in ihrer weitgefächerten Zielgruppenorientierung in routinierter Gleichförmigkeit vor sich hinplätschern. Das tut vorliegender Film auch, und er regt nicht auf oder sorgt für Kontroversen, weil es doch nur ein Boulevardstück ist, das in sich sowieso nochmal ein massentaugliches Sprachrohr nutzt, um einen Konsens für alle zu suchen. Weil das Unmögliche nicht mal im inszenierten Traum möglich sein kann. Da hört laut Regisseur Zoabi dann der Spaß auf, so optimistisch will er dann doch nicht in die Zukunft blicken, eher resignierend, oder nur einen kleinen Schritt tun, nämlich den aus der momentan geschilderten Affäre. Ein geflissentliches Zugeständnis also, das man ihm nicht übelnehmen kann. Und noch etwas stellt sich ein, nachdem der Abspann so abläuft wie das kitschige Intro einer dieser eingangs erwähnten Langzeitshows: ein unglaublicher Heißhunger auf Hummus, obwohl man Hummus eigentlich gar nicht so mag.

Tel Aviv on Fire

Der Affront

VOM HINHALTEN DER ANDEREN BACKE

8/10

 

affront© 2018 Filmladen

 

LAND: FRANKREICH, LIBANON 2017

REGIE: ZIAD DOUEIRI

CAST: ADEL KARAM, RITY HAYEK, KAMEL EL BASHA, CHRISTINE CHOUEIRI U. A.

 

Ich wäre dankbar dafür, würden Bauarbeiter an meiner Haustür läuten und mich darauf aufmerksam machen, dass mein Abfluss defekt ist. Wenn sie sich noch dazu bereit erklären würden, diesen zu reparieren, würde ich ihnen, und das wäre das mindeste, sogar einen Kaffee spendieren, vom Trinkgeld im Nachhinein mal abgesehen. Allerdings läuft sowas nicht ganz so geschmeidig ab, wenn wir uns im Libanon befinden, genauer gesagt in Beirut. Um zu verstehen, warum eine Hilfestellung wie diese zu einem handfesten Affront wird, wäre es natürlich nicht schlecht, die politische Geschichte des Landes zumindest rudimentär zu kennen. Falls dem nicht so ist, macht das auch nichts, es wäre nur eine Fleißaufgabe vorab, um noch leichter in die Tragödie hineinzufinden, die sich scheinbar im Zeitraffer hochschraubt wie ein Kettenkarussell. In Beirut also lässt der libanesische Christ Toni den Palästinenser Yasser natürlich nicht in die Wohnung. Einfach, weil er ein muslimischer Flüchtling ist, in diesem Land nichts verloren hat und schon gar nicht Hand anlegen darf an etwas, dass einem patriotischen Christen gehört. Yasser muss das Problem mit dem illegalen Abfluss aber im Rahmen seiner Arbeit trotzdem irgendwie lösen – und wird daraufhin von Toni beschimpft. Der schimpft natürlich zurück – und die Wogen schaukeln sich hoch. Eine verbale Ohrfeige folgt der anderen, keiner ist bereit, klein beizugeben. Weder der Palästinenser noch der Christ. Der Streit ist natürlich ein Sinnbild für etwas viel größeres, das hinter der Fassade augenscheinlicher Toleranz schwelt. Nämlich der Hass auf Einwanderer aus dem Süden, die allesamt verantwortlich gemacht werden für einen Krieg, der noch viel weiter zurückliegt, und der aus Flüchtlingen automatisch verdächtige Terroristen macht.

Der Libanese Ziad Doueiri, langjähriger Kameraassistent bei Quentin Tarantino, hat mit Der Affront ein bemerkenswertes Politdrama entworfen. Nicht nur eben inszeniert, sondern auch geschrieben. Die Idee, das Misstrauen zweier Völker auf dem Rücken zweier Männer austragen zu lassen, die in ihrer Überzeugung, das Recht auf ihrer Seite zu haben, sogar bis vors Gericht gehen, damit lässt sich nicht nur die sensible Lage im Nahen Osten sezieren. Was als bürgerliche Miniatur aus dem Randbezirk beginnt, mutiert zu flächendeckender Unruhe. Damit lässt sich generell, und zwar auf einer übergeordneten Metaebene, die Mechanismen eines ethnisch bedingten Konfliktes analysieren, wenn nicht gar die Mechanismen von Streit an sich. Dass der Klügere nachgibt, wie es so schön heißt, das reduziert sich auf eine wohlmeinende Floskel, die vergisst, mit Emotionen zu kalkulieren. Emotionen, die lassen nicht mehr klar denken, geschweige denn klug. Denn wer klug ist, sollte erstmal gelassen sein. Angesichts finsterer Erinnerungen, die den Christen Toni plagen, ein Ding der Unmöglichkeit. Wobei gerade da die größte Herausforderung jene ist, trotz allem einen Schritt zurück zumachen und die Situation aus konfliktberuhigter Lage zu betrachten. Um dann auch noch die andere Backe hinzuhalten, die Hand zum Friedensschluss zu reichen. Den Kreislauf der Fehde zu unterbrechen und Schwammdrüber zu machen, über alles was war. Im Nahen Osten aber, da herrscht noch vehementer als bei uns das Bewusstsein, einem Volk anzugehören. Diese Zwangsgemeinschaft großer Weltreligionen, die sich noch dazu ethnisch unterscheiden, können im Kampf für ihre Grundrechte jeden gebrauchen. Das weiß der Einzelne, das weiß auch Toni und Yasser. Aber wann ist das Wettrüsten zum eigenen Stolz am Ende? Wann wird aus Stolz kindischer Trotz? Und kann man irgendwann, wenn es schon so heiß köchelt, nochmal umkehren und die Wurzeln der Diskrepanz in neue Erde setzen?

Der Affront will den Versuch wagen. Doueiris Film denkt sein Szenario konsequent und diszipliniert zu Ende, während die urbanen Massen kurz davor sind, ihre Disziplin zu verlieren. Dabei erinnert Doueiris Herangehensweise an jener des Iraners Ashgar Farhadi, der zum Beispiel mit Werken wie The Salesman ähnlich gesellschaftskritische Beobachtungen liefert. Das gleichnishafte Drama bringt den Konflikt vor Gericht, versucht dabei, nicht Partei zu beziehen. Lässt festgefahrene Blindwütigkeit und eitle Sturheit auseinandernehmen, bis der Kern des Problems ans Licht tritt. Das ist spannend, höchst brisant und aufwühlend, weil es eben nicht nur um den Nahen Osten geht, sondern um Vorbehalte an sich, die sich unter Warum-Fragen in blasser Transparenz verflüchtigen sollen. Was bleibt, ist ratlose Scham und gegenseitiges Verständnis. Bis es mal tatsächlich so weit kommt, braucht es natürlich mehr als einen Film wie diesen, der viel will, aber auch viel erreicht. Der Affront ist ein guter Anfang. Und ein zeitlos relevantes Werk, dass, gäbe es einen Friedensnobelpreis für Filme, diesen verdient hätte.

Der Affront

7 Tage in Entebbe

TERROR FÜR EINE BESSERE WELT

6,5/10

 

7tageentebbe© 2018 eOne Germany

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, USA 2018

REGIE: JOSÉ PADHILA

MIT DANIEL BRÜHL, ROSAMUNDE PIKE, EDDIE MARSAN, BEN SCHNETZER, NONSO ANOZIE U. A.

 

Wenn sich die Tänzer des israelischen Ensembles Batsheva Dance Company aus ihren im Halbkreis angeordneten Stühlen erheben, und das nacheinander, in Form einer Welle wie am Fußballplatz, während einer von den Tänzern im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Rahmen fällt, ist das schon ein ungewöhnlicher Auftakt für ein Entführungsdrama nach Tatsachen. Und ja, doch, es ist irgendwie beeindruckend, wenn auch etwas irritierend. Ausdruckstanz stand bei mir nie auf der Besuchsliste kultureller Aktivitäten, mit Ausnahme des Serapionstheaters, das immer wieder mal im Wiener Odeon gastiert. Die als Prolog verstandene Sequenz einer Generalprobe, die dem traditionellen jüdischen Lied Echad Mi Yodea, das normalerweise zum Pessachfest gesungen wird, das Bild einer impulsiven Choreographie verleiht, macht zumindest für mich auf den ersten Blick klar, dass 7 Tage in Entebbe ein Film werden wird, der ganz klar für Israel Stellung bezieht. Laut einer Rezension des israelischen Nachrichtensenders i24News vom 21. Februar dürfte das im Zuge der Performance stattfindende Ablegen der jüdischen Kleidung jedoch als das Ablegen einer Politik verstanden werden, die den Dialog verhindert – die Verständigung also zwischen Palästina und Israel. Andererseits steht das Lied, welches weniger gesungen als mehr gerufen wird, für die Befreiung der Juden aus der Sklaverei (womöglich Babylons). Ein starkes, vereinendes, nationalbewusstes Lied, mit schweren Rhythmen unterlegt. Abgehakt, kraftvoll, unmissverständlich. Dieser Tanz ist also ein Widerspruch in sich, ein Ziehen an beiden Enden des Taus. Das Tau – oder die Stühle im Halbkreis: die Nahostpolitik eines stets aufrüstenden Israels, mit Freund USA als schattenspenenden Hulk im Hintergrund. Und das landberaubte Palästina, mit den verzweifelten Mitteln einer Terrorpolitik, die aber auch gar nichts bewirkt – nur Sorgen, die man nicht haben möchte.

Damals, in den 70ern, also vor rund 40 Jahren, war der Revolutionsgedanke Mutter aller Handlungen. Da hieß das noch weniger Terror, zumindest bei den Terroristen. Da hieß das vermehrt Revolution. Meist für eine Sache, die im Detail betrachtet wenig mit den Verbrechen begehenden Aktivisten zu tun hat, aber global gesehen für eine politische Einstellung steht, die überall angewandt werden soll, wo das Recht der Ohnmächtigeren im Argen liegt. Das haben sich Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann auch gedacht – und ihrem Leben einen Sinn gegeben. So was passiert dann, wenn das persönliche Glück nicht ausreicht oder die Zufriedenheit für ein Leben nicht absehbar ist. Wenn die Kränkung enorm und das Ich-Bewusstsein nicht durchdringt. Als Teil von einer Welle zu sein, die in Entführungen, Morden und dem Schüren von Angst wie ein Tsunami über den Westen hinwegfegt – und nicht nur über den Westen – dann ist das schon so ein Gefühl, für ein höheres Ziel einstehen zu können. Und erst recht, wenn man eigenhändig ein Flugzeug in seine Gewalt bringt. Nur kann etwas, das mit Gewalt erzwungen wird, selten Früchte tragen. Davon wollen aber weder die beiden im Jemen ausgebildeten deutschen Rekruten etwas wissen, noch die Palästinenser, die ebenfalls mit an Bord der Air France Maschine Richtung Uganda unterwegs sind. Denn der Zweck heiligt doch die Mittel, egal wie. Eine durch Verbrechen herbeigeführte Lösung, die dann keine Verbrechen nach sich zieht, ist was fürs Märchenbuch. Oder für Terroristen. Oder für Idi Amin, der die Maschine mitsamt ihren verschwitzten, übermüdeten, hungrigen Geiseln überschwänglich begrüßt, als hätten sie ein Preisausschreiben gewonnen. Was dann folgt, hat Geschichte geschrieben. 7 Tage Entebbe – dann das Ende. Zwischendurch die Batsheva Dance Company, die die Quadratur des Halbkreises probt.

Dem brasilianischen Regisseur José Padhila, der schon Erfahrung mit Filmen über Entführungen und Korruption im Staat (Tropa de Elite, Narcos) gesammelt hat, aber auch bei Blockbustern wie der Neuverfilmung von Robocop danebengriff, war es wohl wichtig gewesen, ein so unparteiisches Bild wie möglich zu zeichnen. Die beiden Deutschen, souverän dargestellt vom Professionisten Daniel Brühl und Rosamunde Pike, sind von Zweifeln geplagt, hin und her gerissen zwischen Mission und Flucht. Um sie herum verschrockene Zivilisten, die Angst eines sich wiederholenden Lagerhorrors im Nacken. Kurz davor, alles auf eine Karte zu setzen und den Massenmord durchzuführen: die Palästinenser. Die, die am Meisten verloren haben, nämlich ihre Heimat. Padhila gibt ihnen allen ihre Rede- und Aktionszeit, mit dem Fokus auf das politische Kabinett unter dem Davidstern. Rabin, Peres und Motta treten auf, ganz im Stile von Spielberg´s Terrordrama München. Oberflächlich hingegen die Sicht einzelner aus der Special Forces-Einheit. Die Intermezzi mit dem Paar der Tänzerin und des Soldaten hätten mehr Spielzeit verdient als ihnen letzten Endes eingeräumt wird. Schon alleine, um den Zwiespalt, der Israel stets unter Spannung stehen lässt, in weiteren Dialogen zu verdeutlichen. Würde man die Hintergründe der Tanzeinlagen nicht nachlesen, würde sich der Sinn dahinter für Nicht-Juden nur schwer erschließen. Aber genau das hätte 7 Tage in Entebbe zumindest nicht nur ansatzweise zu etwas Besonderem gemacht. Aber es ist, wie es ist, und es herrscht solides True Story-Kino vor, in all seinen authentischen Details.

7 Tage in Entebbe