Honey Bunch (2025)

GASLIGHT STATT CANDLELIGHT

7,5/10


© XYZ Films


LAND / JAHR: KANADA 2025

REGIE / DREHBUCH: MADELEINE SIMS-FEWER, DUSTY MANCINELLI

KAMERA: ADAM CROSBY

CAST: GRACE GLOWICKI, BEN PETRIE, KATE DICKIE, JIMI SHLAG, JASON ISAACS, INDIA BROWN U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Der Autounfall muss so schwer gewesen sein, dass Diana jede Erinnerung daran verloren hat. Und nicht nur das: Auch all die Erinnerungen an eine Zeit der romantischen Zweisamkeit mit Ehegatten Homer, der aus tiefster Verzweiflung seine ziemlich lädierte bessere Hälfte in eine Spezialklinik verfrachtet, deren Ärzte Koryphäen auf dem Gebiet sind, Unfall-Amnesien wie diese wieder zu kurieren. Dass die Physis nebenbei bemerkt dabei auch noch ihre Rehabilitation vollständig erlangt, eine gern gegebene Garantie. Was Kennern der Geschichten von Edgar Allan Poe, Lovecraft oder Dennis Lehane wohl sofort in den Sinn kommen würde bei Erstbetrachtung der Einrichtung: Hier geht ganz sicher nichts mit rechten Dingen zu. Kann gar nicht sein, darf gar nicht sein. Die süßelnde Oberschwester (Kate Dickie) oder was immer die Dame auch verkörpern soll, die Diana und Homer freundlich empfängt, wiegt die beiden In Sicherheit und Zuversicht, auch wenn die Methoden zur Heilung so aussehen, als wären sie noch in der Testphase. Erklärend müsste ich vielleicht noch erwähnen, dass diese ganzen Geschehnisse zu einer Zeit spielen, in der man von smarter Elektronik noch nicht mal geträumt hat.

Alles in Ordnung, Honey

Es sind die Siebziger, und jedes Bild und jede Szene fängt den Stil von damals ein, inklusive des visualisierten Muffs, den Retro-Nostalgie nun mal von sich gibt. Roman Polanski hätte dieses Drehbuch mit Freude wohl verfilmen mögen, doch der gab sich damals wohl lieber, erfahrbar in Der Mieter oder Ekel, den Psychosen hin. Das Regieduo Madeleine Sims-Fewer und Dusty Mancinelli – für mich eine gänzlich neue Bekanntschaft  – drückt das Gemüt aber längst nicht so weit in den destruktiven Schlamm wie der polnische Starregisseur. Das alleine sagt schon der Titel Honey Bunch, denn das liebliche Honigtöpfchen muss, wie es scheint, für den scheinbar fürsorglichen Homer das Zentrum seiner Welt sein. Natürlich fragt man sich: Ist dem wirklich so? Zweifel kommen auf, als Diana albtraumhafte Visionen hat, die sie an etwas erinnern, was scheinbar nie stattgefunden hat. Und warum, so fragt sie sich, geistert immer wieder die längst verstorbene Gründerin der Klinik durch den Garten, als wäre das Paranormale in diesen alten Gemäuern längst nicht nur die Folge von Dianas geistigem Zustand.

Albtraum mit Situationskomik

Vieles ist in Honey Bunch nicht so, wie es scheint. Dieser gespenstische Umstand erinnert an Scorseses Shutter Island, nur längst nicht in dieser verwinkelten, regennassen Ernsthaftigkeit. Romantik bleibt in diesem Spiel aus Rätseln, Vermutungen und Heimsuchungen stets großgeschrieben, Grace Glowicki und Ben Petrie haben einen Zustand zueinander, der ist schon mal die halbe Miete für eine Geschichte, die mit viel Herz, Verstand und vorallem naiver Neugier umgesetzt wurde. Gerade dieses Naive, dieses verschmitzte Lust am resolut eingeforderten Abenteuer, die Diana bald überwältigt, führt schließlich zu einem ersten großen Twist, den man ohnehin schon einige Zeit vorher erahnen kannt. Als es dann soweit ist, und die Karten neu gemischt werden, die Wahrnehmung am Kopf steht, und zwar so, ohne dass einem dabei schwindelig wird, weicht der Suspense einem turbulenten, durchaus auch freakigen Thriller, der wissenschaftliche Dystopien in eine durchwegs schrullige Komödie packt, die, anstatt Kraft und Energie zu verspielen, in der narrativen Zielgeraden so viel Spaß am Tun entwickelt, dass er wohl sich selbst genügen würde, ganz ohne  Publikum. Ein Faktor ist das, der Filme so richtig selbstbewusst macht. Und das gelingt auch Sims-Fewer und Mancinelli.

Schön aber, dass man trotzdem dabei sein kann. Und schön, zu sehen, wie beide das höchste Gut einer harmonischen Zweisamkeit mit süffisanter Ironie unterspicken und daraus eine Vision zaubern, die sich herrlich verpeilt und verschroben gibt, wie eine Independent-Perle eben sein muss, deren Glanz bis zur letzten Szene eine ganze Palette von Gefühlen widerspiegelt, mit zwischendurch Chancen auf ein Happy End. In der Liebe ist schließlich alles möglich. Vorallem im Film.

Honey Bunch (2025)

Nosferatu – Der Untote (2024)

BEIM SCHNAUZER DES STRIGOI

4/10


nosferatu-untote2© 2024 Focus Features LLC


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ROBERT EGGERS

DREHBUCH: ROBERT EGGERS, NACH DEM SKRIPT VON HENRIK GALEEN UND DEM ROMAN VON BRAM STOKER

CAST: BILL SKARSGÅRD, LILY-ROSE DEPP, NICHOLAS HOULT, AARON TAYLOR-JOHNSON, EMMA CORRIN, WILLEM DAFOE, RALPH INESON, SIMON MCBURNEY U. A.

LÄNGE: 2 STD 12 MIN


Da Friedrich Wilhelm Murnau in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beim Erlangen der Rechte für Bram Stokers Roman durch die Finger schauen musste, erdachte sich Henrik Galeen eine filmtaugliche Geschichte, die lose an die wohl kultigste Gothic Novel aller Zeiten erinnert: Nosferatu. Verfilmt hat dieses Skript Murnau mit einem Schauspieler, der selbst schon ein Mysterium für sich gewesen sein mag: Max Schreck, sein Name war Programm, das augenzwinkernde Gerücht um ihn herum, dass dieser wohl tatsächlich ein Vampir gewesen sein mag, ergab im Jahr 2000 den Film Shadow of the Vampire mit John Malkovich als Murnau und Willem Dafoe als Schreck oder auch Graf Orlok selbst, keiner wusste das so genau. Letzterer, nämlich Dafoe, findet sich auch in Robert Eggers ambitionierter Neuverfilmung des Stummfilmklassikers wieder, der bis heute zu den Sternstunden des expressionistischen und des Horrorkinos schlechthin gilt. Kein Vampir war jemals gruseliger und albtraumhafter. Kein Vampir ein solches bleiches Schreckgespenst wie nicht von dieser Welt, starrend und schmachtend und bizarr wie selten eine Kreatur aus dem Reich der Untoten.

Werner Herzog hat einige Jahrzehnte später die erste Neuverfilmung gewagt – er hat dafür natürlich Klaus Kinski besetzt, denn der war von einem Kaliber wie der damalige Max Schreck: Exzentrisch, gespenstisch, unberechenbar: Ein Enfant Terrible des deutschen Films, der von sich selbst behauptet hat, diese Rolle des Nosferatu spielen zu müssen, da dieser sowieso schon längste Zeit in ihm selbst gelebt haben musste. Herzogs Nosferatu – Phantom der Nacht ist ein somnambuler, ätherischer Filmtraum geworden. Langsam, träge, abgehoben und wie im Wachschlaf herumgeisternd. Kinski asthmatisch und ewig jammernd, furchtbar verloren und furchtbar perfide gleichermaßen. Und welch ein Glück: Isabelle Adjani, die im Film als Lucy Harker jene Rolle einnimmt, die jetzt Lily-Rose Depp verkörpert, nur mit andrem Namen, ist nicht minder gespenstisch als der bleiche Kahlkopf. Ihre schreckgeweiteten Augen und das dem Wahnsinn verfallene, ebenfalls totenbleiche Antlitz der Französin begegnet der Ikone des Vampirfilms auf Augenhöhe. Ein Kunststück, das in Robert Eggers Versuch einer Neuinterpretation keinem auch nur ansatzweise gelingen will.

In Nosferatu – Der Untote sind die Namen der Figuren wieder jene, die bis auf eine Ausnahme (nämlich Dafoe als Dr. von Franz) Murnau schon verwendet hat. Das Setting eines düsteren Deutschlands aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreit richtiggehend danach, dass man es in einem Stummfilm verwenden möge. Liebevoll errichtete, knorrige Gebäude, die enge Straßen säumen, darin das Volk, bestehend aus unterschiedlichen Klassen, von der Magd bis zum Aristokraten mit Zylinder, alles sorgsam kostümiert und noch nicht ahnend, was alsbald auf sie zukommen möge. Denn er wird kommen, das weiß schon Lily-Rose Depp als Medium Ellen, die mit dem Grafen Orlok mental bereits im Bunde steht. Thomas Hutter (Nicholas Hoult, bereits in Renfield Teil des Stokerverse), der Ehemann, der für einen Häusermakler arbeitet, verspricht sich gutes Geld, wenn er den Auftrag annimmt, in die Karpaten zu reisen, um einem geheimnisvollen Grafen den Vertrag für einen Hauskauf in Wisborg zu unterbreiten.

Soweit ist in diesem gediegenen Historienhorror noch alles auf dem richtigen Weg. Bilder, die eine Hommage an Murnaus Werk sind, wechseln von blassen Erdfarben zu kontrastreichem, grobkörnigem Schwarzweiß. Überhaupt steckt jedes zweite Bild im welchem Dunst auch immer, ist es nun Regen, Nebel, Kerzenrauch in der Taverne oder das fahle Licht, das gerade mal vage das Antlitz des Blaublütigen beleuchtet, der mit Befehlsstimme den armen Jungen Mann zum Dableiben nötigt. Schon weicht im Kinositz die Lümmelposition einer aufrechten Haltung, da irgendetwas nicht stimmt. Ganz klar ist dieses Individuum, dieser Schlossbesitzer, keinesfalls verwandt mit Schreck oder Kinski, geschweige denn mit Orlok. Dieser Dämon trägt Fellmütze und einen dichten Schnauzer unter einer krummen Hakennase. Er sieht wohl eher aus wie die fahle Fotografie eines Kosaken, der mit Borat verwandt sein mag. Die grimmigen Augen sind nicht jene eines Vampirs, sondern die eines Zauberers wie Saruman. Untot mag der Geselle zwar sein, aber er ist alles andere als das, was zu erwarten ich mir erhofft hatte.

Weder wohnt dem bis zur Unkenntlichkeit überschminkten Bill Skarsgård das unterschätzbar  Mysteriöse inne, noch ein sehnsüchtiger, gieriger Schrecken. Der Charakter des Unnahbaren – diese unheimliche, bleiche, androgyne Entität, die sich gerne in Alpträume nistet, ist verschwunden. Das personifizierte Verhängnis zeigt sich als derber, bodenständiger Waldschrat mit Rotzbremse, der keine Emotionen auslöst. Der Reiz des Unheimlichen ist dahin, der Grusel sowieso, spätestens beim verbalen Schlagabtausch mit Opferbraut Ellen ist die Stimmung endgültig verflogen, denn mit Graf Orlok streitet man nicht. Apropos Ellen: Lily-Rose Depp sieht man an, wie sehr sie sich abmüht – gewachsen ist sie ihrer Rolle nicht, da hat Isabella Adjani mit traumtänzerischer Leichtigkeit die depressive Schwere eines Besessenen wie keine Zweite in den Film gewoben. Depp ist lediglich hysterisch, windet sich wie Linda Blair in Der Exorzist in ihrem Bett, hat aber harte Arbeit dabei. Der Wahnsinn enerviert, und Willem Dafoe hat alle Hände voll zu tun, die Verfilmung am Laufen zu halten, die sich ohnehin dabei schwertut, eine Entscheidung zu treffen: Will ich nun Hommage sein oder Neuinterpretation? Lieber Schwarzweiß oder Farbe? Lieber diffuses Schattentheater oder stocksteifer Kostümschinken? Steif sind nicht nur die Dialoge, von denen es jede Menge zu viel gibt.

Dadurch, dass Robert Eggers mit einer vampirgleichen Sehnsucht diesen Stoff auf die Leinwand bringen wollte, so sehr stolpert er auch über seine eigenen Ambitionen und seinen Vorsatz, um Gottes Willen nicht nur zu kopieren, sondern auch Eigenständiges zum Thema beizutragen. Leider tut er das an der falschen Stelle. An Orlok selbst Hand anzulegen und ihn als ungeschlachten, muskelbepackten Zombie-Magier auftreten zu lassen, der wie all die Vampire aus Twilight nicht mal die spitzen Beisserchen besitzt, grenzt fast schon an ein Sakrileg. Orlok ist eine Ikone des Schreckens, eine expressionistische Gestalt zwischen Edvard Munch und Alfred Kubin. Figuren wie diese sind schwer veränderbar. Und niemand sonst außer Eggers würde auf die Idee kommen, das Filetstück einer vollkommenen Vampirgestalt außer Acht zu lassen. Was er daraus gemacht hat, tut weh.

Nosferatu – Der Untote (2024)

Queer (2024)

IM SCHWEISSE KOSMISCHEN ANGESICHTS

7,5/10


queer© 2024 MUBI


LAND / JAHR: ITALIEN, USA 2024

REGIE: LUCA GUADAGNINO

DREHBUCH: JUSTIN KURITZKES, NACH DEM ROMAN VON WILLIAM S. BURROUGHS

CAST: DANIEL CRAIG, DREW STARKEY, JASON SCHWARTZMAN, LESLEY MANVILLE, ANDRA URSUTA, MICHAËL BORREMANS, DAVID LOWERY, HENRY ZAGA, DREW DROEGE U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Sieht man sich das schauspielerische Oeuvre von Daniel Craig an, so fällt auf, dass gerade seine finanziell erfolgreichste Rolle des 007-Agenten James Bond im Grunde wohl am wenigsten das schauspielerische Können des smarten Briten illustriert. Seine Bond-Interpretation mag etwas stiernackig und verbissen wirken – ein Charakter, den Craig liebend gerne gegen andere tauscht, die dem Image des charmant-chauvinistischen Actionhelden zuwiderlaufen oder dieses geradezu konterkarieren. Die schmissige Hercule Poirot-Hommage des Benoit Blanc aus Knives Out war da schon ein erster Schritt in die für Craig ideale Richtung. Jetzt kommt das Sahnehäubchen obendrauf, jetzt darf der lange im Dienste der Broccolis gestandene, leidenschaftliche Akteur Dinge tun, die Tür und Tor aufstoßen in eine regenbogenfarbene Vielfalt an verlorenen, verkorksten, herumirrenden Gestalten, die sich in ihren Schwächen verlieren. Und dies mit ausgesuchter Leidenschaft.

Luca Guadagnino, seines Zeichens Meister im Abbilden verlorener Sehnsüchte – siehe Call Me By Your Name – weiß, was er gewinnt, wenn er Craig besetzt. Für ihn ist dieser ein in hellen Leinenanzügen gekleideter, ungehemmt dem Alkohol und allerlei Drogen zugetaner Privatier mit Fedora auf dem Kopf und genug Geld in den Taschen, um den lieben Gott tagelang einen guten Mann sein zu lassen. Aufgrund seiner Liebe zu rauschigen Stoffen aller Art hat William Lee den Staaten der Rücken gekehrt. Hier, in einem pittoresken, fast unwirklichen Mexiko City der Fünfzigerjahre, ist das Leben ein ewiger Zyklus aus Barbesuchen, Aufrissen und Trunkenheit. Was Lee allerdings begehrt, sind, wie der Titel schon sagt, Männer knackigen Alters, die des Nächtens für die nötige Süße sorgen sollen. Eine Affäre folgt der anderen, bis der Ex-Soldat Eugene Allerton (Drew Starkey aus Outer Banks) Lees Wege kreuzt. Ab diesem Moment ist es aus und vorbei mit der kunterbunten Auswahl an Bettgesellen. Eugene bedeutet mehr, obwohl dieser, eigentlich hetero, nur des Geldes wegen mit dem betuchten Lebemann ins Bett steigt. Alles sieht danach aus, als wäre diese Romanze zum Scheitern verurteilt, als eine gemeinsame Reise in den Dschungel Perus nebst schweißnassem Entzug auch die Entdeckung eines Rauschmittels mit sich bringt, die das Leben der beiden für immer verändern wird.

Die Vorlage zu Queer lieferte 1985 niemand geringerer als der Meister der literarischen Beat-Generation: William S. Burroughs. Der Konnex zum Kino: Dessen Kultbuch Naked Lunch, ein als unverfilmbar geltendes Sammelsurium an Grenzerfahrungen durch Drogeneinfluss, hatte sich Anfang der Neunziger David Cronenberg zu Herzen genommen. Guadagnino kann es besser. Sein psychologisches Drama einer Reise ins Unbekannte war dieses Jahr der Überraschungsfilm der Viennale und ist deutlich leichter verständlich als der zu Papier gebrachte bizarre Wahnsinn aus Tausendfüßern, Alienwesen und kriminellen Verschwörungen. Daniel Craig liefert in der ersten Hälfte des Films, die sich handlungsarmen Betrachtungen hingibt, dafür aber auf Stimmung setzt, das grenzlabile, psychologisch durchdachte Portrait eines Ruhelosen und Verlorenen, einer zutiefst einsamen Seele, die dem wahren Glück näherkommen will, indem sie sich überall sonst, nur nicht in sich selbst verliert. Der bittersüßen Liebesgeschichte schenkt Craig das schmachtende, fieberhafte Zittern eines Süchtigen. Guadagnino lässt dabei, wie schon in Call Me By Your Name, malerischen Sex unter Männern nicht zu kurz kommen. Hier ist er ein Ausdruck von Nähe und weniger die pure Befriedigung.

Es wäre aber nicht Burroughs, wenn dieses flirrende Delirium von Film nicht vollends in einen surrealen Albtraum kippen würde, der im tropischen Dschungel den irreversiblen Schritt in halluzinogene Welten wagt, um hinter den Vorhang des Realen zu blicken. Queer wird zum selbstvergessenen Horrortrip, verrückt bebildert, kosmisch aufgeladen und bewusstseinsverändernd. Wie Guadagnino diese Brücke schlägt, ist gewagt, gelingt aber dank Craigs beharrlichen Ego-Eskapaden so überzeugend, als hätte Captain Willard aus Apocalypse Now am Ende seiner Reise festgestellt, General Kurtz gäbe es nur in seiner vom Kriegswahn gezeichneten Vorstellung. In Queer ist es der Drogenwahn, dem man am liebsten zu zweit frönt. Und so eigentümlich dieses Psychodrama sich auch anfühlt – so, als könnte man sich kaum etwas Erbauliches mitnehmen aus diesem Dilemma – sickern Filme wie Fear and Loathing in Las Vegas ins Gedächtnis: Auch dieser nur ein Trip in die fantastischen Welten psychedelischer Substanzen.

Guadagninos Psycho-Abenteuer ist eine Überdosis Burroughs – der Wahnsinn kommt nicht überraschend. Sein existenzialistischer Schlussakkord wiederum erinnert an Lovecraft. Oder, um es anders auszudrücken: Der transzendente Abenteuerfilm ist zurück. Und Craig gibt ihm Seele.

Queer (2024)

Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

JAMMERN NACH BLUT

6/10


nosferatu© 1979 20th Century Fox


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 1979

REGIE / DREHBUCH: WERNER HERZOG

CAST: KLAUS KINSKI, ISABELLE ADJANI, BRUNO GANZ, ROLAND TOPOR, WALTER LADENGAST, DAN VAN HUSEN, JAN GROTH, CARSTEN BODINUS, MARTJE GROHMANN, RIJK DE GOOYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Er war Werner Herzogs liebster Feind, er war cholerisch, polemisch und unberechenbar: Das Enfant Terrible Klaus Kinski, Gesamtkunstwerk und menschlicher Aktionismus, Fitzcarraldo oder der Zorn Gottes, und letztlich auch die kultigste Grusel-Ikone schlechthin: Nosferatu. Ob er den Untoten mit dem Wahnsinnigen besetzt, ich denke, dafür hat Werner Herzog nicht lange überlegen brauchen. Seine unverwechselbare Gesichtsphysiognomie mit den hervortretenden Augen, diese immer am Rande des Überschnappens befindliche Fistelstimme, mit welcher sehr gerne andere beleidigt wurden – da brauchte es gar nicht mal so viel Zeit in der Maske. Ein kahler Kopf, dunkle Augenringe und die spitzen Schneidezähne, die natürlich an Max Schreck erinnern sollen, an jenen aus Friedrich Wilhelm Murnaus Original aus der Stummfilmzeit, von dem man gerne behauptet, er sei tatsächlich ein Vampir gewesen. Dieses gespenstische Gerücht fand gar seine Manifestation in der Making Of- Mystery Shadow of the Vampire mit John Malkovich und Willem Dafoe als undurchsichtigen Akteur mit dem Hang zu Verhaltensmustern, die nur den blutliebenden Untoten zuzuschreiben gewesen wären.

Vielleicht war Klaus Kinski gar nicht mal wirklich so. Vielleicht fand er einfach nur Gefallen daran, sich selbst als Set-, Party- und Bühnenschreck zu verkaufen, weil ihm diese Allüren so wahnsinnig gut von der Hand gingen. Lange lässt sich so ein abnormes Verhalten gar nicht aufrechterhalten, was das alles für Energie und Mühe kostet, wegen jeder Kleinigkeit so dermaßen in den Saft zu gehen. Als Nosferatu musste er all diese Eskapaden zurückschrauben, denn da war er der immer müde, jammernde, chronisch unglückliche Herr der Finsternis, der aus dem Schatten tritt und dem Seufzen der ewig Lebenden zu neuer Ausdauer verhalf. Als kraftlos Sehnsüchtigen setzt Herzog dem transsilvanischen Fürsten ein farbenfrohes Siebzigerjahre-Denkmal, ohne aber die Ikone neu zu definieren. Das machen sehr viel später andere, darunter Claes Bang als klassisch-diabolischer Dracula, die durch einen dramaturgisch freigeistigen Kniff ins Informationszeitalter katapultiert wird. Bei Herzog war das noch nicht der Fall. Sein Remake orientiert sich doch recht stark an Murnaus ewigen Klassiker, das Expressionistische kommt dabei aber abhanden. Was nun dominiert, ist viel mehr postmoderner Gothic-Grusel, in dem die Gondeln Trauer tragen und die Nächte seltsam erleuchtet sind, als gäbe es keine lichtstarken Kameras. Dieser Retro-Charme hat etwas für sich, auch die herbstkalte Schauerromantik weiß zu überzeugen. Was man aber letztlich kaum für möglich gehalten hätte, ist, dass Klaus Kinski, so sehr in seiner Rolle als bissfester Jammerlappen verfangen, fast schon zur unfreiwilligen Karikatur einer Schreckensgestalt gerät, während die blutjunge Isabelle Adjani wirklich allen in diesem Reigen aus Verlangen, Furcht und Psychose die Show stiehlt – sieht man von Roland Topors geistig völlig zerrütteter Renfield-Interpretation ab, die mit ihrem gespenstisch grotesken Lachen in die Abgründe kosmischen Horrors à la Poe schielt. Doch Adjanis völlig entrückte Wahrnehmung der Welt, ihre den gesellschaftlichen Dogmen des neunzehnten Jahrhunderts unterworfenen Manierismen, ihr langsamer Verfall in die Umnachtung, ausgestattet mit weit aufgerissenen Augen und einem verschreckten Antlitz, das den Stummfilmgrößen ihrer Zeit um nichts nachsteht, sondern ganz im Gegenteil, diese fast vorgestrig erscheinen lässt , verkörpert im Grunde genommen den eigentlichen Schrecken einer dem Metaphysischen ausgelieferten Seele, die wie die weiße Frau in der Megaklaue des King Kong nur noch hilflos wimmern kann und auf die Gunst des Monsters angewiesen ist.

Das Monster, in diesem Fall Kinski, lässt sich von seiner Sehnsucht und dem Selbstmitleid, als untote Kreatur ewig zu leben, so sehr übermannen, dass das Ächzen und Stöhnen letztlich alles ist, was bleibt. Die Optik stimmt, Kinski ist ein Hingucker, und so, wie er die Rolle anlegt, das Zerrbild einer gequälten Seele, die niemals Befriedigung findet. Wäre der Schauspieler nicht so sehr dem in Melancholie ertrinkendem Dandy nachempfunden, hätte sich Nosferatu etwas mehr von seiner geheimnisvollen, unberechenbaren Aura bewahrt, hätte Nosferatu – Phantom der Nacht ein Gothic-Meisterwerk werden können. Herzogs Regie, und den Stil kennt man aus all seinen Dschungel-Abenteuern, verkopft sich gerne in gedankenverlorener Kontemplation, die in der Wiederholung ähnlicher Szenen ihren Ausdruck findet. So ist die Ikonografie des Vampirs und seinem Objekt der Begierde wie ein atmosphärisches Bilderbuch mit verpeilten Längen, ein Seufzen quer über den europäischen Kontinent.

Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)

She Came to Me (2023)

MUSE PER ZUFALL

5/10


she-came-to-me© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: REBECCA MILLER

CAST: PETER DINKLAGE, MARISA TOMEI, ANNE HATHAWAY, JOANNA KULIG, BRIAN D’ARCY JAMES, HARLOW JANE, EVAN ELLISON, DALE SOULES, AALOK MEHTA U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Auch der begnadete und grundsympathische Peter Dinklage bleibt davon nicht verschont: Die kreative Blockade. Als Komponist neumodischer Opern kann er in She Came to Me gerade gar nichts so richtig zu Papier bringen, und der Termin zur Abgabe eines seiner Werke rückt näher. Dieser Steven hat obendrein eine Familie aus Frau und Stiefkind, die ebenfalls gerade kaum wissen, wo sie in ihrem Leben stehen, was sie wollen und wohin das führen soll. Eine Midlife-Crisis möchte ich’s nennen, alles fühlt sich sehr danach an, und nicht nur der männliche, väterliche Part scheint davon betroffen. Der Sohn sieht in der Tochter der hauseigenen Putzfrau seine Bestimmung in Liebesdingen, Psychiaterin Patricia kokettiert mit einem Leben als Nonne und vom Künstler höchstselbst wissen wir – er benötigt dringend einen Musenkuss, sonst wird das nichts.

Also treibt ihn eines Tages der Zufall in die Hände der Schlepperkapitänin Katrina, die unter einem Romantikkomplex leidet und sich eigentlich gar nicht auf andere Männer einlassen darf, sonst wird sie rückfällig. Natürlich passiert das Unvermeidliche, und neben dieser unerwarteten Wendung in Stevens Leben, die ihn obendrein genug inspiriert, um weiterzuarbeiten, hängt plötzlich noch die Anklage über Verführung Minderjähriger im Raum, denn Sohnemanns Freundin Tereza ist erst sechzehn.

Es treibt alle um in Rebecca Millers Kreise ziehendem Familiendrama – wohl mehr Tragikomödie als die schwermütige Skizze eines dysfunktionalen Sozialgefüges. Mit leichtem Humor betrachtet die Schauspielerin und Regisseurin (Maggies Plan mit Greta Gerwig) all die in ihren Blasen schwebenden und an Bodenhaftung verlierenden Personen zwar von der richtigen Seite, allerdings schenkt sie ihren Figuren, statt wirklich den Fokus auf sie zu richten, lediglich Seitenblicke. Dabei fühlt sich alles so an, als wäre dieser Plot um Bedürfnisse, Rollenbilder und Liebesdinge ein ganz heißes Eisen, das wohl gerne Woody Allen anpacken hätte sollen. Alles ruft danach, den schmächtigen New Yorker ans Regie-Ruder zu lassen – all das hätte obendrein mehr Wortwitz, dichtere Dialoge und schräge, aber ernstzunehmende Charaktere zum Anfassen gehabt. Miller scheint sich an ihren umtriebigen und fast schon autonomen Sinn- und Inputsuchern die Finger zu verbrennen. Nur nicht tiefer in die Materie, dafür lieber noch eine Komponente an Selbstfürsorge, Ausbruchs- und Umbruchsgedanken mehr, die in ihrer beiläufigen Erwähnung und flüchtigen Betrachtung niemals auch nur ein Quäntchen näher an den Zuseher herankommen. Das Spiel, die Komödie – sie bleibt auf Distanz, sie mag zwar rein konzeptionell tatsächlich rund laufen, darüber hinaus aber bleiben Anne Hathaway, Peter Dinklage oder Marisa Tomei viel zu flach. Gerade so, um Woody Allen zumindest als grob umrissenes Charakter-Scribble zu dienen.

She Came to Me (2023)

Ein ganzes Leben (2023)

HEIMATLOS IN DER HEIMAT

7/10


einganzesleben© 2023 Tobis Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2023

REGIE: HANS STEINBICHLER

DREHBUCH: ULRICH LIMMER, NACH DEM ROMAN VON ROBERT SEETHALER

CAST: STEFAN GORSKI, AUGUST ZIRNER, JULIA FRANZ RICHTER, ROBERT STADLOBER, ANDREAS LUST, THOMAS SCHUBERT, MARIANNE SÄGEBRECHT, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD KASAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN 


In Rainhard Fendrichs inoffizieller österreichischer Bundeshymne lautet eine Zeile wie folgt: Da bin ich her, da gehör‘ ich hin. In Robert Seethalers fiktiver Heimatbiographie Ein ganzes Leben wird das unerschütterliche Statement zur unsicheren Fragestellung: Wo bin ich her, wo gehör‘ ich hin? Das sind Kernwahrheiten, nach denen wir alle suchen. Doch Seethalers Roman bringt es auf den Punkt, stellt diese Fragen dringender denn je – und macht mit seiner Figur des Andreas Egger die Probe aufs Exempel, wie es wohl sein muss, nicht zu wissen, woher man – im Bezug auf das Diesseits – eigentlich kommt und wohin man schließlich gehört. Zumindest Hans Steinbichler (u. a, Das Tagebuch der Anne Frank, Winterreise) hat den Schwebezustand eines bergverbundenen Mannes aus seiner allerletzten Verankerung gerissen und lässt ihn wie einen dieser montanen Greifvögel zwar nicht hoch, aber trotz allem in einiger Distanz zu seinem eigenen Leben und dem Sinn dahinter umhernomadisieren.

Das Woher-komme-ich lastet bereits im ersten Take des Films auf den Schultern eines gerade mal achtjährigen Jungen, der, und das wird nicht näher erläutert, so ziemlich elternlos daherkommt. Irgendwo muss dieser „Oliver Twist“ auch hin, am besten zum entfernt verwandten Bauern Kranzstocker (garstig: Andreas Lust), der, wie der Name schon sagt, gerne zum Stock greift, den Knaben verprügelt und diesen prinzipiell nicht leiden kann. Ein böser Mensch unter dem Herrn, und derart böse Menschen gibt es viele auf dieser Welt. Der junge Andreas Egger nimmt das stoisch hin, schluckt seinen physischen wie psychischen Schmerz einfach runter. Wenig wird er sprechen, zumindest in den jungen Jahren nicht. Doch kaum ist dieser älter und wehrhafter, kehrt er dem Hof und dem Prügelbauern den Rücken, sucht sein eigenes Glück und seine Bestimmung. Sucht im Grunde seine Heimat. Und findet seine Liebe, die, soeben erst gewonnen, wieder verlorengehen wird. Mit ihr auch die Idee eines Zuhause; einer Geborgenheit, die Andreas nicht mehr erlangen wird. Um sich selbst zu spüren, wird er schuften und arbeiten, arbeiten und schuften. Dazwischen schlafen, etwas essen, und sonst nicht viel reden.

Dieses Leben zwischen und auf den Bergen ist ein schnödes, undankbares. Eines, das gerade mal malerische Landschaften und blühende Blumenwiesen bietet. Rauschende Wälder und gar nicht mal einen Jodler. Ein ganzes Leben scheint einer dieser durch und durch klassischen, wildromantischen Heimatfilme zu sein, wie es sie früher gegeben hat. Statt Stefan Gorski oder August Zirner wäre die Rolle des Egger eine solche, die Luis Trenker wohl gespielt und einer wie Georg Wilhelm Pabst inszeniert hätte. Vermutlich in expressionistischem Schwarzweiß, stets im Fokus das wettergegerbte Gesicht des den Entbehrungen ausgesetzten Landmenschen, der hört, wie der Berg ruft, wie das Grollen von Lawinen vibriert und wie kalt der Tod sein kann.

Und doch ist bei Steinbichlers Film so manches anders. Muten die Metaebenen dieser in simpler Chronologie gehaltenen Jahrhundertbeichte fast wie paradoxe Gleichnisse an. Das Gefühl von Heimatlosigkeit in der Heimat, die Freiheit, über die Gipfel zu blicken, und doch nie gelernt zu haben, weiterzureisen bis ins nächste Tal. Arbeit, um zu leben, wird zum Leben, um zu arbeiten. Alles in Ein ganzes Leben hat eine Dualität, die in derselben Begrifflichkeit wurzelt. Auch wenn kaum feststellbar ist, welchen Gedanken dieser Egger nachhängt, – der übrigens sowohl von Stefan Gorski und August Zirner ohne Charakterbruch wie aus einem Guss gespielt wird, als wären beide ein einziger Akteur – lenkt Steinbichler seinen Panoramablick auf sein Innerstes. Damit ist diese in ihrer Sprache recht karge, doch emotional aufwühlende Literaturverfilmung weniger spektakuläres Epos als vielmehr eine introvertierte Suche nach nichts Bestimmtem, doch gleichzeitig nach Allem.

Ein ganzes Leben (2023)

Geliebte Köchin (2023)

DIE KÜCHE ALS ELYSIUM

8/10


Geliebte_Koechin© 2023 Curiosa Films – Gaumont – France 2 Cinema / Carole Bethuel


ORIGINAL: LA PASSION DE DODIN BOUFFANT

LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: TRÂN ANH HÙNG

CAST: JULIETTE BINOCHE, BENOÎT MAGIMEL, EMMANUEL SALINGER, PATRICK D’ASSUMÇAO, GALATEA BELLUGI, BONNIE CHAGNEAU-RAVOIRE, JAN HAMMENECKER, FRÉDÉRIC FISBACH, SARAH ADLER, YANNIK LANDREIN U. A.

LÄNGE: 2 STD 25 MIN


Man muss schon autoaggressiv sein, um sich einen Film wie diesen zur frühen Mittagszeit anzutun, bevor das Essen auf dem Tischt steht. Da reicht nicht mal das bereits vergessene leichte Frühstück, und auch wenn dieses als Brunch zur Schadensbegrenzung hätte herhalten sollen: Es nützt alles nichts. Geliebte Köchin entfacht so dermaßen den Appetit, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion irgendwann verschwimmt und die Möglichkeit, in den Film einzusteigen und all die Köstlichkeiten selbst abzuschmecken, als wahrscheinlich gilt. Zugegeben, letztes Jahr hat man sich mit À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen der Lust am Verkosten wenig alltäglicher Speisen ebenfalls hingeben müssen, so erlesen wurde die Kochkunst im Zeitalter der Revolution zelebriert. Auch The Menu gefiel mit seinen absonderlichen Kreationen, nur um ganze Zeitalter moderner, ausgefallener, intellektueller. Doch keiner dieser Werke lässt das Erlebnis kreativer Kochkunst, die man wohl sein Leben lang nicht auf den Tisch bekommt, so sehr den Zustand einer Apotheose erfahren wie Trần Anh Hùng. Dabei ist der deutsche Titel Geliebte Köchin direkt zu profan, um dem Bildersturm, der darauf folgt, gerecht zu werden. La Passion de Dodin Bouffant als Originaltitel mag einem erfolgreichen Marketing vielleicht ein bisschen im Wege stehen, vielleicht auch der englische Titel Pot au Feu, von dem wohl keiner, der sich nicht mit der französischen Küche zumindest ansatzweise beschäftigt hat oder des Französischen mächtig ist, wirklich weiß, was das ist. Dabei handelt es sich um ein simples Gericht, einen nordfranzösischen Eintopf aus gekochtem Rindfleisch und Gemüse, wofür es allerdings dennoch das notwendige Fingerspitzengefühl braucht, um alles in richtigem Ausmaß gar werden zu lassen.

Im Wettbewerb um die Goldene Palme und letztlich doch mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet, schlägt Geliebte Köchin in seiner malerischen Opulenz jede noch so ausgeschmückte, bisher dagewesene filmische Beobachtung der Küchenkreation. Selbst Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, der barocke Gemälde hernahm, um üppige Stillleben zwischen Fasan und gedünstetem Kohl und sonstigen Feinschmecker-Arrangements zum Leben zu erwecken, scheint im Gegensatz zu diesem Film hier das ganze Licht des Tages und der Jahreszeiten abhanden gekommen zu sein. Hier sind Fenster und Türen einer Großraumküche im Anwesen des Gastronomen Dodin Bouffant stets geöffnet. Zum Abend hin erstrahlt das rustikale Interieur in goldenem Glanz, währen draussen der Specht klopft und der Kuckuck ruft. Und nicht nur das: Auch all die Zutaten aus dem hauseigenen Garten, vom Markt oder vom befreundeten Wildschütz, die da formschön trapiert auf den hölzernen, schon viele Male bearbeiteten Tischen liegen, werden zu wertvollen Artefakten, die Kochkünstlerinnen wie Eugénie benötigen, um den Genuss des stilvollen Verzehrs auf eine neue Dimension zu heben. Das dies gelingt, dessen ist man gewiss. Allein schon die ersten fünfzehn bis zwanzig Minuten sind der reinste Augenschmaus. Fast wortlos geschieht hier vieles gleichzeitig. Von der Fischsuppe über geschmorte Rippchen bis zum flambierten Eiskuchen ist alles da, was der Feinschmecker begehrt. Gerne möge man mich des Esszimmers verweisen, denn mit Sicherheit nennen sich all diese Gerichte wohl ganz anders, als ich sie hier mit meinem kümmerlichen Gourmet-Verständnis beschrieben habe.

In Geliebte Köchin wird die Zubereitung zu einer Art magischen Performance. Unglaubliches wird kreiert. Und dieses „Unglaublich“ lässt fast die eigentliche, kleine, nahezu bescheidene (und nicht nur simple) Geschichte einer Liebe vergessen machen, die zwischen Schauspielgöttin Juliette Binoche (wieder mal famos) und Benoît Magimel die ganze Zeit schon deren Leben versüßt. Binoches Eugénie mag zwar die Angestellte eines anderen Großmeisters sein – die wahre Auserwählte ist sie, und nur sie allein. Dodin weiß das, letztendlich will er sie ehelichen, und das nicht nur wegen ihrer Fertigkeiten. Beide passen zusammen, beide empfinden dieselbe Leidenschaft. Und da ist da noch dieses junge Mädchen, Pauline, die, wie es scheint, das Verständnis für die hohe Kunst der Zubereitung von Geburt an in sich trägt. Ein Naturtalent eben.

Warum die romantische, behutsam und vor allem respektvoll inszenierte Romanze weit über bereits Gesehenem steht? Weil Trầnh Anh Hùng so nuanciert und entschleunigt erzählt wie schon seinerzeit in seinem bittersüßen, überaus zarten Meisterwerk Der Duft der grünen Papaya. Weder ist die Kamera nur statisch oder nur bewegt, Kameramann Jonathan Ricquebourg fängt sowohl die entfesselte Hektik am Herd als etwas ein, das wie der Schaffensprozess Michelangelos daherkommt, als auch die in sich ruhenden, in sattem Licht formvollendeten Miniaturen aus Zutaten, brodelnden Töpfen und der Zubereitung alles Essbaren, das in den Synergien ersonnener Rezepte verblüffende chemische und geschmackliche Verbindungen eingeht. Dazwischen die distinguierte, fast schon in kühlen, entspannten Bildern getauchte Betrachtung einer Lebensgemeinschaft. So bringt Trầnh Anh Hùng, stilsicherer Ästhet mit dem Gespür zur Reduktion im richtigen Moment, das Abenteuer einer für uns Normalsterbliche schwer zu erreichenden kulinarischen Erfahrung mit auf den Weg, den überbordenden Naturalismus einer oft als Nahrungsaufnahme degradierten und unterschätzten Kunst.

Geliebte Köchin (2023)

Die letzte Fahrt der Demeter (2023)

HOLZKLASSE, ABER MIT BORDMENÜ

6/10


demeter2© 2023 Universal Studios and Amblin Entertainment. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, DEUTSCHLAND 2023

REGIE: ANDRÉ ØVREDAL

DREHBUCH: BRAGI F. SCHUT

CAST: COREY HAWKINS, AISLING FRANCIOSI, LIAM GUNNINGHAM, DAVID DASTMALCHIAN, JAVIER BOTET, JON JON BRIONES, STEFAN KAPICIC, NIKOLAI NIKOLAEFF, WOODY NORMAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Max Schreck hätte wohl auch gern solche Schwingen aufklappen wollen wie sein um 101 Jahre später erschienenes Pendant. Mit solchen Schwingen wäre vieles leichter gefallen. Als Vampir, verwandt mit Fledermäusen, sollte jede Dracula-Inkarnation solche Extras besitzen. Im Laufe der Zeit aber ist der charismatische Graf immer weniger Bestie als vielmehr Aristokrat geworden – ein stattlicher, schon etwas in die Jahre gekommener Gentleman mit grauenvollem und für viele auch tödlich endendem Understatement. Einer, der vorgibt, etwas anderes zu sein – bis es zu spät ist. Das ist taktische Perfektion, das ist Psychoterror und geschickte Manipulation. Doch Dracula ist immer noch ein Vampir – ein Dämon. Und von daher durchaus animalisch, bestialisch, teuflisch. In André Øvredals Literatur-Exegese bleibt von Bela Lugosi, Christopher Lee oder Claes Bang nicht mehr viel bis gar nichts über. Die letzte Fahrt der Demeter bringt den Edelmann mit finsteren Absichten zurück zu seinen Anfängen, lässt ihn herumkriechen wie Gollum, lässt ihn jagen und schlachten. Dracula ist hier all seines Anstands beraubt, doch nach wie vor mit messerscharfem Verstand gesegnet, der sich für sinistre Spielchen mit der Schiffscrew bestens eignet.

Auch in Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker von 1922 werden die frisch geschrubbten Blanken des russischen Handelsschiffes mit Blut getränkt – wir alle kennen das ikonische Standbild der schwarzweißen Schreckensgestalt, wie sie über der Reling aufragt – klauenbewehrte Hände, kahler Kopf, glühende Augen und spitze Zähne. Diesem Bildnis muss man immer mal wieder Tribut zollen, und auch Øvredal scheint davon mehr als fasziniert zu sein.

Doch nicht nur diese Art des Gothic-Horrors taugt zur Wiedererweckung, sondern auch Ridley Scotts finstere Figur des Xenomorph aus dessen Suspense-Hit Alien. So, wie dieser sein Wesen eins werden ließ mit der frei liegenden Technik eines Raumschiffs, so lässt Øvredal seinen Übervampir genauso mit dem rustikalen Interieur unter Deck der Demeter verschmelzen. Beeindruckend wird es dann, wenn man zweimal hinsehen muss, um die ausgemergelten, aschfahlen und ins bläuliche Licht einer Vollmondnacht getauchten Gelenke zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen in der Kapitänskajüte auszumachen. Wenn sich das Wesen dann langsam bewegt und aufrichtet, um von einem Moment auf den anderen verschwunden zu sein, treibt Die letzte Fahrt der Demeter seine illustre Schauermär zu einem Höhepunkt hin, der immer näher rückt – letztlich aber ausbleibt.

Øvredals Hochsee-Grusler garniert seinen geschickten Monsterhorror mit Licht, Schatten und Unschärfen, dennoch lässt sich die Geschichte weder auf Biegen und Brechen noch sonst wie einem anderen Schicksal zuführen, will man als Literaturverfilmung dem zugrundeliegenden Werk von Bram Stoker auch treu bleiben. Die letzte Fahrt der Demeter hegt keine Szene lang den Anspruch, einen avantgardistischen Ausbruch zu wagen. Was zählt, ist die Tradition. So bleibt der Film sowohl von seiner Gestaltung als auch von der chronologisch bedachten Erzählweise ein Kind vergangener Zeiten, ein Überbleibsel aus opulenten Universal– oder Hammerfilm-Abenteuern früherer Dekaden – als James Mason, Ernest Borgnine oder Vincent Price noch Seemansgarn erzählen konnten, sofern sie überlebten.

Liam Cunningham, der Zwiebelritter aus Game of Thrones, belebt in klassischer Perfektion die Rolle des vollbärtigen Kapitäns; seine ohnehin gebremste Laune, die ein Teamleader eben haben muss, weicht sorgenvoller Verzweiflung. Er ist es auch, der die ganze Geschichte noch dazu aus dem Off erzählt, um den romantisch-finsteren Petroleumlampen-Charakter noch zu verstärken. Doch man weiß, wie es endet. Die letzte Fahrt der Demeter hat weder Twists noch dramaturgische Raffinessen parat. Hätte das denn sein müssen? Nicht unbedingt.

Mittelpunkt, Kernstück und der Joker in den Handkarten ist immer noch der Vampir. Wäre dieser wohl mehr in den Dialog mit der ohnehin zum Tode verdammten Crew gegangen; wäre das blutdürstende Monster nicht allzu sehr scheinbaren Instinkten unterworfen worden, wäre Draculas bisherige Biografie sichtbarer – und die Figur an sich bedeutender geworden. Øvredal aber will den Langzahn als Tier – in einem Logbuchthriller der bewährten Art, allerdings angereichert mit düsteren Kupferstichen, die in sturmumtosten Nächten und bei Kerzenlicht ihre stärkste Wirkung erzielen.

Die letzte Fahrt der Demeter (2023)

Barbie (2023)

AUF ZEHENSPITZEN INS LEBEN

7,5/10


barbie© 2023 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: GRETA GERWIG

DREHBUCH: GRETA GERWIG, NOAH BAUMBACH

CAST: MARGOT ROBBIE, RYAN GOSLING, AMERICA FERRARA, ARIANA GREENBLATT, KATE MCKINNON, WILL FERRELL, MICHAEL CERA, ISSA RAE, SIMU LIU, KINGSLEY BEN-ADIR, EMMA MACKEY, RHEA PERLMAN, ALEXANDRA SHIPP, HARI NEF, DUA LIPA U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Das, was diesen Sommer in der Welt des Kinos passiert ist, gleicht einem Paradigmenwechsel. Genauer betrachtet bleibt zu dieser Zeit kaum ein Stein auf dem anderen. Das Publikum ist müde von dem, was es die längste Zeit vorgesetzt bekommt. Worin sich das äußert? Zuerst mal hängt der Megakonzern Disney ziemlich durch. Man könnte auch meinen, dass bei einer aufgeblähten Größe wie dieser irgendwann der Zusammenbruch kommen „muss“. Was politisch nicht funktioniert hat, kann auch wirtschaftlich nicht gutgehen. Die Maus frisst sich von innen auf, zersetzt sich, fährt Pleiten ein. Tilgt seine eigenen Produktionen aus dem Streamingportal, weint dem Ergebnis von Elemental, Indiana Jones und Geistervilla nach. Die Zeit der Superhelden scheint vorbei zu sein, all die langweiligen Real Life-Überzeichnungen bekannter Zeichentrickfilme mögen anöden, Verfilmungen von Themenpark-Attraktionen ebenso. Tom Cruise hat mit Mission: Impossible – Dead Reckoning zwar seinen qualitativen Höhepunkt erreicht, doch danach wird das ganze Franchise wohl auch sein Ende finden müssen. Was aus DC und Warner wird, liegt in den Händen von James Gunn – der mit The Flash allerdings auch nichts zu lachen hat, rein was das Einspiel betrifft.

Auf Basis dieser Umwälzungen ist allerdings letzten Monat etwas ganz Erstaunliches passiert. Das Phänomen Barbenheimer. Klingt ein bisschen nach Lindenstraße, ist aber die Verschmelzung von Barbie und Oppenheimer, von zwei Filmen, die unterschiedlicher nicht sein können, die aber eines gemeinsam haben: eine Vision. Christopher Nolan, der Retter des Covid-Kinos und Mindfuck-Ästhet, lässt dieses Jahr die Bombe platzen – und alle wollen hin. Warum nur? Weil eine True Story rund um den Weltfrieden alle angeht? Weil der jährliche Nolan fast schon etwas Vertrautes darstellt? Schließlich ist Oppenheimer kein gefälliger Film, und hat nichts, was einen Blockbuster letztlich ausmacht. Die Biographie des Physikers unter dem politischen Himmel Amerikas ist spannend, aber dialoglastig und experimentell. Liefert stilsichere Schauwerte, zieht sich aber auf drei Stunden Länge. Will die Masse tatsächlich mal etwas anderes? Etwas, dass sie fordert, triggert und zum Nachdenken anregt? Jedenfalls hat diese Tatsache einen lautstarken Aha-Effekt zur Folge, der bei Barbie widerhallt – einem Spielzeugfilm für Jung und Alt, ein wandelnder Katalog aus Puppen und Mode, Plastikhäusern in Pink und überall das Logo von Mattel. Wer genau will denn sowas sehen? Einen fast zweistündigen Werbespot zur Erweiterung der Gewinnmarge?

Ganz so ist es nicht. Natürlich verspricht sich der Konzern davon genug Profit, um auch die nächsten Jahre ruhig schlafen zu können. Ein Verbrechen ist das allerdings keines. Schon gar nicht, wenn Product-Placement wie dieses, so offensichtlich und ungeniert, einfach nur dazu da ist, um als Stilmittel zu fungieren, das Greta Gerwig und Noah Baumbach in ihrem metaphysischen Märchen so dermaßen geschickt einsetzt, dass man tatsächlich von einer Art Paradigmenwechsel sprechen kann, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen Kunst und Kommerz neu zu evaluieren. Ich denke dabei an Andy Warhol, dem Pop-Art-Künstler, der mit dem Product Design bekannter Marken der Kunst jene Möglichkeit zugesprochen hat, auch massentauglich sein zu dürfen, ohne an Qualität zu verlieren. Gerwig folgt einem ähnlichen Weg. Für sie ist Barbie Campbell’s Tomatensuppe – und spielt damit herum, als hätte Mattel über gar nichts mehr zu bestimmen, außer über die eigene Hoffnung, dass die Sicht der Mumblecore-Autorenfilmerin den Konzern schadlos hält. Denn was sind sie denn, diese stereotypen Puppen mit ihren unrealistischen Maßen und ihrer heilen Welt? Was ist sie denn, diese Barbie, benannt nach Ruth Handlers Tochter Barbara, die dieses Spielzeug auf dem Markt brachte?

Nicht zu vergessen, da gibt es noch diesen Ken, der den heterosexuellen Beziehungsidealismus, sprich: genug Romantik ins Kinderzimmer bringen sollte, auf dem Niveau Grimm’scher Prinzessinnenmärchen, vorzugsweise in der Lieblingsfarbe kleiner Mädchen, nämlich Rosa mit all ihren Nuancen. Mit diesen Figuren, so dachte sich Gerwig, lässt sich die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern auf eine für alle verständliche, augenzwinkernde Parabel herunterbrechen, die als behutsame Satire bestens funktioniert und überdies mit Margot Robbie und Ryan Gosling ein Paar gefunden hat, welches als Testimonial für soziale Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau die lustvoll simplifizierte Message für die breite Masse hoch erhobenen Hauptes in die reale Welt trägt. Ich hätte nicht erwartet, dass Greta Gerwig sich selbst und ihren Prinzipien so sehr treu bleiben kann. Gerade dadurch gelingt ihr die Fusion von Kommerz und Kunst so leichthändig, als wäre die Marktwirtschaft längst schon devotes Werkzeug für Intellektuelle, um darzustellen, wo im gesellschaftlichen Miteinander Defizite existieren.

Barbie, Jahrzehnte im Geschäft und längst nicht nur mehr blond, hellhäutig und langbeinig, erfährt nun ihre lägst überfällige Bestimmung. Gerwigs ironischer und niemals tadelnder Film lässt zwischen La La Land und Pixars Toy Story die Puppen tanzen, einen bestens aufgelegten Ryan Gosling, der nicht nur Beach kann, sondern auch Komödie, übers Männerdasein singen und das Matriarchat dem Patriarchat eins auswischen. Das ist knallbunt, dann wieder schräges Revuekino. Letzten Endes aber folgt Barbie der Tatsache, dass Frauen ohne Männer jederzeit können – Männer ohne Frauen zwar auch, dafür müssen sie sich aber erstmal selbst finden. Ganz ohne Macht und Aufplustern.

Barbie (2023)

Die schwarze Spinne (2021)

DEN TEUFEL WERD‘ ICH TUN

4/10


schwarzespinne© 2021 Ascot Elite


LAND / JAHR: SCHWEIZ, UNGARN 2021

REGIE: MARKUS FISCHER

BUCH: BARBARA SOMMER, PLINIO BACHMANN, NACH EINER NOVELLE VON JEREMIAS GOTTHELF

CAST: LILITH STANGENBERG, NURIT HIRSCHFELD, RONALD ZEHRFELD, ANATOLE TAUBMAN, MARCUS SIGNER, FABIAN KRÜGER, JOSEF OSTENDORF, UELI JÄGGI U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Der größte Vorteil, den sich der Teufel nutzt, ist nicht der, den Menschen glauben zu machen, es gäbe ihn gar nicht. Sondern der, den Menschen glauben zu machen, sie könnten die Vorteile, die Luzifer ihnen anbietet, nutzen, ohne dafür etwas tun zu müssen. Falsch gedacht. Im Zeitalter der Romantik ist der Fürst der Finsternis das Synonym für den unberechenbaren Fortschritt vor allem in Industrie und Technik. Gegenwärtig stehen wir wieder vor so einem Umbruch. Der Teufel mag also wieder des Öfteren in Kunst und Kultur seinen Weg finden, um das Unabsehbare so zu verkörpern, dass man es vielleicht bannen kann.

Das hatte sich Jeremias Gotthelf in der ersten Halbzeit des 19. Jahrhunderts schon gedacht, als er seine mittelalterliche Novelle Die schwarze Spinne schrieb. Natürlich ist das Stoff, der für phantastische Filme adaptiert werden kann, die sowohl das Magische als auch den romantisierten Nostalgiebedarf für mittelalterliche Darstellungen aller Art bedienen könnte. Die Story ist auch denkbar einfach gestrickt, um sich gar nicht erst von ausufernden Landschafts- und Gefühlsbeschreibungen, wie diese nur zu gern zu dieser Zeit in Lettern festgehalten wurden, an den Rand drängen zu lassen.

Die moralische Mär um Teufel, Dämonen und Widerstand spielt im 13. Jahrhundert im Emmental, in einer Gegend, die der Deutschritter-Orden unter seiner Fuchtel hat, nachdem dieser von Kreuzzügen zurückgekehrt war und nun nicht viel mehr mit sich anzufangen weiß als das dort ansässige Volk zu unterjochen. Dass die Mächtigen sich aufspielen, ist gang und gäbe und verwundert wohl kaum, wenn man das menschliche Verhalten zumindest bereits ein bisschen mithilfe der Geschichte analysiert hat. An einem heißen Sommer zu dieser Zeit nötigt also der Recke Hans von Stoffeln seine Untertanen dazu, ihm innerhalb kürzester Zeit eine Allee aus schattenspendenden Bäumen auf dem Weg zu seiner Burg zu pflanzen. Ein unmögliches Vorhaben. Eines, bei welchem die ohnehin schon ausgezehrten und bettelarmen Bauersleute den Kürzeren ziehen. Wäre da nicht der jungen Hebamme Christine (Lilith Stangenberg) der Teufel als Karrenmacher erschienen, und hätte dieser ihr nicht Hilfe angeboten, um das Schicksal abzuwenden. Doch wie das beim Beelzebub eben so ist, wäscht eine Hand schließlich die andere. Der Finsterling macht nichts, ohne etwas ganz Bestimmtes einzufordern. Zum Beispiel den kommenden Nachwuchs. Verrückt müsste man sein, um den Deal nicht einzuhalten oder gar zu versuchen, den Teufel auszutricksen. Doch Christine versucht’s trotzdem – und entfacht die Spinnenpest.

Das alles klingt nach opulentem Horror zwischen Burgtor und Saustall. Ein wilder Ritt hätte das werden können, vielleicht gar so etwas philosophisch-makabres wie der australische Independent-Hexensabbat You Won’t Be Alone mit Noomi Rapace. Statt des Teufels ringt dort eine uralte Hexe um das Neugeborene einer Menschenfrau – mit ungewöhnlicher Wendung. In Gotthelfs Geschichte aber sind Wendungen maximal im Umblättern der Buchseiten zu finden. Der Plot bleibt sonst eher stringent – und erfährt auch unter der Regie des Schweizer Tatort-Regisseurs Markus Fischer kein erfrischendes Update. Die schwarze Spinne, ohne landschaftsbeschreibender Romantik, quält sich durch eine wenig attraktive Parabel um Opferbereitschaft und Widerstand, die unter sperriger Dialogregie leidet und mit Lilith Stangenberg eine unnahbare Heldin in Szene setzt, deren Motivation sich niemals richtig erschließt. Als würde die Produktion unter Geldnot leiden, offenbart sich der Spinnenterror mehr im Wunschdenken der Filmemacher als tatsächlich am Screen. Erschwerend hinzu kommt, sofern keine Untertitel vorhanden, das für Nicht-Schweizer mangelnde Verständnis für Schwyzerdütsch, den zumindest die Deutschritter nicht sprechen, was sich folglich als Wohltat herausstellt, wenn man gerade mal nicht am Inhalt des Gesagten heruminterpretieren muss.

Die schwarze Spinne lässt also keinen frischen Wind durchs Emmental wehen, auch wenn der faulige Geruch des Teufels in der Nase juckt. Die Lust an der Neuinterpretation muss angesichts einer gewissen Rückorientierung an die romantische Schwermut einer düsteren Arme Leute-Mystery weichen. Was zur Folge hat, dass das Auf- und Abtreten der Figuren der nahtlosen Dramaturgie eines Provinztheaters am Dorfplatz gleicht. Auch wenn man dabei noch so nah ans Ensemble rückt, wie eine Gruppe Kinder, die keinen Eintritt zahlen müssen und sich ans Podium drängen – auch dann lässt sich nichts von einem Spirit spüren, der das Publikum vielleicht irgendwann tangieren würde.

Die schwarze Spinne (2021)