Der Brutalist (2024)

DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE

5/10


© 2024 Universal Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA, UNGARN 2024

REGIE: BRADY CORBET

DREHBUCH: BRADY CORBET, MONA FASTVOLD

CAST: ADRIEN BRODY, GUY PEARCE, FELICITY JONES, JOE ALWYN, ISAACH DE BANKOLÉ, ALESSANDRO NIVOLA, RAFFEY CASSIDY, STACY MARTIN, EMMA LAIRD, MICHAEL EPP, JONATHAN HYDE U. A.

LÄNGE: 3 STD 35 MIN


Da stehe – oder besser gesagt sitze ich – im dunklen Kinosaal, und zwar so lange, dass mir der Allerwerteste schon schmerzt, vor einem Problem, das ich als Grundproblem bei der Betrachtung von Filmen erachte, die durch internationale Kritikerlorbeeren niemals auch nur anders betrachtet werden wollen als vollendet. Für zehn Oscars nominiert, begleiten Der Brutalist Pressestimmen, die wie folgt klingen: „Ein monumentales Meisterwerk von nahezu unendlicher Schönheit“, schreibt Christoph Petersen von filmstarts. „Der zehnfach nominierte Oscarfavorit ist jene Art von Film, wie es ihn nur alle paar Jahre im Kino gibt“, schreibt Jakob Bierbaumer im österreichischen Medienmagazin TV Media. „Ein Film voller Leidenschaft, der in seiner Kühnheit vertraute Sehgewohnheiten sprengt“, schreibt Ralf Blau in der aktuellen Ausgabe von cinema. Blau umschreibt den Film aber bereits schon etwas differenzierter und räumt ein, ihn sowohl minimalistisch als auch monumental zu erachten.

Bei solchen Lorbeeren wappnet man sich natürlich im Vorfeld, demnächst einem Kinoereignis beizuwohnen, das einem die Sprache verschlagen wird. Doch andererseits: Erreichen diese gezielt marketingtauglichen Lobhudeleien manchmal nicht genau das Gegenteil? Kann man denn glauben, was man liest? Macht dieser Review-Aktivismus Kinogeherinnen und Kinogeher, die diese Kunstform regelmäßig genießen und schon viel gesehen haben, nicht eigentlich skeptischer? Letzten Endes wäre Skepsis bei Sichtung eines minimalistischen Monumentalfilms wie Der Brutalist durchaus angebracht gewesen. Vielleicht, um nicht enttäuscht zu werden, wenn man im Vorhinein erwartet, künstlerisch und qualitativ, und das im positiven Sinn, geplättet zu werden. Filme wie Der Brutalist manipulieren und dekonstruieren die Erwartungshaltungen – die gibt es gerade hier in unterschiedlichsten Formen und Varianten. Letzten Endes ist Brady Corbets über einen langen Zeitraum erdachte und entwickelte Pseudo-Biographie genauso wie einer dieser brutalistischen Gebäude-Klötze, die der fiktive Flüchtling László Tóth bereits errichtet hat und errichtet haben wird: reduktionistisch, avantgardistisch, kühl und unnahbar. Tóth wird in Der Brutalist, der sich sonst allerdings vor historisch korrektem Hintergrund bewegt, in einer alternativen Realität zu einem weltweit angesehenen Zampano in Sachen Architektur. Das war er schon vor dem Krieg, und wird es wieder nach dem Krieg sein. Nur wo und wie, wird Corbet in diesem Film auf einer Länge von über dreieinhalb Stunden beantworten wollen. Ist diese Länge für diese Erzählung denn gerechtfertigt? Nein.

Während das letzte Dreistunden-Epos, nämlich Der Graf von Monte Christo, trotz seiner Laufzeit fast schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Handlung, erhält Brady Corbet, der bereits Natalie Portman in Vox Lux als schwer fassbare Operrolle inszenierte, für sein Werk genug Raum, um sich auszudehnen und seine psychosoziale Nachkriegsstudie aufzublasen. Das tut er auch, er kleckert dabei nicht, sondern klotzt im wahrsten Sinne des Wortes. Der Baugrund ist enorm, man blickt in alle Richtungen bis zum Horizont und noch weiter. Im Zentrum dieser Fläche soll das Einzelschicksal eines jüdischen Architektur-Genies errichtet werden, dass fast schon verloren wirkt und die Traumata des Konzentrationslagers, des Weltkriegs und der Flucht in sich trägt. Es werden diesem László Tóth ganz andere Betonblöcke in den Weg gelegt werden, nämlich jene des Neuanfangs, der Integration und der Selbstbehauptung. Was man dabei nicht vergessen darf: Es gibt auch noch Ehefrau Erzsébet und die rätselhafte, weil anfangs mutistische Nichte Zsófia, die Schwierigkeiten haben, auszureisen. Auf die beiden muss László jahrelang warten, währenddessen aber belohnt ihn das Schicksal in Gestalt eines wohlhabenden Unternehmers namens Harrison Lee van Buren, der seine Zeit braucht, um zu begreifen, welchen Nutzen der Jude für ihn haben kann – und diesen als Haus- und Hofarchitekt für ein Mega-Projekt nahe Philadelphia engagiert.

Der Brutalismus selbst mag ein Architekturstil sein, der ab 1950 mit mehreren Ausrufezeichen hintendran darum bemüht war, im Stechschritt Richtung Moderne alles Gestrige hinter sich zu lassen. Dieses Gestrige war schließlich hässlich genug, also auf zu neuen Ufern. Ob es ein Stil war, der breitenwirksam Gefallen gefunden hat? Wohl eher weniger. Dafür aber hat diese Andersartigkeit mit Sicherheit fasziniert, kann man bei solchen Konstrukten – ähnlich wie bei Unfällen – einfach nicht mehr wegsehen. Dieses Gestrige hat die von Adrien Brody meisterhaft gespielte Figur schon in Europa versucht, hinter sich zu lassen, jetzt schleppt er die Innovation im Doppelpack mit einem zerrütteten Altleben in die neue Welt – in eine Gesellschaft, die längst nicht mehr das Land unbegrenzter Möglichkeiten verkörpert und jüdische Immigranten wie diesen da maximal duldet, sofern sie von Nutzen sind. Dieses toxische Kräftemessen zwischen Neuanfang und etabliertem Establishment rückt Corbet in den Mittelpunkt, braucht dafür Platz und den künstlerischen Willen, sowohl das epische Erzählkino eines Sergio Leone (Es war einmal in Amerika) oder Bernardo Bertolucci (1900 – Gewalt, Macht, Leidenschaft) stilistisch aufzugreifen als auch mit den Methoden weitestgehend unabhängiger Autorenfilmer bewährte Erzählstrukturen aufzubrechen.

Beide Ansätze stehen sich im Weg. Monumental an Der Brutalist bleibt lediglich die Laufzeit, der Konflikt zwischen Brody und Guy Pearce, der meines Erachtens nach seiner diabolischen Rolle des übersättigten Machtmenschen nur schwer das nötige Charisma entlockt, ist so bruchstückhaft wie alle anderen szenischen Teile des Films. Anfangs gelingt Corbet noch ein dramaturgischer Aufbau, er bringt die Situation ins Rollen, die Thematik rund um Cousin Attila (Alessandro Nivola) gestaltet sich vielversprechend und deutlich interessanter, doch Nivola verschwindet von der Bildfläche viel zu früh, während Felicity Jones viel zu spät auf der Bildfläche erscheint – auch sie stets bemüht, ihrer Rolle Würde, Verletzlichkeit und Inbrunst zu verleihen. Das Timing des Erscheinens und Abtretens so manchen Charakters lässt immer wieder eine Leere zurück, die Brody auffüllen muss, daher wirken viele Szenen wie Bauelemente auf einem Grundstück, die schon mal da sind, aber noch nicht verarbeitet werden können. Dazwischen wortlastige Dialoge ohne driftigem Mehrwert, sie treiben den Film in die satte Überlänge, ohne Notwendigkeit.

Selbst epische Filme so wie wir sie kennen haben eine gewisse dramaturgische Topographie, doch Der Brutalist lässt diese tiefen Täler und reizvollen Höhepunkte vermissen. Auch will er alles Mögliche in sein Werk hineinpacken, darunter nicht unwesentlich Lászlós Drogensucht. So gesehen wird Der Brutalist immer mehr zum Drogendrama und schwächelt dabei als Künstlerdrama mit Migrationshintergrund. Schon klar, das eine kann nicht ohne dem anderen, doch unterm Strich möchte Der Brutalist sein Publikum nicht abholen, sondern will erarbeitet werden. Der Oscar-Favorit ist somit ein sperriges, klobiges Baustellenkino, unfertig und lückenhaft, ein hartes Stück Arbeit, kein einfaches Werk – und nein, das soll es auch gar nicht sein. Doch die Wahrscheinlichkeit, letztlich irgendwann nicht mehr an dieser „Oper im Dschungel“ mitkonstruieren zu wollen wie seinerzeit Fitzcarraldo, ist dementsprechend hoch. Dabei von „nahezu unendlicher Schönheit“ zu schwärmen – dafür fehlt mir die Sichtweise und auch die Vorstellungskraft. Der Brutalist ist manchesmal, und vorallem in der Wahl seines Scores, gewaltig und großformatig, lässt Adrien Brody vor Kraft nur so strotzen, gilt aber wahrlich nicht als schön, genauso wenig wie der Baustil selbst.

Der Brutalist (2024)

Der Graf von Monte Christo (2024)

WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DIE ANDEREN

7,5/10


© 2024 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE

DREHBUCH: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: PIERRE NINEY, ANAÏS DEMOUSTIER, BASTIEN BOUILLON, ANAMARIA VARTOLOMEI, LAURENT LAFITTE, PIERFRANCESCO FAVINO, PATRICK MILLE, VASSILI SCHNEIDER, JULIEN DE SAINT JEAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 58 MIN


Verrat, Befreiung, Selbstfindung und Rache: Den Roman von Alexandre Dumas dem Älteren, der ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, mag man fast schon als zweite Bibel ansehen für jene, die weniger das große Abenteuer suchen als vielmehr kurz davor stehen, angesichts prekärer Umstände aufzugeben. In Der Graf von Monte Christo steckt die ganze Wut eines Übervorteilten und Verratenen, steckt eine Welt voll der Ungerechtigkeiten – wohl kaum einem anderen literarischen Werk wohnt so sehr die Sehnsucht nach Gerechtigkeit inne, die nicht Rache genannt werden will. Rache ist viel zu plump für diesen Grafen, sie verbrennt viel zu schnell. Schließlich hätte man sie alle auch zur Strecke bringen können, diese falschen Freunde und korrupten Machtmenschen, die völlig skrupellos und bar jeder Moral die Unliebsamen und Schwachen aus dem Weg räumen. Doch der Graf hat anderes vor. Was wäre gewesen, hätte es in dieser Geschichte die Insel Monte Christo gar nicht gegeben? Hätte der frischgebacken Kapitän Edmond Dantès, der vom Nebenbuhler und besten Freund aufs Kreuz gelegt wird, jemals aus eigener Kraft diese Genugtuung erlangen können, die er letztendlich erlangen wird?

Gefühlt jeder kennt die Geschichte des Gefangenen, der sich mithilfe eines weisen italienischen Geistlichen zum Intellektuellen mausert, um dann dank glücklicher Zufälle aus seiner Isolation zu entkommen. Abbé Faria, so hieß der geheimnisvolle Häftling und Mentor Edmonds, erzählt dem um seine Existenz Gebrachten von einer geheimnisvollen Insel, von den letzten Templern und einem unermesslichen Schatz tief im Berg. Märchenhafter kann das Ganze kaum sein. Und dennoch ist es nicht mehr als ein Jackpot, ein gewaltiges Glück, so viel kann einer in einem Leben gar nicht verwerten, es sei denn, genauso viel Pech im Vorhinein hält die Balance. Mit dieser Balance kann Edmond leben und plant von langer Hand die große, schleichende Vergeltung, um all jenen das Herz zu brechen, die sein Schicksal verschuldet haben.

Und Frankreich, das feiert die letzten Jahre schon die Wiederauferstehung des französisch-klassischen Literaturfilms, der Bezug nimmt auf all die ikonischen Werke jenes Mannes, der schon Die drei Musketiere für ewig ins kulturgeschichtliche Erbe Europas hat eingehen lassen. Was für das DC- und Marvel-Universum James Gunn, sind in der alten Welt Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière. Sie sind es, die Dumas‘ Musketier-Klassiker in formschöne zwei Teile verpackt haben, die wiederum von Martin Bourboulon 2023 dynamisch und erdig verfilmt wurden – Romain Duris, Vincent Cassel oder Francois Civil sind nur einige aus dem illustren Cast. (Nebenbei bemerkt: Delaporte und Patellière sind auch die Schöpfer der Erfolgskomödie Der Vorname) Und jetzt das – jetzt gibt es das wohl komplexeste Ensemblestück in einer dreistündigen, hochkomprimierten Deluxe-Fassung; in opulenter, aber niemals zu pompöser Ausstattung. In atemberaubenden Kostümen und mit einer ganzen Reihe an Schauspielerinnen und Schauspielern, die man allesamt bereits von irgendwoher aus anderen Filmen kennt – nur welche genau, das weiß man nicht. Die Gesichter sind aber vertraut, meist hinter Bärten verborgen oder im historischen Kontext aufgedonnert. Bei Anaïs Demoustiers liebreizendem Lächeln könnte man sich, sofern gesichtet, an Der Sommer mit Anaïs erinnern. Anamaria Vartolomei kennt man aus dem Venedig-Gewinner 2012 – Das Ereignis. Laurent Lafitte und Pierfrancesco Favino – Italiens gegenwärtig wohl bekanntestes Schauspielergesicht im regulären Dienst – sind sowohl Nemesis als auch Schutzengel. Und Pierre Niney? Er (u. a. die Hauptrolle in Francois Ozons Frantz) wagt die „Mission Impossible“ dank einer raffinierten Masken-Technologie, die, würde man es realistisch betrachten, zur damaligen Zeit niemals so funktioniert hätte. Wie Der Graf von Monte Christo es hinbekommt, sich täuschend echt zu verwandeln, ist fast schon ein phantastisches Element in einem ohnehin schon sehr hochidealisierten moralistischen Epos, für welches man ein gewisses Maß an Unmöglichkeit als plausibel ansehen sollte. Dann, nur dann gelingt diese wuchtige Oper der Manipulation anderer Leute, deren wunde Punkte zur Zielscheibe werden.

Es wäre aufgrund der Fülle an Handlung das Konzept einer Miniserie deutlich entspannter gewesen, doch das Schicksal der Drei Musketiere, von welchen der zweiteTeil sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wollte keiner nochmal wiederholen. Drei Stunden lassen sich also zwar nicht immer bequem, aber auf hohem Level und ohne Leerlauf als packendes Epos verknuspern, aufgeladen mit hochdramatischem Score, begleitet von einer virtuoser Kamera und in atemlosem Stakkato. Dass dabei die Übersicht etwas abhandenkommt, bleibt den vielen französischen Namen geschuldet und hängt von der Geistesgegenwart des Zusehers ab, jeden auch noch so beiläufig ausgesprochenen Namen sofort seinem Konterfei zuzuordnen. Das braucht Anlaufzeit.

Zu guter Letzt: Dass es Der Graf von Monte Christo in einer noch längeren Fassung geben könnte, scheint möglich, sind doch manche Figuren, vorrangig jene der angeblichen Patentochter des Grafen, dargestellt von Vartolomei, scheinbar grundlos mit im Spiel. Man fragt sich lange, was sie hier zu suchen hat, am Ende bleiben Delaporte und Patellière die Antwort darauf nicht schuldig, wenn auch etwas spät.

Der Graf von Monte Christo (2024)

King’s Land (2023)

ERNTEN, WAS MAN SÄT

8/10


kingsland© 2024 Henrik Osten, Zentropa


ORIGINALTITEL: BASTARDEN

LAND / JAHR: DÄNEMARK, SCHWEDEN, NORWEGEN, DEUTSCHLAND 2023

REGIE: NIKOLAJ ARCEL

DREHBUCH: NIKOLAJ ARCEL, ANDERS THOMAS JENSEN, NACH DEM ROMAN VON IDA JESSEN

CAST: MADS MIKKELSEN, SIMON BENNEBJERG, AMANDA COLLIN, GUSTAV LINDT, KRISTINE KUJATH THORP, MORTEN HEE ANDERSEN, MELINA HAGBERG, FELIX KRAMER, SØREN MALLING U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Mads Mikkelsen auf die Heide zu schicken ist ein weiser Entschluss. Der Däne verspricht stets großes Kino, seine Performances sind konstant professionell, in einigen Filmen durchbricht er gar das Level seiner Leistungen nach oben hin. Seine Gefühlsregungen sind dezent, feuchte Augen und eine gerade noch aufrecht erhaltene stoische Mimik sind alles, die darüber informieren, dass der Mann da vor der Kamera einem Orkan an Gefühlen ausgesetzt sein muss, so sehr reißt es ihn hin und her. Eine schauspielerische Differenziertheit wie diese passt perfekt ins europäische Arthouse-Kino. Als Leibarzt der Königin hat er schon mal bewiesen, wie sehr ihm Geschichte zu Gesicht steht. Auch da durfte ihn Nikolaj Arcel inszenieren, hineingeworfen in ein mit satten, dunklen Farben ausgestattetes Drama authentischen Ursprungs. Noch erdiger, noch intensiver und so richtig blutig wird in King’s Land Zwietracht gesät. Das neue dänische Meisterwerk ist ein Kriegsfilm auf begrenzter Fläche, eine wilde Tragödie um Grund und Boden, noch dazu um einen Boden, der nicht viel hergibt. Die Rede ist vom dänischen Heideland, einer nährstoffarmen Region, die sich Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht und nicht kolonisieren lässt, so sehr viele auch versucht haben, dort etwas anzubauen, um Titel, Geld und Ansehen zu erlangen. Ludvig Kahlen, ein ehemaliger Hauptmann, kehrt aus Deutschland zurück in seine Heimatund will beweisen, dass es mit der notwendiger Hartnäckigkeit und zähem Willen und natürlich dem Know-How eines Gärtners durchaus möglich ist, den großen Jackpot zu knacken: Nämlich Land urbar zu machen, welches nichts wert scheint. Der König nickt dieses Vorhaben ab, und Kahlen, als Bastard eines Gutsherrn in die Welt gesetzt und um seine gesellschaftliche Anerkennung gebracht, macht sich auf in die Unwirtlichkeit, um ein Projekt auf die Beine zu stellen, welches bald den Argwohn des skrupellosen Gutsherrn De Schinkel weckt. Der ist schließlich der Meinung, dass die ganze heidekrautbewachsene Ödnis ihm gehört – und Kahlen somit als Pächter vorstellig werden muss. Der sieht das nicht so, sitzt aber ganz offensichtlich am kürzeren Ast, wenn es darum geht, politischen wie wirtschaftlichen Einfluss ins Spiel zu bringen, um den anderen zu vernichten.

Der feuchte Boden, der dichte Nebel, die Kargheit einer menschenfeindlichen Landschaft, darin zwei Feinde, die sich bis aufs Blut sekkieren: Das epische, schmutzige Dänenkino ist zurück, so düster wie ein schweres, herannahendes Unwetter, welches Hagel bringt und das Zeug hat, ganze Ernten zu vernichten. Die schwelende Anspannung legt sich wie Fieber über das Fehdedrama, in welches man gut und gerne paranormale Verwünschungen gut aufgehoben fände, so wie Robert Eggers diese in The Witch gepflanzt hat. Der Aberglaube, das harte Los der Pioniere und das freie Spiel der Kräfte drehen einen Strick um Mads Mikkelsens Kehle – und dennoch sind da emotionale Feinheiten in diesem Werk, welche zu Tränen rühren und die sich niemals so lange ihrem Selbstmitleid hingeben, um in sentimentalen Kitsch auszuufern. Stets weiß Arcel immer genau, wann Schluss sein muss mit den Gefühlen, wann die wettergegerbten Hände wieder in der Erde wühlen, Ziegen geschlachtet und angeheuerte Ungeheuer getötet werden müssen.

Es ist ein hartes, erbarmungsloses Leben auf diesem Land des Königs – Arcels Film, der sich im Original Bastarden nennt, spielt trotz seines mit Bürden angereicherten Kraftakts die klassische Klaviatur eines nach vertrauten Parametern angeordneten Historienepos und nähert sich seinem Publikum dadurch an, indem er Bilder auf die Leinwand wirft, die wie eine Sonderausstellung dänischer Landschaftsmaler aus absolutistischen Zeiten anmuten. Witterungsreich, den Blick in die Weite, schwer arbeitendes Volk. Herzzerreissender Lichtblick in diesem Opfergang ist die kleine Melina Hagberg als elternlose Sintezza, die das Wertebewusstsein des beharrlich nach Erfolg strebenden Mads Mikkelsen hinterfragt. Seine Figur muss erst lernen, worauf es im Leben ankommt – ob er je zur Einsicht gelangt, mag man – nein, sollte man in diesem mitreißenden Filmerlebnis unbedingt ergründen.

King’s Land (2023)

Dune: Part Two (2024)

IM SAND DER ZEITENWENDE

9,5/10


dune2© 2024 Warner Bros.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: DENIS VILLENEUVE

DREHBUCH: DENIS VILLENEUVE, JON SPAIHTS & CRAIG MAZIN, NACH DEM ROMAN VON FRANK HERBERT

CAST: TIMOTHÉE CHALAMET, ZENDAY, REBECCA FERGUSON, JAVIER BARDEM, STELLAN SKARSGÅRD, AUSTIN BUTLER, DAVE BAUTISTA, JOSH BROLIN, CHRISTOPHER WALKEN, FLORENCE PUGH, CHARLOTTE RAMPLING, LÉA SEYDOUX, SOUHEILA YACOUB, ANYA TAYLOR-JOY U. A.

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Der Wortwitz mit dem Wurm drin ist sicherlich nicht neu, und ja, in diesem Fall vielleicht sogar schon abgedroschen. Ich bemühe ihn aber trotzdem: Obwohl in Dune selbige Tiergattung in überdimensionaler, evolutionsbedingter Monstrosität wohl drinnen steckt, ist Denis Villeneuves Maßstäbe setzendes Meisterwerk gleichzeitig komplett frei davon. Jene Kritiker, die schon als allererste bei der Weltpremiere in London das Werk vorab sichten konnten, und die mich manchmal einem gewissen Erwartungsdruck aussetzen, wenn sie Filme über den grünen Klee hinaus loben, sollen letztlich recht behalten. Mit Dune: Part Two gelingt Villeneuve etwas Bahnbrechendes. Science-Fiction, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hat.

Dabei ignoriere ich den rund drei Jahre zurückliegenden ersten Teil. Der hat mich stilistisch zwar abgeholt, emotional jedoch nicht. Misslungen war Dune: Part One keinesfalls, schon allein deswegen nicht, weil Villeneuve als vorausschauender Perfektionist nichts dem Zufall überlässt und dramaturgisches Timing beherrscht wie vielleicht noch Martin Scorsese oder Christopher Nolan. An Dune: Part One gibt es nichts zu kritisieren – die Schwierigkeit darin bestand jedoch, mit den vielen Charakteren in diesem „Game of Thrones“ der Galaxis vertraut zu werden. Viele bekannte Gesichter reichen da nicht, und so sehr die exzentrisch-ästhetische Bildsprache auch den Atem raubt – den Zugang in diese Welt macht es schwerer als den Zugang in eine Welt, die mit der narrativen Mechanik eines europäischen Mittelalters arbeitet. Diese Welt in Dune liegt, anders als die Welt von Star Wars, weit, weit in der Zukunft. Die Erde ist womöglich nur noch diffuse Legende, ganz anders aber politische Machtstrukturen, die sich über die Jahrtausende erhalten haben und, nicht viel anders als in der Frühzeit des Menschen, immer noch die Machtgier des Alleinherrschers hervorbringen, ohne sich gesellschaftspolitisch weiterentwickelt zu haben. Insofern ist das Machtgefüge in der dystopischen Realität von Frank Herbert eine archaische, vorgestrige. In dieser stecken archaische, vorgestrige Figuren, die jede einem gewissen Zeremoniell folgt. Dieses unnahbare Ensemble kennenzulernen, dafür war Dune: Part One genau richtig. Ein Vorspiel sozusagen, eine Einführung, die Ambivalenz gerade zulassen, die polarisieren muss. Und nicht nur darauf aus war, zu gefallen.

Im ersten Teil ist dann auch nicht viel passiert, der Plot bleibt überschaubar, wenn auch grandios bebildert. Mit Antiheld Paul Atreides auf dem Weg in die Wüste endet dieser auch, um alle Erwartungen zu sammeln für den großen, gigantischen Clash, für den Ur-Krieg der Sterne, den schon Alejandro Jodorowsky mit irrer Besetzung, angefangen von Orson Welles über Mick Jagger bis Salvador Dali (!) als wohl größten Film, der je existiert haben wird, verfilmen wollte. In der Dokumentation Jodorowsky’s Dune erfährt man, dass das oberarmdicke Storyboardbuch nur darauf gewartet hätte, verfilmt zu werden. Doch „ohne Geld ka Musi“ – und so ist dieser Zug mit Villeneuves eigenem Jahrhundertprojekt abgefahren. Ein Remake wird es für Dune nicht mehr geben. Denn besser lässt sich Herbert kaum verfilmen.

Nicht nur, dass dieses heilige erste Buch, dass viele Fortsetzungen und Ableger fand und noch genug Stoff bieten würde für ein ganzes Franchise, endlich doch noch jene Verfilmung bekommen hat, die es, wie schon Der Herr der Ringe auch, verdient hat – die Maßstäbe für das Kino der Science-Fiction und überhaupt des Phantastischen werden neu gesetzt. Dune: Part Two ist ein Opus Magnum, indem alle hier Verwendung findenden Kunstrichtungen ineinandergreifen und sich gegenseitig antreiben. Da gibt es diese einzigartige Bildsprache, diese Vorliebe für Wüstenstürme, Staubnebel und den Rauch brennender Trümmer, die wie ikonische Kolosse tonnenschwer auf die Erde stürzen. Da gibt es die Grazie der Gravitation entronnener, technologischer Körper, bizarre Raumschiffe und Zweckmaschinen wie albtraumhafte Panzer, die an den Stil von H. R. Giger erinnern und eine Reminiszenz an Jodorowskys gescheiterte Träume sein könnten. Da gibt es Gestalten in formverändernden Kostümen, die in geometrischen Inneren eines architektonischen Brutalismus Welten verändern. Stellan Skarsgård zum Beispiel als levitierender Baron Harkonnen wird zum Zerrbild eines gewissen russischen Diktators, auf den die schwarze Sonne seines Heimatplaneten herabscheint, während ein psychopathischer Thronfolger mit schwarzen Zähnen Freude am Ausweiden seiner Opfer hat. Längst wird klar: Was J.R.R.Martin für die High Fantasy schwerterschwingender Nibelungen-Interpreten, ist Herbert wie demzufolge auch Villeneuve für die Science-Fiction. Das Portal zum Shakespeare’schen Königs- und Revolutionsdrama tut sich auf, zum geopolitischen Lawrence von Arabien Lichtjahre weit von seinem Ursprung entfernt. Aus Peter O’Toole wird Timothée Chalamet, dessen Augen immer blauer werden und der bald Geheimnisse kennen wird, von denen er lieber nichts gewusst hätte. Seine Figur bleibt strebsam, doch bereits ansatzweise ambivalent. Wie die doppelbödige Mutterfigur Sarah Ferguson. Mit ihr erhält Dune: Part Two die kritische Komponente einer Betrachtung von religiösem Fundamentalismus. Unschwer ist Kritik am Islamismus zu erkennen, andererseits aber auch das Hinterfragen der Selbstverständlichkeit, die Rolle eines Messias einzunehmen. Dune: Part Two ist somit ein nicht zu unterschätzendes Politikum mit ganz viel zwischenmenschlichem Drama, und selbst Zendaya tritt aus ihrer Celebrity-Blase heraus und gibt sich ihrer zornigen Figur hin, die als Katalysator dafür dient, letztendlich so sehr in den Sog des Geschehens gerissen zu werden, dass dieses Mittendrin zur Bewusstseinserfahrung wird – zum opernhaften Event aus schweren, unirdisch klingenden Geräuschen, einem wummernden Score, der die Wüste und ihre Beschaffenheit zu einem epischen Schlachtfeld werden lässt, wie in Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs die Ebene vor Minas Tirith, auf der die letzte Schlacht gegen Sauron geschlagen wird.

War Part One noch die Ruhe vor dem Wüstensturm, lässt Part Two der ganzen aufgestauten Energie freien Lauf. Wie das Herannahen eines Gewitters, das die ersten Sturmböen bringt, während hier nun das Unwetter mit all seiner Wut losbricht. Man braucht nicht glauben, dass die ganze Kraft einem freien Spiel unterliegt. Villeneuve kanalisiert sie, strukturiert sie, gibt ihr Raum. Will man sich als Kritiker einer fast schon arroganten Nörgelei auf hohem Niveau hingeben, ließe sich maximal der sprunghafte Wechsel zwischen den undefinierten Kapiteln anmerken – vom fließenden Übergang hält Villeneuve nicht viel. Wohl auch, um zeitlich nicht auszuufern. Diese Zügel sitzen fest, und geben dem Werk auch das entsprechende Fundament, um der Wucht an audiovisuellen Eindrücken standzuhalten.

Villeneuve weiß genau, dass er auf dieses Fundament seine Dramatis Personae stellt, dass er das Menschliche immer als allererstes hochhalten muss, um seine Figuren in all diese schwebenden Objekte einsteigen; um sie herunterblicken zu lassen von der Balustrade eines für die Ewigkeit errichteten Gebäudes. Geometrie, Symmetrie – und die Wildheit eines Planeten: Das, was sich ausschließt, entwickelt unter der durchgetakteten Arbeit des Filmemachers und seiner Crew ungeahnte Synergien, die es tatsächlich schaffen, diese fremde, bizarre Welt immersiv erleben zu lassen und als Ganzes zu begreifen. Und das nur in Folge von zwei Filmen, die letztlich den Großvater des Sandwurms reiten – felsenfest stehend, den Blick nach vorne, die Zügel fest im Griff. Dune: Part Two ist wie ein Ritt auf einem solchen Monster. Eine formvollendete, seinem System perfekt angepasste Monstrosität von Kino, die man reiten sollte, bevor das Leben vorbei ist.

Dune: Part Two (2024)

Killers of the Flower Moon (2023)

DER NEID DES WEISSEN MANNES

8,5/10


killersoftheflowermoon© 2023 Apple Original Films


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: MARTIN SCORSESE

DREHBUCH: ERIC ROTH, MARTIN SCORSESE

CAST: LEONARDO DICAPRIO, ROBERT DE NIRO, LILY GLADSTONE, SCOTT SHEPHERD, JESSE PLEMONS, TANTOO CARDINAL, BRENDAN FRASER, JOHN LITHGOW, BARRY CORBIN, WILLIAM BELLEAU, LOUIS CANCELMI, JASON ISBELL, STURGILL SIMPSON U. A.

LÄNGE: 3 STD 26 MIN


Blättert man das Schwarzbuch der Menschheit durch, könnte man darin auf ein Kapitel stoßen, welches die unsagbare Gier des weißen Mannes im zwanzigsten Jahrhundert wohl nicht besser illustrieren könnte als anhand der Morde am indigenen Volk der Osage, die das Glück hatten, in ihrem zugewiesenen Reservat auf Öl zu stoßen. Die Folge: Reich werden mit Klasse. Wir würden also, wären wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort, keine traditionellen Siedlungen und Dörfer mehr vorfinden, sondern mondäne, dem kolonialen Zeitgeist entsprechend gekleidete und herausgeputzte Familien, die im urbanen, europäisch orientierten Umfeld und dessen Gesellschaft längst das Sagen haben, anschaffen können und sich gar von weißen Leuten bedienen lassen. Die Osage, die hatten den Spieß so richtig umgedreht. Ein Status Quo, der den Weißen sauer aufstieß, denn die verstehen sich seit jeher als die Herren und Damen der Schöpfung. Als das Mustervolk der ganzen Welt, als die eigentlichen Bestimmer, denn überall sonst hat sich diese eine Ordnung längst etabliert – warum dann nicht hier, in Oklahoma, weit weg von Washington, wo einer wie William Hale einen verborgenen Krieg führt gegen die indigene Elite, sich öffentlich aber als Gönner, Wohltäter und bester Freund der durchs schwarze Gold reich gewordenen Nicht-Weißen präsentiert. Dieser Hale, in charismatischer Routine dargeboten von Robert de Niro als eitler Viehbaron, der keinen Widerspruch duldet, wird zur ekelhaften Verkörperung von Gier, Neid und Niedertracht. Seine beiden Neffen dürfen sich die Finger schmutzig machen, um die systematische Aneignung der missgönnten Ressourcen durch den selbsternannten King auch auszuführen. Raub, Mord und Intrige stehen auf der Agenda. Der gerade aus dem Krieg zurückgekehrte Ernest Burkhart, nicht wirklich ein Geistesriese, steht von Anbeginn an unter dem Einfluss des manipulativen Onkels. Entziehen kann er sich ihm nicht, aus Angst, aus Bequemlichkeit, oder einfach aus der Lust am Gewinn. Natürlich kommt der weißen Sippschaft eine Heirat mit der wohlhabenden Osage Molly wie gerufen – durch dieses Bündnis sollen die Anteile an den Bodenschätzen in Hales Hände geraten. Nachhelfen muss schließlich trotzdem werden – und nach und nach stirbt Mollys ganze Familie unter ihren Fingern weg. Sie selbst, an Diabetes erkrankt, sieht alsbald auch ihr eigenes Leben in Gefahr. Doch nichts und niemand scheint gegen diese ethnische Säuberung aufbegehren zu können.

Mit Sicherheit wird Killers of the Flower Moon kein Gigant am Box Office. Kein Film, für den das Publikum die Türen der Kinos einrennt. Das war schon damals, Anfang der Achtziger Jahre mit Michael Ciminos Spätwestern Heaven’s Gate so. Der Film geriet zum Totalflop und hatte den Untergang von United Artists zur Folge. Warum wohl? Zumindest damals waren dunkle Kapitel aus der amerikanischen Geschichte wie zum Beispiel der ebendort thematisierte Johnson County War nicht gerade das, wofür man zur Zerstreuung ins Kino ging. War Ciminos Klassiker seiner Zeit voraus? Könnte sein. Oppenheimer bewies, dass heikle Themen und kritische Betrachtungen auf die eigene Vergangenheit längst auf mehr Interesse stossen. So ein verheerendes Schicksal wie Michael Cimino wird Scorsese aber nicht erleiden – der Mann zählt zur Elite der amerikanischen Filmschaffenden, und das aus gutem Grund, denn Scorsese, der kann so einiges und kann dieses Level auch über Jahrzehnte hinweg halten. Was mit Hexenkessel oder Taxi Driver begann, könnte nun, mit Killers of the Flower Moon, zu einem neuen Meilenstein gelangen. Das epische Thrillerdrama auf Tatsachen ist mindestens so gut wie das Mafiaepos GoodFellas, ist auf den Punkt genau inszeniert und trotz seiner enormen Laufzeit so atemlos erzählt, dass man als Zuseher gut und gerne die Zeit verliert.

Dabei ist gar nicht mal die schauspielerische Leistung in diesem Film primär verantwortlich dafür, dass Killers of the Flower Moon einen derartigen Eindruck hinterlässt. Fast ließe sich Leonardo DiCaprios Overacting, welches sich vor allem in seinen übertrieben der Schwerkraft unterlegenen Mundwinkeln manifestiert, wenn dessen Lage als Filmcharakter Ernest immer wieder mal prekär wird, als Manko betrachten. Doch nur auf den ersten Blick. Klar ist: die feine Klinge des Schauspiels beherrscht das ewige Babyface nicht wirklich. Und dennoch schafft Scorsese für diesen Ernest Burkhart eine hinter den plakativen Regungen befindliche Gefühlswelt zu errichten, die das schlichte Gemüt des zwischen Verantwortung, Reue, Gier und Furcht changierenden, willensschwachen Diener des Bösen erschreckend gut einfängt. Neben ihm gibt Lily Gladstone als immer mehr dahinsiechende Molly dem finsteren Drama eine fast schon biblische Leidensfigur, die in Hitchcock-Manier so manchen Verdacht hegt.

Wie Scorsese das bis in die kleinsten Nebenrollen erlesen besetzte Opus Magnum in Zaum hält, ohne ins Theatralische oder Pathetische abzurücken, ist genau seine Spezialität. Gerade diese konzentrierte Art und Weise, diese durchgetaktete Chronik der Ereignisse, die niemals nur Fakten liefert, sondern mit emotionaler Wucht dem schwelenden Grauen aus dem Hinterhalt begegnet, lässt diese uramerikanische Parabel auf kaltschnäuzigen Rassenhass so gut funktionieren.  Unterlegt mit einem hypnotischen Score des im August letzten Jahres verstorbenen Robbie Robertson, der Folklore-Klänge mit Blues-Rhythmen verbindet, lässt Killers of the Flower Moon niemanden kalt. Scorseses Film ist eine elektrisierende Tragödie – zynisch, bitter und die Boshaftigkeit unserer Gattung bis auf die Knochen sezierend.

Killers of the Flower Moon (2023)

Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Lawrence von Arabien (1962)

EIN HAUFEN REITENDER MÄNNER

7,5/10


lawrence-of-arabia© 1962 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 1962

REGIE: DAID LEAN

DREHBUCH: ROBERT BOLT, MICHAEL WILSON, NACH DEM AUTOBIOGRAPHISCHEN BERICHT VON T. E. LAWRENCE

CAST: PETER O’TOOLE, ALEC GUINNESS, ANTHONY QUINN, OMAR SHARIF, JACK HAWKINS, CLAUDE RAINS, ANTHONY QUAYLE, ARTHUR KENNEDY, JOSÉ FERRER, DONALD WOLFIT U. A.

LÄNGE: 3 STD 47 MIN


Alte Schinken nochmal neu sichten – das könnte und sollte man als Cineast durchaus immer wieder mal in Betracht ziehen. Auch wenn die eigene Watchlist mit allen Neuerscheinungen schon rammelvoll ist, mag ein Blick zurück auf die Meilensteine einer über hundert Jahre währenden Erfolgsgeschichte eben des Kinos momentane Trends mit Leichtigkeit relativieren. Es lässt sich erkennen, worauf es früher wohl ankam, welche Stilmittel gern gesehen waren, welcher Aufwand nicht zu groß war und wie unterm Strich dem Massengemüt des Publikums zu entsprechen war. Bild, Ton, Dramaturgie, politische Korrektheit und die Handhabung mit Tabus: Alles eine Frage der Zeit, der Weltpolitik, der Geldgeber und der Studios. In den Sechzigern, da herrschte das Genre des Monumental- oder Sandalenfilms nebst dem Genre des Westerns fast schon als Monopol und über ein Jahrzehnt lang über den lokalen Kinospiegel. Gern Gesehenes war also der Gegenwart Unverwandtes, weit Entferntes und Entrücktes und mit den Problemen der Gesellschaft kaum in Berührung kommend. Man saß im Kino und glotzte Quo Vadis (Anfang der 50er), Ben Hur mit seinem christlichen Einschlag. Spartacus, Exodus und El Cid, später Cleopatra und Doktor Schiwago. Mehrere Stunden lang, aber mit Pausen, gab man sich dem Kostüm- und Kulissenrausch hin, mitunter an Originalschaupoltzen gefilmt und ohne Massenszenen aus dem Rechner, sondern analog und wahrhaftig. Gigantische Zweckbauten für nur ein paar Szenen ließen staunen, anschließend verließ man das Kino mit dem Wissen, nicht nur unterhalten worden zu sein, sondern auch, bezüglich der Geschichte der Welt, weitergebildet.

Eines dieser Werke war schließlich auch, im Jahre 1962 Lawrence von Arabien, eine britische Wüstenoper mit Sonne, Sand und Beduinen und die biographischen Eckpunkte eines Mannes erzählend, der die Beduinenstämme aus den Tiefen der Halbinsel Saudi-Arabiens vor die Fronten der Osmanen führte, um den Nahen Osten zurückzugewinnen. Seinen Bericht hat er damals unter dem Titel Die sieben Säulen der Weisheit niedergeschrieben, David Lean, im Kino-Gigantismus bereits mit dem schier zeitlosen Antikriegsdrama Die Brücke am Kwai erfahren und entsprechend ausgezeichnet, hat sich an dessen Erinnerungen angelehnt, um den noch unbekannten Peter O’Toole in Szene zu setzen, der gentlemenlike und auf unverwüstliche Weise sturen Idealen folgend, zum Abenteurer und Geschichtsreformator werden soll. Als ehrgeiziger britischer Offizier Thomas Edward Lawrence (der O’Toole auch verblüffend ähnlich sieht – oder umgekehrt) bekommt er zur Zeit des ersten Weltkriegs den Auftrag, dem Araber-Prinzen Faisal einen Besuch abzustatten und sich über dessen Agenda zu informieren, um gegebenenfalls im Kampf gegen die Osmanen ihre Unterstützung zu erlangen. Logischerweise entspricht die Theorie dieser Mission nicht der Praxis, denn Araber sind das eine, die verfeindeten Beduinenstämme das andere. Unter einen Nenner lassen sich diese Völker alle nicht bringen, zumindest scheint es so. Doch Lawrence gelingt das scheinbar Unmögliche, auch wenn er mitunter über Leichen gehen muss.

Abenteuerliche Geschichtsfilme wie diese gibt es heutzutage wohl keine mehr, es sei denn, Ridley Scott hat wieder mal tief in die Geldkiste gegriffen, um Kreuzzüge, napoleonische Schlachten oder den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu verfilmen. Geht dieser Mann irgendwann einmal den Weg allen Fleisches, wird das Genre, so fürchte ich, aussterben. Erinnern wird man sich nicht nur an seine Werke, sondern auch an jene, die ihm vielleicht als Vorbild dienten. Dieses hier ist so eines: ein unter enormem Aufwand verfilmtes Epos von fast vier Stunden, in dem Frauen keinerlei Rollen spielen und Männer so sind, wie Männer sein wollen. In dem Männer tun, was sie tun müssen. Die Welt ist in David Leans Werk und vielleicht auch aus Lawrences Sicht ein notgedrungenes Patriarchat, dessen Schicksal von Männern gesteuert, entschieden und vereitelt wird. Nun, genau das, diese Mentalität dieser filmischen Monumentalarbeit, erscheint aus der Zeit gefallen und so angestaubt wie ein Beduinenzelt nach dem Wüstensturm. Ein riesiger Haufen reitender Männer prescht über Dünen, säbelschwingend ihrem Ziel entgegen. Irgendwann verfällt auch der scheinbar pazifistische Lawrence, dem bald die Gewalt und der Tod näherkommt als ihm lieb ist, einem Blutrausch und Peter O’Tools irrer Blick prägt sich nachhaltig ins Gedächtnis. Hauptsächlich in Jordanien, Marokko und auch Spanien gedreht, wird die Wüste zum Schminktisch für den Helden. Neben ihm brillieren Anthony Quinn als Beduinenführer Auda Abu Tayi und natürlich der bereits von David Lean erprobte Alex Guinness als charismatischer Prinz Faisal. Ihr schauspielerisches Stelldichein wird zu Kinonostalgie pur, sie zelebrieren weit weg von kultureller Aneignung und wokem Stirnrunzeln die Fähigkeit des Schauspielers, in Rollen zu schlüpfen, die ihrer eigenen Biografie fremd sind. Ein Film wie Lawrence von Arabien ist heutzutage auf diese Weise wohl nicht mehr zu inszenieren. Und doch trägt dieser nur scheinbar wüstenheisse Gewalt-Exkurs jene Wahrheit in sich, die so lange gilt, solange es Menschen gibt: Wer zum Schwert greift, wird nicht durchs Schwert sterben, dafür aber bestimmt er die Weltgeschichte. Leider.

Lawrence von Arabien (1962)

Kubi (2023)

KOPFSALAT À LA JAPONAISE

6,5/10


kubi© 2023 KADOKAWA T.N Gon Co., Ltd.


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: TAKESHI KITANO

DREHBUCH: TAKESHI KITANO, NACH SEINEM EIGENEN ROMAN

CAST: TAKESHI KITANO, HIDETOSHI NISHIJIMA, RYO KASE, KENTA KIRITANI, NAKAMURA SHIDŌ II, TADANOBU ASANO, KENICHI ENDŌ, JUN SOEJIMA, KAORU KOBAYASHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Das kommt mir alles nicht nur spanisch, sondern auch japanisch vor. Hätte mich mein treuer Kino-Buddy, der, was die Geschichte Japans betrifft, so einiges am Kasten hat, nicht in groben Zügen über die Eckdaten der Geschehnisse unterrichtet, die sich im sechzehnten Jahrhundert so abgespielt haben, hätte ich mich noch weniger ausgekannt als ohnehin schon. Hätte nämlicher Kino-Buddy selbst mit einer geradezu jungfräulichen Ahnungslosigkeit geprahlt wie meinereiner, hätte es noch der ans Kinopublikum gewandte Erklärbär getan, der in ähnlichem Umfang über die Wirren zur Sengoku-Zeit so einige Klarheit schaffen konnte – die sich aber, nachdem dieser wieder Platz genommen hatte, schnell wieder eingetrübt hat.

Ich weiß nur: Kubi – was so viel heißt wie Genick, denn es fliegen die Häupter wie Schneebälle bei einer Schlacht gleichen Bezugs – setzt den Grandmaster Beat Takeshi Kitano (u. a. Hana-Bi) ins Zentrum des Geschehens, basierend auf seinem eigenen Roman. Er mimt dort den Samurai und Feldherrn – und jetzt kommt der erste von vielen, vielen teils unaussprechlichen Namen – Hashiba Hideyoshi, auch genannt der Affe, was wenig schmeichelhaft klingt, doch er nimmt es hin, wie alle anderen, die dem mächtigen Oda Nobunaga zu Diensten sein müssen und um die Gunst des Herrschers buhlen, da sie alle seine Nachfolge antreten wollen und dafür sogar Harakiri hinnehmen würden, was allerdings wenig bringt angesichts des letalen Ausgangs. Alles beginnt mit der gescheiterten Rebellion eines anderen Feldherrn, Araki Murashige (jetzt könnte man anfangen, die Namen zu notieren). Der hat eine Liaison mit noch einem anderen Feldherrn, nämlich Akechi Mitsuhide, was ihm zugutekommt, denn Murashige wird überall gesucht und findet bei seinem Liebhaber ein passendes Versteck. Dass alle gemeinsam auf irgendeine Weise diesen völlig durchgeknallten Nobunaga stürzen wollen, ist sowieso von vornherein klar. Am geschicktesten bekommt dies eben Hideyoshi hin, der all die Gemetzel, die plötzlich über einen hereinbrechen, aus sicherer Distanz vom Feldherrnhügel bewundert, während wieder einem anderem, nämlich Tokugawa Ieyasu, späterer Shōgun (der ist wichtig, unbedingt aufschreiben), langsam die Doppelgänger ausgehen, so sehr haben es andere auf dessen Leib und Leben abgesehen.

Gegen die Dramatis personae dieses ganzen Feudal- und Feldherrnspiel mutet Game of Thrones an wie ein Zwei-Personenstück. Wer da wem wie und warum ans Leder will, dafür reicht es wirklich nicht, nur rudimentär mit der japanischen Geschichte, insbesondere mit der Zeit der streitenden Reiche, vertraut zu sein. Hat man sie nicht selbst erlebt, bleibt vieles im Unklaren. Insbesondere die Frage, warum so mancher Feldherr handeln musste, wie er letztlich gehandelt hat, zog bereits rund 50 Theorien nach sich – Takeshi Kitano hat eine 51ste verfasst. Und aus der wird man letztendlich aber auch nicht klüger. Natürlich ist es beeindruckend, mitanzusehen, wie stattlich gerüstete Krieger die Schwerter und Lanzen schwingen, natürlich wird der abgetrennte Kopf bald schon zur inflationären Trophäe. Sowieso weiß niemand mehr, welches Haupt wohin gehört – wenn Takeshi Kitano auf süffisante Art, auf dem Stuhl kauernd und sich belustigt vorbeugend, im vor ihm abgelegten, deformierten Konterfei das Gesicht des gesuchten Nobunaga erkennen will (oder war es Mitsuhide?), dann ist das schwarzer Humor vom Feinsten.

Genauso selbstironisch geht Kitano in seiner Regiearbeit auch ans Werk. Die monumentale, granitharte Bitterkeit anderer Intrigen-Epen lässt Kubi im Grunde völlig vermissen. Es ist gar so, dass manche Szene an den respektlosen Humor der Monty Pythons heranreicht. Später lässt sich das geschäftige Theater kaum mehr ernst nehmen. Man wundert sich ob all der Namen und Personen. Man fühlt sich befremdet ob so mancher, an Moral verlustig gegangener Charaktere, die den Tod ihrer eigenen Familie als günstigen Umstand hinnehmen.

Im historischen Japan Takeshi Kitanos sind all die Mentalitäten der streitenden Parteien so fern wie Alpha Centauri. Wäre dieser garstige Zynismus nicht, wäre Kubi verwirrende Kost für ein spezialisiertes Publikum, bei dem jeder andere womöglich bald das Handtuch wirft. Der locker-flockige Stil allerdings macht es aus, dass diese zwei Geschichtsstunden stets frisches Blut vergießen. Langweilig wird’s somit nie. Und auch wenn so manches Detail im Nirvana des Kurzzeitgedächtnisses verschwindet und nicht immer alle Querverbindungen klar sind, bleibt immer noch die verblüffende Chronik eines leidenschaftlich ausgelebten Faustrechts.

Kubi (2023)

Irati (2022)

NICHT DIE GÖTTER, DIE MENSCHEN MÜSSEN VERRÜCKT SEIN

7,5/10


irati© 2022 Filmax


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

BUCH / REGIE: PAUL URKIJO ALIJO

CAST: EDURNE AZKARATE, ENEKO SAGARDOY, ITZIAR ITUÑO, ELENA URIZ, KEPA ERRASTI, RAMÓN AGIRRE U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Lokale Mythen als großes Kino – eine Mission, die nun in die zweite Runde geht. Wie es Paul Urkijo Alijo abermals geschafft hat, mit wenigen Mitteln die Legenden seines Landes lebendig werden zu lassen, ist erstaunlich. Dabei ist schon sein Erstling eine Wucht. Und Netflix-Abonnenten können sich glücklich schätzen, denn dieser ist fürs Streaming abrufbar: Errementari: Der Schmied und der Teufel. Was so aussieht, als hätte Guillermo del Toro nach Pans Labyrinth abermals kreative Opulenz auf spanischem Boden zum Sprießen gebracht, ist die Saat eines ganz anderen. Eines Autorenfilmers, dessen Namen wohl die wenigsten kennen, dessen Filmschaffen aber eine große Zukunft hat und gegenwärtig längst schon viel mehr Aufmerksamkeit verdient als es bisher der Fall scheint. In Errementari lässt Alijo einen Boten des Teufels in einen Käfig sperren, der die Seele des Schmieds einfordern will, ist dieser doch im Krieg einen Deal mit dem Leibhaftigen eingegangen. Was ein kleines Mädchen mit dieser ganzen verzwickten Situation zu tun hat, lohnt sich in dieser prächtigen Gothic-Fantasy, die auch irgendwie an Neil Gaiman erinnert, herauszufinden.

War schon dieser so hintersinnige wie düstere Streifen die filmische Interpretation folklorer Mythen, ist es Irati ebenso. Kenner des Baskenlandes wissen: Irati ist die Bezeichnung eines Waldes im Norden der Provinz Navarra an der Grenze zu Frankreich und inmitten der Pyrenäen. Wie dieser zu seinem Namen kam, erzählt vorliegende Geschichte: Wir schreiben die letzten Jahrzehnte des 8. Jahrhunderts. Die Franken fallen in die nordspanischen Königreiche ein – auch in das des Herrschers Ximeno, der sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als die Hilfe einer mythologischen Gottheit namens Mari zu erbitten. Die ist bei den Basken die oberste Entität, die Urmutter aller Nebengötter – der weibliche Odin, wenn man so will. Sie ist liiert mit ihrem eigenen Sohn, einem monströsen Schlangenwesen. König Ximeno dringt also in die heiligen Hallen der mächtigen Dame ein und verspricht ihr sein eigenes Leben, sollte sie die wilden Horden Karls des Großen vernichten. Gesagt, getan – Blut für Blut: Mari lässt es hageln und Felsen regnen – in archaischen Schlachtenszenen und im tosenden Unwetter lassen beiden Parteien die Schwerter klirren, bevor der König sich selbst opfert, um den Deal zu erfüllen. Eineinhalb Jahrzehnte später kehrt dessen Sohn Eneko nach seinen Lehrjahren ins Königreich zurück, um die Gebeine seines Vaters zurückzuholen und die Gegend von heidnischem Glauben zu befreien. Er macht sich mit der im Wald lebenden Irati, Enkelin einer Magierin, auf den Weg, weiß sie doch genau, wo Mari am Spinnrad des Lebens spinnt. Mit dieser Mission entfesselt die Saga ein Abenteuer aus Verrat, Liebe und mächtigen Gegnern aus unsichtbaren Welten sowie mit ganz viel Know-How, was traditionelle, überlieferte Legenden betrifft.

Dabei ist der vom Filmportal Cineuropa getätigte Vergleich mit Herr der Ringe einer, der deutlich hinkt. Damit hat das ganze nichts zu tun. Nicht jede High Fantasy holt sich Inspiration von Tolkiens erdachten Welten. Irati ist etwas ganz und gar Selbstständiges, maximal vielleicht noch mit den deutschen Heldensagen rund um Siegfried vergleichbar, obwohl es in diesem Märchen weder Drachen noch Zwerge gibt – dafür aber einen Schatz, der an das Nibelungengold erinnert. Allein schon der Zugang zu all diesen Gottheiten hebt Irati auf ein gänzlich anderes inhaltliches Niveau, die mit den griechischen oder nordischen Sagen viel mehr verwandt ist.

In satten Bildern, pittoresken Waldlandschaften und stattlichen Kriegern erfüllt diese Queste alle möglichen Anforderungen, die geschmeidige Fantasy ausmachen. Weder erlaubt sich Alijo irgendwelchen Leerlauf, noch läuft er Gefahr, dem aus klassischen Elementen errichtete Abenteuer unfreiwillige Komik zu verleihen. Eneko Sardagoy als der seiner Bestimmung folgende Held mag zwar gewöhnungsbedürftig sein, sein Konterpart Edurne Azkarate als Irati hingegen ist eine Naturgewalt, die die Welt der Götter mit jener des Menschen souverän verbindet. Der Einsatz von Licht und Farbe, die Bedeutung der Natur und akzentuiert eingesetzte Spezialeffekte, die einen gewissen Retro-Charme versprühen, ohne aber kurios zu wirken, beweisen Alijos aufrichtiges Interesse für den Stoff, aus dem die alten Helden sind.

Irati (2022)

Blau ist eine warme Farbe

A CIRCLE OF LOVE

7/10


blauwarmefarbe© 2013 Alamode Film


LAND: FRANKREICH 2012

REGIE: ABDELLATIF KECHICHE

CAST: ADÈLE EXARCHOPOULOS, LÉA SEYDOUX, SALIM KECHIOUCHE, CATHERINE SALÉE, AURÉLIEN RECOING U. A.

LÄNGE: 2 STD 57 MIN


Ingmar Bergmann hätte diesen Film wohl schlicht und ergreifend mit „Szenen einer Liebe“ betitelt. Einer Liebe wie ein Musterbeispiel für einen gesellschaftsbiologischen Zyklus, ein Circle of Love sozusagen, der Anfang und Ende abdeckt, wie die Grundelemente einer Erzählung mit Anfang, Höhepunkt und Schluss. Dass Liebe so natürlich nicht immer diesen Weg gehen muss, ist sonnenklar. Bei jener der beiden jungen Frauen Adéle und Emma aber folgt diese Gefühlsregung einem Fächer aus Jahreszeiten, einem Kalender aus Freude und Leid. Überhaupt hat Blau ist eine warme Farbe (im Original La Vie d’Adèle – Chapitres 1 et 2) etwas sehr stark Biologisches. Und das nicht nur aufgrund der expliziten, aber niemals obszönen Sexszenen, die allerdings zwischen Regisseur Abdellatif Kechiche und den beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopolous und Léa Seydoux zur Kontroverse führten. Ersterer hätte diese pikanten Takes viel zu oft wiederholen lassen. Da lässt sich durchaus die Vermutung anstellen, dass Männer im biologischen Sinn unter dem Joch ihrer bestimmerischen Libido nehmen müssen, was sie kriegen können. Auch als Künstler. Doch dem Regisseur geht’s dann doch zum Glück um ein bisschen etwas anderes als nur um Sex. Das wäre die körperliche Nähe – etwas, dass Sex beinhaltet, aber nicht ausschließlich.

Im Mittelpunkt dieses fast dreistündigen Epos steht wie schon erwähnt und relativ verloren das Mädchen Adèle, das sich in vielerlei Hinsicht erst finden muss. Ein erster Anhaltspunkt ist die Möglichkeit, dass Frauen für sie wohl das interessantere Geschlecht sein könnten. In diesem Fall eben die blauhaarige Künstlerin Emma, entschlossen lesbisch, aber fasziniert von diesem ziellosen Um-sich-selbst-Kreisens von Adèle. Und fasziniert auch von diesem traurigen und gleichsam sehnsüchtigen Gesicht, wohl eines der traurigsten Gesichter des gegenwärtigen Kinos, das Regisseur Kechiche, wie man an den Closeups oft sieht, ebenso faszinierend findet. Beide finden sich also, in zarter und gleichsam großer Liebe. Aber so eine Liebe, das weiß jeder, brennt nicht auf Dauer so heiß. Das Leben bietet auch noch anderes, nämlich den Alltag aus Ehrgeiz, Selbstverwirklichung und Stress.

Blau ist eine warme Farbe hat 2013 die Goldene Palme gewonnen, allerdings ging diese nicht nur an den Regisseur, sondern auch an die beiden Stars des Films. Eine verdiente Sache? Schauspielerisch auf jeden Fall. Schauspielerisch liefern Seydoux und Exarchopoulos etwas, das vielleicht schon bis an oder sogar über die Grenzen geht. Diese Bereitschaft, sich dermaßen hinzugeben, auch emotional, ist nichts, was sich in der darstellenden Kunst aus dem Ärmel schütteln lässt. Kachiche muss hier recht zurückhaltend interveniert haben, muss hier für eine relativ intime, sehr persönliche Stimmung gesorgt haben, die Filmcrew womöglich aufs Wesentliche reduziert. Anders lässt sich diese Menge an Authentizität gar nicht darstellen. Die Bereitschaft, so viel von sich selbst zuzulassen, ist Kino der Extreme. Im Vergleich zu dieser distanzlosen Intensität erscheint die auf einer französischen Graphic Novel basierende Geschichte in der zweiten Hälfte des Films fast schon zu banal und vorhersehbar, während in der ersten Hälfte die Gefühlswelten der jungen Frauen eine elektrisierende Faszination erzeugen.

Blau ist eine warme Farbe