The Holdovers (2023)

EIN WEIHNACHTSFILM FÜRS GANZE JAHR

9/10


holdovers© 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ALEXANDER PAYNE

DREHBUCH: DAVID HEMINGSON

CAST: PAUL GIAMATTI, DOMINIC SESSA, DA’VINE JOY RANDOLPH, CARRIE PRESTON, BRADY HEPNER, IAN DOLLEY, JIM KAPLAN, ANDREW GARMAN, STEPHEN THORNE U. A.

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Er ist die Antithese zu Robin Williams im uns allen bekannten Club der toten Dichter. Er ist zwar nicht ganz so ein militanter Glamour-Misanthrop wie seinerzeit Jack Nicholson in Besser geht’s nicht, doch mit seinem despektierlichen Zynismus gegenüber seinen Schülern hält er nicht hinterm Pult. Kann sein, dass auch der Direktor der sogenannten Benton-High School aus seiner Sicht nicht gut wegkommt, denn der ist schließlich der größte Arsch. Das wusste er bereits, als dieser noch unter seinen Fittichen weilte. Dieser Jemand ist Paul Hunham, ein Underdog und leidenschaftlicher Geschichte-Nerd unter dem Herrn, mit Traumziel Karthago und schließlich die gesamte antike Welt. Hunham schielt, trägt vorgestrige Kleidung, rezitiert alte Lateiner und motzt herum, wo es nur geht. Verständnis hat er immerhin für Schulköchin Mary, die ihren Sohn in Vietnam verlor. The Holdovers spielt in den Siebzigerjahren, das Weihnachtsfest steht vor der Tür, in Neuengland ist alles tief verschneit, wie es sich eben gehört für einen Weihnachtsfilm, der bei genauerer Betrachtung eigentlich keiner ist. Der zwar die für manche schönste Zeit des Jahres als Katalysator für Emotionen nutzt, der aber weit mehr zu sagen hat als nur, sich unterm Christbaum die Hände zu reichen.

The Holdovers sind jene, die übrigbleiben. Der Rest der ganzen Schule macht Ferien irgendwo bei den Familien und Freunden, nur nicht am Campus. Dort hat Paul nun seine Daseins- und Aufsichtspflicht zu erfüllen, gemeinsam mit Mary, die eigentlich wegkönnte, es aber nicht will, da sie ihren Sohn zum letzten Mal hier gesehen hat. Auch einige Schüler haben den Kürzeren gezogen, darunter der 15jährige Angus, der ebenso wie Paul auf niemanden wirklich gut zu sprechen ist und feststellen muss, dass dessen Mama viel lieber mit der Familie ihres Neuen herumhängen will als mit dem Sohnemann. Letztendlich sitzen die drei am Abstellgleis, so, als würden sie nachsitzen. Ein Breakfast-Club der besonderen Art, zwei Wochen zusammen, zwei Wochen Konflikte und das Aneinanderreiben sturer Persönlichkeiten mit dem Potenzial für große Eskalationen. Alexander Payne, bekannt für sein ausgesprochen fein justiertes Radar, was zwischenmenschliche Bockigkeiten betrifft (u. a. About Schmidt, The Descendants oder Nebraska) bringt ein begnadetes Ensemble zusammen, das mindestens so gut ist wie Nicholson und Helen Hunt, oder eben Judd Nelson, Molly Ringwald und Emilio Estevez. Diese drei, die da notgedrungen auf einer einsamen Insel inmitten unwirtlicher Feiertagslaune gefangen sind, müssen nicht zwingend einen Seelenstriptease hinlegen, das wäre zu offensichtlich und auch zu gewollt. Sie bleiben schließlich, was sie sind, und ändern sich nicht. Entdecken aber Verschüttetes in ihnen selbst, das an die Oberfläche kommen will. Und da gelingt Paul Giamatti wohl die Charakterisierung eines Mannes, den man einerseits so kurios findet wie einen Paradekomiker, der schimpft wie ein Rohrspatz und die Wortpeitsche schwingt, den man aber trotz seinen strengen Fischgeruchs (wie manche sagen) unbedingt in die Arme nehmen will. Giamatti verkörpert die Tragikomik so nuanciert und mit Bravour, dass man diesen Menschen am Ende gar nicht mehr seiner Wege ziehen lassen will. Dieser Paul Hunham, den schließt man ins Herz. Und ebenso Mary. Ihre traurige Lethargie, ihr kaum unterdrückbarer mütterlicher Instinkt und permanentes Understatement bietet unabsichtliche Geborgenheit für Giamattis Ego – und nicht zuletzt der bockige Teenie (der viel älter aussieht, als er sein sollte, aber dass ist egal) wird zum liebgewonnenen Schützling wider Willen.

Hier passiert Menschlichkeit und Wärme wie die chemische Reaktion auf natürliche Umstände. The Holdovers ist ein Herzwärmer für alle Tage, vor allem einer für die kalten. Und die Kälte mag da nicht nur wetterbedingt sein. Soziale Interaktion, Zuhören und gegenseitige Verantwortung können leicht zum pathetischen Lehrstück werden – bei Alexander Payne jedoch ist das niemals der Fall. Wo Scham das Annähern vielleicht ausbremst, sind gerade der Trotz, das Selbstmitleid und die Kampfeslust gegenüber einem ignoranten sozialen Umfeld genau das Richtige, um über den eigenen Schatten zu springen. Das ist menschliche Höchstleistung, in einem Film, der als wohltuendes Meisterwerk zu bezeichnen ist. Seit Green Book gab’s sowas nicht mehr.

The Holdovers (2023)

Fallende Blätter (2023)

DAS SCHÖNE ZWISCHEN DEN WIDRIGKEITEN

8/10


FallendeBlaetter© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FINNLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: AKI KAURISMÄKI

CAST: ALMA PÖYSTI, JUSSI VATANEN, JANNE HYYTIÄINEN, NUPPU KOIVU, ALINA TOMNIKOV, MARTTI SUOSALO, SAKARI KUOSMANEN, MATTI ONNISMAA U. A.

LÄNGE: 1 STD 21 MIN


Sowieso ist alles hoffnungslos? Gut, zumindest erweckt es den Anschein. Doch was Aki Kaurismäki niemals zulassen würde, ist, seine Figuren in den bodenlosen Abgrund zu werfen. Sie straucheln zwar, sie verlieren ihre Jobs, sie sind einsam und versoffen; sie haben kein Geld und keine Lobby. Doch resignieren, das tun sie nicht. Oder zumindest nicht mehr. Kaurismäki ist seit seinem Cabriolet-Klassiker Ariel hoffnungsvoller geworden. Seine Liebe zur Arbeiterklasse und all jenen, die im Grunde das System erhalten, jedoch nichts dafür bekommen, ist ungefähr so stark wie bei seinem britischen Fachkollegen Ken Loach. Doch wo dieser mit blankem Realismus soziale Defizite aufzeigt, erstellt Kaurismäki lakonische Alltagstableaus voller sprödem Charme. Bevölkert mit Gestalten, die sich das bisschen Glück aus einem sonst ereignislosen Leben picken, das aufgrund höherer Umstände nicht viel anders sein kann. Dieses Glück kann darin liegen, auf die Karaoke-Bühne zu gehen und blumige finnische Balladen zu schmettern, während dem Hochprozentigen zugetane Freitagabend-Melancholiker mit stoischer, aber dennoch verzückter Miene dem Möchtegern-Bariton lauschen.

Um jenen, der gerne jünger wäre, als er ist und darauf wartet, von einer Plattenfirma entdeckt zu werden – um den geht’s hier gar nicht primär. Sondern vielmehr um dessen Arbeitskollegen und Freund, dem Alkoholiker Holappa (Jussi Vatanen). Der bekommt so gut wie nichts auf die Reihe, weil er so viel säuft und dadurch andauernd seine Jobs verliert. Obendrein raucht er noch wie ein Schlot und ist deprimiert. Weil er eben so viel trinkt. Und weil er deprimiert ist, trinkt er. Ein Teufelskreis, dem man sich in Kaurismäkis urbanen Miniaturen mit stoischem Trotz gerne hingibt. Die ganze ernüchternde Monotonie könnte sich ändern, als dieser Holappa auf die hübsche Ansa (Alma Pöysti, zuletzt als Künstlerin Tove auf der Leinwand) trifft. Zuerst ist es nur Blickkontakt. Dann, später, ein erstes gemeinsames Kaffetrinken mit anschließendem Kinobesuch – dort läuft Jim Jarmuschs The Dead Don’t Die, eine kleine Verbeugung des Finnen vor einem Bruder im Geiste, dessen Filme wohl manchmal in einen ähnlich lakonischen Erzählstil abgleiten wie die eigenen. Diese beiden einsamen, aber niemals verlorenen Seelen sollten sich bald wiedertreffen, würde Holappa nicht Ansas Telefonnummer verlieren. So sucht die eine den anderen und umgekehrt, so harren sie vor dem Kino, in welchem gestandene Klassiker am Programm stehen, von Die Maske des Dr. Fu Manchu bis hin zu Godards Die Verachtung. Vielleicht klappt es ja, und aus dem bisschen Zuneigung könnte mehr werden. Nur nicht mehr Alkohol, denn das mag Ansa gar nicht. Im Zuge dieses Wartens und Vorbeigehens an Gelegenheiten müssen beide ihre Lage überdenken, ihr Leben ändern, soweit es in ihrer Macht steht. Eigeninitiative ergreifen dort, wo sonst der Abgrund folgt. Und dafür sind sich Kaurismäkis Liebende dann doch zu stolz, weil sie dennoch, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, einen Sinn im Leben sehen. Der dann noch stärker wird und wichtiger in Anbetracht eines in Europa tobenden Krieges, der sich in nüchterner Berichterstattung rund um Tod und Zerstörung in einen dem Weltgeschehen scheinbar fernen Alltag mischt.

Kaurismäkis Bilder erreichen zwar nicht dieses akkurate Farbenspiel wie in seinem Meisterwerk Le Havre, aber dennoch ist das Komplementäre ein enorm wichtiges Element, das bereits vorab visualisiert, was zusammengehört und was nicht. Bescheidenes Interieur, enge Bars, längst nicht mehr neues, aber immer noch funktionstüchtiges Drumherum, in welchem pragmatische Lebensführung ihre Verwirklichung findet – so und nicht anders möbliert Kaurismäki sein Universum jenseits des Reichtums und der Gier. Sein Besinnen auf Werte, deren Streben danach im Angesicht noch viel schlimmerer Umstände – nämlich die des Krieges – von Szene zu Szene wichtiger werden, ist das, was der stilsichere Finne ausdrücken will. Die Arbeiterklasse der Gewerkschaften ist dabei immer noch ein Must-Have, Ansas Schuften in der Fabrik ein klassisches Zitat und eine Reminiszenz an seine früheren Werke. Den passenden Sound liefert dabei neben herrlich schwermütigen Chansons das reduktionistische und daher saucoole Musikduo Maustetytöt, das die ironische Melancholie dieser Tragikomödie auf den Punkt bringt.

Vielleicht hat Kaurismäki hier doch sein letztes Werk geschaffen, bevor er gedenkt, sich wieder zurückzuziehen. Und wenn es so wäre? Dann hätte er vielleicht alles gesagt. Alles zur Leidenschaft Kino und seiner Liebe dazu. Alles zum Weltschmerz und der Relativierung des eigenen Status Quo. Immer mehr wird Fallende Blätter zu seiner eigenen Flucht aus der Realität, zu einer Romanze, die Ansa und Holappa wohl im Kino gesehen hätten, könnte der Traum auf der Leinwand nicht doch noch Wirklichkeit werden.

Fallende Blätter (2023)

Das Blau des Kaftans (2022)

DREI SIND KEINER ZUVIEL

9,5/10


dasblaudeskaftans© 2023 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH, MAROKKO, BELGIEN, DÄNEMARK 2022

REGIE: MARYAM TOUZANI

BUCH: MARYAM TOUZANI, NABIL AYOUCH

CAST: LUBNA AZABAL, SALEH BAKRI, AYOUB MISSIOUI, ZAKARIA ATIFI U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Je mehr Filme ich zu Gesicht bekomme, die letztes Jahr in Cannes ihre Premieren feierten und vielleicht auch den einen oder anderen Preis mit nachhause nehmen konnten; je mehr Filme ich davon sehe, umso mehr wundert mich die letztendliche Entscheidung der großen Oscar-Academy vor allem in der Auswahl der Nominierten für den besten ausländischen Film. Das Blau des Kaftans beweist wieder einmal mehr, wie sehr dieses Medium subjektiver Wahrnehmung unterliegt und wie sehr der Zeit und der Ort für die Sichtung eines Filmes sowie die Verfassung des Betrachters ausschlaggebend dafür sind, wie ein Film funktionieren kann. Auch wenn sich Das Blau des Kaftans auf der Shortlist für den Auslandsoscar befand: Zumindest nominieren hätte man ihn sollen, lässt sich doch aus meiner Sicht vermuten, dass dieser der beste Film des Jahres bleiben könnte, wenn schon nicht der beste innerhalb einer noch längeren Zeitspanne. Mit Maryam Touzanis berauschender Dreiecksgeschichte erlebt das Kino ein formvollendetes Wunder, wie man es zuletzt – und das ist schon länger her – mit Wong Kar-Wais In the Mood for Love erlebt hat. Man kann Filme nach gängigen Mustern erzählen, man kann auf Atmosphäre setzen und sonst nicht viel berichten. Man kann sich komplett aufs Schauspiel konzentrieren und alle anderen Aspekte außer Acht lassen, also einem gewissen Purismus frönen. Man kann aber auch alles miteinander vereinen und sich intuitiv von seinen Gefühlen leiten lassen – und sehen, was passiert. So sehr Das Blau des Kaftans auch wirkt, als wäre jede Szene wohl überlegt, so sehr hat es auch den Anschein, dass Touzani nichts ferner liegt, als ihr Ensemble zur Eile zu drängen. Die Szenen passen sich dem Empfinden der Schauspieler an, und nicht umgekehrt. Dadurch erreicht der Film eine im jeden Take spürbare Wahrhaftigkeit. Und so lässt sich jede Minute intensiv erleben und am Ende jenes Herzklopfen verspüren, dass man hat, wenn ein Film genau das macht, wovon man hofft, dass er es tut.

Dabei beginnt Das Blau des Kaftans wie eine detailverliebte Alltagsminiatur aus der Medina einer nordafrikanischen Stadt. Wir befinden uns in Salé an der marokkanischen Atlantikküste. Mina und Halim betreiben eine Kaftan-Schneiderei, Halim ist Maleem, ein Meister im Besticken feinster Stoffe. Die Kunden wissen, wo sie die beste Ware bekommen. Und so ein Kaftan braucht Zeit, bis er fertig ist. Das Teil ist mehr als ein Kleidungsstück – es ist ein Kunstwerk, das über Generationen weitergegeben wird. Zu Beginn des Films sieht man, wie die Hände des Meisters über blauen Satinstoff streifen, wie dieses Material Falten wirft im fahlen Licht des Ladens. Dieses Blau wird zum roten Faden einer Geschichte, die langsam, aber doch, immer mehr Geheimnisse preisgibt. Zum Beispiel jenes, dass Halim eigentlich homosexuell ist, und Mina mit einer Krankheit kämpfen muss, die sie in absehbarer Zeit dahinraffen wird. Allerdings weiß sie vom Geheimnis ihres Mannes. Und sie duldet es. Um den Laden zu schmeißen, fängt der attraktive Youssef bei Halim eine Lehre an. Anfangs ist diese Dreierkonstellation ein Umstand, den Mina nicht ertragen kann, sieht sie doch, wie beide aneinander interessiert sind. Doch im Leben kommt vieles anders, als man denkt, und Minas langer Abschied vom Leben wird zur Probe für einen Neuanfang.

Wie Maryam Touzani das Ende einer Zweisamkeit zelebriert und gleichermaßen den Beginn einer ganz anderen ankündigt, ist beeindruckend selbstsicher inszeniert und so voller Achtsamkeit, Liebe und Zuneigung, dass es einem die Sprache verschlägt. Wenn schon Michael Hanekes Liebe das sogenannte fünfte Element so sehr aus seinen beiden Protagonisten herausgearbeitet hat, so steht Touzani ihm um nichts nach. Im Gegenteil: wo Haneke nüchtern bleibt, hebt Touzani die Distanz zu ihren Figuren auf und lässt eine würdevolle Intimität zu. Lubna Azabal, die bereits unter der Regie Denis Villeneuves in Incendies – Die Frau, die singt brilliert hat, setzt mit ihrer kraftvollen und nuancierten Performance in der Schauspielkunst neue Maßstäbe. Sie nimmt den Zuseher mit auf einen so wunderschönen wie entbehrungsreichen Pfad durch eine unebene emotionale Landschaft aus Höhen und Tiefen, aus mobilisierten letzten Energien und der Suche nach Geborgenheit. Das Blau des Kaftans erzählt von Freiheiten und Leben lassen, von Akzeptanz und tiefem Respekt. Der Film vermeidet Worte dort, wo Bilder und Gesichter alles sagen. Lässt Musik ertönen, wo sonst nichts die Freude am gegenwärtigen Moment besser unterstreichen könnte. Das Werk ist weder nur Sittenbild noch nur Liebesfilm noch nur Sterbedrama. Es ist alles gleichermaßen, entfacht Synergien und bedingt einander. Wie Mina, Halim und Youssef, die letztendlich eine vollkommene Einheit bilden. Dieses Filmwunder aus Marokko, das weder zu viel noch zu wenig sagt, dass die goldene Mitte trifft und zutiefst berührt, muss man gesehen haben.

Das Blau des Kaftans (2022)

Broker – Familie gesucht (2022)

MENSCHENLEBEN ZU VERGEBEN

6/10


broker© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

BUCH / REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: SONG KANG-HO, GANG DONG-WON, BAE DOONA, JI-EUN LEE, LEE JOO-YOUNG, SEUNG-SOO IM, JI-YONG PARK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Das macht schon was mit jemandem, der draufkommt, nicht gewollt auf die Welt gesetzt worden zu sein. Der rein zufällig lebt und atmet, obwohl er nicht geplant war. Eine Existenz, entstanden aus einem Unfall. Gut, es gibt Eltern, die nehmen dieses Ereignis dankend an, denn es wird ihr Leben verändern und um unersetzbare Aspekte bereichern. Es gibt aber auch welche, die niemals Mutter oder Vater sein wollen. Oder können. Wie fühlt man sich, als ein Kind, das keiner haben will? Eine neue Familie, ja klar. Aber dass die leiblichen Eltern einen nicht wollen, lässt sich, wie es scheint, nicht verwinden. Da kann es passieren, dass man im Erwachsenenalter aus der Not der anderen, die noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, weil zu klein, Profit herausschlägt. Zwecks Rache. Als Genugtuung. Als Eigentherapie, wie auch immer.

Dong-soo zum Beispiel, selbst einmal Waisenkind gewesen und in entsprechender Einrichtung aufgewachsen, hat sich darauf spezialisiert, gemeinsam mit seinem älteren Freund Sang-Hyun „weggeworfene“ Babys, wie sie es nennen, an kinderlose Eltern zu verhökern, die das offizielle und oft recht mühsame Prozedere zur Adoption umgehen wollen. Klar ist das ein Verbrechen, nämlich astreiner Menschenhandel. Auf Nachhaltigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie das die Behörden tun, kann dabei nur schwer gesetzt werden. Da passiert es eines Nachts, dass das Schicksal des Babys von So-young, abgegeben an der Babyklappe einer Kirche, für die Dong-soo arbeitet, von Polizei und Sozialbehörde genauestens beobachtet wird. Und auch So-young hat es sich tags darauf anders überlegt und will ihr Kind wieder zurück – allerdings ist dieses bereits in den Händen der beiden Gauner, die aber im Grunde ihres Wesens herzensgut sind und von da an die Mutter des Kindes mit auf ihre Tour durchs Land nehmen, um die richtigen Eltern zu finden, die auch bereit sind, einen stolzen Preis zu zahlen. Warum da So-young mitmacht, erscheint anfangs nicht klar. Doch irgendwie fühlt sie sich zu den beiden Außenseitern, die selbst keine Familien haben und verstoßen wurden, hingezogen. Wen wundert es, wenn die Biographie der jungen Mutter ein ähnliches Trauma beinhaltet wie das der beiden Gefährten, die fortan so etwas wie eine notgedrungen zusammengewürfelte Familie bilden.

Song Kang-ho, wohl der berühmteste südkoreanische Schauspieler, und das schon seit Jahrzehnten, war Haus- und Hofakteur Park Chan-wooks und wurde durch Bong Joon-hos Parasite weltbekannt. Jetzt hat er letztes Jahr glatt noch die Goldene Palme für sein Schauspiel im vorliegenden Film namens Broker – Familie gesucht erhalten. Er spielt nicht schlecht, was anderes würde mich auch wundern, doch eine herausragende Leistung ist das keine. Dafür spielen ihn seine Kolleginnen und Kollegen fast schon an die Wand, allen voran Im Seung-soo als der kleine Hua-Jin, der sich in den Wagen der Broker schleicht, weil diese für ihn eine Familie sein könnten.

Die Idee des Films, inszeniert und geschrieben von Palme-Gewinner Hirokazu Kore-Eda, der mit dem thematisch recht ähnlichen Shoplifters auf sich aufmerksam machte, hat alles, was ein Seelenwärmer fürs Kino so braucht: Wehmut, Hoffnung, die inspirierende Eigendynamik einer kleinen Gemeinschaft und das erstrebenswerte Gefühl, gebraucht zu werden. Alle, die hier durch Südkorea tuckern, sind Verstoßene, denen das Glück in ihrem Unglück widerfährt, einander plötzlich wichtig zu sein. Dafür findet der Filmemacher vielsagende Momente voller Wahrhaftigkeit, die aber dennoch recht spärlich gesät sind. Denn so richtig mitnehmen will Broker sein Publikum manchmal doch nicht. Es ist, als wären sich die fünf Individuen selbst genug, und wir als Zuseher müssen gar nicht so genau nachvollziehen können, was nun als nächstes passiert.

Zu sprunghaft erscheint mir der Film, nachdem er sich anfangs recht viel Zeit gelassen hat, um überhaupt in Fahrt zu kommen. Kaum sind die Reisenden in Busan, sind sie plötzlich in Uljin oder Seoul. Dann sind da plötzlich Eltern, dort plötzlich Eltern. Es reißt Kore-Eda herum in seinem Skript, und zumindest mich selbst irritiert der plötzliche Orts- und Szenenwechsel manchmal doch so sehr, dass es mich fast bis zum Ende auf Distanz hält. Broker – Familie gesucht ist ein Film, der manche Details verschluckt, während er manchen wiederum zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dazwischen finden sich einige szenische Highlights, die aber dennoch keinen perfekten Film daraus machen.

Broker – Familie gesucht (2022)

Meine Stunden mit Leo (2022)

SEX IST, WORÜBER MAN SPRICHT

7/10


meinestundenmitleo© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: SOPHIE HYDE

BUCH: KATY BRAND

CAST: EMMA THOMPSON, DARYL MCCORMACK, ISABELLA LAUGHLAND

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Emma Thompson war schon immer zum Hinknien. In diesem so klugen wie temperamentvollen Kammerspiel tut sie das sogar selbst. Wie sonst soll Fellatio auch anders gehen? Meine Stunden mit Leo ist nichts, was ein prüdes Publikum gerne hören oder sehen will. Oder vielleicht doch? Vielleicht gibt ein Film wie dieser Anlass genug, um endlich mal ganz ehrlich zum jeweils eigenen Status Quo sexueller Erfüllung zu stehen. Im Hinblick auf die natürlichste Sache der Welt hat dieses Bedürfnis dank eines biochemischen Belohnungseffekts eine jede und ein jeder. Und das Beste: egal in welchem Alter. Somit sondiert hier, in diesem generischen, aber noblen Hotelzimmer, unser längst aus vielen Filmen lieb gewonnener Star anfangs noch recht zögerlich die neue Umgebung. Ähnlich skeptisch, kam ich nicht umhin, mir die Frage zu stellen, was ein Zwei-Personen-Film wie dieser denn wirklich Bereicherndes verspräche, außer eben Emma Thompson, die laut Trailer mit ein bisschen Alkohol und simplen Tanzschritten aus sich herauszugehen vermag. Im Nachhinein muss ich feststellen: Ich hätte den Film falsch eingeschätzt. Und ich hätte mir Meine Stunden mit Leo womöglich auch nicht auf meine Watchlist gesetzt, wäre mir dieser nicht von mehreren Seiten empfohlen worden. Da ich den Empfehlungen meiner Leser und natürlich auch die meiner Freunde gerne nachgehe, konnte diese kleine filmische Begegnung aus Geben und Nehmen dann doch nicht an mir vorbei. Und gut war’s.

Denn es ist nicht so, als wären diese Stunden, die Emma Thompson alias Nancy Stokes mit dem attraktiven Callboy Leo Grande verbringt, nur gefüllt mit Small Talk und hemdsärmeligen, erotischen Stellungsversuchen, bis beide endlich ihre Hüllen fallen lassen. In Wahrheit ist es so, dass Nancy Stokes sich nicht nur der Textilien entledigen will, sondern auch einer lange herumgetragenen Wahrnehmung von sich selbst und der Welt, deren Entwicklung scheinbar spurlos an ihr vorübergegangen sein muss. Um den Blickwinkel mal zu wechseln, muss Frau neues ausprobieren. Also bucht sie Leo (charmant und attraktiv: Daryl McCormack, u. a. aus Pixie bekannt), einen Mann für gewisse Stunden, der aber nicht nur zwingend für Sex zu haben sein muss, sondern auch für bereichernde Partnerschaften auf Zeit. Ganz billig dürfte dessen Service nicht sein, doch immerhin scheint Nancy zu bekommen, was sie erwartet hat. Nur weiß sie anfangs selbst nicht, was das ist. Ob es die Erwartungen anderer sind, Leos Erwartungen oder die ihrer Freunde und Familie – jedenfalls nicht die ihren. Und so wird aus anfänglichem Zögern und dem üblichen Kennenlernen in solchen Situationen ein auf beiden Seiten ausgetragener, niemals peinlich für den oder die andere werdender Seelenstriptease, der zutage fördert, was beide in ihren Bedürfnissen hemmt. Geben und Nehmen drehen sich um, und die Frage nach dem Sex löst sich dadurch ganz von allein.

Ja, Emma Thompson ist auch hier zum Hinknien. Uneitel, natürlich und ganz und gar selbstbewusst steht sie irgendwann vor dem Spiegel, nackt wie Gott sie schuf. Um dieses „Ja, so bin ich – und das ist gut so“ überhaupt zu erreichen, dafür bedarf es das Hinterfragen umständlicher Tabus und gesellschaftlicher Enge, aus der man sich befreien sollte, will man sich im Alter nicht mehr über alles den Kopf zerbrechen müssen. Der Weg in die Natürlichkeit ist gepflastert mit knackigen Dialogen und einer zielsicheren Dramaturgie, die sich nicht zu lange mit Monologen aus den Erinnerungen der beiden Schauspieler aufhält. Viel wichtiger ist das Aufbrechen alter Strukturen gerade beim Thema Sexualität. Regisseurin Sophie Hyde und die englische Comedian Katy Brand, die das griffige, gerne auch mal erotische Drehbuch verfasst hat, fallen zum Glück nicht mit der Tür ins Haus. Sie wissen beide sehr wohl, dass das Thema eines von jener Sorte bleiben darf, die man nicht in alle Welt hinausposaunt, sondern dass einer eigenen, lockeren Handhabung bedarf. Nämlich einer aus Respekt und gesunder Selbstliebe.

Meine Stunden mit Leo (2022)

The Banshees of Inisherin

FREUNDSCHAFT IST EIN VOGERL

7,5/10


bansheesofinisherin© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, USA 2022

BUCH / REGIE: MARTIN MCDONAGH

CAST: COLIN FARRELL, BRENDAN GLEESON, KERRY CONDON, BARRY KEOGHAN, SHEILA FLITTON, PAT SHORTT, JON KENNY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Von Juni 1922 bis in den Mai des Folgejahres tobte auf Irland ein verlustreicher Bürgerkrieg zwischen jenen, die den Irischen Freistaat befürworteten, und jenen, die natürlich dagegen waren. Das hieß auch, dass ein Teil Nordirlands immer noch unter britischer Hoheit blieb. Ein Kompromiss, den viele nicht eingehen wollten. Diesen entbrannten Bruderkrieg konnte man von den vorgelagerten Inseln Irlands manchmal beobachten – und auch hören. Explosionen, donnernde Salven. Auf Inisherin, einer der irischen Küste vorgelagerte, fiktive Insel in der Galwaybucht, hat laut Martin McDonagh (Three Billboards outside Ebbing, Missouri) der Krieg scheinbar wenig Einfluss. Das Leben nimmt dort seinen Lauf, ein Tag folgt dem anderen und endet im Pub an der Steilküste. Es wird musiziert, dann, nächsten Morgen, wird das Nutzvieh versorgt, und pünktlich um 14 Uhr am Nachmittag holt einer wie Padraic seinen besten Freund von zuhause ab, um gemeinsam ein oder mehrere Guinness zu heben. Viel mehr passiert hier nicht. Langweilige Menschen tun langweilige Dinge. Aber das ist schön so. Und vertraut. Und jeden Tag aufs Neue Grund genug, dafür aus den Federn zu kommen. Doch eines Tages, es ist der erste April des Jahres 1923 – der Krieg am Festland liegt in den letzten Zügen – ist alles anders. Padraics Freund Colm kündigt die Freundschaft. Einfach so. Das dumme Gerede des einen, so meint er, stehle ihm viel zu viel Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens. Für Kunst. Und Musik. Padraic versteht das nicht, da er nichts getan hat, was sein Gegenüber so harsch und gemein werden lässt. Doch für Nettigkeit ist noch niemand in die Geschichte eingegangen, so Colm. Padraic lässt jedoch nicht locker. Will wissen, was da vorgeht und kann es nicht akzeptieren, dass der brummige Geigenspieler einfach nur seine Ruhe haben will. Wer nicht locker lässt, provoziert. Und der Krieg jenseits des Meeres scheint auf die Gemüter der beiden Sturköpfe abzufärben.

Mit The Banshees of Inisherin (Banshees sind weibliche Geister aus der irischen Mythologie) hat McDonagh wohl einen der ungewöhnlichsten Filme über Freundschaft geschaffen, die man sich nur vorstellen kann. Und obendrein gleich noch eine Allegorie gesetzt, die das Wesen des Krieges widerspiegeln soll, wie Schatten auf einer Höhlenwand. In Wahrheit gibt es keinen Grund für Konflikte, es sind lediglich die Folgen von Ignoranz, Kränkung und fehlender Weitsicht. Von krankhafter Sturheit und fehlendem Respekt. Dabei wird klar: Die Absenz der Nettigkeit hat vieles verursacht, was sich locker hätte vermeiden lassen. Sowohl im Kleinen als auch in der Weltpolitik. McDonagh sucht die Wurzel des Übels im Kleinen und zaubert daraus einen zutiefst komischen, aber auch so richtig makabren Schwank, der in herzhaften Dialoggefechten und dann wieder lakonischen Szenen seine Vollendung findet. The Banshees of Inisherin ist so urtümlich irisch wie der St. Patricks Day, suhlt sich in grünen Landschaften, irischer Volksmusik und jeder Menge Schwarzbier. Lässt die Brandung an die Felsen brechen und das Vieh ins Haus. Blut wird fließen, grimmige Konsequenzen durchgezogen, als wäre Verbohrtheit ein hehres Ziel. Und bei diesem Duell zwischen dem Harten und dem Zarten laufen nach Brügge sehen… und sterben die beiden Vollblütakteure Brendan Gleeson und Colin Farrell zur Höchstform auf. Bei Gleeson war mir ohnehin längst klar: dieser Mann war nicht nur als Harry Potter-Einauge Mad Eye Moody eine Offenbarung, sondern viele seiner Filme – vorrangig das Priesterdrama Am Sonntag bist du tot – wurden erst durch die Wucht seines Schauspiels nachhaltige Werke. Bei Colin Farrell ist nach dieser Performance nun auch jeder ZWeifel ausgeräumt: der diesjährig bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnete Brite setzt uns seine bislang beste und eingängigste Leistung vor. Der verstörte, ungläubige Blick, als Padraic erfährt, dass ihn Colm nicht mehr mag, zählt jetzt schon für mich zu den stärksten Interpretationen eines emotionalen Zustands. Und dann dreht er nochmals auf – ist wütend, resignierend, in seiner Einfältigkeit liebevoll charmant und dann wieder herausfordernd. Bis alle Stricke reißen. Wenn das passiert, ist der Bürgerkrieg einfach so auch in dieser beschaulichen Idylle angekommen. Und über allen Absurditäten wandelt eine Banshee die Wege und Hügel entlang, wie eine der Hexen aus Shakespeares Macbeth, die in die Zukunft sehen können.

The Banshees of Inisherin ist ein Buddy-Movie der besonderen Art. Nicht nur kauzig, schräg und so schwarz wie der tägliche Ausschank, sondern auch auf mehreren Ebenen eine zu Herzen genommene Zurschaustellung einer Menschenwelt, die ohne Respekt und Achtsamkeit nicht funktioniert.

The Banshees of Inisherin

Malcolm & Marie

DIE KRÄNKUNG EINER NACHT

5,5/10


malcolm_marie© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2020

DREHBUCH UND REGIE: SAM LEVINSON

CAST: ZENDAYA, JOHN DAVID WASHINGTON

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Wie heisst das Zauberwort? Das lernt man schon im Kleinkindalter. Und eigentlich sind es zwei dieser Sorte. Bitte und Danke. Ein Basislehrgang in Sachen Respekt und Wertschätzung. Wie ist das in einer Beziehung? Muss man da auch andauernd Danke sagen? Ja, muss man. Denn nichts in einer Beziehung ist, nur weil es eine Beziehung ist, selbstverständlich. Das ist etwas, das muss Filmemacher Malcolm noch lernen. Der hat nämlich völlig vergessen, bei der Premiere seines Regiedebüts vor allem seiner besseren Hälfte jenen verbalen Tribut zu zollen, den sie verdient hätte. Meint Marie. Und schon ist die Lunte für eine hitzige Nacht aus Küssen und verbalen Schlägen gezündet. Eine knapp über hundert Minuten lange Wippschaukel an Stimmungen. Da ließe sich ja ein zweites Wer hat Angst vor Virginia Woolf? dahinter vermuten, Edward Albees Beziehungsdrama, ebenfalls an einem Abend, und vor allem einer, an dem sich beide nichts schenken.

Geschenkt haben sich Schauspielerin Zendaya (eben noch in Spiderman: Far from Home als Parkers nonkonforme Klassenkollegin – und schon im bauchfreien Abendkleid) und Tenet-Star John David Washington anlässlich dieses heimlichen Corona-Drehs erstmal ihren negativen Antigentest. Damit sie überhaupt so sehr auf Tuchfühlung gehen können, wie sie es in diesem Zwei-Personen-Drama tun. Location ist ein großzügig verglaster Bungalow irgendwo in Kalifornien, die elegante Bildsprache macht auf sophisticated Schwarzweiß und setzt obendrein noch auf eine angenehm grobkörnige Struktur der Bilder. Das ist schon mal erlesen, da kann man gut und gerne darin versinken. Dazu ein paar jazzige Musiknummern und, am Türrahmen lehnend, den Glimmstängel zwischen den Fingern. Lauren Bacall, Richard Burton, Humphrey Bogart oder wie sie alle heißen, hätten sich in diesen Rollen wohl wiedergefunden. Klar, das sind alles Stars mit unübersehbaren Egos. Malcolm und Marie haben diese auch – stolze Egos, die deren Kränkung zum Anlass nehmen, den Mittelpunkt auf sich zu lenken.

Womit sich die emotionale Teilnahme des Zusehers an diesem schicken Geplänkel mit dispkrepanten Stimmungsschwankungen in Grenzen hält. Sam Levinson hat gar nicht vor, wie ein Edward Albee wirklich ans Eingemachte zu gehen. Klar, die Vergangenheit holt sich ihre Erwähnungen, um diesen Hickhack besser zu verstehen. Die Bekümmernisse der Beiden, ihren Trotz und ihre ständige Eigenrotation, die bleiben in diesem Schloss aus Glas, finden keinen Bezugspunkt nach draußen und haben auf Dauer auch nichts wirklich Relevantes mehr zu berichten.

Annerkennung, Achtsamkeit – Zendaya unter artiger, allerdings aber professioneller Ausführung akkurater Regieanweisungen fordert dieses Verhalten ein, gibt aber nicht viel Einblick in ihre Psyche. John David Washington ebenso wenig, er ergeht sich in gut ausformulierte, aber völlig belanglose Monologe über Kritiker und Filmbiz, die den kargen Plot auf Spielfilmlänge strecken. Malcolm & Marie zelebriert eine eigene Welt, eine eigene gesellschaftliche Biosphäre, so fern von einem greifbar hemdsärmeligen Leben. Das ist das, was Sam Levinson schafft: Eine prätentiöse Blase, darin eine kunstvolle Fotoshow mit zwei hippen Stars, die noch einige Karrierestufen vor sich haben. Das ist Beziehungskiste mit Glamour.

Malcolm & Marie

Die Frau des Nobelpreisträgers

RINGEN UM ACHTUNG

5/10

 

© Meta Film London ltd© 2018 Constantin Film

 

ORIGINAL: THE WIFE

LAND: GROSSBRITANNIEN, SCHWEDEN, USA 2018

CAST: GLENN CLOSE, JONATHAN PRYCE, CHRISTIAN SLATER, MAX IRONS, HARRY LLOYD, ANNIE STARKE U. A.

 

Marie Curie hatte ihn, Barack Obama hat ihn, Gabriel Garcia Marquez zum Beispiel ebenso. Und die Österreicherin Elfriede Jelinek (u. a. Die Klavierspielerin): den Nobelpreis. Die Auszeichnung aller Auszeichnungen, die Ehrung aller Ehrungen, im Grunde der Oscar für literarische, wissenschaftliche und politische Disziplinen und da es den Oscar fürs Filmschaffen gibt, braucht es nicht hierfür nicht auch noch Standing Ovations in Stockholm. In vorliegendem Film ist der Nobelpreis der Literatur gefragt – und der geht an den fiktiven Buchstabenvirtuosen Joe Castleman, gespielt vom langjährigen Profi Jonathan Pryce, der vor nicht allzu langer Zeit sogar noch in Game of Thrones mitwirken und unter der Regie Terry Gilliams die Lanze gegen Windmühlen erheben durfte. Pryce, der hat an seiner Seite eine ebenfalls schon selten zu Gesicht bekommene Dame, nämlich Glenn Close. Auch sie mittlerweile legendär, und zuletzt in der Agatha Christie-Verfilmung Das krumme Haus seltsam undurchschaubar unterwegs. Beide zusammen in einem Drama um den begehrten Preis der intellektuellen Elite, da kann nicht viel schief gehen. Der Schwede Björn Runge hat sich dafür den US-Roman The Wife von Meg Wolitzer zur Brust genommen, in Zeiten wie diesen ein brisanter Stoff, aus dem in Wahrheit die Heldinnen sind. Und die sind selten in den ersten Reihen zu finden, geben sich selten selbstgerecht und lassen die selbstverliebte und zur Anhimmelung auffordernde Arroganz des Mannes außen vor. Frauen wie Glenn Close, die haben so etwas gefälligst nicht notwendig. Frauen wie Glenn Close, die sollten lieber nicht in die erste Reihe vordringen, vielleicht sogar vor dem eitlen Geck treten, der sich seines Könnens mehr als bewusst zu sein scheint. Doch ist es wirklich sein Können? Und darf Glenn Close, die Frau, erwachsen geworden in einem Zeitalter, wo die Weiblichkeit etwas war, das hinter den Herd gehört, sich nicht vielleicht doch so platzieren, dass ihr Schatten auf den Patriarchen fällt?

Die Frau des Nobelpreisträgers hat interessante Ansätze und funktioniert nicht nur auf der offensichtlichen Ebene, die von Verrat und Wertschätzung erzählt. Die andere Ebene, die noch viel interessanter ist, stellt die Frage: Definiert sich die Qualität einer Kunst, das Glück eines Künstlers oder einer Künstlerin, tatsächlich nur durch das Lob der Kunstkonsumierer? Durch die Leserschaft, das Auditorium, der Fans? Braucht Kunst nicht nur dann ein Publikum, wenn es die Existenz finanzieren soll? Oder sind Künstler Menschen, die sich längst nicht mehr selbst und ihrem Talent genügen, sondern am Response der anderen ihren Selbstwert definieren? Das ist die eine Seite, die Die Frau des Nobelpreisträgers zu einem anregenden Diskurs über Ruhm, Ehre und Öffentlichkeit führt. Die andere Seite stellt die Frage: Wie viel Achtsamkeit braucht der Mensch? Und brauchen Mann und Frau gleich viel? Natürlich, was ist das für eine Frage. Nur – Glenn Close, die kommt zu kurz. Und als der große Preis verliehen wird, das Paar dem schwedischen Monarchen die Hand schüttelt und von vorne bis hinten geehrt und bedient wird, da wärmt das Licht unter dem Scheffel niemanden mehr, da hat die Genügsamkeit und die Ich-Definition ihre Grenzen. Wer genau wissen will, was in diesem Künstlerdrama wirklich vorfällt, der sollte sich bei der Nobelpreis-Ehrung filmtechnisch auf die Gästeliste setzen lassen, denn genauer ins Detail werde ich in meiner Review nicht gehen können, ohne die Katze aus dem Sack zu lassen. Ohnehin bleibt die Vorahnung sowieso omnipräsent. Und die aparte, unverwechselbare Ausnahme-Akteurin Close wird mit Engeln und Teufeln ringen müssen, die entweder ihre Persönlichkeit neu definieren wollen oder an ihre Verbundenheit zu ihrem Gatten, den größten Literaten des Jahres, appellieren.

Trotz all dieser Zerwürfnisse, dieser spitzen Bemerkungen am Hotelzimmer und den anmutigen Aufnahmen eines vorweihnachtlichen Stockholm bleibt Runges Film ein zwar opulentes und famos besetztes, aber irgendwie auch emotional beengtes Kammerspiel, das sich relativ leicht für die Bühne adaptieren ließe. Viel störender hingegen ist die dramaturgische Gliederung des Filmes, insbesondere die eingestreuten Rückblenden, die so gar nicht in das intensive Spiel von Pryce und Close passen und die besondere, angespannte und diskussionsbereite Intimität der beiden immer wieder aufs Neue zerreißt. So sehr die Zeitebene der Gegenwart auch aus einem gehaltvollen Guss zu sein scheint, so hölzern hinkt das Damals hinterher. So bemüht schielen die beiden Jungstars auf Schreibmaschine und Ehebett, um das ganze akute Schlamassel überhaupt erst zu erklären, was sie eigentlich nicht müssten. Die beiden Ebenen passen nicht zusammen, sind sich stets im Weg, behindern ein Werk, das einiges zu erzählen hat, aber nie wirklich bis zur Mitte der Geschichte kommt. Die Gedanken zu all den vorhin aufgeworfenen Fragen, die machen sich selbstständig, die suchen sich Referenzen in der eigenen Lebensagenda, die lassen den Film Film sein. Dafür, dass dieser sie allerdings aufwirft, verdient er meinen Respekt – alles andere daran sind Fragmente, die sich gegenseitig ausbremsen.

Die Frau des Nobelpreisträgers

In den Gängen

DIE SEHNSUCHT DES GABELSTAPLERS

6,5/10

 

indengaengen© 2018 Zorro Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: THOMAS STUBER

CAST: FRANZ ROGOWSKI, SANDRA HÜLLER, PETER KURTH, ANDREAS LEUPOLD, MICHAEL SPECHT U. A.

 

Stanley Kubrick hat in seinem Meisterwerk 2001- Odyssee im Weltraum den Tanz der Raumschiffe mit den Klängen des Donauwalzers hinterlegt: eine, wenn nicht DIE Sternstunde des Kinos schlechthin. Regisseur Thomas Stuber, dem Kubrick´s Film wohl auch gefallen haben muss, hat den Menschen in seinem Fortschrittseifer vom Himmel geholt und den ganzen technisch-utopischen Reigen auf eine alltägliche Morgendämmerung im Supermarkt zurechtgestutzt. Was aber, wider Erwarten, eine poetische Eleganz entwickelt, die man so völlig unattraktiven Großhallen mit all ihren Regalen und sterilen Gängen nicht zugetraut hätte. Zuerst das Angehen der Lichter, fotografische Blicke in die Regalfluchten. Und dann kommen sie angerollt – die Putzmaschinen und Gabelstapler. Und vollführen ein Ritual, das wohl jedem Supermarktbediensteten die Tränen der Rührung und Begeisterung in die Augen treibt. Denn die wohl eher stets monotone, nüchterne Arbeit im Supermarkt wird durch das Intro von Stuber´s Normalverbraucher-Drama zu etwas ganz Besonderem, direkt Sakralem – zu einer verklärenden Liturgie eines sonst konformen Jobprofils. Fast erwartet man, dass Regalräumer und Lagerarbeiter auf Rollschuhen in geprobten Figuren durch die Gänge gleiten. Doch bevor das Schöne am Praktischen von anerkennender Aufmerksamkeit zur Parodie kippt, endet auch der Zauber des beginnenden Alltags, kurz bevor die Pforten öffnen – und der einkaufende Bürger als austauschbare Variable seine eigenen vier Wände mit Lebensmitteln versorgt.

Dieses Intro, das ist der größte inszenatorische Wurf in diesem zaghaften Kaleidoskop aus blauen Arbeitsmänteln, Getränkekisten, Automatenkaffee und Südseetapeten, die im Pausenraum den unerreichbaren Plan B für Mindestlohnbezieher symbolisieren. In den Gängen könnte furchtbar trist sein – ist es aber nur zum Teil. Die Schönheit des Ereignislosen, der Zauber des Raureifs auf den Äckern und das unbeschriebene Blatt des morgendlichen Himmels bekommt eine Aura des Unentdeckten, Spannenden. Als hätte Dokufilmer Nikolaus Geyrhalter, der eine Vorliebe für das Majestätische des Schlichten hat, ein Drehbuch von Ulrich Seidl verfilmt, selbst ein Unerschütterlicher, wenn es darum geht, ins Innerste gesellschaftlicher Milieus zu blicken. Doch so abstoßend wie Hundstage oder Import/Export ist In den Gängen keineswegs. Stets mit einer Menge Sympathie und fast schon fürsorglicher Liebe zu seinen genügsamen Figuren setzt Stuber eine unprätentiöse Romanze in Gang, welche sehnsüchtige Zugeständnisse in den Details versteckt, die im Überangebot einer Konsumgesellschaft verschwinden. Sie zu suchen, macht sich der Plot von In den Gängen zur Aufgabe. Und dennoch – wirklich glücklich macht das Drama über resignativ-disziplinierte Alltagsexistenzen eben trotzdem nicht.

Franz Rogowski als Ex-Häftling, der in seiner Arbeit als Staplerfahrer vorübergehend Erfüllung und neuen Halt im Leben findet, bleibt – verloren in den unendlich scheinenden Weiten des Großhandelsortiments – eine unnahbare, extrem introvertierte Gestalt, fast schon kafkaesk. Und wenn der gewissenhafte Helfer dann zu Wort kommt, ist er ob seines Sprachfehlers kaum zu verstehen. Sandra Hüller, dem Publikum gut bekannt als Tochter Peter Simonischek´s in Toni Erdmann, ist das sensible Aschenputtel in all den repetitiven Handgriffen, die das tägliche Werk von Angebot und Verkauf am Laufen halten. Und der, von dem man glaubt, die Dinge am Besten im Griff zu haben – nämlich Peter Kurth (Babylon Berlin) als Bruno – wird alle Anwesenden eines Besseren belehren. Drei Schicksale also, die jeweils als Kapitel den Film dritteln. Mal mehr, mal weniger lebensmutig. Und während man zusieht, wie mühsam sich das Leben dieser Angestellten weiterbewegt, wünscht man ihnen auch privat so etwas wie einen Gabelstapler, der das eigene kiloschwere „Pinkerl“ aus Frust, Flucht und schwankender Zuversicht leichter tragen und ertragen lässt. Doch dieses Gerät, das fährt nur in den Gängen hin und her, hebt und senkt sich. Und klingt dabei manchmal so wie das Rauschen des Meeres, das so unendlich fern ist. Dieses Abfinden der Umstände, dieses Strecken nach der Decke, mag ernüchternd kampflos sein, wenn es um Träume geht. Doch den Umständen einen Lebenswert abzugewinnen, ist die Kunst der kleinen Leute, die mit dieser Liebeserklärung zutiefst respektiert werden.

In den Gängen

The Square

SOS MITMENSCH

6/10

 

square© 2017 Alamodefilm

 

LAND: SCHWEDEN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, DÄNEMARK 2017

REGIE: RUBEN ÖSTLUND

CAST: CLAES BANG, ELISABETH MOSS, DOMINIC WEST, TERRY NOTARY U. A.

 

Vor einigen Jahren schuf der schwedische Filmkünstler Ruben Östlund mit dem satirischen Drama Höhere Gewalt eine messerscharfe Analyse menschlichen Verhaltens: Während eines Familienurlaubs in den französischen Alpen entgehen Mutter und Kinder nur knapp einem Lawinenabgang, während Papa in kopfloser Panik das Weite sucht und seine Liebsten im Stich lässt. Niemand kommt zu Schaden, aber dennoch: was sich danach abspielt, ist wert, zu beobachten. Vier Jahre später schreibt Östlund sein nächstes Werk – ein nicht weniger analytischer, in menschliche Verhaltensbiotope vordringender Zerrspiegel, der dem Homo sapiens auf eine Weise vorgehalten wird, die seltsam unwohl macht, manchmal lächerlich wirkt, und zeitweise verstört. The Square, mit der Goldenen Palme prämiert und für den Auslands-Oscar nominiert, ist ein Film, der mir ganz und gar nicht gefällt. Hinter dem aber ein Konzept steckt, das wiederum brillant ist.

Um nichts anders geht es hier, augenscheinlich betrachtet, als um einen Museumskurator, dem Smartphone und Geldbörse gestohlen wird. Der geht daraufhin zwecks Wiederbeschaffung seines getrackten Elektroteils in die Breitband-Offensive, die aber ungeahnte Wellen schlägt und den egozentrischen Schnösel und Vater zweier Kinder mit den Prinzipien seiner eigenen Lebensart konfrontiert. Umrahmt wird das Geschehen von einer Ausstellung, die den Altruismus zum Thema hat – und in scheinbaren Episoden, die ineinandergreifen, über das Kunstprojekt hinaus den normalen Bildungsbürger an sich zur Installation des Geplanten macht. Das ist sehr viel, was Östlund will, und sehr viel, was ihm anscheinend durch den Kopf geht. Und es spannt einen ziemlich deutlichen Bogen zu eingangs genanntem Werk, das sich im Grunde mit genau demselben Thema beschäftigt: Was ist nötig, um seine eigene Komfortzone zu verlassen und Zivilcourage zu zeigen? Wo liegt die Grenze, um uns selbstlos agieren zu lassen? The Square, also ein Geviert von 4×4 Metern, wird zu Beginn des Filmes unter den Klängen von Johan Sebastian Bach´s Ave Maria vor dem Museum für zeitgenössische Kunst ins Kopfsteinpflaster gesetzt. Ein Zufluchtsort soll es sein, für Respekt, Nächstenliebe und dem Anspruch, dass alle, die die neonbeleuchteten Grenzen der Installation überwinden, mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Wie seltsam, dass es dafür eine Zone braucht. Wäre das nicht selbstverständlich, für den anderen da zu sein? Macht das nicht das Menschsein aus, Hilfe zu leisten, wenn Hilfe vonnöten ist? Natürlich, was für eine Frage. Doch sind wir wirklich bereit dazu? Begeben wir uns nicht selber in Not, wenn wir helfen würden?

Anderen Filmemachern möge die Gewichtigkeit solcher sozialphilosophischen Fragen in all ihrer Euphorie zu Kopf steigen und ihr Werk überfrachten. Östlund passiert das nicht. Seine Szenen sind scheinbar beiläufig, unexaltiert und fast schon so voyeuristisch wie eine Dokusoup. Ein Aufriss bei einem Clubbing, ein Interview über Kunst, Sex mit einer flüchtigen Bekannten – und ein Hilferuf auf offener Straße. Dieser Ruf nach Beistand, der zieht sich durch den ganzen zweieinhalbstündigen Film. Ebenso wie all die Obdachlosen am Straßenrand, in der Einkaufspassage. Oder im Geviert, das Schutz verspricht. Wo ein blondes, verwahrlostes Kleinkind auf Schutz und Hilfe hofft – und von unsichtbarer Hand in die Luft gesprengt wird. Das ist heftiger Tobak, ist aber ein Promotionfilm, der auf die kommende Ausstellung der Künstlerin Kalle Boman, die tatsächlich existiert und tatsächlich dieses Quadrat in der schwedischen Stadt Värnamo installiert hat, aufmerksam machen soll. Das erinnert natürlich an die Geschmacklosigkeiten, die seinerzeit Benetton an die Plakatwand gepappt hat. Das ist eine plumpe, aber effektive Methode der Werbung, die habe ich während meiner Ausbildung zum Grafiker selbst erprobt. Nichts erreicht mehr Response als die schlechte Nachricht, der Skandal, das Unethische. Das ist aber nur eine der narrativen Spitzen von The Square, und dabei will der Film eigentlich überhaupt nicht die moderne Kunst bloßstellen oder als heiße Luft demaskieren. Ganz im Gegenteil. Was hinter dem Konzept Boman´s steckt, ist durchdacht, klug und bewegt den Besucher zur Interaktion. Kunst, die muss längst nicht mehr handwerklich erstaunen. Kunst, die ist viel mehr nur noch eine abstrakte Idee oder ein Gedanke, der sich durch den Kontext alltäglicher Materialien manifestiert. Das hat schon der Franzose Marcel Duchamp gewusst, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sanitärkeramiken zum Kunstwerk erhob. Der Dadaismus ist entstanden, die Idee, Kunst an sich zu hinterfragen. Nicht unbedingt gefällig und schön anzusehen, aber vom Konzept her fast schon genial.

Mit The Square verhält es sich genauso. Östlund´s dunkel-humorige Reise hinter die  verqueren Demarkationslinien menschlichen Handelns ist unbequeme Provokation. Wenn die Grenzen zwischen Tier und Mensch verschwimmen und ein Aktionskünstler in äffischem Verhalten die instinktiven Scheuklappen einer noblen Gesellschaft aktiviert, um die Grenze der Zivilcourage erst knapp vor einer gespielten Vergewaltigung auszuloten, ist eine der verstörendsten Szenen seit langem und erinnert an die Radikalität der Theaterstücke eines Elias Canetti oder Peter Turrini. Wie weit muss man gehen, um zur Intervention zu bewegen? Auch hier ruft die an den Haaren gezogene Dame um Hilfe, und alsbald auch das Gespenst des schlechten Gewissens bei Kurator Claes Beng, der seine eigene Feigheit mit dem Umgang anderer erkennt. Östlund ist ein Filmstratege, ein scharfer Analytiker, der die soziale Verkümmerung des gebildeten Establishments auf nachhaltig irritierende Weise verurteilt. Seine bizarren Szenen über den Verlust von Vertrauen und Respekt wagen soziale Umkehrungen, stellen experimentelle Aufgaben. Angenehm ist das Ganze nicht, Spaß macht es eigentlich auch keinen, und es fordert, auch wenn man gelegentlich lachen muss – doch warum eigentlich? Wie sehr bin ich bei Betrachten dieses Filmes selbst Teil dieser Ausstellung, dieses beklemmenden Manifests? Bin ich noch Affe, oder schon Mensch? Der Affe in uns, der hat auch hier seine metaphorische Rolle.

Selten gibt es Filme, die so eine psychosoziale Ohrfeige verpassen. Das tut weh, und es gefällt mir nicht, und dann frage ich mich: brauche ich das denn? Allerdings: muss The Square überhaupt gefallen? Sollte der Film nicht eher aufwühlen? Letzteres tut er, und das mit System. Und wir stellen fest: The Square kann überall sein. Egal, wo wir sind. Am liebsten jenseits unserer Komfortzone. Dort, wo wir uns genauso wenig wohlfühlen wie in diesem Film.

The Square