Rust – Legende des Westens (2024)

DIE SONNE UND DEN TOD IM RÜCKEN

7,5/10


© 2024 Splendid Film


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JOEL SOUZA

KAMERA: HALYNA HUTCHINS, BIANCA CLINE

CAST: ALEC BALDWIN, TRAVIS FIMMEL, PATRICK SCOTT MCDERMOTT, FRANCES FISHER, JAKE BUSEY, JOSH HOPKINS, DEVON WERKHEISER U. A.

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Für sein zweiteiliges Westernepos Horizon hätte sich Oscarpreisträger Kevin Costner vielleicht noch Kamerafrau Halyna Hutchins ans Set holen können. Mit diesen Bildern in petto wäre sein Werk wohl richtig veredelt worden – was nicht heisst, dass er (zumindest nach Sichtung des ersten Teils) nicht schon Anstrengungen genug unternommen hätte, um qualitativ zu punkten. Der etwas andere Film, nämlich Rust – Legende des Westens von Joel Souza, mag zwar nicht ganz so komplex wie Costners privat finanzierter Kraftakt sein, in welchem mehrere Handlungsfäden und die Schicksale unterschiedlichster Charaktere zusammenlaufen, kann sich aber in buchstäblichem Sinne wirklich sehen lassen. Hutchins hat dafür hart kontrastiere, dunkle Bilder geschaffen, auf denen die Sonne selten bis gar nicht im Zenit zu sehen ist. Schattenrisse vor Morgendämmerungen und hereinbrechenden Nächten, überhaupt bleibt anfangs das Konterfei von Alec Baldwin im Dunkeln, die Takes sehen aus wie Panels einer Graphic Novel. Und dann, wenn der weißbärtige Großvater aus dem Gegenlicht tritt: harte Gesichter, entsättigt, müde vom Leben, desillusioniert. Es sind Figuren, die einer wie Nick Cave wohl in seinen Balladen hätte. Melancholischer Nihilismus aus einer posttraumatischen Nachkriegszeit der USA, und dennoch nicht zynisch, resignierend, sondern immer noch aufmüpfig.

Die Tragik hinter der Tragik

Es ist, als wäre die Tragödie um die Entstehung von Souzas Film auch in den fertigen Film transmigriert. Und wir alle wissen: Rust – Legende des Westens ist aus einem einzigen Grund in die Filmhistorie eingegangen: Dem fahrlässig herbeigeführten Tod einer Kamerafrau durch das Abfeuern einer mit scharfer Munition geladenen Faustfeuerwaffe. Verteilt über den Film, wird gar nicht mal so viel geschossen, einige Szenen haben es aber in sich, da hagelt es Patronen, kreuz und quer, die Kamera immer nah dran. Es lässt sich ausmalen oder vermuten, wo denn das Unglück passiert sein könnte. Diese Erschütterung nimmt der Film letztlich mit sich, und lässt auch Baldwin keine sonderliche Freude mehr daran haben, hier seine Rolle weiterzuspielen. Doch genau das, diese Sehnsucht nach einem Ende der Verpflichtung, kommt dem Charakter seiner Figur entgegen – dieses vergrämte Bewusstsein und der Wunsch nach Absolution, hat er doch die Waffe, die Hutchins den Tod brachte, höchstselbst in Händen gehalten. Lieber hätte er die Kugel abbekommen, und nicht jemand anderes.

Dieses Mindset einer Opferbereitschaft nutzt der weißbärtige alte Shootist und Outlaw, der titelgebenden Namen trägt, nämlich Harland Rust, um seinen Enkel Lucas, gerade mal dreizehn Lenze, davor zu bewahren, aufgrund eines Jagdunfalls mit Todesfolge am Strick zu baumeln. Der Alte befreit den Jungen aus dem Kittchen, bald sind beide unterwegs Richtung Mexiko, um der Gerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten zu entgehen. Dabei ist den beiden nicht nur das Gesetz in Gestalt des Marshalls und seiner Entourage auf den Fersen – auch ein Kopfgeldjäger in adrettem Schwarz und verstohlenem Blick, wie einst Lee van Cleef ihn hatte, folgt ihren Spuren. Den verkörpert der selten gesehene Vikings-Star Travis Fimmel mit Enthusiasmus, unterdrückter Aggression und zwielichtigem Kodex.

Dem Genre treu ergeben

Alles wird letztlich auf einen Showdown in klassischem Stil hinauslaufen. Bis dahin aber übt sich Souza in der Empfindung seines auf Stimmung setzenden Fluchtdramas, das sich in seiner Schwermut am wohlsten fühlt, die Enkel-Opa-Beziehung nicht übers Knie bricht, sondern unbewusst und fast unbeobachtet wachsen lässt. Dabei vergisst Souza auch nicht, die Befindlichkeiten der Verfolger zu beleuchten, zumindest in wenigen Details, die aber sind gut gewählt. Rust – Legende des Westens ist ein Western mit viel Gefühl und Sorgfalt, niemals überhastet, kontemplativ in der Betrachtung von Tag und Nacht.

Der Film wagt keine Hakenschläge, denn er weiß, welche Ambitionen er sich leisten kann. Es sind die weiten Landschaften als Spiegel einer ruhelosen Einsamkeit, einer Sehnsucht nach Verantwortung. Und das Tilgen von Versäumnissen. In diesem Fall vor und hinter der Kamera.

Rust – Legende des Westens (2024)

Exhuma (2024)

HEITE GROB MA TOTE AUS

5,5/10


Exhuma© 2024 Splendid Film


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2024

REGIE / DREHBUCH: JANG JAE-HYUN

CAST: KIM GO-EUN, CHOI MIN-SIK, LEE DO-HYUN, YOO HAE-JIN, JEON JIN-KI U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass kein einziger koreanischer Film jemals kürzer sein darf als zwei abendfüllende Stunden. Am liebsten sind Filme wie diese noch länger, am liebsten hängen sie noch eine halbe Stunde dran. Das bedeutet Sitzfleisch – und einen wachen Geist. Denn die Koreaner, die geben sich nicht damit ab, nur einen singulären Erzählstrang abzuarbeiten – mit anderen Worten: banales, simples Kino, das von Alpha bis Omega schön stringent seine Geschichte erzählt. Geradlinig darf sie sein, jedoch niemals nur eine Dimension besitzen. Da gibt es Meta-Ebenen und Stile, die sich gegenseitig übertrumpfen. Da gibt es Wendungen, Twists und kuriose Begebenheiten, kurzum: womöglich bleibt alles da, wo es drehbuchtechnisch sein soll. Andernorts hätte man schon das Publikum unterfordert und den Rotstift angesetzt, Passagen gestrichen und all die knackige Originalität eingekürzt. Eine Methode, wie es in der US-Filmbranche, zum Leidwesen eines unterschätzten und gähnend gelangweilten Publikums, immer wieder geschieht. Das stets geforderte koreanische Publikum indes ist schon von Kindesbeinen an mit Filmen großgeworden, die stets für Überraschung sorgen und keinen Publikumsparametern folgen wollen. Koreanisches Kino bleibt stets erfrischend. Bleibt immer anders. Und kann sich eben auch Filme wie Exhuma erlauben, die viel zu lange geraten, weil sie viel zu viel erzählen wollen.

Wenn man glaubt, bereits am Ende angelangt zu sein, ist schließlich erst eine Stunde verstrichen, was bedeutet, dass der vollgestopfte Schamanen-Thriller nicht mal noch Halbzeit erreicht hat. Dabei ist die Story schon erzählt, der Geist entfesselt, der Fluch getilgt. Nichts da – Regisseur Jang Jae-hyun weckt die Totenruhe nicht nur einmal, stört die metaphysische Ordnung im magischen Wäldchen auf ein neues. Bringt Unfrieden und will vom Bösen durchsetzte Grabstätten umbetten. Exhuma erzählt eine Menge, lässt beschwören, bekämpfen und besessen sein. Die zweieinhalb Stunden hängen sich rein.

Dabei ist es faszinierend, dabei zuzusehen, wie so ein schamanistisches Ritual abläuft, wenn tote Schweine aufgebahrt und eine bunt gewandete Spiritistin die Messer schwingt. Schließlich geht es darum, böse Mächte abzulenken, damit der schmuck verzierte Sarg des Ur-Patriarchen einer wohlhabenden koreanischen Familie, die längst in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist, ausgehoben werden kann. Denn deren Opa, der spukt schließlich herum und belegt den jüngsten Spross seiner Dynastie mit Flüchen, quält die Lebendigen mit Alpträumen und stänkert so richtig auf paranormaler Existenzebene durch die Gegend. Feng-Shui-Meister Kim ist bei dieser Aktion alles andere als wohl bei der Sache, die beiden Schamanen Lee und Oh können den alten, erfahrenen Experten aber davon überzeugen, diesen Auftrag durchzuführen. Dass dabei noch ganz andere Mächte zurück ins Diesseits beordert werden, damit hätte wohl niemand gerechnet. Die Welt der Götter wird gestört, noch viel Älteres betritt die Bühne der Gegenwart, dessen Existenz bis in die Zeit der japanisch-koreanischen Kriege zurückreicht.

Das Ensemble der Spezialisten steht bald mit dem Rücken zur Wand, es geistert und spukt, das Phantastische ist Jang Jae-Hyun aber näher als der schreckgespenstische Horror. Hätte Neil Gaiman ein Austauschjahr in Südkorea verbracht und dort so manche seiner magischen Anderswelt-Geschichten geschrieben, er hätte Exhuma entwickeln können. Und obwohl hier kaum Leerlauf herrscht in diesem Abenteuer, es immer was zu tun gibt und niemand wirklich zum Durchatmen kommt – Exhuma ist ein anstrengendes, wie bereits erwähnt überlanges und unruhiges Werk, welches knapp vor Filmmitte seinen bisher so geschmeidigen Erzählfluss verliert. Was dann folgt, ist eine fast schon neu erzählte, ganz andere Geschichte, die mit der vorangegangenen nur noch wenig zu tun hat. Zwei Schamanen-Stories im Doppelpack? Nach einer Laufzeit von einer Stunde und fünf Minuten lässt sich der Rest des Films gut vertagen.

Exhuma (2024)

Mater Superior (2022)

EIN HAUCH VON MODER

4/10


mothersuperior© 2022 Splendid Film


ORIGINALTITEL: MOTHER SUPERIOR

LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: MARIE ALICE WOLFSZAHN

CAST: ISABELLA HÄNDLER, INGE MAUX, JOCHEN NICKEL, TIM WERTHS, FLORIAN TRÖBINGER, TOMMY GFÖLLER, PATRICIA AULITZKY, DIANA REUCHLIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 11 MIN


Marie Alice Wolfszahn. Diesen Namen muss man sich merken, es geht gar nicht anders. Im Gedächtnis bleibt dieser aber weniger aufgrund dessen, was nämliche österreichische Filmemacherin so inszeniert hat, sondern vielmehr aufgrund des phonetischen Klangs an sich. Wolfszahn hat einen gänzlich unter dem Radar heimischer Kinoauswertungen laufenden, gediegenen Herrenhaus-Grusel inszeniert, der zumindest die Ehre erfahren durfte, im Rahmen des Slash Filmfestival 2022 auf der großen Leinwand gezeigt zu werden. Schauplatz ist ein dem Zahn der Zeit ausgeliefertes, schmuckes Anwesen im Gebiet um den Semmering, das ist für Nichtkenner der österreichischen Landkarte im Süden des Bundeslandes Niederösterreich. Wir schreiben das Jahr 1975, der Weltkrieg mitsamt seines Nazi-Regimes liegt auch schon 30 Jahre in der Vergangenheit, und dennoch ist dieses alte Gemäuer namens Rosenkreuz inmitten von Grün und fernab jeglicher anderen Infrastruktur von einer reaktionären Aura umgeben, als wäre es ein Tor in eine traumatische Zeit. Abschrecken lässt sich die junge Krankenpflegerin Sigrun davon nicht, die von nun an bei Baronin Heidenreich nach dem Rechten sehen wird. Ebenfalls in den Diensten der Alten befindlich ist der verschrobene, lakonische Hauswart Otto (brummig: Jochen Nickel). Als ungleiches Trio geistern sie von nun an rund 70 Minuten durch eine seltsame Welt aus verfallenen, geradezu postapokalyptisch anmutenden Räumen, kafkaesker Archive und Okkultem, das in seiner praktischen Umsetzung unfreiwillig komisch wirkt. Baronin Heidenreich war mal Aufseherin in einem dieser faschistoiden Geburtshäuser, die man auch Lebensborn-Heime nannte. Klein Sigrun dürfte damals genau dort zur Welt gekommen sein, von ihren Eltern weiß sie so gut wie gar nichts. Ihre Anstellung ist demnach nicht sozial motiviert, sondern hat genau diesen Hintergedanken – nämlich, der alten Nazi-Dame jene Geheimnisse zu entlocken, die ihre Existenz betreffen.

Was in diesem Gothic-Mysterium dann sonst so passiert, ist vermutlich so sperrig wie all die windschiefen Türen in diesem historistischen Bau, die nicht mehr in ihren Türstock passen und von einer zugigen Halle in die andere führen. Immer wieder mal erscheint die in Brautmoden gehüllte, titelgebende Mater Superior, auf Deutsch Mutter Oberin, niemals ist ganz klar, wer damit gemeint ist und welchen Mehrwert diese personifizierte Allegorie denn eigentlich hat. Inge Maux gibt sich ganz neureich, vorgestrig österreichisch und hat jede Menge dunkle Vergangenheit zu verbergen, doch mit dieser setzt sich Wolfszahn nur flüchtig auseinander. Keine Ahnung, was Inge Maux hier treibt, welche Funktion dieser Otto eigentlich hat und was das für ein Kult ist, den beide praktizieren.

Mater Superior kolportiert bedeutungsschwere Schauerromantik, die eine Spurensuche illustriert, die dank der historischen Komponente genug Tiefgang mitbringen hätte sollen. Die Praxis macht der Theorie aber einen Strich durch die Rechnung. Alle drei Figuren, sowohl Inge Maux als auch Isabella Händler und Jochen Nickel füllen zwar ihre Rollen aus, doch diese sind zu dürftig skizziert, um einer direkten Konfrontation untereinander standzuhalten. So sind die Biographien der beiden weiblichen Filmfiguren mehr als vage und irgendwie seperat, es fehlt der Bezug oder die Relevanz oder auch nur ein driftiger Grund, um motiviert genug zu sein, die Indizien zusammenzuzählen.

Schöne Bilder allein retten Mater Superior auch nicht vor seiner heillosen Konfusion, vor seiner unzusammenhängenden Erzählweise und gar vor einer völligen Verwirrung am Ende des elegischen Lost Places-Horrors, dessen Twist auf keiner erkennbaren Vorahnung beruht. Es ist, als hätte die Geschichte vergessen, auf seine Conclusio hinzuarbeiten. Was bleibt, sind Stuck, Staub und ein Hauch von Moder.

Mater Superior (2022)

Gletschergrab (2023)

NAPOLEONS REISE NACH ISLAND

6,5/10


gletschergrab© 2023 Splendid Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ISLAND 2023

REGIE: ÓSKAR THÓR AXELSSON

DREHBUCH: ARNALDUR INDRIÐASON & MARTEINN THORISSON

CAST: VIVIAN ÓLAFSDÓTTIR, JACK FOX, IAIN GLEN, WOTAN WILKE MÖHRING, ÓLAFUR DARRI ÓLAFSSON, ADESUWA ONI, NANNA KRISTIN MAGNÚSDÓTTIR, SABINE CROSSEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Diese Insel hoch im Norden steht wohl bei vielen Gutverdienern auf der Reiseliste: Island. Dort lässt sich am besten auf eigene Faust die Gegend erkunden; jede Menge Wasserfälle, Gletscherzungen und Küstenstriche laden als Hot Spots zum Verweilen ein. Die Geldbörse möge bitte prall gefüllt sein, denn kostspielig wird das ganze Abenteuer mit Sicherheit. Der finanzielle Aufwand würde sich noch mehr rentieren, hätte man das Glück, den einen oder anderen verborgenen Schatz zu finden. Nun, nicht zwingend einen, den Zwerge, Trolle oder Brunhild aus den Nibelungen irgendwo versteckt haben – sondern vielleicht einen, dessen Wert und Ursprung wohl eher in der Geschichte Europas liegt, insbesondere in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Dieser Schatz lässt sich zwar nicht in einen Goldesel umwandeln, der das nötige Kleingeld spuckt, sondern vielleicht in mediale Aufmerksamkeit, vielleicht in einen für ein paar Wochen anhaltenden kleinen Zeitungsruhm, verursacht durch Journalisten, die einen selbst peinlich befragen.

Dieser Schatz ist in der Bestseller-Verfilmung Gletschergrab ein Passagierflugzeug aus dem Nazi-Hangar, bruchgelandet gegen Ende des Krieges. Dank der Klimaerwärmung und der damit einhergehenden Gletscherschmelze wird das Dach eines mehrere Dekaden im Eis konservierten Vehikels sichtbar, und zwar über viele Kilometer hinweg, denn alles, was nicht so strahlt wie das drumherum befindliche Eis, zieht selbstredend die Aufmerksamkeit jener spärlichen Besucher des Vatnajökulls auf sich, die hier Sport betreiben. Einer davon ist Jetski-Fahrer Elias, dem es sogar gelingt, in das Flugzeugswrack einzusteigen und alles, was sich darin noch befindet, als Social Media-Reel abzufilmen, darunter die Leichen der Piloten mit US-Wappen an ihren Jacken – ein Umstand, der mit dem Hakenkreuz am Seitenleitwerk nur schwer vereinbar scheint. Ehe sich der Selfmade-Abenteurer versieht, tanzen seltsame Gestalten an, die Böses im Schilde führen – und Elias kurzerhand in ihre Gewalt bringen. Was sie nicht wussten: dieser Junge hat eine Schwester namens Kristin (Vivian Ólafsdóttir), die sich umgehend auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder macht, und im Zuge dessen so einiges aufdecken wird, was irgendwie mit der supergeheimen Operation Napoleon zu tun hat. Keiner weiß, was das ist, womöglich nicht mal die, die diese Mission initiiert haben. Nur eines ist gewiss: Der US-Geheimdienst hat da ein Wörtchen mitzureden.

Das Beste an Gletschergrab ist nicht nur, dass dieser Verschwörungs- und Geheimdienstthriller deutlich mehr Zunder gibt als so viele überteuerten, stargespickten Eventfilme, die sich am Genre des stuntlastigen Agentenfilms versuchen. Das Beste an diesem Streifen ist auch, dass lange, wirklich erstaunlich lange niemand weiß, wobei es sich um diese ominöse Fracht, die einst mit dem alten Luftbrummer transportiert worden war und dann verschwunden ist, handeln könnte. Bei all dieser Geheimniskrämerei, diesem völlig im Dunklen tappen – angesichts dieser großen Frage, wofür all dieser Ärger, braucht sich niemand krämen und glauben, als einziger dumm sterben zu müssen, haben doch all die Protagonisten das gleiche Fragezeichen über der Stirn, im Gegensatz zu den sinistren Geheimdienstlern, darunter Game of Thrones-Star Iain Glen, der als eine Art verbissener und wenig zimperlicher Anti-James Bond im Roger Moore-Style die Interessen seiner Auftraggeber verfolgt. Durch die multinationale Besetzung verbreitet Gletschergab ähnliche Vibes, wie sie bei staatenübegreifenden Großproduktionen fürs Fernsehen ab und an zu spüren sind – gerade immer dann, wenn für einen besonderen Kriminalfall Expertisen aus aller Herren Länder gefragt sind – insbesondere aus europäischen. So kommt es, dass Óskar Thór Axxelsons Verfilmung des Romans von Arnaldur Indriðason wie ein teures, aber bodenständiges Fernsehspiel wirkt – was aber ausnahmsweise nicht zum Nachteil gereichen sollte. Vielleicht entsteht der Eindruck aufgrund einer mehr auf Dialogen und sozialer Konfrontation, und viel weniger auf kostspielige Schauwerte setzenden Erzählweise. Da reicht das Konstrukt des Fliegers im Eis, da reichen die Landschaften Islands, da braucht es keinen Mission Impossible-Overkill (der zugegeben stets perfekt inszeniert ist).

Mit dem Rätselraten um die Büchse der Pandora, mit der investigativen Suche nach Etwas, wovon keiner so genau weiß, was es ist, sichert sich Gletschergrab die Aufmerksamkeit seines Publikums. Das passiert immer dann, wenn die Charaktere im Film den selben Wissensstand haben wie wir. Das ist schließlich weder arrogant noch ignorant noch allzu gefällige Langeweile – sondern Thrillerkost auf Augenhöhe ohne Eitelkeiten, die kurzweilig bleibt und Spaß macht.

Gletschergrab (2023)

The Lake (2022)

STILLE WASSER SIND FIES

4,5/10


thelake© 2023 Splendid Film


LAND / JAHR: THAILAND 2022

REGIE: LEE THONGKHAM, AQING XU

DREHBUCH: LEE THONGKHAM

CAST: THEERAPAT SAJAKUL, LAMYAI HAITHONGKHAM, VITHAYA PANSRINGARM, SUCHARAT MANAYING, THANACHAT TULLAYACHAT, SOMPHONG KUNAPRATOM U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber denke ich an die thailändische Kinolandschaft, fällt mir als erster der unaussprechliche Apichatpong Weerasethakul ein – Kunstfilmer und Festival-Liebling, Spezialist für alles Paranormale, jedoch auf eine Art und Weise, die den Animismus als inhärenten Teil unseres Alltags ansieht. Schön ist das, auch zutiefst magisch, aber nicht unbedingt leicht zugänglich. Des Weiteren gäbe es da noch den Martial Arts-Klassiker Ong Bak oder den knallbunten Western Tears of the Black Tiger. Auch mancher Horror (z.B. Shutter oder – ganz aktuell – The Medium) aus dem im Westen beliebten, für Massentourismus anfälligen, tropischen Urlaubsland erfreut sich an weltweiter Bekanntheit.

Mit dem Blick auf Kinotrends aus Hollywood, Japan oder Südkorea will Thailand in seinen Produktionen keinesfalls hinten nachstehen. Ist es mal keine True Story-Nachverfilmung jener Rettungsaktion der in einer Höhle im Nordwesten Thailands eingeschlossenen Fußballmannschaft, steigen gerne auch mal dem feuchten Habitat angepasste Wasserwesen aus den Seitenarmen des Mekong, um alles und jeden in Angst und Schrecken zu versetzen. Denn Thailand setzt immer noch auf den X-Faktor, was den Glauben an kryptozoologische Phänomene angeht. Was in den Untiefen des Landes vielleicht noch alles entdeckt werden kann – diese Spekulationen manifestieren sich in der regennassen Monsun-Mystery The Lake von Action- und Horrorprofi Lee Thongkham. So einiges Schleimiges möchte hier Land gewinnen und die arglose Bevölkerung, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, in Panik versetzen. Dabei reagieren die Monstrositäten, die dem Schrecken des Amazonas durchaus das Wasser reichen können, ganz unterschiedlich auf das fliehende und kreischende thailändische Volk. Es gibt auch solche, die unfreiwillig eine mentale Symbiose mit diesen Kreaturen eingehen, was es folglich schwieriger macht, sie zu besiegen. Doch wo ein Wille, da ist in Werken wie diesen immer ein Weg.

Gerade im Hinblick auf dieses Genre will man Filme auf die Beine stellen, die alle Stückchen spielen. Klar, dass diese aber aufgrund budgetärer Engpässe nur teilweise erklingen. Was es dann braucht, sind Improvisationstalent und magiergleiche Eigenschaften, die das Wunder vollbringen, den Anschein einer künstlerischen Ambition genau dort zu hinterlassen, wo eigentlich nichts ist. The Lake schafft in so manchen Szenen und zusätzlich kaschiert durch das Regenwetter richtig gute Takes, die das oder die Monster formschön ins Szene setzen. In diesen Momenten haben wir es mit ordentlichem CGI zu tun, das sich sicher so einiges hat kosten lassen. Dann gibt es die anderen Passagen, in denen die Kreatur gerne Latex trägt, und das sieht man. Genauer gesagt: nicht nur wir, auch die Filmemacher selbst. Mit deplatzierten Unschärfen und Close Ups in Bewegung überschminkt The Lake seine Problemstellen. Auch das fällt auf. Aber nicht als Stilmittel, sondern als provisorische Ansatzlösung. Hinzu kommt ein Skript, das vor allem mit seinen Dialogen der melodramatischen, immerfeuchten Düsternis ein dramaturgisches Bein stellt. Banales Wortpingpong schmückt die sentimentale Selbstqual so mancher Protagonisten, dick aufgetragen wäre fast schon schöngeredet. In seiner Essenz birgt die Story, ähnlich wie in Bong Joon-hos Tentakeldrama The Host, einiges an kernigem Konfliktpotenzial, doch immer wieder lenken so manche Qualitätsschwankungen von einem grundsätzlich faszinierenden Monsterdrama ab, das in metaphysischer Melancholie abtaucht, während der brüllende Seeufer-Godzilla mal organisch greifbar, dann wieder nur Puppe, die Szene fletscht.

The Lake (2022)

Willy’s Wonderland (2021)

AUFWISCHEN UND AUFMISCHEN

5,5/10


willys-wonderland© 2021 Splendid Film


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: KEVIN LEWIS

BUCH: G. O. PARSONS

CAST: NICOLAS CAGE, EMILY TOSTA, BETH GRANT, RIC REITZ, CHRIS WARNER U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Wer ist wohl die coolste Socke auf Gottes Erde? Na, wer? Natürlich Nicolas „Nic“ Cage, der sich gar nicht mal bemüßigt fühlen muss, irgendetwas von dem, was er tut, argumentativ zu untermauern. Cage muss gar nichts sagen. Es versteht ihn auch so ein jeder. Und wer nicht hinhören will, muss eben fühlen. Erst seit Kurzem overactet der Neffe Francis Ford Coppolas als die Ikone des Phantastischen schlechthin über die Leinwand – als Graf Dracula in Renfield, mit spitzen Zähnen und einer Blutgier, die ihresgleichen sucht. Eine Zeit lang war der Mann verliebt in Dutzendware, deren Produzenten ihn als Aushängeschild geliehen hatten. Macht nichts, gutes Geld war das allemal. Und dann gab’s so einiges an der künstlerischen Independent-Front, was ihm dazu verhalf, wieder ganz oben mitzumischen. Wobei: Weg war er nie. Und gottergebener Trashfilm-Veredler, der sich dem Schicksal eines ausrangierten Schauspielers hingeben muss, auch nicht. Weil es vielleicht nur ihn geben kann, um Filme wie Willy’s Wonderland herauszubringen.

Ganz ehrlich: Wer hätte diesen Mann ohne Worte, der sich nicht zu gut dafür ist, die Hände schmutzig zu machen, sonst noch spielen können? Frank Grillo? Dolph Lundgren? Vielleicht „Sisu“ Jorma Tommila, der in seinem Nazi-Actioner auch keine großen Reden schwang. Aber Cage, der ist exaltiert und verrückt genug, um sich auch nicht zu gut dafür zu sein, mit den Puppen zu tanzen, die als mechatronisches Aushängeschild und reif für den Requisiten-Flohmarkt im längst geschlossenen Vergnügungspark namens Willy’s Wonderland vor sich hindämmern. Wer noch keine fünf Nächte bei Freddy’s war, kann für einmal Overnight zumindest hier vorbeischauen – und Cage beim Aufräumen zusehen. Mit welcher ehrgeizigen Konsequenz er das durchzieht, ist beeindruckend. Und die ganze, knapp 90minütige Fieberträumerei wäre eine Ode an den Putzmann geworden, gäbe es da eben nicht diese mordlüsternen, menschengroßen Fabelwesen, die dem wortlosen Mr. Saubermann ans Leder wollen. Der muss nämlich die Nacht hier verbringen, um die Reparatur seines Wagens zu finanzieren. Was er nicht weiß: Niemand rechnet damit, dass Cage hier noch lebend rauskommt. Und als dann noch eine Gruppe Jugendlicher die Bude abfackeln will, weil sie weiß, was da abgeht, wird’s so richtig haarig. Und man wundert sich, wie unfähig sich Young Adults anstellen können, wenn sie in einem Horrorfilm mitspielen, der nur dazu geeignet ist, einen Schlachtplatten-Countdown einzuläuten, bei dem weniger das Blut, sondern viel mehr das streng riechende Maschinenöl spritzt.

Warum Nicolas Cage immer zu einer gewissen Zeit seinen Energydrink hinunterkippen muss und ganz versessen darauf ist, den von ihm blankpolierten Flipper-Automaten zu besiegen, während ringsherum schreiend die Next Generation zu Boden geht, wissen wir nicht. Umso kurioser mutet das ganze Szenario an, welches aber, so sehr es auch zu seiner Mission steht, sinnbefreites Grunge-Entertainment zu sein, mit seiner beizeiten vorgetragenen Background-Story für Verwunderung sorgt. Im Laufe des Films „entpuppen“ sich die acht Roboter nämlich als gar nicht mal so widerstandsfähig. In Anbetracht dieser Tatsache erscheint die Prämisse des Plots nicht mal, wenn man beide Augen zudrückt, als haltbar. Kippt diese weg, gemeinsam mit der konstruierten Unterlegenheit der Opfer, bleibt nur ein sich selbst parodierender Nicolas Cage mit Understatement, der all dieses Drumherum gar nicht gebraucht hätte. Ob er schon mal überlegt hat, in einer Reality-Soap mitzuwirken, in welcher er einfach nur anderen hinterherräumt? Könnte was werden.

Willy’s Wonderland (2021)

Dead for a Dollar (2022)

IM WESTERN NICHTS NEUES

3,5/10


deadforadollar© 2022 Splendid Film


LAND / JAHR: USA, KANADA 2022

REGIE: WALTER HILL

BUCH: WALTER HILL, MATT HARRIS

CAST: CHRISTOPH WALTZ, WILLEM DAFOE, RACHEL BROSNAHAN, WARREN BURKE, BRANDON SCOTT, HAMISH LINKLATER, BENJAMIN BRATT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Walter Hill ist zurück! Der Grand Signeur des wenig zimperlichen Actionkinos hatte letztes Jahr zu den Filmfestspielen in Venedig seinen brandneuen Western mitgebracht, und zwar einen mit niemand geringerem als dem mittlerweile etwas überschätzten Christoph Waltz in der Titelrolle. Co-Star ist Allrounder Willem Dafoe, und der Titel des Streifens kann sich gerne an den Italowestern eines Sergio Leone anlehnen, wenn es heißt: Dead for a Dollar. Klingt gut, spricht sich auch gut, könnte sich gut verkaufen. Gerissen hat das Werk beim Festival aber nichts. Es kann auch gut sein, dass sich nach dem Abspann die Hälfte der Kinobesucher nicht sofort aus ihren Stühlen erhoben hat, da diese einem Schlummer anheimgefallen sein könnten, dessen Ursprung wohl die schleppende Erzählweise des Films war. Trotz des knackigen Titels und eines lethargischen Waltz, dessen süffisantes Grinsen Willem Dafoe die meiste Zeit übernehmen wird, will Dead for a Dollar niemals so recht in Schwung kommen.

Dabei wäre der Plot zwar verschwurbelt, aber gar nicht mal so einfallslos. Im Zentrum steht der Kopfgeldjäger Max Borlund, der nach Abliefern seiner aktuellen Beute im Provinzknast auf den Gauner Joe Cribbens stößt, den er damals hinter Gitter gebracht hat. Der schwört ihm: sollte ihm Borlund demnächst nochmal über den Weg laufen, wäre noch eine Rechnung offen. Der phlegmatische Borlund grinst nur warnend und nimmt wenig später den Auftrag eines reichen Schnösels namens Kidd an, dessen Frau womöglich entführt worden ist, und zwar von einem desertierten Soldaten der Armee. Beide haben die Grenze nach Mexiko passiert, also muss Borlund ihnen nach. Was dieser nicht weiß: Das Gebiet obliegt der Oberhoheit eines arroganten Gangsters namens Tiberio Vargas (Benjamin Bratt), der mit dem Deserteur einen Dollar-Deal abgeschlossen hat, um ihnen freies Geleit zu gewähren. Es stellt sich heraus, dass die Entführung mit Lösegeld gar keine war und Lady Kidd, die angeblich Entführte, mit ihrem Lover lediglich durchbrennen wollte. Geld gibt es also keines, und das macht nicht nur Vargas, sondern auch Borlund unrund. Letzten Endes treffen sich alle in einer staubigen Kleinstadt, um miteinander abzurechnen und den bestmöglichen Vorteil aus der verfahrenen Situation herauszuholen.

Was Christoph Waltz mit seiner Filmfigur allerdings nicht macht. Zumindest haucht er ihr nicht mehr Leben ein als notwendig. Sein Spiel ist gelangweilt und lustlos – so missglückt war noch keine seiner Arbeiten. Kann auch sein, dass sich Waltz immer noch zu sehr auf seinen Oscar-Lorbeeren ausruht, denn wirklich wendelbar sind seine Rollen seit damals allesamt kaum. Noch dazu wählt er als sein eigener Synchronsprecher ab und an die falsche Intonation, was nicht gerade dazu beiträgt, seine Rollen besser zu erden. Dahingegen weiß Dafoe viel besser zu improvisieren – doch auch bei ihm scheint der Funke und die Leidenschaft für einen Western wie diesen nicht überzuspringen. Einzig die bierernste Rachel Brosnahan zeigt etwas mehr Engagement, doch nur im Vergleich zu ihren Kollegen. Walter Hill scheint das alles nicht sonderlich zu tangieren. Er lässt seinen Cast einfach machen und wählt wohl, wie es den Anschein hat, für jede Szene die erste Klappe. Dead for a Dollar ist ein Western, der so viel besser hätte sein können. Doch so fahlbraun und entsättigt wie die Bildwelten des Films sind nicht nur Schauspiel und Setting, sondern auch der kraftlose Inszenierungsstil, der noch dazu mit regressiv wirkenden Fade Outs verwundert.

Mit einem Western, der so seine Versprechungen macht, aber nicht hält, fügt Walter Hill, der in den Neunzigern für Genrewerke wie Geronimo oder Wild Bill verantwortlich zeichnete, kein wirklich krönendes Highlight seinem Schaffen hinzu. Und es ist, als wäre dieser Umstand allen Beteiligten schon vorab seltsam bewusst gewesen. Wofür das endenwollende Engagement letztlich sprechen würde.

Dead for a Dollar (2022)

Anna und die Apokalypse

ZUCKERSTANGEN FÜR ZOMBIES

6,5/10


annaapokalypse© 2018 Splendid Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: JOHN MCPHAIL

BUCH: ALAN MCDONALD, RYAN MCHENRY

CAST: ELLA HUNT, MALCOLM CUMMING, MARK BENTON, PAUL KAYE, CHRISTOPHER LEVEAUX, MARLI SIU, SARAH SWIRE, BEN WIGGINS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Wie sieht denn der Weltuntergang in einer schottischen Kleinstadt aus? Vielleicht genau so wie in diesem 2017 erschienenen Genremix, der sich gleich dreierlei Stilbrocken bedient, nämlich den Versatzstücken des Musicals, des Zombie- und zu guter Letzt des Weihnachtsfilms. Diese Zutaten fallen jedoch am schwächsten aus, und deswegen lässt sich Anna und die Apokalypse auch ganz bequem nach den Feiertagen genießen, wenn man auch schon ein bisschen genug hat von der ganzen Verwandtschaft, den Weihnachtsliedern und den vielen Keksen, die mittlerweile schon viel zu mürb geworden sind. Glockengeläut und Zimtstern-Folklore fehlt in diesem filmischen Wagnis so ziemlich ganz, dafür schneit es ab und an, aber der Schnee ist dann tags darauf, wenn alles den Bach runtergeht, sowieso schon wieder weg.

Mit Musicals kann man mich schwer hinter dem Ofen hervorholen, doch wenn einer wie John McPhail es drauf anlegt, einige Klischees konterzukarieren und etwas Neues daraus zu machen, noch dazu mit Gesangseinlagen, die tatsächlich mitreißen, so schenke ich Anna und die Apokalypse nicht nur einen Blick, sondern leihe ihr auch ein Ohr. Wer überdies Stranger Things mochte und vielleicht gar nicht will, dass die schönste Zeit des Jahres bald vorbeigeht, der kann der Weihnachtsaufführung an einer High School in New Haven entgegenfiebern, die am Tag vor Heiligabend über die Bühne gehen wird. Was alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Hier bahnt sich womöglich das letzte Weihnachten im Rahmen einer zivilisierten Menschheit an, denn ein Virus greift um sich, das aus allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, zu Zombies macht. Wie diese Kreaturen ticken, wissen wir natürlich zu Genüge. Sie schlurfen und torkeln durch die Gegend, und die schiere Menge an gehirnhungrigen Kreaturen macht es aus, dass die Sache schnell zum Problem wird. Anna, ihr bester Freund John und ein paar schräge Nerds der Schule sowie der Obermacho schlechthin müssen sich zusammentun, um zumindest Annas Vater, der vom tyrannischen Direktor Mr. Savage festgehalten wird, zu befreien, um endlich dem Schlamassel entfliehen zu können. An Christbaumkauf und Weihnachtsgans ist sowieso nicht mehr zu denken. Dieses Fest fällt heuer ins Wasser, und da kommen selbst grinchgrüne Kerzenscheinbanausen schadenfroh grinsend voll auf ihre Kosten, wenn die Harmonie zu den Feiertagen einfach nicht halten will.

Während das Escape-School-Szenario prinzipiell nichts Neues bietet, und auch die Charaktere mitunter etwas stereotyp erscheinen: die wirklichen Gewinner dieses blutigen Last Christmas-Spaßes im wahrsten Sinne des Wortes sind die ausgewogenen, enorm rhythmischen und daher auch eingängigen Gesangsnummern. Ella Hunt hat eine volle Stimme, und auch alle übrigen, bis hin zu Hunts Filmvaterfigur, entfachen die richtigen Vibes. Musikalisch dreht Anna und die Apokalypse geschickt am Regler. Was hier abgeht, hört man gern, und vielleicht auch immer wieder, wenn man den Soundtrack auf Spotify sucht. Die Nummern Hollywood Ending und Human Voice sind ganz besonders hier zu erwähnen, weil sie, verteilt auf diverse Rollen, Ensemblestücke abliefern, die mitreißende Dramatik besitzen. Dem Filmgott sei’s gedankt, dass die deutsche Snychro die Finger davon lässt, die Lyrics der einzelnen Lieder einzudeutschen, denn das ist stets ein No-Go, wie Socken zu Sandalen.

In gutem britischem Englisch singen also all die jungen Leute, die vielleicht noch irgendwo den Highway entlang eine Zukunft haben, von Vorhersehbarkeiten und Sehnsüchten, menschlicher Nähe und Selbstreflexion. Anna und die Apokalypse ist ein Weihnachtsfilm, der gut und gern als feiermüder Digestif genossen werden kann, der die Wende schafft vom Kitsch zum kleinen Kult, ganz so wie die siebte Folge aus der sechsten Staffel von Buffy – The Vampire Slayer, in welcher Sarah Michelle Gellar, James Marsters und Co plötzlich alle ihre Stimmlagen proben. Da treffen Zyniker, Musical-Muffel und Bühnenromantiker aufeinander, und alle bringt der Film an einen Tisch. Man möchte fast meinen: eine Art Weihnachtswunder, während es draußen finster wird.

Anna und die Apokalypse

Die Königin des Nordens

GAME OF THRONES IN ECHT

8,5/10

 

koenigindesnordens© 2021 Zuzana Panská / SF Studios

 

LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN, DÄNEMARK, ISLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHARLOTTE SIELING

CAST: TRINE DYRHOLM, MORTEN HEE ANDERSEN, SØREN MALLING, JAKOB OFTEBRO, BJORN FLOBERG, THOMAS W. GABRIELSSON, AGNES WESTERLUND RASE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Nein, bei dieser Königin des Nordens handelt es sich nicht um Sansa Stark – Kenner und Freunde der High-Fantasy-Reihe von George R. R. Martin wissen, wen ich damit meine. Doch man braucht längst keine entrückten Welten mehr, will man ähnliche Charaktere in der europäischen Geschichte finden. Natürlich sind historische Persönlichkeiten, noch dazu aus dem dunklen Mittelalters, nur fragmentarisch umschrieben. Also werden die Lücken gefüllt – wie bei der Restauration eines altertümlichen Artefakts, mit der Billigung künstlerischer Freiheit.

Statt Sansa Stark behauptet sich also Margarethe I. über große Teile Skandinaviens – es ist dies die Kalmarer Union, bestehend aus Dänemark, Schweden und Norwegen. Jemals was von Margarethe I. gehört? Ich jedenfalls nicht, und umso dringender schien es mir, mein Allgemeinwissen in Sachen europäischer und dezentraler Geschichte aufzufüllen. Es ist zwar ungefähr klar, was zu dieser Zeit rund um Deutschland und Österreich alles passiert ist – der Norden hingegen stand zumindest bei vielen Gelegenheiten nicht am Programm. Die charismatische Erscheinung der Königin – einnehmend, differenziert und in ihrem Verhalten vollkommen nachvollziehbar dargestellt von Trine Dyrholm – hinterlässt also beim nordischen Adel einen gehörigen Eindruck. Und selbst die Briten denken darüber nach, einer Heirat mit Thronfolgerin Philippa und Margarethes Adoptivsohn Erik zuzustimmen. Als das Bündnis zwischen Briten und der Kalmarer Union kurz davor steht, besiegelt zu werden, taucht plötzlich ein Mann auf, der steif und fest behauptet, Margarethes tatsächlicher Sohn Olav zu sein. Dieses scheinbar inszenierte Schicksal wird die gesamte nordische Politik durcheinanderbringen, während der deutsche Orden bereits die Zähne fletscht.

Ridley Scott hat mit seinem ungewöhnlichen Mittelalterdrama The Last Duel schon alles richtig gemacht. Die Dänin Charlotte Sieling kann das sogar noch besser: Ihr historischer Politthriller könnte bereits jetzt schon eines der filmischen Highlights dieses Jahres sein und sich einen Platz in meinen Bestenlisten gesichert haben. In seiner Düsternis, seiner Intensität und in der Entwicklung der Charaktere, für die es normalerweise ganze Serienstaffeln braucht, Sieling dies aber innerhalb von zwei Stunden lückenlos hinbekommt, ist Die Königin des Nordens eines der besten historischen Dramen der letzten Jahre. Warum? Es gibt zuerst mal einen dicken, roten Faden – das ist die Charakterstudie der Margarethe, die zwischen Familiensinn und dem Wohl der Union so sehr zerrissen scheint, dass sie gar im stürmischen Regen gegen die tosenden Wellen anbrüllen muss. Es ist der etwas dünnere, aber sich ebenfalls durchziehende zweite rote Faden über König Erik – auch er kein Böser und kein Guter, eine gekränkte, aber ehrliche Persönlichkeit. Morten Hee Anderson bietet ganze Breitseiten an inneren und äußeren Konflikten. Um die beiden herum das Geflecht aus Intrigen und Feindseligkeiten, das Zerreißen politischer Lager und unvorstellbarste Konsequenzen, die eine Mutter nur ziehen kann. Unterlegt mit einem wohldosierten dramatischen Score gerät der Norden Europas zu einem unwirtlichen zweiten Westeros, zu einer shakespear’schen Bühne, auf deren Boden Opfer gebracht werden müssen, ohne die Politik anscheinend niemals funktionieren kann.

Die Königin des Nordens

Jahrhundertfrauen

GESCHLECHTERROLLEN IM WERTETAUMEL

8,5/10


jahrhundertfrauen© 2016 Splendid Film


LAND / JAHR: USA 2016

BUCH / REGIE: MIKE MILLS

CAST: ANNETTE BENING, ELLE FANNING, GRETA GERWIG, BILLY CRUDUP, LUCAS JADE ZUMANN U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Eigentlich ist Mike Mills selbst verfasstes Werteportrait aus den Siebzigerjahren mitunter einer der Filme, die spätestens zum Internationalen Frauentag aus den Streaming-Archiven geholt werden könnten. Jahrhundertfrauen – oder im Original 20th Century Women – bringt es zustande, über Geschlechterrollen zu sinnieren, ohne dabei auch nur ein einziges Mal in die Spurrillen oft gehörter Phrasen zu geraten, obwohl es derer genug gäbe auf dem Weg hin zu einem fortschrittlicheren und respektvollerem Wertebild, die sich der Mann von Morgen aneignen sollte. Dabei begegnet ihm die Frau oftmals mit Angriffslust. Nicht aber hier. Diese Jahrhundertfrauen haben es nicht notwendig, die entbehrungsreiche Figur des 20th Century-Mannsbildes mit militanter Gehässigkeit zu entmachten. Sie nutzen die Chance, dem Mann von morgen all die Dinge, auf die es ankommt, auf teils sogar unbewusste Art in ein witgehend vorurteilsfreies Bewusstsein zu rufen.

Dabei ist dieser junge Mann, um den es hier geht, lediglich noch ein Teenager von 15 Jahren, ein kluger Jungspund, der gemeinsam mit Mama Annette Bening in einer renovierungsbedürftigen Villa wohnt, deren Zimmer unter anderem an Greta Herwig alias Abbie vermietet werden. Das Mädchen Julie (Elle Fanning) wohnt zwar nicht da, ist aber ebenfalls ein gern gesehener Gast. Drei Frauen sind es: eine Fotografin und dem Krebs eben von der Klinge gesprungen, eine promiskuitive Blondine mit dominanter Mutter und eben Annette Bening, alleinerziehende Mittfünfzigerin und etwas ratlos, wenn es darum geht, den jungen Filius auf das Leben vorzubereiten. Da kommen ihr die beiden omnipräsenten Damen recht gelegen – die könnten doch unterstützende Vibes erzeugen, wenn es darum geht, die Welt mit differenzierteren Blicken zu betrachten.

Natürlich kann es leicht passieren, dass bei einem komplexen Thema wie diesem ein Film, der sich fast ausschließlich auf Dialoge verlässt, mit Binsenweisheiten und auch irrelevantem Geschwafel die Geduld des Zusehers strapaziert. Da braucht es eben einen Autor, der etwas ganz anderes, und eigentlich viel mehr will als „nur“ die Mechanismen proaktiven Feminismus zu erörtern. Nämlich: die Kunst des achtsamen Umgangs zu lehren. Grandios, wie Mike Mills seine Szenen setzt und seine Figuren das Wort erteilt, ihnen dabei aber nichts in den Mund legen muss, da diese aus eigener Überzeugung, und oft mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, kluge Wahrheiten gelassen aussprechen. Dabei kreisen pointierte Dialoge, meist verankert in alltäglichen Situationen, um Erziehung, Elternschaft und obsoleten gesellschaftlichen Tabus. Ein bisschen erinnert der Stil und auch der Scharfsinn an Richard Linklaters Boyhood. Annette Bening gelingt wohl einer ihrer besten, wenn nicht ihre beste Performance. Dabei spielt sie weder eine Erkrankte, noch ist sie körperlich wie geistig beeinträchtigt noch ist sie sonst auch nur irgendwie eine Persönlichkeit, die aus dem Rahmen fällt. Eben weil Bening das nicht ist, sondern weil sie diese alleinerziehende und an sich selbst zweifelnde, ganz normale Person ist, findet sie diese unartifizielle Ausdrucksstärke. Das ist ausgereiftes Minenspiel nebst ausgereiften Szenen, die so wunderbar unverkrampft von so vielem erzählen, und die es knapp zwei Stunden lang schaffen, gleich mehrere Biographien anzureißen, ohne einander die Aufmerksamkeit zu stehlen. Hier findet sich diese zu vermittelnde Achtsamkeit selbst in inszenatorischer Hinsicht. Ein so unprätentiöses wie komplexes Werk also, das seinen wertschätzenden Imperativ auch filmtechnisch punktgenau umgesetzt hat.

Jahrhundertfrauen