Anemone (2025)

EIN FILM ÜBER WOLKEN

6/10


© 2025 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2025

REGIE: RONAN DAY-LEWIS

DREHBUCH: RONAN DAY-LEWIS, DANIEL DAY-LEWIS

KAMERA: BEN FORDESMAN

CAST: DANIEL DAY-LEWIS, SEAN BEAN, SAMANTHA MORTON, SAMUEL BOTTOMLEY, SAFIA OAKLEY-GREEN, ADAM FOGERTY, KARL CAM, MATTY LUMSDEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Der König des Method Actings ist zurück: Daniel Day-Lewis. Was ihn wohl bewogen hat, wieder vor die Kamera zu treten? Natürlich der eigene Sohnemann, Ronan Day-Lewis, der angesichts dieses vielfach oscarprämierten Einflusses gar nicht anders kann, als nicht im Filmbiz seine berufliche Zukunft zu verorten. Nach Kurzfilmen und einem Musikvideo geht der Mittdreißiger nun seinen ersten abendfüllenden Spielfilm an, in den er alles mögliche hineinsteckt, was auch nur irgendwie dramatisches Gewicht hat. Wer könnte das alles nicht besser stemmen als der eigene erfahrene Schauspielvater, der sich vielleicht sogar hat lange bitten lassen, sogar vom Nachwuchs. Doch nun ist es geschafft, die Hürde genommen, Day-Lewis ist wieder da, mit grauem Haar, partiellem Vollbart und argwöhnischem Blick. Der Vater spielt einen Vater, doch einen, der den eigenen Sohn gar nicht mal kennt. Day-Lewis Senior und Junior haben dieses Projekt gemeinsam durchgezogen, zumindest das Drehbuch, während Freund Brad Pitt mit seiner Firma Plan B das Ganze produziert hat. Anemone nennt sich dieses düstere Wetterpanorama von Psychodrama, in dem sich die Wolken türmen und alles andere erdrücken.

Der Papa wird’s schon richten?

Zugegeben, einem Wetter wie diesem hier im Film kann ich einiges abgewinnen, ist gefühlt zehntausendmal besser als blauer Himmel. Der Sturm knechtet den düsteren, feuchtnassen Wald irgendwo im Norden Englands, regenschwere Drohkulissen schieben sich übers Meer, die Witterung nimmt die gepeinigte Seele eines Aussteigers in die Mangel, der, fernab der Zivilisation in der Wildnis sein restliches Dasein fristet. Dieser knorrige und grimmige Mann ist Ray – eine dankbare Rolle für Day-Lewis, mit der er improvisieren kann wie es ihm gefällt. Alles hat er hinter sich gelassen: den nordirischen Krieg gegen die IRA, ein ihm angelastetes Kriegsverbrechen, die Desertierung aus dem Militär, die Partnerin, den Sohn, das ganze bisherige Leben. Als ob die Verfolgung durch all die Dämonen nicht reicht, steht eines natürlich düsteren Tages Bruder Jem (Sean Bean) vor der Tür. Ebenso wortkarg, ebenso skeptisch, und vielleicht gar viel zu viel fordernd. Denn Rays unbekannter Sohn steckt in einer Krise. Niemanden dringender würde er nun an seiner Seite brauchen als den eigenen Vater. Tja, warum auch immer. Doch womöglich sind es ähnliche Dämonen, die Stoker Junior verfolgen wie die, die dem Senior Albträume bescheren.

Reden wir nicht übers Wetter

Betrachtet man Anemone aus einiger Entfernung, schrumpft das auf Spielfilmlänge gedehnte, bitterernste und kantige Superdrama, das sich mit dunklen, schweren, gesättigten Bildern schmückt, von denen man am liebsten kosten möchte und jeden Moment darauf wartet, dass der Regen von der Leinwand tröpfelt, auf eine Momentaufnahme zusammen. Viel Handlung hat Ronan Day-Lewis‘ Film daher keine. Wettgemacht wird der Umstand durch Kontemplation und Entschleunigung – und Wolken. Ganz vielen Wolken. Das Wetter ist in Anemone das Um und Auf, entspricht es doch den Gefühlszuständen eines ganze seitenlange Textblöcke rezitierenden Daniel Day-Lewis, der sowas womöglich schon immer machen wollte: Reden, reden, reden. Und er redet, redet, redet, anfangs zwar nicht, aber dann sprudelt es aus ihm heraus. Was man so hört, sind keine schönen Sachen, sie handeln von Missbrauch und Gnadenschüssen, von ewiger Reue und einem gequälten Gewissen. Sean Bean hört zu, bekümmert und mitfühlend. Beide halten ihre Gesichter in das Zwielicht des Tages, zerfurcht, verbraucht, versteinert.

Entspannung durch Niederschlag

Ronan Day-Lewis hatte für seinen ersten Langfilm ganz sicherlich eine Vision. Sein Handwerk versteht er, vor allem dann, wenn die schwer vom Fleck kommende Story mit dem Mysteriösen, Metaphysischen, Allegorischen kokettiert. Schöne Bilder sind da, abgelöst von einem irren Naturschauspiel, in dem es zum Glück keine Frösche regnet wie in Magnolia. Dann endlich entlädt sich die ganze aufgestaute, gravitative Energie, um einen wie ein Tornado um sich selbst kreisenden reumutigen Daniel Day-Lewis zurück auf den Boden eines kollektiven Neuanfangs zu bringen. Anemone ist wagnerische Katharsis und Schauspielvehikel für einen gern gesehenen Wiederkehrer, sich selbst aber immer wieder erdrückend und manchmal scheint es, als würde man keine Luft holen können.

Anemone (2025)

Der Fremde (2025)

DIE GLEICHGÜLTIGKEIT DER WELT

7/10


© 2025 Foz Gaumont France2Cinema / Carole Bethue

ORIGINALTITEL: L’ÉTRANGER

LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE: FRANÇOIS OZON

DREHBUCH: FRANÇOIS OZON, NACH DEM ROMAN VON ALBERT CAMUS

KAMERA: MANUEL DACOSSE

CAST: BENJAMIN VOISIN, REBECCA MARDER, PIERRE LOTTIN, DENIS LAVANT, SWANN ARLAUD, MIREILLE PERRIER, JEAN-CHARLES CLICHET U. A.

LÄNGE: 2 STD


The Cure haben darüber ein Lied geschrieben: Killing an Arab. Dieser äußerst provokante Titel bezieht sich auf den literarischen Klassiker von Albert Camus, der nun von François Ozon, dem man nicht wirklich nachsagen kann, immer nur dieselbe Art von Filmen zu drehen, neu aufgelegt wurde. Zuletzt war Luchino Visconti dran, mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle, doch das ist schon einige Jährchen her, genauer gesagt lief der Film Ende der Sechzigerjahre in den Kinos. Diese Sechzigerjahre haben es Ozon allerdings angetan: Sein Film Der Fremde wirkt, als würde er sich hüten, als zeitgemäße Neuinterpretation verstanden werden zu wollen. Alles darin macht große Schritte zurück in der Zeit und tut mit ziemlich viel Erfolg gar so, als hätten wir es mit der Wiederaufführung von etwas längst Vergangenem und neu Entdecktem zu tun. Nicht unwesentlich ist dabei die Umsetzung in unexperimentellem, akkuratem Schwarzweiß – die einzige mögliche Methode, eine Geschichte wie die von Albert Camus darzustellen. Denn jede Farbe, jeder Effekt, jedes visuelle Geräusch würde diesem existenzialistischen Sozialhorror zuwiderlaufen. Doch was heißt Existenzialismus – Albert Camus treibt es in seiner Ich-Erzählung, gegliedert in zwei Teile, so dermaßen auf die Spitze, das nichts mehr bleibt, außer eben dem Nichts, einer nihilistischen Weltsicht, die sich, frei von jeglicher Emotion, mit der erbarmungslosen Gleichgültigkeit einer Welt bestens versteht.

Ein unerträglicher Charakter

Im Zentrum dieser eiskalten Gesamtsituation aus Zynismus und Empfindungsarmut steht die gespenstische Figur des jungen Meursault, den man schon in den ersten Minuten regelrecht verabscheut. Nichts im Gesicht von Schauspieler Benjamin Voisin (u. a. Die Tanzenden) regt sich, nicht mal dann, als er vom Tod seiner Mutter erfährt. Trauer, Schmerz, das Gefühl von Verlust? Fehlanzeige. Doch Meursault tut, was er tun muss, er imitiert die Kultur des christlichen Abendlandes in einem Land, das ihm nicht gehört, in dem er als Fremder im kolonialen Algerien seine Brötchen verdient, und verdient er sie mal nicht, beginnt er Affären mit Frauen, die sich nicht daran stoßen, dass Meursault nichts empfindet, zu nichts eine Meinung hat, weil nichts in der Welt als sinnvoll gilt.

Das geht sogar so weit, dass unser Protagonist einen Mord begeht. Einmal vor Gericht, offenbart sich schließlich die ganze Schrecklichkeit einer belanglosen Existenz in einer langweiligen Welt, die Fatalität der Natur der Dinge, die in stoischer Regungslosigkeit all die Anstrengungen der menschlichen Spezies, um dort hin zu gelangen, wo sie sich aktuell befindet, gleichgültig reflektiert.

Existenz hat keine Meinung

Francois Ozons grimmiger Edel-Nihilismus seziert einen unerträglichen Charakter in ästhetischen Bildern – und findet: nichts. Die Gestalt des Meursault ist wie die Vorwegnahme einer künstlichen Intelligenz, eines Androiden, der nichts empfinden kann, nicht weil er nicht will, sondern weil die Welt nichts dafür übrig hat. Voisin ergibt sich seinem provokante Spiel, immer mehr wundert man sich, dass die soziale Isolation nicht als Konsequenz für dieses ignorante Leben eine gerechte Strafe wäre, doch isoliert ist er nicht, genauso wenig wie Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ American Psycho, eine ähnlich gelangweilte, abgestumpfte, übersättigte Person, die den Reiz der eigenen Lebendigkeit nur anhand von Bluttaten empfindet. Camus‘ Der Fremde mag Inspiration gewesen sein für diesen Killer-Charakter, doch selbst ist er keiner. Am Ende des Films wird klar, das all die Sinnlosigkeit der Existenz niemals selbstgewählte Überzeugung war, sondern das Resultat einer epochalen Enttäuschung, die daraus resultiert, auf keine der Fragen an die Welt jemals eine Antwort bekommen zu haben.

Resignativ, aber immer noch verzweifelt genug: So gelingt François Ozon, ohne uns selbst an dieser Figur verzweifeln zu lassen, eine messerscharfe, fast schon klinische Charakterstudie, oder besser gesagt, ein Psychogramm, abgestumpft und verdrossen, dass sich mit dem Dialog zwischen einem zum Tode Verurteilten und einem Geistlichen zu einem Crescendo aufbäumt, dass die Essenz des Existenzialismus als gewaltige emotionale Krise darstellt. Da haben wir es wieder, das Gefühl. Im Grunde war es immer da.

Der Fremde (2025)

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes (2025)

POSIEREN IM LICHT DER ERKENNTNIS

8,5/10


© 2025 Weltkino Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: EDGAR REITZ, ANATOL SCHUSTER

DREHBUCH: EDGAR REITZ, GERT HEIDENREICH

KAMERA: MATTHIAS GRUNSKY

CAST: EDGAR SELGE, AENNE SCHWARZ, MICHAEL KRANZ, ANTONIA BILL, BARBARA SUKOWA, LARS EIDINGER, SALOME KAMMER, ANNE SCHIRMACHER U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Was ist ein Portrait? Filmfachlich gesehen eine Charakterstudie, meistens auf Spielfilmlänge, in der versucht wird, das Wesen einer Person zu ermitteln, einzufangen; es umspannt den Prozess des Suchens nach Merkmalen, Stärken, Besonderheiten, Bedürfnissen, Schwächen und Sehnsüchten. Ein Portrait ist keine Biographie, sondern die Betrachtung des Wesens hinter einem Menschen, meist von berühmten Persönlichkeiten aus allen Sparten der Weltgeschichte oder der globalen Gegenwart. Als Portraitfilm geht auch das jüngste der Werke des Altmeisters Edgar Reitz in die Filmgeschichte ein, denn seine im besten Sinne übertragene Wortadaption eines Portraits in einem Portrait ist alleine schon ein nahezu genial zu bezeichnender Ansatz, einer Persönlichkeit näherzukommen, die man längst nicht so vor Augen hat wie zum Beispiel die alten Griechen, Diogenes mit seinem Fass, Sokrates mit seinem Schierlingsbecher oder Physiker Isaac Newton, dem ja, wie wir alles wissen, der Legende nach der Apfel auf den Kopf gefallen war. Wie steht’s aber um Gottfried Wilhelm Leibniz, den Popkultur-Physiker Sheldon aus der Sitcom The Big Bang Theory zumindest ein paarmal namentlich erwähnt hat?

Die Zeit vergeht im Gemälde

Nichts weiß man von ihm, oder zumindest kaum etwas. Selbst Edgar Reitz wusste anfangs wohl auch relativ wenig, also recherchierte er jahrelang für dieses filmische Denkmal, brachte Gedanken, Errungenschaften und Erfindungen alle zusammen – es muss ein Pulk an Informationen gewesen sein, der sich sicherlich nur schwer ordnen ließ. Dennoch hat es der legendäre Autorenfilmer, der für sein monumentales Heimat-Triptychon bekannt wurde, dieses ganze wuchtige Wirken und Leben eines Denkers so sehr komprimiert und veranschaulicht, dass es in einen kleinen, schummrigen Raum passt – in das Arbeitszimmer von Leibniz, mit Glastüre in den Wintergarten und einer Oberlichte, durch die das einzige wahre Licht fällt, das zum Malen eines Portraits geeignet scheint. Wobei wir wieder bei der Frage des Abbildnisses über den Tod hinaus wären, bei der Malerei und dem Verewigen. Dabei gibt es eine Szene, da wirft die begnadet gut mit niederländischem Akzent sprechende Aenne Schwarz die Frage auf, was genau eine Malerei nun abbildet. Den Moment, die Entstehung dieses Moments bis hin zur Vollendung, oder vielleicht auch die Zeit, die es gebraucht hat, um die Mineralien entstehen zu lassen, die für die Farbpigmente letztlich verwendet wurden. Das Bildnis wird so zur Drehscheibe philosophischer Betrachtungen, wobei dieser Begriff wieder erschreckend schwammig daherkommt, weil er zu sehr verallgemeinert.

Wort und Bild im Einklang

Was bei dieser Begegnung zwischen der fiktiven Malerin, deren Namen so klingt wie jener des berühmten Jan Vermeer und die sich anfangs als Mann ausgibt, und dem Geistesriesen und Humanisten Leibniz, der hier wie selten jemand punktgenau die Vernunft verkörpert, alles für Synergien erwachsen, überträgt sich ungefiltert auf ein aufmerksames, zuhörendes Publikum, das zum Glück nicht damit überfordert wird, die Bildgewalt eines auf die große Leinwand projizierten Theaterstücks auch noch in sich aufsaugen zu müssen. Reduktion durch berechnete Opulenz, so könnte man Reitz‘ visuelle Sprache untertiteln. Alleine schon der von Antonia Bill vorgetragene Brief der Charlotte, Königin von Preußen, an ihren liebgewonnenen Gesprächspartner Leibniz zu Beginn des Films öffnet die Tore in eine Zeit, in der man nichts damit gewinnen konnte, seiner Zeit voraus zu sein. Um das scheinbar, aber nur scheinbar strenge Spiel aufzulockern, wählt Reitz am Anfang noch die profane Begegnung mit einem Ignoranten – Lars Eidinger ganz absichtlich entnervt als Maler ohne Selbstreflexion, der mit der Abbildung des redegewandten Diskutanten formidabel scheitert. Und dann Aenne Schwarz, erinnernd an die Barockmalerin Michaelina Wautiers, welcher zur Zeit am Wiener Kunsthistorischen Museum eine Ausstellung gewidmet wird, und ebenfalls ihrer Zeit voraus – eine akribische Visionärin, die im posierenden Denker, der ungerne Perücke trägt, ihren Meister findet. Andersherum findet es genauso statt, beide ergänzen sich, beide beleuchten im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit, die Zukunft, die Gegenwart – all das, was in ein Bild fließen soll.

Ein Gemälde blickt auf die Welt

Wenn Michael Kranz als des Hofrats rechte Hand in den dunklen Raum jenseits der Tapetentür dringt, um das Denken von Leibniz zu extrahieren, erinnert das fast an das Denkarium von Professor Dumbledore aus Harry Potter – das Mysterium des Denkens und Ahnens tut sich auf, und genauso mysteriös und auf einer gewissen Metaebene existierend entfaltet sich Sprache, Licht und Pigment zu einem berührenden Sinnesrausch nahe an der Geschichte, nahe am Tod und an der Ewigkeit, ermöglicht durch ein Gemälde, dass wir, wie die Welt, auch nur erahnen können.

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes (2025)

The Long Walk – Todesmarsch (2025)

DER WEG IST DAS ZIEL

6,5/10


© 2025 LEONINE Studios / Constantin Film Österreich


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: FRANCIS LAWRENCE

DREHBUCH: J. T. MOLLNER

KAMERA: JO WILLEMS

CAST: COOPER HOFFMAN, DAVID JONSSON, MARK HAMILL, GARRETT WAREING, TUT NYUOT, CHARLIE PLUMMER, BEN WANG, JORDAN GONZALES, ROMAN GRIFFIN DAVIS, JUDY GREER, HOSH HAMILTON U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Waren Die Tribute von Panem – als Roman in drei Teilen und als Verfilmunge auf vier Teile ausgewalzt – noch dystopisches Spektakel mit allerlei Pomp, wo nichts dem Zufall überlassen wurde und das niemanden dazu bewog, sich selbst seinen Teil dazu zu denken, ist Francis Lawrences asketische Kehrtwende das genaue Gegenteil davon, wenngleich der Spaß an der Freude perfider Machtsysteme so ziemlich ähnlich bleibt. The Long Walk – Todesmarsch, Ende der Siebzigerjahre von Stephen King unter dem Pseudonym Richard Bachmann verfasst, ist zumindest in literarischer Form wohl die Geburtsstunde einer Art von Zukunftsvision, die sich mit der medialen Befriedigung einer Bevölkerung auf Kosten junger Menschen auseinandersetzt – und bereits schon damals die Entertainment-Übersättigung und folglich die Überkompensation gesellschaftlicher Schadenfreude zum Wohle des Selbst ins Hässliche und Bedrohliche verzerrt. Ein paar Jahre später schrieb King dann noch seinen Running Man, verfilmt mit Arnold Schwarzenegger – in Kürze folgt, wie kann es anders sein, die Neuauflage. Panem wiederum orientiert sich wohl mehr am blutrünstigen japanischen Insel-Wettkampf Battle Royale als an diesem von allem Schnickschnack befreiten Schrittedrama, nunmehr wagemutiges Experiment von Film, das sicher und zumindest auf den ersten Blick mehr an Spektakel verspricht als er letztlich bereithält. Das wiederum ist gut so. Den Mut zur Entrümpelung und zur Reduktion hätte ich Francis Lawrence und seinem Studio wohl nicht zugetraut, umso erstaunlicher trottet man, obwohl selbst im Kinositz verharrend, Minute für Minute einen landschaftlich kaum erwähnenswerten, spärlich besiedelten Weg entlang und hört jungen Männern zu, die aus existenzieller Not heraus mit sich selbst russisches Roulette spielen und alles, was sie haben, auf eine einzige Zahl setzen – auf jene, die man ihnen umgehängt, bevor der Todesmarsch begonnen hat.

Fünfzig Burschen wandern also in konstantem Tempo von nicht weniger als drei Kilometer die Stunde, versorgt mit ausreichend Wasser zwar, aber ohne Aussicht auf Pause, dem Ungewissen entgegen. Das Ende bringt die Erschöpfung des Vorletzten. Bleibt noch einer übrig, ist die Show zu Ende. Doch Apropos Show: Hier, in diesem düsteren, lustlosen Amerika, in diesen militärisch regierten Nachkriegsstaaten, die viel verloren haben, nur nicht die Lust am Exempel, das sie statuieren wollen, wird keiner interviewt, getrimmt für den Sieg, hofiert von Fans oder geladen zum opulenten Dinner, bevor der Ernst des Spiels beginnt. Hier moderiert kein Stanley Tucci den medial gepushten Kandidaten oder drängt sich die Presse am Straßenrand zur akkuraten Berichterstattung zusammen: The Long Walk – Todesmarsch ist eine Verhöhnung der Relevanz manipulativer Volksberieselung. Es ist, als würde niemand davon wissen, was die nächsten Tage für Opfer bringen. Und es werden scheußliche sein. Demütigende, blutige, traurige.

Musketiere im Selbstbetrug

Es wäre ja alles halb so wild, würden jene, die auf der Strecke bleiben, nicht auch noch niedergestreckt werden, auf so demütigend-kalte Weise, dass es wohl nicht die Absicht des Filmes gewesen sein mag, mit diesen Exekutionen seine Höhepunkte zu liefern. The Long Walk – Todesmarsch hat nämlich keine. Als Zuseher folgt man in drängender Erwartungshaltung einem erbarmungswürdigen Schauspiel, strotzend vor erbarmungslosen Regeln, und hofft auf eine Wende. Doch nichts dergleichen passiert. Das große Ideal, die bessere Welt, mag nur in den Köpfen konditionsstarker Männer existieren, die sich entweder selbst überschätzen oder die psychische Resilienz besitzen, am Ende erhobenen Hauptes anzukommen. Von den Musketieren ist die Rede, von Verbrüderung, Akzeptanz, Nächstenliebe. Dabei ist alles nur Konkurrenz, dabei billigt der Siegenwollende den Tod des neuen Freundes. Die Wahrheit will niemand wissen, jeder hofft auf einen anderen Ausgang, auf ein Miteinander danach. Doch Lawrence, der die Vorlage von King zwar adaptiert hat, aber dennoch dem Fatalismus treu bleibt, erklärt mit The Long Walk – Todesmarsch keine mögliche bessere Welt. Man wartet also vergebens auf den Twist, auf das Aufbegehren, während Mark Hamill als entmenschlichtes Abziehbild eines Warlords Phrasen drischt, die wohl die einzige mediale Manipulation darstellen.

Die leeren Kilometer, im wahrsten Sinne des Wortes verstanden, sind scheinbar nicht endenwollend – eine mutige Methode für eine Verfilmung, die lange Zeit als unverfilmbar galt, weil der Stoff nichts Erbauliches bietet, andererseits aber jede Menge existenzialistische Gedankengänge übernimmt, die das Leben an sich betreffen, und dieses laut King und Lawrence schließlich nur im momentanen Selbstbetrug Sinn ergibt.

The Long Walk – Todesmarsch (2025)

Night Always Comes (2025)

BARGELDLOS DURCH DIE NACHT

5/10


© 2025 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: BENJAMIN CARON

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON WILLY VLAUTIN

KAMERA: DAMIÁN GARCÍA

CAST: VANESSA KIRBY, JENNIFER JASON LEIGH, ZACK GOTTSAGEN, RANDALL PARK, STEPHAN JAMES, JULIA FOX, MICHAEL KELLY, ELI ROTH U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Neben dem omnipräsenten Pedro Pascal ist wohl Vanessa Kirby spätestens seit ihrer Oscar-Nominierung für Pieces of a Woman in gefühlt jeder zweiten Filmproduktion dabei. Gerade eben durfte sie als Sue Storm den wasweißichwievielten Versuch, die integren Fantastischen Vier endlich mal erfolgreich auf die Leinwand zu bringen, tatkräftig unterstützen. Zwischendurch widmet sich die gebürtige Londonerin aber nach wie vor dem Arthouse-Film und produziert auch gerne selbst das eine oder andere Projekt – ganz besonders schien ihr die Verfilmung des Romans Night Always Comes von Willy Vlautin am Herzen gelegen zu haben, der eine Frauenfigur in den Fokus rückt, die ambivalent genug ist, um sie schauspielerisch ordentlich auszufüllen. Nichts eindimensionales, sondern facettenreich und mit einer ordentlichen Portion Verzweiflung, denn ohne diese würde Night Always Comes gar nicht erst mal in die Gänge kommen. Prämisse ist also eine ausweglose Situation, und wie in den meisten ausweglosen Situationen, wenn es sich dabei nicht um eine Krankheizt oder einen Survival-Unfall handelt, geht es folglich um den Mammon. Dieses ist nicht da, oder besser gesagt: wäre da, wenn Mutter Jennifer Jason Leigh nicht das notwendige Kleingeld für einen Neuwagen verprassen würde, das eigentlich dafür bestimmt war, die familiäre Immobilie zu sichern. Schließlich ist auch noch der nach besonderen Bedürfnissen verlangende Bruder Kenny mit von der Partie, der rund um die Uhr Betreuung braucht.

Dass die ganze Familie auf der Straße steht, ist ein No-Go. Und Lynette, so die Rolle der verzweifelten jungen Frau, die eine zwielichtige Vergangenheit mit sich herumschleppt, muss binnen einer Nacht ein ganz schönes Sümmchen auftreiben, damit das Undenkbare nicht passiert. Wie sie das macht, hätte ich dieser Person gar nicht zugetraut. Und auch während sie versucht, mit dem Mut der Verzweiflung sogar in die kriminelle Düsternis Portlands einzutauchen und so einige Straftaten zu begehen, natürlich alles für den guten Zweck: Kirby ist all das nicht zu glauben. Vielleicht liegt es an dieser Sanftmütigkeit, mit der sie ihre Rolle untermauert. Die dunklen Jahre minderjähriger Prostitution und Abhängigkeit hinterlassen im Charakterbild Kirbys keine Spuren, letztlich fehlt es an der notwendigen Portion Zynismus, um zu glauben, was man sieht. Ähnlich vage bleibt Jennifer Jason Leigh als dem Schicksal die kalte Schulter zeigende Zynikerin, die keine Vorstellung von einer grimmigen Zukunft hat. Einerseits wirkt sie versoffen, dann wieder völlig resignierend wie jemand, der im White Trash-Milieu nichts mehr zu verlieren hat – was aber nicht den Tatsachen entspricht. Wohin Benjamin Caron (u. a. Sharper mit Julianne Moore) seine Familie positioniert, mag diffuses Terrain sein. Einzig Zach Gottsagen, der Schauspieler mit dem Down-Syndrom, der schon an der Seite von Shia LaBeouf in The Peanut Butter Falcon brilliert hat, wirkt wie ein stoischer Fels in der Brandung, der von allen Beteiligten, obwohl orientierungslos, noch die beste Orientierung hat.

Zu sehr gefällt sich Kirby in der Rolle der Verzweifelten, im nachtschwarzen Milieu zwischen Drogen, Geldraub und längst nicht verjährter Traumata. Sie selbst hat sich von Arbeiten wie Good Time der Gebrüder Safdie und dem deutschen One-Shot Victoria inspirieren lassen – beiden Filmen fehlt aber das Gemächliche, die bausteinartige Struktur, die dem Chaos einer Nacht zuwiderläuft. Kirbys Erlebnisse greifen nicht ineinander, sondern folgen nacheinander, Virtuosität weicht gefälligem Existenzialismus, der wohl lieber die Emanzipation aus der Verantwortung probt als sich dem Thrill zu unterwerfen. Der Effekt dabei: Night Always Comes unterhält zwar und hat einige Spitzen auf Lager, die dicht genug sind, um dranzubleiben und nicht wegzudriften. Im Ganzen aber bleibt diese Nacht trotz seiner prekären Abenteuer eine unter vielen.

Night Always Comes (2025)

The Life of Chuck (2024)

VOM WERT DER BLOSSEN EXISTENZ

9/10


© 2025 Tobis Film


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: MIKE FLANAGAN

DREHBUCH: MIKE FLANAGAN, NACH EINER KURZGESCHICHTE VON STEPHEN KING

KAMERA: EBEN BOLTER

CAST: TOM HIDDLESTON, CHIWETEL EJIOFOR, KAREN GILLAN, ANNALISE BASSO, MARK HAMILL, MIA SARA, BENJAMIN PAJAK, JACOB TREMBLAY, CARL LUMBLY, Q’ORIANKA KILCHER, CODY FLANAGAN, DAVID DASTMALCHIAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Dieser Film erzählt von einem Leben. Einem wichtigen Leben. Er erzählt jedoch nicht von einem Diktator, einem Präsidenten. Nicht von einem Feldherren, einem Heiligen, einem Popstar. Es ist jemand, den wir alle nicht kennen. Den selbst jene im Film nicht kennen, während sie sich fragen: Wer um alles in der Welt ist Chuck Krantz? Richtig. Um Alles in der Welt. Darum geht es. Denn dieser schlichte, ganz normale, unauffällige Mensch, der noch dazu den wohl wenig spektakulären Beruf eines Buchhalters ausübt: für ihn ist sein Leben tatsächlich alles in der Welt. Und die Welt, die sich ihm offenbart, genau das: Eine, die nur existiert, weil Chuck Krantz eben alles ist.

Die Welt, die ich wahrnehme, ist meine ganz eigene. Manchmal fühlt sie sich an wie ein Film mit spektakulären Schicksalsschlägen, dann wieder wie eine Serie, bestehend aus mehreren Staffeln, in denen der Cast ständig wechselt und nur manche als dauerhafte Charaktere in den Hauptrollen verweilen. Andere treten ab, neue kommen hinzu, und einige, die mir flüchtig begegnen, verschwinden wieder. Eine ganze Welt ist das, ein einziges, individuelles, persönliches Universum. Das Universum meiner Existenz ist nur eines von mehreren Milliarden, und jedes ist mit jedem anderen nicht zu vergleichen. So ist auch das von Chuck Krantz einzigartig, und der Mensch selbst, der dieses beherrscht, etwas ganz Besonderes.

Ein Leben, auf jede Weise gut

Wie sich Stephen King anhand einer mysteriösen Kurzgeschichte darauf einlässt, zu vermitteln, was ein Mensch für sich selbst (und andere) bedeutet, bietet abermals genug Stoff für einen Film, der allerdings sehr leicht in sentimentale Schieflage geraten hätte können, wäre nicht einer wie Mike Flanagan (u. a. Spuk in Hill House, Doctor Sleeps Erwachen) so versiert genug, dieses Leben eines völlig Unbekannten nicht als tränendrüsiges Kalenderspruch-Melodrama in fettreicher Zubereitung seinem Publikum zuzumuten. Stattdessen ist der Wert der Bescheidenheit neben dem der Akzeptanz und der Menschenwürde ein nobles Gut vor allem im Film. Und gerade in einem wie diesen.

Denn das Leben des Chuck Krantz ist kurz, leidgeprüft, karg, in der Dämmerung seines Daseins von Krankheit gezeichnet. Schließlich wird er gerade mal 39 Jahre alt. Doch das wissen wir anfangs noch alles gar nicht. Der Anfang ist in The Life of Chuck das Ende – gekonnt und souverän montiert Flanagan Kings Geschichte chronologisch verkehrt, was rückwirkend viel mehr Sinn macht – und dank dieser Anordnung geht die Rechnung mitsamt ihrer Botschaft letztlich auch auf. Am Anfang, da schickt sich die ganze Welt an, unterzugehen. Schrittweise versagt die Infrastruktur, das System bricht zusammen. Jene, die sich lieben, kommen zueinander. In diesem Fall Chiwetel Ejiofor und Karen Gillan. Und wie bei King dennoch zu erwarten, ist die Welt hier ähnlich die eines rätselhaften Traumes. Surreal, gespenstisch, voll der letzten Worte und Gedanken. Später sehen wir Tom Hiddleston, der im Erwachsenenalter als ganz normaler Buchhalter den musikalischen Moment genießt, die Essenz des Lebens inhaliert, diesem einen Sinn verleiht. Am Ende ist Chuck ein Waisenjunge, der bei seinen Großeltern lebt, in einem viktorianischen Gemäuer, dessen Turmzimmer nicht betreten werden darf. In diesem schlummert ein Geheimnis, das Opa Mark Hamill vehement bewacht.

Im Kopf ein Universum

All diese Mysterien, all diese Leidenschaften und Entbehrungen, all das Glück und die Traurigkeit formieren sich zu einem unprätentiösen Kanon einer Existenzbetrachtung, die in hingebungsvoller Bedachtsamkeit und mit viel Respekt das Hier und Jetzt als einzige Dimension versteht, in der wir uns allem bewusst sind. Womöglich ist Stephen King einer, der über den Tod hinaus an nichts mehr glaubt. Umso mehr erinnert The Life of Chuck an den unverhandelbaren Wert des Selbst; an die Erkenntnis, dass das ganze Universum, solange wie leben, eigentlich nur in uns selbst schlummert, weil wir selbst nichts anderes sein können als der Mittelpunkt dessen.

In Zeiten wie diesen müssen wir genügen, leisten und mithalten, wir sind voller Selbstzweifel und Ängste. Und dann kommt ein sich selbst reflektierender Film daher, der mit diesem Chuck Krantz auf geradezu fürsorgliche Weise all die Agenden seines Charakters und im Zuge dessen vielleicht auch ein bisschen unsere eigenen ins Reine bringt. Zwischen Nachruf und beschwingtem Jubiläum feiert Flanagan das Menschsein als humanistisches Triptychon. Nach Die Verurteilten, ebenfalls auf einer Kurzgeschichte Kings beruhend und das Prinzip Hoffnung sezierend, setzt The Life of Chuck nun auf den Lebenssinn alleine durch die Existenz – das ist kathartisch, sich selbst genügend und erfrischend. Besser lässt sich King kaum ins Kino bringen.

The Life of Chuck (2024)

It Follows (2014)

EXISTENZANGST DER JUGEND

7,5/10


© 2014 RADiUS-TWC


LAND / JAHR: USA 2014

REGIE / DREHBUCH: DAVID ROBERT MITCHELL

CAST: MAIKA MONROE, KEIR GILCHRIST, OLIVIA LUCCARD, LILI SEPE, BAILEY SPRY, DANIEL ZOVATTO, JAKE WEARY U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Der Tod dauert ein ganzes Leben, und hört dann auf, wenn er eintritt. Dieses Zitat aus dem deutschen Film Bandits mit Katja Riemann und Nicolette Krebitz werde ich wohl den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen. Es ist zugleich tröstend als auch warnend. Und impliziert, dass der existenzimmanente Sensenmann jederzeit bereit ist, beim Sprung vom Leben ins Ableben nachzuhelfen, wenn man vergisst, achtsam genug zu sein für die raue Challenge des Lebens, das in David Robert Mitchells beklemmender Mystery mit einer Entität hereinbricht, die den jungen Leuten, die sich hier versammeln, nicht nur ein mulmiges Gefühl beschert. So ist das mit der Teenage Angst, mit dem Erwachsenwerden und der Suche nach einer Geborgenheit, die junge Leute im ausklingenden Teenageralter drauf und dran sind, zu verlieren, um sich eine neue, ganz eigene zu erschaffen. Doch bis dahin…

It Follows scheut sich dabei nicht, sämtliche Themen anzureißen, die andere Highschool-Horrorfilme nicht haben. In den gewaltgeilen Slasher-Countdowns wie Nightmare – Mörderische Träume, Ich weiß was du letzten Sommer getan hast, Scream oder wie sie alle heißen sind vorallem der Einfallsreichtum an Tötungsarten und das Platzieren von Jump Scares stilgebende Parameter für das Gelingen grauenerregender Spannung – und weniger die diffuse Stimmung einer abstrakten, allgegenwärtigen Bedrohung, wie sie hier entspannten Schrittes durchs Bild und auf die Kamera zumarschiert. Niemand würde vermuten, dass es sich hierbei um eine unheilvolle Macht handeln könnte, die es auf Jamie (Maika Monroe) abgesehen hat. Man könnte auch sagen, dieses Etwas, dass seinem Opfer beharrlich folgt, ist entweder Fluch oder metaphysisches Virus, eine kaum zu greifende, ewig existierende Macht, vielleicht gar eine in der Amygdala produzierte Angst, die sich nach außen stülpt in die dreidimensionale Welt, weil Bedrohung plötzlich alles sein kann. Interessant dabei ist der Aspekt, dass dieses Etwas durch Sex weitergegeben wird. Ist das Ganze also doch nur eine Metapher für Aids, Syphilis oder HPV, vielleicht gar ein Warnsignal eines prüden Amerikas, in welchem so einige gesellschaftspolitische Fraktionen gerne sehen würden, dass der Vollzug von Liebe gottgegeben erst nach der Vermählung erlaubt sein darf? Als wäre Sex das Übel der Welt – oder ist dann doch auch noch mehr dahinter?

Die Kraft des Zusammenhalts

Bei Sichtung von It Follows fallen die Metaebenen mit der Tür ins Haus. Mit ihr schieben sich geisterhafte Erscheinungen durch Fenster und Türen, gruselige Riesen, fauchende Kinder, entstellte Mädchen. Den Horror hat Mitchell dezent, aber wirkungsvoll eingefangen, die meiste Zeit aber entfaltet die unbequeme Ruhe vor dem nächsten Erscheinen und die damit einhergehende Machtlosigkeit ob des Mysteriösen die größte Wirkung. Maika Monroe (u. a. TAU, Longlegs) als verängstigte junge Frau schiebt auf effektive Weise Panik, und nein, das ist wahrlich kein bisschen übertrieben. Mitchell hätte dabei leicht zum Zynismus neigen können, doch das tut er nicht. Und darin liegt das Besondere an diesem Film. Seine Figuren sind weder selbst schuld noch verursachen sie anderen Schaden noch vertuschen sie irgendetwas, das vielleicht als moralische Nemesis Tribut fordert. It Follows setzt seinen Schwerpunkt auf die Gruppendynamik und den Respekt einer innigen Peer-Group, die durch Zusammenhalt, Opferbereitschaft und Liebe den finsteren Aspekten einer Existenz trotzen möchte. Mitchell zollt ihnen Respekt, verspricht keine Hoffnungen, macht aber neugierig und entschleunigt seine zwischen Stranger Things und Smile angesiedelte, existenzialistische Gruselgeschichte auf mutige Weise. It Follows ist ein Film, der das Gemüt trifft, der das Unerklärliche feiert, es dabei belässt, und gleichzeitig aber Erklärungen schafft, die das Leben betreffen, fernab von all dem Fantastischen.

It Follows (2014)

The Surfer (2024)

KEIN PLATZ AN DER SONNE
7/10


© 2024 Lionsgate


LAND / JAHR: AUSTRALIEN, IRLAND 2024

REGIE: LORCAN FINNEGAN

DREHBUCH: THOMAS MARTIN

CAST: NICOLAS CAGE, JULIAN MCMAHON, NICHOLAS CASSIM, MIRANDA TAPSELL, ALEXANDER BERTRAND, JUSTIN ROSNIAK, RAHEL ROMAHN, FINN LITTLE, CHARLOTTE MAGGI U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Die schönsten Strände der Welt finden sich wohl auch in Australien. Inmitten einer üppigen Natur, begleitet von den gackernden Lauten eines Kookaburra, die das Kreischen der Sittiche noch übertönen, begleitet vom Rauschen der Wellen und eingebettet in sattes Grün. Ein wahres Elysium für einen wie Nicolas Cage, der diese Gegend gut kennt, ist sie doch Teil seiner Kindheit – zumindest im Film. In The Surfer, dem neuen, perfiden Mindfuck-Streich von Lorcan Finnegan, der bereits schon mit seiner nihilistischen Lovecraft-Hommage Vivarium sein Publikum an nichts mehr glauben hat lassen, ist der im rötlichblonden Haar- und Bart-Look erstrahlende Superstar des bizarren Genrekinos einer, der am Strand seiner Träume auf Ausgrenzung stößt. Gerade dort, auf diesem Fleckchen Erde, an welchem Wellen brechen, auf denen man wie nirgendwo sonst dahinschippern kann. Dieses Damals, in welchem die Figur des namenlosen Mannes schwelgt, soll auch Teil von dessen Sohn werden – also bringt der Vater seinen Filius hierher, um ihm zu zeigen, wie ein Sport wie dieser gelebt werden kann. Allerdings: „You don’t live here. You don’t surf here.“ Dieser Strand ist in fester Hand einer lokalen Männerrunde, die niemanden sonst hier aufs Meer lässt, der nicht auch hier wohnt. Cage tut das nicht, also wird er aufs Gröbste vertrieben. Kann einer wie er so eine Abfuhr auf sich sitzen lassen? Ist diese Diskriminierung etwas, die man ganz einfach wegsteckt?

Vor allem, wenn Papa ohnehin plant, das Haus seiner Kindheit hier oben am Hang zurückzukaufen, um wieder so zu tun, als wären alle eine intakte Familie, als würde auch die Ehefrau reumütig wieder zurückkehren, um am Balkon mit Blick aufs Meer Feste zu feiern. Diese Vision hat Cage im Kopf, und dieser Vision opfert er schließlich auch jegliches rationale Empfinden, jegliche Vernunft und jegliche Planung. Als er den gedemütigten Sohn daheim absetzt, kehrt der Surfer zurück. Er will alles versuchen, um seinen Platz an der Sonne zu erstreiten. Auch wenn es ihm alles kostet. Seinen Besitz, seine Würde, seine Selbstachtung.

Das mag vielleicht alles nach einem hoffnungslosen Grenzgang klingen, den seinerzeit schon Michael Douglas in Falling Down unternommen hat – und ja: tauscht man die urbanen Gefilde gegen den Busch, gibt es Parallelen hinsichtlich dessen, wie Nicolas Cage immer mehr verfällt, immer mehr von Instinkten getrieben wird und in einer schier verzweifelten Hoffnungslosigkeit gegen Windmühlen ankämpfen muss, die aus mobbenden Youngsters und halbstarken Machos bestehen, die sekkanter nicht sein können. Immer schmerzlicher wird es, dabei zuzusehen, wie der zähneknirschende Cage die Kontrolle verliert und all die anderen mit ihm tun können, wonach es sie gelüstet. Die psychosoziale Schikane nimmt die grotesken Ausmaße einer Verschwörung an, und so gnadenlos der Abstieg auch anmutet, so kurioser wird Nicolas Cages exaltierte Performance. Was soll man anderes tun, als sich daran zu ergötzen, wie sich die existenzverlustierende Figur des Gescheiterten in hysterischer Verzweiflung suhlt. Versifft, verschwitzt, verwundet, verdurstend – und doch hat alles einen Grund. Womit wir bei Lorcan Finnegans perfider Erzählweise von Geschichten wären, die mysteriöser kaum sein können.

Zwischen reaktionärem Männerkult und traumatischer Bewältigung quält sich Cage in genüsslichem Overacting bis zum Gipfel der Selbstaufgabe. Weder ist The Surfer dabei Rachedrama, Action oder Thriller – Finnegan rührt in einem mysteriösen Potpourri, stört die Wahrnehmung und hinterfragt Identitäten. Das Unklare in dieser erfrischend kurzweiligen Studie der Beharrlichkeit weckt an den Haaren herbeigezogene Mutmaßungen. Man staunt, man spekuliert, man ekelt sich. Und obwohl Cage auch noch so leidet: Das, was kein anderer Akteur eigentlich sonst darf, reicht zur Etablierung eines tragikomischen Wutbürgers, der um sein Recht auf Erfüllung fuchtelt. Die gallige Schadenfreude Finnegans unter tropisch heißer Sonne, die alles Denken ausdörrt, während die Tierwelt von Down Under in ignoranter Langeweile ihre Integrität in einem toxischen Ökosystem feiert, lässt den Surfer wie einen modernen Tantalus ungern an die gedeckte Tafel. So hell die Sonne dabei strahlt, so dunkler sind die Schatten in diesem hämischen Lamento um verpasste Träume, das sich gewöhnlichem Plot-Denken entzieht.

The Surfer (2024)

Das Licht (2025)

NAHTOD EINER FAMILIE

7,5/10 


© 2025 X-Verleih AG


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: TOM TYKWER

CAST: NICOLETTE KREBITZ, LARS EIDINGER, TALA AL-DEEN, ELKE BIESENDORFER, JULIUS GAUSE, ELYAS ELDRIDGE, TOBY ONWUMERE, RUBY M. LICHTENBERG, KARL MARKOVICS, LIV LISA FRIES, VOLKER BRUCH, MUDAR RAMADAN, JOYCE ABU-ZEID U. A.

LÄNGE: 2 STD 42 MIN


Das Schicksal ist bei Tom Tykwer kein mieser Verräter. Niemand ist dabei ausschließlich für sich selbst verantwortlich, das Schicksal gehört ihren Seelen auch nicht ganz alleine. Die eine ist mit der anderen verknüpft und umgekehrt. Das Verhalten des oder der Einzelnen beeinflusst das Leben zum Teil völlig fremder Menschen. Wir alle, so meint Tom Tykwer stets, hängen alle im selben Geflecht aus Ursache und Wirkung, aus Geben und Nehmen, aus fahrlässiger Beeinflussung und gezielter Manipulation. Alles hängt irgendwie immer zusammen, niemand ist niemals eine Insel. Das war schon bei Winterschläfer und Lola rennt so – wir erinnern uns, und ja, es ist lange her. Franka Potente musste da spielfilmlang ihre Kondition trainieren, die peripher in ihrem äußeren Blickwinkel liegende Gesellschaft konnte davon profitieren oder auch nicht. Jedes Tun und Lassen verändert also das Schicksal der anderen. Mit Cloud Atlas ließ sich Tykwer auf eine fulminante Ko-Produktion mit den Geschwistern Wachowski ein. Tom Hanks, Halle Berry und Ben Wishaw begnügen sich dabei nicht nur mit jener Raumzeit, in der sie gerade leben, sondern verschränken ihre Schicksale über mehrere Epochen. Selbst die vierte Dimension will Tykwer sprengen, gerade über dieses Mysterium der Zeit arbeiten sich seine Filme hinweg – das ganze Universum, wenn man so will, ist gleichzeitig vergangen und zukünftig, die Metaphysik unserer Existenz ist ein komplexes, der Entropie erhabenes Miteinander.

Tykwer spinnt seine Ideenwelten weiter und dringt mit Das Licht noch tiefer in sozialphilosophische Abhängigkeiten vor. Er will dafür das System einer Neuzeit-Familie sprengen, die sich nichts mehr zu sagen hat und gleichzeitig so viel. Die aneinander vorbeifokussiert und verlernt hat, Bedürfnisse zu artikulieren. Vom dialogstarken Drama rund um einen schief hängenden Haussegen will dieses Epos aber nichts wissen. Es nutzt manches Genre, um auf dessen Schultern woanders hin zu gelangen – es spannt den Bogen bis in dem vom Kriege geschüttelten Nahen Osten. Es wird politisch, aber nicht zu sehr. Auch dieser Faktor ist nur ein Pflasterstein auf dem Weg zu etwas viel Universellerem. Zu etwas, das sich auf alles und jeden übertragen lässt. Das uns vereint und an unsere Grenzen bringt: Der Tod. Oder, um es etwas mehr zu spezifizieren: Der Nahtod.

Lars Eidinger, Nicolette Krebitz und die beiden vielversprechenden Jungdarsteller Elke Biesendorfer und Julius Gause werden zur experimentellen Spielwiese für die aus Syrien stammende Haushälterin Farrah (Tala Al-Deen), die sich nicht nur bei Familie Engels anstellen lässt, um hinter ihnen herzuräumen. Sie hat etwas ganz anderes im Sinn, durchaus etwas Eigennütziges, und streckt ihre manipulativen Fühler aus, die aber nicht böswilligen Ursprungs sind, sondern aus einem tiefen, selbst empfundenen Schmerz heraus arbeiten. Dieses Vorhaben aber setzt ganz andere Dynamiken in Gang, die nicht unwesentlich mit einer seltsamen Lichttherapie zu tun haben. Das Licht wird zum starken Symbolismus in einer metaphysischen Realität. Es wird zur Verlockung am Ende des Tunnels, bedient sich existenzialistischen Mysterien, bleibt aber wohltuend geerdet, obwohl Tom Tykwer so einige Spielereien wagt, welche die Art, eine Geschichte wie diese zu erzählen, auflockern und illustrieren soll. Mitunter wird getanzt, manchmal gesungen. Der jüngste der Familie, Dio, sieht sein Leben wie einen Cartoon dahingleiten, untermalt von Queens Bohemian Rhapsody. Tykwer weiß aber, seinen ohnehin schon vielschichtigen Film nicht zu überfrachten. Ganz vorne steht immer noch das Schauspiel eines Ensembles, das begriffen hat, worum es geht: Um das Niederreißen verkrusteter Automatismen, um den Grenzgang auf dem schmalen Grat zwischen Dies- und Jenseits – einzig und allein, um das Wesentliche wieder zu erkennen, das ein immerwährender, sintflutartiger Regen verschleiert. Um auf dem Fundament der nackten Existenz Neues aufzubauen.

Am Anfang, so könnte man sagen, war das Licht. Der Weg dorthin zurück wird zur Odyssee eines progressiven und leidenschaftlichen Künstlers, dessen Welten längst schon die Filmwelt Europas bereichert haben. Weil ihn ihnen gewagt wird, was andere für verschwurbelt halten.

Das Licht (2025)

Eat the Night (2024)

SARTRE NICHT NUR FÜR GAMER

8/10


eatthenight© 2024 Viennale


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: CAROLINE POGGI, JONATHAN VINEL

DREHBUCH: CAROLINE POGGI, JONATHAN VINEL, GUILLAUME BRÉAUD

CAST: THÉO CHOLBI, LILA GUENEAU, ERWAN KEPOA FALÉ, EDDY SUIVENG, KEVIN BAGO, XAVIER MALY U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Man kann noch so oft und jahrzehntelang im Kino gewesen sein – die breite Palette technischer Gebrechen, die den Filmgenuss hinauszögern, mögen unendlich sein. Beim Screening von Eat the Night versagte die Tonspur der Schauspieler. Die hauseigene Technik war bald mit ihrem Latein am Ende – ein Ersatztermin musste her. Wahrnehmen oder nicht? Ich hatte schon so eine Ahnung, dass der französische Film Noir von Caroline Poggi und Jonathan Vinel etwas Besonderes sein müsste. Also konnte ich mir Anlauf Nummer zwei nicht verkneifen. Eines vorweg: Ich sollte es nicht bereuen.

An alle Nicht-GamerInnen, Analog-BrettspielerInnen und jene, die gerne ihre Existenz ausschließlich in der Realität verankert sehen: Eat the Night ist kein Spielsucht-Problemfilm für Nerds. Er wirft auch nicht mit Fachbegriffen um sich oder setzt Kenntnisse voraus, durch welche vielleicht die Zielgruppe für diesen Film stark gebündelt werden könnte. In Eat the Night ist das Online-Spiel eine existenzialistische Metapher, ein Ausweg, ein Portal und eine alternative Realität, die den Protagonistinnen und Protagonisten in diesem ausgesucht komplexen Film Noir eine Erfüllung ermöglichen, die sie in der eigentlichen harten und entbehrungsreichen Realität erst überleben lässt.

Mit Utopien wie Ready Player One hat Eat the Night nichts zu tun. Denn das ist Science-Fiction, ein Abenteuer, dort wird die virtuelle Welt zum Wettbewerb, zur Challenge, um einen Schatz zu bergen. Caroline Poggi und Jonathan Vinel haben nichts dergleichen im Sinn. Ihre virtuelle fantastische Welt namens Darknoon, bevölkert mit Kreaturen, Tieren und Landschaften aller Art, ist „Open World“ – heisst also, man kann, wie in World of Warcraft, überallhin, muss keine Mission verfolgen, kann seinen Avatar weiterentwickeln, stählen und reifen lassen. Darknoon ist die Welt, in der die Geschwister Apolline und Pablo eine Gemeinschaft bilden. Sie töten Monster, erforschen die Welt, sammeln Brauchbares, tanzen oder sitzen am Lagerfeuer. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist hier. Doch dann dämmert die Apokalypse. In wenigen Monaten, zur Wintersonnenwende, soll das Spiel abgeschaltet werden, die Server verstummen für immer. Apolline, die sich mit ihrer alternativen Existenz viel mehr identifiziert als ihr Bruder, ist am Boden zerstört, während Pablo versucht, dem Ende von Darknoon insofern zuvorzukommen, indem er eine Beziehung mit dem Supermarktangestellten Night eingeht. Beide verticken selbstproduzierte Drogen – ein bisschen Breaking Bad in einer undankbaren Welt. Doch wo Drogen ihre Abnehmer finden, ist die Konkurrenz nicht weit. Und die ortet Wilderei im eigenen Revier. Währenddessen tickt die Uhr, das Ende der Online-Welt rückt näher. Es ist ein Ringen um die Existenz, um Neudefinition und Resilienz. Was bleibt, wenn die ideale Welt verschwindet?

Spielsucht ist nicht das Thema in Eat the Night. Wie schon länger kein Film zuvor bringt dieser hier das existenzialistische Gedankengut eines Jean-Paul Sartre in die cybersphärische Gegenwart. Kennt man die Werke des großen Literaten wie zum Beispiel Das Spiel ist aus (übrigens ein Filmdrehbuch), Die schmutzigen Hände oder Geschlossene Gesellschaft, lässt sich diese Art der Philosophie auch hier finden. Sartre, würde er noch leben, hätte womöglich ähnliches verfasst, hätte er an einem Stoff wie diesen schreiben müssen. Mit symbolischer Bildsprache, einem leidenschaftlichen, doch niemals romantisierenden queeren Nebenplot und der Kunst, die Online-Spielewelt als Sinnbild eines Untergangs des wenigen zu setzen, das noch in Ordnung scheint, lebt Eat the Night das frankophile Desillusionskino früherer Jahrzehnte, ohne dabei reaktionär, antiquiert oder gar lethargisch zu wirken. Immer noch ist dieser Film ein handfester Thriller, eine familiäre Tragödie, eine Liebesgeschichte. Vieles scheinen Poggi und Vinel zu vereinen, zu verschmelzen, alles auf einen gleichen Nenner und auf Augenhöhe zu bringen. Wenn sich Apolline und Pablo am Ende in den letzten Minuten des Spiels verzweifelt suchen, ist das wohl einer der intensivsten und emotionalsten Filmmomente der Viennale. Man spürt, was am Spiel steht. Man spürt, das Spiel ist aus. Das ist schmerzhaft und kraftvoll. Das ist wunderschön hoffnungsloses, individualistisches Endzeitkino.

Eat the Night (2024)