Amrum (2025)

FÜR EINE HANDVOLL HONIG

8/10


© 2025 Warner Bros. / mathiasbothor.com


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: FATIH AKIN

DREHBUCH: FATIH AKIN, HARK BOHM, NACH DESSEN ERINNERUNGEN

KAMERA: KARL WALTER LINDENLAUB

CAST: JASPER BILLERBECK, KIAN KÖPPKE, LAURA TONKE, DIANE KRUGER, DETLEV BUCK, LISA SAGMEISTER, STEFFEN WINK, LARS JESSEN, TONY CAN, MAREK HARLOFF, DIRK BÖHLING, JAN GEORG SCHÜTTE, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Erst vor wenigen Tagen verstarb Hark Hermann Bohm im Alter von 86 Jahren. Ich muss gestehen: bevor Fatih Akin mit seinem neuen Film über die Kindheit desselbigen in den Kinos startete, konnte ich diesen Namen nur relativ ungenau zuordnen. Mittlerweile habe ich auch diese Wissenslücke in Sachen deutscher Filmgeschichte geschlossen: Das Allroundgenie war nicht nur Filmemacher mit der dichtesten Schaffensperiode in den Siebzigern, sondern auch Schauspieler seit den Sechzigern (unter anderem bei Rainer Werner Fassbinder) und später Drehbuchautor für Fatih Akins Werke Tschick oder Aus dem Nichts. Sein wohl bekanntester Film: Nordsee ist Mordsee. Gut, wieder was dazugelernt. Und was wir bei Amrum noch dazulernen, ist, wie es sich als Kind angefühlt hat, das Ende des Zweiten Weltkriegs mitsamt seiner Nazi-Despotie nur peripher, aber vor allem im Spiegel der Eltern, mitzuerleben.

Krieg und Frieden durch Kinderaugen

Dieser Dreikäsehoch war Hark Bohm, da haben wir ihn wieder, und er hätte wohl selbst diesen Film über sich selbst inszeniert, hätte er nicht angesichts seines fortgeschrittenen Alters klein beigeben müssen. Fatih Akin, Bohms guter Freund, hat sich dieser Sache angenommen und selbst Regie geführt, im Beisein Bohms und nach dessen Drehbuch. denn niemand sonst hätte all diese Details im Kopf gehabt, um einen Umbruch zu beschreiben, der mit Magie, Neugier, Tradition und kindlichem Pragmatismus so sehr einhergeht, dass man glauben könnte, die gute Christine Nöstlinger, die mit Maikäfer flieg! ähnliche Erinnerungen zu Papier gebracht hat, ließe sich von einem wie Taika Waititi inszenieren, auf dessen Kappe das wiederum ganz andere, aber von der Tonalität her durchaus verwandte Meisterwerk Jojo Rabbit geht.

Die Erwachsenen verstehen lernen

Amrum reiht sich in diese verspielten, allerdings ernsthaften, aber niemals im Kummer endenden Betrachtungen auf Augenhöhe junger Heranwachsender so nahtlos ein, dass man diesen hier als inoffizielle Themenfortsetzung von Waikiki und Nöstlinger betrachten könnte, nur eben mit dem inseldeutschen Kolorit jener Menschen, die tagein tagaus mit dem Salz, den Wellen, dem Sand und den Gezeiten leben, die sich mitunter im friesischen Dialekt namens Öömrang unterhalten und eine lakonische Zähigkeit und Resilienz an den Tag legen, dass es zum gestandenen menschelnden Erlebnis wird. Allerdings haben nicht alle ihren stolzen Überlebenswillen hier draußen auf der friesischen Insel – Nannings Mutter hat ihn nicht. Die war Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass Adolf Hitler stets das richtige getan hat. Und als dann das Ende des Krieges und das Ende des Diktators kam, brach für die gute Frau (gespielt von Laura Tonke) eine Welt zusammen. Wie denn den Kummer der Erwachsenen tilgen, fragt sich der kleine Nanning (so Bohms Alter Ego), und findet letztlich die Konklusio, dass nur ein Weißbrot mit Butter und Honig wieder ein Lächeln auf die Lippen von Mama zaubern könnte. So stürzt er sich ins Abenteuer, um das zu beschaffen, was in Zeiten wie diesen rarer nicht sein kann. Vom Bäcker geht’s zum reichen Onkel, von dem zur Imkerin, querfeldein, über Wege, über Äcker und durchs Inseldorf mit dem prägnanten Kirchturm. Der Vater als Obersturmbannführer weit weg im Krieg, der Onkel (Matthias Schweighöfer) in Amerika die Illusion einer besseren Welt. Das Glück der Mutter das Ziel aller Bestrebungen.

Planet Amrum

Fatih Akin ist auch nicht unbedingt einer, der nur ein Thema kann. Vom leichten Sommerroadmovie Im Juli geht’s bis zum verstörenden Serienkillerhorror Der goldene Handschuh, dazwischen fährt Sebil Kekili Gegen die Wand und wird Diane Kruger zum Racheengel. Akin verliert sich dabei aber nie in klebriger Schwermut, sondern hält seine Arbeiten stets in Bewegung, damit sie Raum zum Atmen haben. Frische Luft tanken alle seine Filme, und ganz besonders Amrum. Für diese tiefe Verbeugung vor seinem Mentor, Lehrer und Freund schuf der Filmemacher ein faszinierend unbekümmertes und zugleich berührendes und die Geschichte niemals ignorierendes Abenteuer eines kindlichen Reifungsprozesses von verträumter Weltanschauung bis zur ergriffenen Initiative, bis zum Projekt des Überlebens und der Nächstenliebe. Amrums Charaktere sind jeder für sich unverkennbare Figuren, wettergegerbte Fischer; aufmüpfige, aber herzensgute Bauern, nach vorne blickende Überlebenskünstlerinnen und künstler, die den Krieg als eine Erscheinung erkennen, die ein Weitermachen niemals in Frage stellen würde – auch wenn es bedeutet, alles hinter sich zu lassen. In diesem Spannungsfeld läuft der ungestüme Jasper Billerbeck durch eine denkwürdige Zeitenwende, um für eine Handvoll Honig sein eigenes, liebevoll ausgestaltetes und weniger dämonisches Pans Labyrinth zu schaffen, voller Proben aufs Exempel, Erfahrungen und Weisheiten fürs Leben, die sich erstmal nicht als solche offenbaren.

Erinnerungen als Grundstein des Ichs

Amrum ist ein Werk voll Leichtigkeit und Schwere zugleich, verpackt in rustikalen, wunderschönen Bildern eines rauen, aber ehrlichen Fleckens Sand, Schlamm und Erde. Tragikomisch wäre aber fast zu einfach, viel mehr ist die Improvisationsgabe eine aufgeweckten jungen Geistes, der so gut wie alles mit anderen Augen sieht, so erfrischend, als wäre Nostalgie und Erinnerung essentiell dafür, nach vorne zu blicken, zuversichtlich, egal was kommt. In diesem Fall auf ein schillerndes (erfülltes) Leben wie das des Hark Bohm.

Amrum (2025)

In die Sonne schauen (2025)

VEREINT IN DER ZEIT

9/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025

REGIE: MASCHA SCHILINSKI

DREHBUCH: MASCHA SCHILINSKI, LOUISE PETER

KAMERA: FABIAN GAMPER

CAST: HANNA HECKT, LEA DRINDA, LENA URZENDOWSKY, LAENI GEISELER, SUSANNE WUEST, LUISE HEYER, FLORIAN GEISSELMANN, GRETA KRÄMER, ZOË BAIER, CLAUDIA GEISLER-BADING, GODE BENEDIX U. A.

LÄNGE: 2 STD 29 MIN


Mascha Schilinski war da. Ganz leger in Mantel, Haube, Schal, als wäre sie lediglich in der Fluktuation der Besuchenden Gast einer Vernissage, dessen Bilder längst nicht die ihren sind. Ob sie ihrem Publikum noch etwas sagen wolle, bevor ihr Film beginnt, stellt die Moderatorin der Viennale nach kurzer Begrüßung die letzte Frage. Einfach treiben lassen, reinfallen lassen, sehen, was kommt, so die Antwort. Nicht das offensichtlich Verworrene hinterfragen, keine Verwandtschaftsverhältnisse, kein Warum oder Weshalb. Einfach wahrnehmen. Dann, nur dann, und das dann garantiert, bekommt In die Sonne schauen Struktur, erkennt man Muster, einen gewissen Rhythmus, dafür sollte man aber seinen Geist öffnen, zulassen, Vorurteile hintanstellen, Erwartungen sowieso gar nicht erst gehabt haben. Und so habe ich mir diese letzten Worte zu Herzen genommen, habe mich zurückgelehnt, die Augen und Ohren geöffnet, meine Sinne auf Empfang justiert, mich sozusagen in eine meditative Vorstufe begeben.

Die Mathematik einer narrativen Sprengung

Das darauffolgende Eintauchen im Schilinskis vielfach prämiertes Opus Magnum – und ja, das ist es auf alle Fälle – ist wie der Besuch in einem fremden Land, das Hineingleiten in einen Fluss, das Erspüren des Waldbodens mit bloßen Füßen. Es riecht nach alten Möbeln, nach Heu, nach Schweiß, nach Tod. Nach Pflaumen, Sommersonne und Blut. Was Ludwig Ganghofer, Ludwig Anzengruber, Franz Innerhofer und Robert Schneider schon immer hätten schreiben wollen, ist Mascha Schilinski mit ihrer Co-Autorin Louise Peter über Jahre hinweg gelungen: Einen Zeit und Raum sprengenden Heimatfilm, der sich von allem bisher Dagewesenen abwendet, um nichts in der Welt einem Genre zugeordnet werden möchte und womöglich selbst durch ein intuitives Erspüren der Dinge und Wesenheiten überhaupt erst entstanden ist. Gleichermaßen aber erfordert eine Struktur wie diese, die in In die Sonne schauen sichtbar wird, fast schon mathematische Genauigkeit. Beides zusammen in ein sich gegenseitig begünstigender Widerspruch, der im Betrachten dieser metaphysischen Chronologie etwas bewegt.

Hin und hergerissen

Pauschalisiert gesehen sind es Emotionen, und zwar nicht nur solche, die sich dem Gezeigten gegenüber wohlwollend verhalten. Mitunter ist es Ablehnung, da ich vermutet hatte, dass Schilinskis Anspruch, Filmkunst zu verwirklichen, diesem Zweck genügt und nicht mehr. Manchmal bin ich wütend, dann verwirrt, verstört – ein Entwicklungsprozess tritt in Gang, der, betrachtet man das Konzept des Films, genau so gewollt war. Das Wechselbad der Empfindungen spiegelt sich in der Gesinnung dieser Frauen, zeitlich auseinandergerissen in vier Epochen, weit voneinander entfernt, physisch vielleicht, aber nicht psychisch, denn da schlagen die vier Episoden ihre Brücken zueinander, ziehen sich gegenseitig an und verschmelzen zu einem ineinander verschachtelten Mosaik aus Szenen, die je nach Lichteinfall einmal nur die einen, dann wieder die anderen Steine sichtbar werden lassen, je nach Schliff, je nach Tonalität.

Diese vier Epochen erscheinen in ihrer Gleichzeitigkeit, von den Jahren des Ersten Weltkriegs über das bittere Ende des zweiten Krieges an den Achtzigerjahren vorbei bis in die Gegenwart. Vier weibliche Persönlichkeiten stehen da an der Schwelle eines Umbruchs, einer Offenbarung, eines Paradigmenwechsels. Schauplatz ist stets ein altmärkischer Vierkanthof, die Zeiten und ihre Lebensweisen können unterschiedlicher nicht sein. Umso auffallend aber das, was die vier Menschen miteinander verbindet – manch Worte, das Vergängliche, die Ahnung von etwas größerem Ganzen, vielleicht den eigenen Ahnen.

Ein Donnern durch die Zeit

Wie klingt der Urknall, hat sich Schilinski gefragt, als sie nach dem Film über die bedeutende Ebene der Klangwelten spricht. Etwas Gewaltiges ist im Gange, das Grundrauschen des Universums, das Dehnen physikalischer Gesetze, die, begleitet von einem gepeinigten Wummern, den Wechsel zwischen den Existenzblasen ermöglicht. Das Experimentelle des Tons findet seine Entsprechung in der experimentellen Visualisierung abstrakter, sinnlicher Wahrnehmungen, zwischen Unschärfen, entsättigten Traumsequenzen und alternativer Visionen.

Das Durchbrechen der vierten Wand führt dazu, dass wir uns angesprochen fühlen, doch vielmehr ist es das Durchbrechen der den Figuren eigenen zeitlichen Dimension, um in eine andere zu blicken, nur einen kurzen Augenblick – um gewahr zu werden, dass die Zeit dich nicht trennt von denen, die da waren und jenen, die noch werden. In die Sonne schauen wird fast schon zu einem Spukfilm, ein Geisterreigen, stets begleitet von einer gewissen folgenschweren, melancholischen Düsternis. Auch der Tod als epigenetischer Übergang in eine andere Existenz ist nicht die einzige Naturgewalt, die Schlussstriche zieht. Da ist noch etwas anderes, diese Gleichzeitigkeit. Zeit ist in Schilinskis Film ein abstrakter Begriff, eine verschiebbare Trennung, ein Kreislauf, wie in Denis Villeneuves Science-Fiction-Film Arrival. Überrumpelt stelle ich fest, dass In die Sonne schauen letztendlich zu einer oszillierenden, ständig in Bewegung befindlichen, bahnbrechenden Erfahrung von Film geworden ist – eine audiovisuelle, symphonische Anordnung als wohl ungewöhnlichstes Werk im Rahmen der Viennale und vielleicht auch des Jahres. Am Ende hat Schilinskis völlig recht mit ihrer Empfehlung. Antennen öffnen, Sinne schärfen, Film hineinlassen. Am Ende, den Boden unter den Füßen verlierend, sieht man klar.

In die Sonne schauen (2025)

Ein ganzes Leben (2023)

HEIMATLOS IN DER HEIMAT

7/10


einganzesleben© 2023 Tobis Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2023

REGIE: HANS STEINBICHLER

DREHBUCH: ULRICH LIMMER, NACH DEM ROMAN VON ROBERT SEETHALER

CAST: STEFAN GORSKI, AUGUST ZIRNER, JULIA FRANZ RICHTER, ROBERT STADLOBER, ANDREAS LUST, THOMAS SCHUBERT, MARIANNE SÄGEBRECHT, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD KASAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN 


In Rainhard Fendrichs inoffizieller österreichischer Bundeshymne lautet eine Zeile wie folgt: Da bin ich her, da gehör‘ ich hin. In Robert Seethalers fiktiver Heimatbiographie Ein ganzes Leben wird das unerschütterliche Statement zur unsicheren Fragestellung: Wo bin ich her, wo gehör‘ ich hin? Das sind Kernwahrheiten, nach denen wir alle suchen. Doch Seethalers Roman bringt es auf den Punkt, stellt diese Fragen dringender denn je – und macht mit seiner Figur des Andreas Egger die Probe aufs Exempel, wie es wohl sein muss, nicht zu wissen, woher man – im Bezug auf das Diesseits – eigentlich kommt und wohin man schließlich gehört. Zumindest Hans Steinbichler (u. a, Das Tagebuch der Anne Frank, Winterreise) hat den Schwebezustand eines bergverbundenen Mannes aus seiner allerletzten Verankerung gerissen und lässt ihn wie einen dieser montanen Greifvögel zwar nicht hoch, aber trotz allem in einiger Distanz zu seinem eigenen Leben und dem Sinn dahinter umhernomadisieren.

Das Woher-komme-ich lastet bereits im ersten Take des Films auf den Schultern eines gerade mal achtjährigen Jungen, der, und das wird nicht näher erläutert, so ziemlich elternlos daherkommt. Irgendwo muss dieser „Oliver Twist“ auch hin, am besten zum entfernt verwandten Bauern Kranzstocker (garstig: Andreas Lust), der, wie der Name schon sagt, gerne zum Stock greift, den Knaben verprügelt und diesen prinzipiell nicht leiden kann. Ein böser Mensch unter dem Herrn, und derart böse Menschen gibt es viele auf dieser Welt. Der junge Andreas Egger nimmt das stoisch hin, schluckt seinen physischen wie psychischen Schmerz einfach runter. Wenig wird er sprechen, zumindest in den jungen Jahren nicht. Doch kaum ist dieser älter und wehrhafter, kehrt er dem Hof und dem Prügelbauern den Rücken, sucht sein eigenes Glück und seine Bestimmung. Sucht im Grunde seine Heimat. Und findet seine Liebe, die, soeben erst gewonnen, wieder verlorengehen wird. Mit ihr auch die Idee eines Zuhause; einer Geborgenheit, die Andreas nicht mehr erlangen wird. Um sich selbst zu spüren, wird er schuften und arbeiten, arbeiten und schuften. Dazwischen schlafen, etwas essen, und sonst nicht viel reden.

Dieses Leben zwischen und auf den Bergen ist ein schnödes, undankbares. Eines, das gerade mal malerische Landschaften und blühende Blumenwiesen bietet. Rauschende Wälder und gar nicht mal einen Jodler. Ein ganzes Leben scheint einer dieser durch und durch klassischen, wildromantischen Heimatfilme zu sein, wie es sie früher gegeben hat. Statt Stefan Gorski oder August Zirner wäre die Rolle des Egger eine solche, die Luis Trenker wohl gespielt und einer wie Georg Wilhelm Pabst inszeniert hätte. Vermutlich in expressionistischem Schwarzweiß, stets im Fokus das wettergegerbte Gesicht des den Entbehrungen ausgesetzten Landmenschen, der hört, wie der Berg ruft, wie das Grollen von Lawinen vibriert und wie kalt der Tod sein kann.

Und doch ist bei Steinbichlers Film so manches anders. Muten die Metaebenen dieser in simpler Chronologie gehaltenen Jahrhundertbeichte fast wie paradoxe Gleichnisse an. Das Gefühl von Heimatlosigkeit in der Heimat, die Freiheit, über die Gipfel zu blicken, und doch nie gelernt zu haben, weiterzureisen bis ins nächste Tal. Arbeit, um zu leben, wird zum Leben, um zu arbeiten. Alles in Ein ganzes Leben hat eine Dualität, die in derselben Begrifflichkeit wurzelt. Auch wenn kaum feststellbar ist, welchen Gedanken dieser Egger nachhängt, – der übrigens sowohl von Stefan Gorski und August Zirner ohne Charakterbruch wie aus einem Guss gespielt wird, als wären beide ein einziger Akteur – lenkt Steinbichler seinen Panoramablick auf sein Innerstes. Damit ist diese in ihrer Sprache recht karge, doch emotional aufwühlende Literaturverfilmung weniger spektakuläres Epos als vielmehr eine introvertierte Suche nach nichts Bestimmtem, doch gleichzeitig nach Allem.

Ein ganzes Leben (2023)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)

Nightsiren (2022)

WIE MAN SICH HEXEN MACHT

7/10


nightsiren© 2023 Busch Media Group


LAND / JAHR: TSCHECHIEN, SLOWAKEI 2022

REGIE: TEREZA NVOTOVÁ

BUCH: BARBORA NÁMEROVÁ, TEREZA NVOTOVÁ

CAST: NATÁLIA GERMANI, EVA MORES, JULIANA OLHOVÁ, IVA BITTOVÁ, JANA OLHOVÁ, MAREK GEISBERG U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


In Robert Eggers The Witch hat die strenggläubige Familie von Anya Taylor-Joy so lange darauf beharrt, dass ihre Tochter einen Pakt mit finsteren Mächten eingegangen sein muss, bis es wirklich dazu kam. Klarer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. Und gerade in diesem Film wird klar, dass die wahre Hölle immer die anderen sind – frei nach Sartre. Die slowakische Filmemacherin Tereza Nvotová will sich dieser Umkehrrechnung ebenfalls annehmen – und erzählt diesmal nicht aus der Finsternis des siebzehnten Jahrhunderts, sondern stellt sich gegenwärtigen Verhältnissen. Zum Teil sind diese auch autobiographisch; zumindest, was das Verhalten der Gemeinde angeht und wohl weniger das Metaphysische zwischen den Bäumen.

Der Mikrokosmos einer Dorfgesellschaft ist stets mit Vorsicht zu genießen. Ein jeder kennt jeden, es wird getuschelt und getratscht. Geheimnisse gibt es längst nicht mehr, und tritt wirklich Pikantes zutage, wissen es alle. Schnell wird der Verdacht zur Gewissheit, die Gewissheit zur irrationalen Angst, die irrationale Angst zum Wahn. Genau so landeten damals vermeintliche Hexen auf dem Scheiterhaufen oder wurden ins Wasser getaucht, damit die anderen herausfinden konnten, ob die Beschuldigte vielleicht nicht doch ehrlich damit war, unschuldig zu sein.

Die Menschheit hat sich, wie wir wissen, in ihrem Verhalten seit damals kaum gewandelt. Gut, die Gesetze sind andere, das Gewand ist nicht selbstgenäht, sondern stammt vom Großkonzern und die Hygiene ist besser. Doch alles andere tritt auf der Stelle. Nightsiren kommt diesem enttäuschend unbelehrbaren Status Quo langsam auf die Schliche. In ihrem Film treibt sie niemanden zur Eile an, die Story schreibt das Tempo vor – und geht so: Eine junge Frau kehrt nach Jahrzehnten der Abgängigkeit in ihr Heimatdorf zurück – oder besser gesagt: zur Waldhütte ihrer verstorbenen Mutter. Die ist längst abgebrannt, da gibt’s nichts mehr zu holen. Gegenüber, ein paar Meter weiter, dämmert das Haus einer angeblichen Hexe dem Verfall entgegen, dort quartiert sich Charlotte erstmal ein. Nicht nur der Brief des Bürgermeisters, der die Hinterlassenschaften ihrer Mutter regeln will, treibt sie hierher – es ist auch die Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überlebt haben könnte, nachdem sie diese vor Jahrzehnten versehentlich von einer Waldklippe stieß. Charlottes ganze Familie ist nebenbei sowieso in Verruf geraten, mit Waldhexe Otylia einen Pakt eingegangen zu sein. Entsprechend zögerlich reagieren die Einwohner auf die Heimkehr der verschollenen Tochter. Natürlich wecken Charlottes Nachforschungen schlafende Hunde, ein Mädchen namens Mira gesellt sich zu ihr, und die permanent notgeilen Männer des Dorfes stellen bald schon eine Bedrohung dar. Im Schatten hexischer Magie befinden sich alle, doch es braucht eine Zeit, bis dieses Unheil von den anderen beim Namen genannt wird.

Nightsiren vermeidet – und das ist wunderbar erfrischend – jegliches Klischee aus diversen anderen Hexenfilmen, die die Mythologie auf hässliche Fratzen und unreflektierte Bösartigkeit reduzieren. Tereza Nvotová gibt dem Thema einen hellen Anstrich und kokettiert viel mehr mit den Imperativen weiblicher sexueller Freiheiten, die vom Patriarchat längst nicht mehr unterdrückt werden dürfen. Ihr Mysterydrama ist ein zutiefst feministischer Film, der fast schon der Versuchung erliegt, alles Männliche als Unterjochung darzustellen, wäre da nicht zumindest einer, der von den geschlechtstypischen Verhaltensweisen Abstand nimmt. Ob das den Ausgleich schafft, bleibt lange fraglich. Und rückt dann später in den Hintergrund, wenn Nightsiren beginnt, Reales mit Imagination, Lehrbuchphysik mit Metaphysik und Gewalt mit Magie zu vermischen. Die Hexe bei Nvotová ist ein Sinnbild für das Ausleben unterdrückter Weiblichkeit – dafür braucht es lediglich Andeutungen und keinen feisten Budenzauber. Weniger ist hier mehr, und das wenige schafft es aber dennoch, alles durcheinanderzubringen, sodass man als Zuseher letzten Endes gar nicht mehr weiß, was tatsächlich stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird. So einiges bleibt offen, vieles geheimnisvoll und vage. Was dem Film aber nicht zum Nachteil gereicht.

Als moderner Frauenfilm, der sich mit dem Phantastischen am nächtlichen Waldboden wälzt, lässt Nightsiren die Zeit wie im Flug vergehen und fasziniert, weil es eben nicht unbedingt faszinieren will. Ein Film, der durch seine entspannte Erzählweise Spannung erzeugt, die ganz von allein entsteht.

Nightsiren (2022)

Luzifer

BERGPREDIGT FÜR DEN HAUSGEBRAUCH

5/10


luzifer© 2022 Indeed Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2021

BUCH / REGIE: PETER BRUNNER

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: SUSANNE JENSEN, FRANZ ROGOWSKI, MONIKA HINTERHUBER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Die Berge Tirols. Was kann erbaulicher, was herrlicher sein für jemanden, der die Natur, die Hochalmen und das ganze drumherum liebt, fernab von Rush Hour und der Hektik einer 24-Stunden-Availability? Inmitten dieser Idylle: eine Hütte jenseits der Baumgrenze. Dort lässt sich zur Besinnung kommen. Seltsam wird’s aber erst, wenn klar wird, wer dort wohnt. Eine Mutter mit ihrem Sohn. Der wiederum ist ein gestandener Mann mit einem Händchen für Greifvögel aller Art. Die Mutter selbst: womöglich eine Ex-Junkie und einem religiösen Fanatismus unterworfen, der inmitten der montanen Urgewalten gerne auch mal das selbst errichtete Credo mit archaischen Komponenten ergänzt. Die Mutter, Maria, hält ihren Sohn, der womöglich aufgrund von Hospitalismus geistig degeneriert zu sein scheint, unter totaler Kontrolle. Seine Welt ist die der geordneten Abfolge bizarrer Rituale, die von Selbstgeisselung über Reinigungsbädern bis hin zur Waschung der eigenen Mutter reicht. Was Ulrich Seidl also nicht „im Keller“ gefunden hat (hat er doch schließlich diesen Film produziert), findet dieser schließlich auf den Bergen. Aber keine Sorge: die bizarren Wege, die Regisseur und Drehbuchautor Peter Brunner seine beiden verpeilten Gestalten gehen lässt, verkommen zumindest anfangs nicht zum Selbstzweck.

Die Geschichte erinnert in ihren Grundzügen an Robert Eggers Kolonial- und Mysterydrama The Witch: Eine Familie lebt im sozialen Abseits ihre religiöse Strenge aus, inmitten einer ambivalenten Natur. Dabei geschehen Dinge, übernatürlicher oder realer Natur, die das komplette Weltbild derer durcheinanderbringen. Waren es bei The Witch die Umtriebe einer Hexe, sind es in Luzifer so ziemlich profane und niederträchtige Methoden eines Bauunternehmens, die Alm, auf welcher sich die Hütte der beiden befindet, auf ein Skigebiet umzukrempeln. Will heißen: Landvermesser treiben ihr Unwesen und scannen mit ihren Drohnen das gesamte Gebiet. Die Drohnen selbst sind zumindest für Sohnemann Johannes ein metaphysisches Ereignis. Denn nachdem die Gemeinde im Tal vergeblich versucht, Mutter Maria davon zu überzeugen, ihr Stück Heimat zu verkaufen, scheint der Teufel seinen Bockfuß in die Tür zu stellen. „Wo ist der Teufel?“ fragt Susanne Jensen in leisem, unheilvollem Flüsterton immer wieder und bedient die Parameter okkulten Horrors. Vielleicht wohnt der Antichrist gar in dieser seltsamen Höhle an der Felswand, wo es so aussieht, als würden die roten, surrenden Flugkörper ihren Ursprung haben. Die beiden müssen also tun, was getan werden muss: Sich vom Teufel befreien, zu Gott beten und dem Verderben die Stirn bieten, das wie ein Fluch immer mehr Tribute fordert.

Felix Mitterer hat in seinen Stücken oftmals Glaube und Heimat als bitteres Narrativ mit moralischen Funken grandios verarbeitet. Luzifer tut ähnliches, bleibt aber eine Einbahnstraße, ein Niedergang in eine Richtung, und zwar bergab. Zum Verhängnis werden – wie in The Witch oder auch Schlafes Bruder – der eigene Wahn, die eigene Angst und daraus entstehende Handlungen im Affekt, die so kurios wie befremdlich wirken und einer völligen Überforderung geschuldet sind. Dabei geht Brunners Film vor allem gegen Ende in die Vollen, wenn unabkehrbare Umstände Franz Rogowski auf eine verschwurbelte Logik besinnen lassen, die er dann auch akribisch in die Tat umsetzt. Bis dahin dominiert Susanne Jensen das Geschehen. Das ehemalige Missbrauchsopfer, nunmehr Autorin, Künstlerin und evangelische Pastorin, die sich mit ihrem Schicksal notgedrungen auseinandersetzen muss, gerät in Brunners Film zum unberechenbaren Unikum: Kahlgeschoren, ausgezehrt und am ganzen Körper tätowiert, findet Jensen die Erfüllung scheinbar darin, sich geißelnd, betend und vorzugsweise nackt zu präsentieren. Luzifer könnte für sie eine Art filmische Katharsis gewesen sein, ein Auffangbecken zur Verknüpfung realer Traumata mit den fiktiven Komponenten eines Bergdramas, den der Aspekt des ökosozialen Außenseiterdramas nur peripher interessiert, im Gegensatz zu Ronny Trockers Bauern-Requiem Die Einsiedler mit Ingrid Burckhardt. Das Nuscheln von Jensen und Rogowski trägt auch nicht dazu bei, den Eskapaden der beiden gerne folgen zu wollen – viel mehr scheint ihre Sprache fast wie ein fremder Dialekt die Abgeschiedenheit kaum zu durchdringen und das Interesse am Zuseher abzulehnen.

Bereichernd und erhellend ist Luzifer nicht, dafür aber so faszinierend wie ein reißerisches Bergdrama, in welchem die Art und Weise des Unglücks die Blicke bannen. Ein kryptischer, oft hässlicher Trip in zwei verkümmerte Geister, die gerne eins wären mit der Natur, sich vor fast allem aber fürchten müssen.

Luzifer