The End (2024)

BLEIBT DEN MENSCHEN NOCH DAS SINGEN

4,5/10


© 2025 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2024

REGIE: JOSHUA OPPENHEIMER

DREHBUCH: JOSHUA OPPENHEIMER, RASMUS HEISTERBERG

CAST: TILD SWINTON, MICHAEL SHANNON, GEORGE MACKAY, MOSES INGRAM, BRONAGH GALLAGHER, TIM MCINNERNY, LENNIE JAMES, DANIELLE RYAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Die Zeit nach dem Untergang muss nicht immer zum Spannendsten gehören, was die Welt je erlebt hat. Muss diese denn sterben, um was zu erleben? Mitnichten. In Film und Fernsehen hat die Apokalypse stets einen Nachhänger: die Postapokalypse, das elende Nichts danach, in welchem das letzte Häufchen an Menschen im übertragenen Sinn das Feuer neu entdeckt. Hinzu kommen meist Horden von Zombies oder andersgeartete Monster. Oder es passiert gar nichts, es ist einfach nur öde, und die Überlebenden haben sich längst unter die Erdoberfläche zurückgezogen, denn von dort ist nichts mehr zu holen. In Fallout oder Silo zum Beispiel, beides angesagte Science-Fiction-Serien, ist das kolportierte Ende der Welt nur politisches Druckmittel eines diffusen Machtapparats. Selbst im nun schon in die Jahre gekommenen Klassiker Flucht ins 23. Jahrhundert hat sich jenseits des kuppelförmigen Jungbrunnens längst eine neue, fruchtbare Wildnis etabliert. In Joshua Oppenheimers Alltag nach dem verheerenden Tag X denkt keiner daran, wiedermal einen Blick an die Oberfläche zu wagen. Kann ja sein, dass es sich im Licht einer immer noch strahlenden Sonne besser leben lässt als in einem Kalksteinbunker, in welchem der Feinstaub garantiert irgendwann eine kaputte Lunge garantiert, und zwar bei allen Beteiligten.

Diese Beteiligten sind die Gruppe aus einer dreiköpfigen Familie und liebgewonnenen Freunden, wie auch immer haben sich diese ein schmuckes Zuhause gestaltet, alles schön klassizistisch vertäfelt, überall hängen museumsreife Gemälde von Renoir oder Degas, es ist schließlich nicht so, als hätten die Damen und Herren hier unten von null auf eine neue Existenz errichtet. Sie müssten also schon weit vorher gewusst haben, dass alles zu Ende gehen wird. Und nun ist es da, und es gibt keine Zombies und keine toxische Atmosphäre, keine marodierenden Anarchisten, Sekten, invasive Alienrassen oder die Herrschaft künstlicher Intelligenzen. Oppenheimer lässt uns im Unklaren darüber, was wirklich geschehen sein mag. Wichtig ist nur, die Nachwelt als die Illusion einer trauten Gemeinschaft zu erhalten. Und die gestaltet sich ziemlich ereignislos. Ja, das Ende kann zum quälenden Müßiggang werden, in dem man seinen Hobbies frönt oder vor lauter Langeweile plötzlich anfängt, zu singen. Im Prinzip mal keine schlechte Alternative, Musik vertreibt dunkle Gedanken, macht glücklich, schüttet genug Endorphine aus, um zuversichtlich ins Morgen zu blicken. The End wird damit zum zaghaften Musical inmitten einer Art lieben Familie, die gemeinsam zu Tisch sitzt oder am Diorama eines intakten Amerikas herumschraubt.

Und plötzlich ist sie da, die junge Frau, die es geschafft hat, von außen in die heile Welt von Tilda Swinton, Michael Shannon und George McKay einzudringen. Viel Nachricht von jenseits des Bunkers scheint sie nicht zu bringen, doch klar wird, dass die Welt da oben nicht vergiftet ist. Moses Ingram (die Inquisitorin Reva aus der Star Wars Serie Obi-Wan Kenobi) mischt dann folglich auch noch mit, wenn es heisst, wiedermal einen Song zum Besten zu geben, der nur bedingt melodisch scheint. Ingram hat aber die weitaus beste Stimmlage, und wenn sie mal das Rampenlicht okkupiert, klingt das wohl in den Ohren – nicht so bei Tilda Swinton. Doch Swinton hat andere Stärken. Sie alle eint, dass sie verdrängt haben, was vor dem Ende alles passiert war – welche Tragik, welche Fehler, welche Widersprüche. Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, dafür braucht es aber keinen Film, der weit mehr als zwei Stunden dauert. Oppenheimer wagt hier keinerlei Ausbrüche, er weigert sich, die Lage zu einer prekären werden zu lassen. Es wird geredet, erkannt, reflektiert, dann wieder gesungen, alles in der kulissenhaften Monotonie eines Endzeit-Downton Abbey, jenseits der Tore ins Eigenheim ausgehöhlte Tunnel, allerhand Staub. Und keine Lust darauf, die Dinge zu ändern. Nicht mal George McKay, längst flügge, wagt seine eigene Zukunft, obwohl die Chance dafür zum Greifen nahe liegt. Handlung, wo gehst du hin, könnte man fragen. Leider nirgendwo.

Da sich alle im Kreise drehen und Oppenheimer sein schleppendes Kammerspiel weitgehend sich selbst überlässt, ohne den Schicksalsgott zu spielen oder den verordneten Selbstbetrug in einem Aufschrei aufzudröseln, mag The End manche aus dem Publikum in den Schlaf singen. Selten war die Postapokalypse so fade.

The End (2024)

Blink Twice (2024)

MÜSSIGGANG AUF ZIRZES INSEL

6/10


blinktwice© 2024 Amazon Content Services LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: ZOË KRAVITZ

DREHBUCH: ZOË KRAVITZ, E. T. FEIGENBAUM

CAST: NAOMI ACKIE, CHANNING TATUM, CHRISTIAN SLATER, SIMON REX, ADRIA ARJONA, KYLE MCLACHLAN, HALEY JOEL OSMENT, ALIA SHAWKAT, GEENA DAVIS, LEVON HAWKE U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Bist du in Gefahr – zweimal blinzeln! Wenn Kyle MacLachlan als windiger Psychotherapeut seinem Gegenüber Naomi Ackie diesen ironisch konnotierten Tipp sponsert, weiß er vermutlich schon, wovon er spricht – oder doch nicht? So sehr sich auch alles nach einem real gewordenen Märchen für Erwachsene und solche, die sich erst selbst finden müssen, anfühlt, so sehr kann man damit auch rechnen, das auf makellos gute Zeiten womöglich das große Unglück folgt. Ein ungeschriebenes Gesetz des Schicksals? Oder nur ein Glaubenssatz ohne Hand und Fuß? Zu schön um wahr zu sein scheint es anfangs, als die etwas aus dem Rhythmus des Lebens gefallene Kellnerin Frida auf der Party des Milliardärs und Lebemanns Slater King (ein diabolischer Channing Tatum) dessen Aufmerksamkeit erlangt. Sofort angetan von Fridas Reizen, widmet er den gesamten Abend allein ihr, um sie dann spontan zu sich auf seine paradiesische Privatinsel einzuladen, samt Mitbewohnerin Jess, und ehe sich beide versehen, sitzen sie im luxuriösen Privatflieger Richtung Tropen, um das Leben von ihrer leichten, traumhaften, hedonistischen Seite zu betrachten, wo Müßiggang niemals aller Laster Anfang sein kann und sich Drogen, Alkohol und feine Küche das Zepter der Dekadenz reichen, nur unterbrochen durch Planschen im Pool, Flanieren und einfach Spaß haben. Nun, so ein Leben wird auf die Dauer dann doch langweilig, nicht aber für Frida und all die anderen jungen Frauen, die, gemeinsam mit einer Handvoll ebenfalls dauerurlaubender Männer, die als Kings Entourage fungieren, jeden Tag von neuem genießen, als gäb‘s kein Morgen. Oder einfach keine Zeit mehr. Als hätte man vergessen, dass da draußen, jenseits des Meeres, noch eine Welt existiert, die man Alltag nennt.

Das alles klingt nach einer Insel der Seligen, nach dem Elysium eines irdischen Paradieses. Odysseus kann davon ein Liedchen singen, oder zumindest hat Homer seinen Aufenthalt bei Nymphe Zirze ausführlich beschrieben. Auch er verfiel dem Reiz des Elysiums und vorallem der schönen mythischen Gestalt, die den Helden von Troja alles vergessen ließ, was sonst noch so auf seiner Agenda gestanden hätte. Regiedebütantin Zoë Kravitz, die wir bislang nur als Schauspielerin kennen, stellt die Sage auf den Kopf und entwirft ein Szenario, in welchem nichts so ist, wie es zu sein scheint. Und das düstere Grauen, das kauert still und leise hinter makellosen Südsee-Fassaden und weißen Laken, die alles zudecken und nur minimale Spuren hinterlassen, die Naomi Ackie langsam, aber doch, irritieren.

Blink Twice will ein sarkastischer Psychothriller sein, der die Macht und Ohnmacht beider Geschlechter hart konturiert. Die Verteilung ist klar, und widmet sich dem stereotypen Rollenbild, bevor Kravitz gerne die Richtungen und auch die Fronten wechselt. Und auch wenn sie im Eifer ihrer Ambitionen einen schauspielerisch ziemlich ausgeschlafenen Cast auf erfrischende Weise die Orientierung verlieren lässt, kommt einem das Konzept des Films seltsam vertraut vor. Nicht dass Blink Twice lediglich den etwas ähnlich gelagerten, aber dystopischeren Suspense-Thriller Don’t Worry Darling variiert. Und nicht, dass Blink Twice vielleicht auch aus gesellschaftskritischer Sicht einiges mit Jordan Peeles Get Out oder mit dem schillernd besetzten Mädels-Drill Paradise Hills gemeinsam hat. Letztlich haben alle einen Nenner, der davon handelt, dunkle Machenschaften aufzudecken und einer Illusion zu entkommen. Von daher überrascht Blink Twice mitnichten, unterhält aber dennoch, weil klar ist, worauf die Sache hinauslaufen wird.

Kravitz widmet sich dabei nicht nur auf hemdsärmelige Weise der potenziellen Wehrhaftigkeit von Frauen, sondern macht auch chauvinistisch-männlichen Schreckensgestalten den Garaus. Der Geschlechterkrieg ist entbrannt, Vergebung gibt es keine. Entsprechend derb und mit unverhohlener Lust an aggressiv aufgeladener, gewalttätiger Genugtuung, wirft Kravitz die feine Klinge eines anfänglichen Krimirätsels ins tropische Buschwerk, um zu den schartigen Waffen zu greifen. Sie outet sich dabei auch unverblümt, worauf es ihr im Eigentlichen ankommt: Rache, die ausgelebt werden darf, stellvertretend für alle, die diese niemals ausüben können. Dabei ist dieser gallige Rundumschlag zwar befreiend, aber simpel. Zu simpel für all die Arbeit, die sich Kravitz zuvor gemacht hat.

Blink Twice (2024)

Monster (2023)

NONKONFORME UNGEHEUER

7,5/10


monster© 2023 Monster Film Committee


ORIGINAL: KAIBUTSU

LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

DREHBUCH: YŪJI SAKAMOTO

CAST: SAKURA ANDŌ, EITA NAGAYAMA, SOYA KUROKAWA, HINATA HIIRAGI, HARUKO TANAKA, MITSUKI TKAHATA, AKIHIRO TSUNODA, YŪKO TANAKA, SHIDŌ NAKAMURA U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Der Mensch ist dem Menschen schutzlos ausgeliefert. Zumindest in seinen ersten Lebensjahren, als Baby, als Kleinkind, und natürlich noch als zur Bildung verpflichteter Schüler. Wehren können sich so junge Menschen wohl kaum, und wenn, dann drohen Sanktionen, die das familiäre Miteinander schwerer machen, als es ohnehin schon ist, wenn die in der Pubertät auftretende soziale Reibung mit den Eltern hinzukommt – der erste Schritt zur Abnabelung, das erste Tasten nach einer Welt der Selbstbestimmung. Dieses Ausgeliefertsein und den Wunsch, die Gunst der Erwachsenen zu erlangen; diese selbstlose, idealistische Liebe, womöglich zum gar nicht mal eigenen Nachwuchs, ist etwas, das Hirokazu Kore-Eda zutiefst beschäftigt – und ihn einfach nicht loslässt. Mit Shoplifters aus dem Jahr 2018 hat das Ganze angefangen. In seinem Gewinner der Goldenen Palme wird das fremde Kind zum Teil einer kurios anmutenden, allerdings ums Überleben kämpfenden Patchworkfamilie, da die eigenen Blutsverwandten längst versagt haben. In Broker, seinem übernächsten Film nach La Verité – Leben und lügen lassen mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche (indem es zwar auch um das Ausgeliefertsein in der Kindheit geht, jedoch auf dem indirekten Weg der Rückblenden) sieht sich die Mutter nicht imstande, ihr eigenes Neugeborenes großzuziehen – und macht, mithilfe zweier karitativer „Menschenhändler“, auf Selfmade-Akquisition, wenn es um die Adoption ihres eigenen Kindes geht. Wieder stellt die Biografie eines Lebens den Beginn eines solchen als eine dem Wind und Wetter ausgesetzten Opfergabe dar, als ein Zustand, der Gnade erfordert. Und diese meistens auch genießen darf. Denn Kore-Eda ist kein Schwarzseher, seine Filme haben Herz und Hoffnung.

Auch das allerneueste und eben auf der Viennale exklusiv präsentierte, vielschichtige Jugenddrama Monster will nicht einfach so das Handtuch werfen. Die zum Teil recht verloren scheinenden Figuren in dieser stets neugierigen Komposition aus wechselnden Perspektiven und Wahrheiten haben allesamt die Chance, ihren Standpunkt einem Publikum zu erklären, das lange im Dunklen tappt. In ihrer, dem Film inhärenten Welt ist die Chance dafür eher gering und dringt vielleicht auch nur am Rande eines tobenden Taifuns an das Ohr der anderen, die dann hoffentlich verstehen werden, warum der Lehrer, Mr. Hori (Eita Nagayama), sich irgendwann am Dach des Schulgebäudes wiederfindet, um von dort in den Tod zu springen. Oder warum die Direktorin Fushimi (Yūko Tanaka) von Minatos Schule immer wieder dieselben Stehsätze rezitiert, ohne die Emotionen der anderen zu begreifen. Vielleicht, weil sie selbst zu sehr traumatisiert ist, um die Bedürfnisse, die rings um sie herum nach Verständnis lechzen, wahrzunehmen. Monster – auf japanisch: Kaibutsu – verbindet, wie eben auch in Kore-Edas anderen Filmen – das Hilflose einer Kindheit, die in ihrer Entwicklung keinen Stereotypen folgt, mit dem Ende des Lateins der Erwachsenen und stellt beide auf eine Stufe, bringt beide auf Augenhöhe. Und an den Rand der Verzweiflung. Doch wie gesagt; nur an den Rand.

Im Mittelpunkt dieses manchmal vielleicht zu gewollt ausgestalteten Vexierspiels steht der rätselhafte Junge Minato, aus dessen Verhalten wir allesamt nicht schlau werden. Schon gar nicht dessen alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō). Fast könnte man meinen, der Junge sei besessen von irgendetwas – einer höheren, vielleicht finsteren Macht. Und langsam, aber doch, wird er zum Ungeheuer. Mit dem Gehirn eines Schweins, welches er, wie er behauptet, selbst besitzt. Auf der anderen Seite steht Eri (Hinata Hiiragi), ein kleiner Sonderling, der in seiner eigenen Welt lebt und stets gut aufgelegt scheint, obwohl er tagtäglich in der Schule gemobbt wird. Sein Vater, ein Trunkenbold, redet ihm schließlich ein, an einer Krankheit zu leiden, deren Symptome sich in seinem seltsamen Verhalten manifestieren. Ausgetrieben muss es ihm werden, so, wie das gespenstische Treiben von Minato – oder die Lust zur Gewalt, die Mr. Hori an den Tag legt. Alle drei sind Monster. Das Monströse auf der anderen Seite – die konformistischen Gepflogenheiten Japans, in welchem die Norm das größte Gut ist, bietet zwar soziale Sicherheit, errichtet allerdings auch eine Mauer der Inakzeptanz allem Unberechenbaren gegenüber. Wie sehr so ein Zustand uneinschätzbar bleibt, ist Sache der Wahrnehmung.

Alle fünf zentralen Protagonisten – die beiden Kinder, die Mutter, der Lehrer und die Direktorin – müssen in diesem Sozialthriller ihr bestes geben, um ihre Sichtweisen zu kombinieren. Und so erhalten nicht nur sie, sondern auch wir als Publikum das Gesamtbild eines längst nicht so spektakulären Ist-Zustandes: Es ist die verzweifelt wirkende Geschichte einer vielleicht jungen Liebe, die als freundschaftliche Zuneigung beginnt – und später zumindest Minato Angst macht, bis dieser genug Mut aufbringt, sich diesem Ausgeliefertsein zu widersetzen. Viel schöner und treffender lässt sich der Heldenmut inmitten eines tosenden Sturmregens gar nicht darstellen. Unweigerlich erinnert Monster an Lukas Dhonts letztjähriger Filmtragödie Close. Auch hier: zwei Freunde, die in ihrer bereichernden Zweisamkeit mehr füreinander empfinden – und der Angst vor dem Unbekannten, die diese Liebe mit sich bringt, unterliegen. Kore-Eda spinnt diese Situation einen Schritt weiter, in eine weniger radikale Richtung. Er, der die japanische Etikette hinterfragt, will die Gunst für ein Leben nicht anderen überlassen, will dem Sturm nicht alles, was sich schutzlos draußen befindet, ausliefern. Selbstbestimmung, Individualität und die Identifikation mit den eigenen Wünschen sind wie vermeintlich tief vergrabene Schätze, die vielleicht schon im Innern eines alten Waggons gehoben werden können. Diese rauszubringen ans Licht des Tages ist eine Challenge, die Kore-Edas Film womöglich zu seinem bisher besten macht.

Monster (2023)

Heimsuchung (2023)

SONNENBLUMEN BEI NACHT

5,5/10


heimsuchung© 2023 Luna Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: ACHMED ABDEL-SALAM

CAST: CORNELIA IVANCAN, LOLA HERBST, INGE MAUX, HEINZ TRIXNER, GISELA SALCHER, FRANZISKA RIECK, CHRISTOPH KRUTZLER, LUKAS TURTUR, IVA HÖPPERGER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Wir Menschen sind Meister der Verdrängung. Unangenehmes aus früheren Tagen oder Begebenheiten, die nicht als wahrhaftig akzeptiert werden wollen, werden, fest verschlossen im Hinterstübchen des Unterbewusstseins, ad acta gelegt. Dabei kann es aber durchaus passieren, dass sich diese fest verschlossenen traumatischen Erlebnisse als mentale Antimaterie durch die Absperrungen fressen, um ans Tageslicht des Bewusstseins zu gelangen. So eine Rückkoppelung, ausgelöst durch einen Trigger oder Dingen, die fest mit solchen Geschehnissen in Verbindung stehen, lässt sich vor allem filmtechnisch auf dem Silbertablett servieren. Im Genre des Horrors ist die eigene Psyche, die aus dem Hinterhalt kommt, das Beste, was abendfüllendem Schrecken auch noch eine gewisse Tiefe verleiht. Denn wenn der Teufel so aus heiterem Himmel über unbescholtene Bürger hereinbricht, ist das meist nur halb so wild, als wenn sich die vom Terror gerittenen Protagonisten trotz all der Angst vor dem Übernatürlichen endlich den eigenen Dämonen stellen. Der Psychohorror ist geboren, und will gefüttert werden.

Das tut der österreichische Filmemacher Achmed Abdel-Salam auch in Heimsuchung, seinem ersten Spielfilm fürs Kino mit ausreichend Verständnis für die dramaturgischen Mechanismen einer subtilen Stadtflucht-Mystery, die sich auf dem geisterhaft stillen Dachboden eines Lebensgeschichten erzählenden Nachkriegsgemäuers ordentlich gesundschlafen kann, um dann auf eigentümliche Weise loszupreschen. In völliger Benommenheit müssen letztlich Mutter und Tochter damit klarkommen, die ohnehin schon Schwierigkeiten mit sich selbst haben. Wo mag das Alkoholproblem von Mama Michaela denn letztlich ihre Wurzeln haben? Und wie sehr von Erfolg gekrönt mag denn die impulsive Entscheidung der schon seit fünf Wochen trockenen Mitdreißigerin sein, im Haus ihres kürzlich verstorbenen Vaters noch ein paar Nächte zu verweilen, um das Verhältnis zu ihrer kleinen Tochter zu kitten? Prinzipiell ist das mal keine schlechte Idee, doch wer will schon im Dunst familiären Ablebens Entspannung finden? Die beiden, Mutter und Tochter Hanna, ziehen das durch. Und forsten nebenher auch das Oberstübchen durch. Natürlich stoßen sie auf eine geheimnisvolle Box, eine Büchse der Pandora für das eigene Generationen-Biotop. Und öffnen diese.

Den Dämonen sollte man sich stellen, das rät vermutlich jeder Psychoanalytiker, vielleicht weniger jeder Psychotherapeut, der zumindest hilft, das Leben mit dem Trauma in den Alltag zu integrieren. Besser wär‘s, das Übel an der Wurzel zu packen. Und da kommt es, in Gestalt einer scheinbar besessenen, geistesgestörten Mutterfigur aus verdrängter Vergangenheit. Der nicht mit dem Stellwagen ins Gesicht donnernde Grusel gelingt österreichischen Filmemachern dabei am besten. Wenn seltsame Geräusche, ein entferntes Jammern, Schritte auf dem Dachboden und Schlafwandeln einhergehen mit einer bedrückenden Stimmung, die sogar in einer von der Sommersonne getränkten Van Gogh-Botanik kaum Halt macht, werden die Ferien am Land zum Parkour zwischen Traum und Wirklichkeit. Missglückt ist dieses Vorhaben in einem ähnlich funktionierenden, australischen Psychogrusel mit dem Titel Run, Rabbit, Run. Auch dort geraten Mutter und Tochter in einen Verdrängungswahnsinn, der von unheimlichen Mächten noch mehr therapiert wird als hier, in Heimsuchung. Wo das Eskalationszenario aber sein Publikum lediglich entnervt zurücklässt, ist Heimsuchung weniger auf Zwang konstruiert, sondern stringenter und nuancierter.

Die große, sich aufdrängende Frage, warum in aller Herrgotts Namen die beiden nicht wieder abreisen, nachdem schon so einiges nicht mit rechten Dingen zugeht, mag verwundern. Der Wille zur Konfrontation von Mutters Seite mag hier noch gar nicht Thema sein, oder ist es das im Unterbewussten doch? Nichtsdestotrotz tut sich Schauspielerin Cornelia Invancan sichtlich schwer, in ihrer eigenen Rolle sowas wie ein gewisses Maß an nachvollziehbarem Verhalten zu finden. Das bremst auch ihre Leidenschaft für diese Figur, das bremst auch die Leidenschaft von Jungdarstellerin Lola Herbst, die stets das Gefühl vermittelt, nicht zu wissen, was Sache ist. Da kann Achmed Abdel-Salam nicht viel tun, außer mit einer exaltierten Inge Maux als abergläubisches Medium der recht betulichen Geschichte etwas mehr Wahnsinn zu verpassen. Dafür sind die Sonnenblumen bei Nacht die fast schon surreale Bühne für eine Familienaufstellung der gespenstischen Art, die am Ende dann doch noch dem Trauma einer Kindheit ins Gesicht blickt.

Heimsuchung (2023)

Milla Meets Moses

KAUM ERWACHSEN, SCHON ALLES VORBEI

5/10


MillaMeetsMoses© 2020 X-Verleih


LAND: AUSTRALIEN 2019

REGIE: SHANNON MURPHY

BUCH: RITA KALNEJAIS, NACH IHREM THEATERSTÜCK

CAST: ELIZA SCANLEN, TOBY WALLACE, BEN MENDELSOHN, ESSIE DAVIS, EMILY BARCLAY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Erstmals aufgefallen ist mir die junge Dame in Greta Gerwigs Literaturadaption Little Women: Eliza Scanlen. Ein Gesicht, das man nicht so schnell vergisst. Ein Gesicht, das so traumverloren durch die Gegen blickt, das zumindest ich niemals den Mut dafür aufbringen könnte, diesen Tagtraum zu unterbrechen. Der junge Moses, ein von der Familie verstoßener Junkie, schafft beides. Und das nahezu auf den ersten Blick. Zumindest für Milla, die leider Gottes ein schweres Schicksal mit sich herumtragen muss. Sie ist an Krebs erkrankt. Was für eine Art Krebs wird nie genau thematisiert. Überhaupt verhängt Regiedebütantin Shannon Murphy fast schon ein Tabu über diesen Umstand, der eine ganze Familie in einen selbstvergessenen Sog aus Medikamenten und unkontrollierten Affekthandlungen stürzen lässt.

Diesem Moses, stets auf der Suche nach dem nötigen Kleingeld, kommt ganz gelegen, dass Milla auf ihn steht. Er wird kurzerhand zum Essen eingeladen, taucht dann immer mal wieder auf, bricht des Nächtens sogar in die Wohnung ein. Die Eltern (Essie Davis und Ben Mendelsohn mal nicht als Schurke) widert dieses Verhalten an. Doch was gut für die Tochter ist, muss auch gut für sie sein. Eine Erkenntnis, die einige Anläufe braucht, um auch zu den Erwachsenen durchzudringenn. Und das gerade in Anbetracht des womöglich viel zu kurzen Lebens, das Tochter Milla ausgefasst hat.

Im Original nennt sich dieses australische Independentdrama Babyteeth – Milchzähne. Tatsächlich hat Milla noch einen, und das als Teenager. Ein Milchzahn also als letztes Hindernis zum Erwachsenwerden? Fällt auch dieser aus, ist das Leben vorbei. Denn erwachsen zu sein und nichts davon zu haben wäre geradezu unfair. So ist der nahende Tod als gewisse Ahnung über allem hängend.

Es gibt da eine klitzekleine Sequenz, die ist wohl die beste Episode in dieser Abfolge mehrerer, mit bunten Lettern betitelten Szenen: es ist jene, in der Milla mit dem Tod kommuniziert. Ein abstraktes Intermezzo, in der Eliza Scanlen eine metaphysische Eingebung widerfährt. Ein erstauntes Gesicht, ein leichtes Lächeln. Ein Ansatz, der Milla Meets Moses vielleicht ganz neue Aspekte auf ein Thema abgerungen hätte, welches Shannon Murphy bewusst zurückdrängt. Das ganze Ensemble sträubt sich gegen diese Wahrheit, und alle treiben scheinbar ziellos ohne Selbststeuerung über einen Ozean, dessen Strömungen vielleicht irgendwann irgendwohin führen. Für ein Krankheitsdrama ist die Verfilmung eines Theaterstücks von Rita Kalnejais viel zu vage, als Romanze recht oberflächlich, als Familiendrama vielleicht noch am ehesten tragend, doch auch hier fällt es schwer, starke innerfamiliäre Bindungen zu erkennen – zu selbstbezogen werden die Eltern umrissen. Das macht es schwierig, Nähe zu den Menschen aufzubauen, denen selbst es unglaublich schwerfällt, Nähe zuzulassen. Sie sind Meister der Verdrängung – so wie der ganze Film den Fokus auf Verdrängung legt.

Milla Meets Moses

Sunburned

SANDBURGEN UND LUFTSCHLÖSSER

6/10


Sunburned© 2020 Camino Filmverleih GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, NIEDERLANDE, POLEN 2019

REGIE: CAROLINA HELLSGÅRD

CAST: ZITA GAIER, GEDION ODUOR WEKESA, SABINE TIMOTEO, NICOLAIS BORGER, FLORA THIEMANN, ANIMA SCHWINN U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Der nächste Sommer kommt bestimmt. Und mit ihm auch der geplante Urlaub. Wohin soll es diesmal gehen – von Covid-Hürden mal abgesehen? Vielleicht an die spanische Mittelmeerküste, speziell nach Andalusien, ganz im Süden? Dorthin, wo man an klaren Tagen hinübersehen kann aufs afrikanische Festland, um genau zu sein nach Marokko. Dort ist es schön, da ist es heiß, da gibt’s All Inclusive-Bettenburgen mit Animationsprogramm, reservierten Strandliegen und jede Menge Flüchtlinge, die sich unters badende Volk mischen, um Waren aller Art zu verscherbeln. Billigsdorferketten und Fake-Markenbrillen, darunter vielleicht auch das eine oder andere Handgeschnitzte. Und vielleicht auch den eigenen Körper. Dieses tagelange Herumschlendern und Verkaufen, das hat sich längst ins Urlaubsbild integriert. Die unabsichtlich vermittelte Exotik vom anderen Kontinent ist da durchaus willkommen. Eben all inclusive. 

Teenager Claire verbringt mit ihrer dysfunktionalen Restfamilie einen relativ langweiligen und auch sehr wortkargen Urlaub, was Mama und beide Töchter zusammenhält, ist praktisch nicht vorhanden, denn jede zieht sein eigenes Ding durch. Der Papa dürfte auf und davon sein, womöglich ein Scheidungsfall. Aus diesem lieblosen Vakuum heraus sucht Claire nach Abwechslung und freundet sich mit dem Flüchtlingsjungen Amram an, der am Strand auf und ab hausiert. Dabei passiert´s, dass Claire falsche Hoffnungen weckt, wobei die Träume, die dieser Junge hat, kaum mit der Wirklichkeit zu vereinbaren sind. Doch in einer Not wie dieser klammert man sich an alles. Auch an eine deutsche Touristin, die Amram plötzlich überallhin mitnimmt. Lange kann die Sache nicht gutgehen. Auch deswegen, weil Claire die Folgen ihres Handelns nicht absehen oder kaum erahnen kann, wie einer wie Amram die Welt sieht.

Die junge Schauspielerin Zita Gaier, bekannt geworden durch die Nöstlinger-Verfilmung Maikäfer flieg!, fasst in diesem auf den ersten Blick sommerleichten Müßiggangdrama ein heißes Eisen an: dass der Flüchtlingskrise. Den sozial etablierten Erwachsenen scheint das Thema generell wenig zu tangieren, viel weniger noch im Urlaub. Die Next Generation sieht das anders. Gaier alias Claire nimmt den umherirrenden Jungen ganz anders wahr, sieht Handlungsbedarf und versucht sogar, für sich selbst oder für beide eine erschreckend naive, aber zumindest eine Lösung zu finden. Irgendwo, so mag sie denken, muss man ansetzen.

Carolina Hellsgårds Film schlendert zwischen der Stimmungschronik einer Sofia Coppola (z.B. Somewhere) und bleiernem Betroffenheitsrealismus, der einzelne Figuren, vor allem jene von Mutter Sabine Timoteo, wie phlegmatische Traumgestalten durchs Bild traben lässt. Keiner scheint mehr zu sehen als die eigene Wunschwelt, nur Claire drängt sich dazwischen hindurch, will nichts wahrhaben und gleichzeitig klar erkennen. Urlaub als Auszeit zwischen Verantwortung und Verdrängung? Ein Lokalaugenschein als Kickoff für jugendliche Proteste a la Thunberg? Wie im Hochseedrama Styx ist auch Zita Gaier mit einem gordischen Knoten konfrontiert, der nur, um ihn zu lösen, zerstört werden muss. Filme wie Atlantique und Atlantic, beides völlig unterschiedliche Zugänge zum Flüchtlingsproblem, annektieren Sunburned als einen möglichen, gut gewählten dritten Ansatz im Bunde, obwohl sich anfangs eine direkt formelhafte Tristesse eröffnet, die in gekünstelter Langeweile sein Stranderlebnis hinbiegt. Sunburned eine Chance zu geben hat sich aber letzten Endes gelohnt, da Hellsgård erst spät, aber doch, allerdings viel zu verzögert und von der südspanischen Hitze scheinbar ermattet, in die Gänge kommt. Letzten Endes ist die Willkommenskultur an der Pforte nach Europa eine Kultur der Duldung. Vor allem aber etwas, das bei den Jungen kaum erwähnenswerte Aufklärung erfahren hat.

Sunburned

Die Blüte des Einklangs

EIN PILZ HEILT ALLE WUNDEN

3/10

 

blueteeinklangs© 2018 Filmladen

 

ORIGINALTITEL: VISION

LAND: JAPAN, FRANKREICH 2018

REGIE: NAOMI KAWASE

CAST: JULIETTE BINOCHE, MASATOSHI NAGASE, TAKANORI IWATA, MARI NATSUKI U. A.

 

Die beste Zeit für Schwammerlsucher ist rein witterungsmäßig nach ausgiebigem Regen, und zu einer Jahreszeit, in der es noch relativ warm ist. Das heißt: Dampfen muss der Wald, dann sprießen sie schon wie die besagten Pilze aus dem Boden, diese Pilze. Eine noch bessere Zeit zum Pflücken dieser Lebensformen, die weder zu den Tieren noch zu den Pflanzen gehören, ist im Abstand von 100 Jahren genau dann angebrochen, als die Französin Jeanne im Zug durch Japan fährt. Sie ist auf der Suche nach diesem Gewächs namens Vision, das angeblich ultimative Heilung bringen soll, für Körper und Seele, aber mehr für die Seele, so wie mir scheint. Juliette Binoche spielt diese Reisende, und sie ist in Begleitung einer Dolmetscherin, da sie selbst kein japanisch spricht und auch so Schwierigkeiten hat, mit der Lebensgewohnheit des eremitischen Försters Tomo klarzukommen. Andererseits aber fasziniert er sie – und sie verliebt sich in ihn. Von Tomo, dem lakonischen Eigenbrötler, lässt sich das schwer sagen. Emotionen sind nicht dessen Stärke. Dafür aber Kontinuität in der Ein-Mann-Forstwirtschaft. Aber so wird man eben, wenn man in der Einschicht lebt, da spricht man nur noch mit den Bäumen, oder mit angeblich 100 Jahre alten, blinden Frauen. Die einiges zu wissen scheinen über diese Pflanze, diese Blüte oder diesen Pilz? Von dem keiner genau weiß, was es ist. Aber irgendwie hängt alles mit einem magischen Baum zusammen, und mit der Geburt eines Kindes mitten im Wald – und Juliette Binoche hat damit zu tun.

Ach du liebe Zeit, was ist nur aus dir geworden? In Naomi Kawases superesoterischer Filmmeditation spielt temporäre Stringenz überhaupt keine Rolle. Und auch sonst nichts, was zu einer handfesten Geschichte beitragen würde. Die Blüte des Einklangs, die interessiert nur eines: so verschwurbelt wie möglich einen Einklang zu finden, doch was Kawase da alles an magischen Zutaten in den brodelnden Kessel wirft, trübt die Sinne. Die Liebesgeschichte zwischen Juliette Binoche und ihrem Hinterwäldler ist so hölzern wie die aparte Forsthütte im grünen Nirgendwo, und die Suche nach der wirkungsvollen Pseudo-Blüte so zerstreut wie der Versuch, während eines Traumes den Fortgang des Erlebten zu bestimmen. Allein: es klappt nicht, sofern man sich nicht vor dem Einschlafen ausdauernd sein eigenes gewünschtes Traumprogramm suggeriert. Das hat Kawase nicht getan, sie hat sich beim Verfassen ihres Scripts sehr auf Assoziationen verlassen, hat sich womöglich gar während einer meditativen Phase dem willkürlichen Verlauf ihres Drehbuchs hingegeben. Am Ende kommen zwar manche Fäden zusammen, aber die Metaphysik dieser entrückten Welt ist viel zu pinseldick aufgetragen. Die Blüte des Einklangs versucht, bedeutungsschwer genug zu sein, um als erlesene Filmkunst zu gelten. Spätestens wenn sich mitten im Wald hingebungsvolle Individuen in bizarren Ausdruckstänzen zu erklären versuchen, indem sie nichts erklären, ist für mich im Gegensatz zu Juliette Binoche der Zug ins transzendente Hinterland Japans abgefahren.

Die Blüte des Einklangs

Drei Zinnen

MIT PAPA ÜBER´M BERG

7/10

 

dreizinnen© 2017 Rohfilm Productions

 

LAND: DEUTSCHLAND, ITALIEN 2017

REGIE: JAN ZABEIL

MIT ALEXANDER FEHLING, BÉRÉNICE BEJO, ARIAN MONTGOMERY

 

Das muss schon ein gewaltiger Anblick sein, diese Felsformation, wenn man direkt davor steht, den Kopf in den Nacken legt und zu den Spitzen in den manchmal wolkenverhangenen Himmel späht. Diese Drei Zinnen, die sind sowohl Südtirol´s Aushängeschild in Sachen Bergwelten. Eine einmalige Kulisse, selbst für ein Kammerspiel wie dieses, eine deutsch-italienische Ko-Produktion, die sehr viel frische Luft zum Atmen hat, in Sachen Gegend und Ausblick aus dem Vollen schöpft, sich aber dennoch ziemlich einkapselt und isoliert. Da kann der Zerstreuung und Natur tankende Mensch noch so ins Weite blicken. Entfernter noch als das nächste Dorf ist die zweckoptimierte emotionale Bindung zwischen Stiefvater und Sohn unter der teils tadelnden, teils gewährenden Obacht der Mutter, dargestelt von Bérénice Bejo, die Filmkenner bereits aus dem oscarprämierten Retro-Drama The Artist kennen. Der bemüht entspannt wirkende Hipster-Reservepapa: Alexander Fehling, irgendwie relativ wortkarg und farblos, hinter teils unbewusst heuchelndem Verständnis ein aufgestautes Ego, das sich arrangieren muss. Vor allem mit einem omnipräsenten Buben im Grundschulalter, der höchst merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Dieses Gebärden kommt natürlich nicht von Irgendwo, sondern sind Symptome der inneren Zerrissenheit eines Heranwachsenden, der plötzlich zwei Väter hat, beide völlig grundverschieden. Der von mama neu zugelegte bärtige Riese im Holzfäller-Look kann natürlich der leiblichen Leitfigur nicht das Wasser reichen – oder doch? Darf er das, soll er das, und kann der eine den anderen ersetzen? Auch das ein Ding der Unmöglichkeit. Mutters neuer Lover ist ein Fremdkörper, der aber fasziniert. Dessen Nähe gewollt ist, im Gedankenkosmos des Kindes aber ein verbotenes Unterfangen nahe am Verrat darstellt.

Drei Zinnen ist eine Dreieiecksgeschichte ohne Liebelei, dafür entknotet Regisseur Jan Zabeil (Der Fluss war einst ein Mensch, ebenfalls mit Alexander Fehling) das Gewirr familiärer Moral in Sonderfällen wie diesen, bei Weitem kein Einzelfall und oft bis zur Verdrängung kleingeredet, wenn es um Sicherheit, Stabilität und Vertrauen geht, um Liebe und Verlass. Wuchtige Meilensteine im Erwachsenwerden, die durch Trennung, Verlust und Sehnsucht instabil werden. Gar nicht gut, im Mikrokosmos einer Berghütte am Fuße der drei Zinnen natürlich verstärkt als Bühne für ein Gleichnis wie dieses. Die schroffen Felsnadeln als gigantisches Symbol der Dreifaltigkeit einer intakten Familie – Vater, Mutter, Kind. Zabeil´s Film ist ein Bühnenstück in kurzen, teils lakonischen Szenen voller paraverbaler Kommunikation und allerlei Empfindungen, die ihre lebensbedrohliche Konsequenz in einem metaphorischen Survivaldrama findet, welches  weniger die Extremsituation in den nebelverhangenen Bergen an sich schildern will als vielmehr den emotionalen Konflikt zwischen Ersatzvater und fremdem Sohn bildhaft nach außen kehrt.

Wo allzu viele Wortgefechte oftmals zu kopflastig und konstruiert wirken, lässt Drei Zinnen die Situationen jenseits gefälliger Worthülsen für sich sprechen, von Zuständen der Geborgenheit bis hin zum packenden Balanceakt zwischen Tragödie und dem Aufklaren des Nebels. Ein kompakter, so intensiver wie expressiver Berg- und Heimatfilm, dessen genrebedingte nostalgische Verklärung eines Zuhauses das unzerstörbare Gefüge einer Familie ist. Wie auch immer diese sich zusammensetzt und wie sehr sie auch von traditioneller Statik abweichen mag.

Drei Zinnen